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bwp@ 45 - Dezember 2023
Veränderungen der Arbeitswelt: Anforderungen, Gestaltungsfelder und Zukunftsfragen für die berufliche Bildung
Hrsg.:
, , &Beruflich-betriebliche Bildung in der stationären Langzeitpflege
Zwar hat der Lernort Betrieb im Kontext der berufsförmig organisierten Arbeit einen ungebrochenen Stellenwert, doch mit zunehmender Veränderung von Arbeit und Beruf ergeben sich neue Orientierungs- und Gestaltungsanforderungen. Es stellt sich die Frage, wie der Lernort Betrieb ausgestaltet werden sollte, damit sowohl Organisationen als auch ihre Mitglieder mit den aktuellen Transformationsprozessen lösungsorientiert und adaptiv umgehen können. Individuelle Kompetenz- und betriebliche Organisationsentwicklungsprozesse müssen wechselseitig aufeinander bezogen werden - auch im Kontext der betrieblichen Bildungsarbeit. Doch wie kann dies gelingen? Diese Frage steht im Fokus des Beitrags und wird exemplarisch am Berufsfeld Langzeitpflege erörtert. Es werden neue Anforderungen an den Lernort Pflegepraxis diskutiert, wobei herausgearbeitet wird, inwiefern die theoretischen Ansätze und praktischen Konzepte der beruflichen Bildung unterstützend bei der Bewältigung dieser Anforderungen sein können.
Professionally-operational Education in long-term care
Although the learning place ‚firm‘ continues to be important in the context of professionally organized work, although increasing change of job and profession induce new orientation and design requirements. The question arises as how the learning place ‘firm’ should be designed so that both organizations and their members can deal with the current transformation processes in a solution-oriented and adaptive manner. Individual competence and company organizational development processes must therefore be mutually related - also in the context of professionally-operational education. But how can this be achieved? This question is the focus of this article and is discussed using the field of professional long-term care as an example. New requirements for nursing practice as a place of learning are discussed, with the extent to which the theoretical approaches and practical concepts of vocational training can be helpful in dealing with these requirements being discussed.
1 Orientierungs- und Gestaltungsanforderungen an den Lernort Langzeitpflege
Die stationäre und ambulante Langzeitpflege steht vor neuen Orientierungs- und Gestaltungsanforderungen. Diese begründen sich aus dem Arbeitskräftemangel, der sozialen Nachhaltigkeit im Kontext der demografischen Entwicklung, dem Pflegerisiko und der Versorgungsgestaltung sowie der Digitalisierung. Sie sind die Bezugspunkte für die Frage, wie beruflich-betriebliche Bildung in der Langzeitpflege gestaltet werden sollte, um diese transformativen Entwicklungen aufzugreifen und in Bildungs- und Lernprozesse zu übersetzen. Zunächst werden die transformativen Entwicklungen mit ihren Gestaltungsanforderungen skizziert, um ihre Komplexität und Vielseitigkeit aufzeigen zu können. In den folgenden Kapiteln werden hierauf bezogene didaktische Überlegungen vorgenommen, um anschließend einzelne konkrete Tools vorzustellen, die in der Langzeitpflege erprobt wurden.
Seit der Einführung der Pflegeversicherung in den 1990er Jahren steht der Wettbewerb um geringe Personalkosten in Pflegeeinrichtungen im Mittelpunkt, der zu den prekären Bedingungen in Pflege und Betreuung mit beigetragen hat (vgl. Rothgang et al. 2020). Auch wenn jetzt gesetzlich vorgegeben ist, dass die Vergütung der Beschäftigten an Tariflöhne gebunden sein muss, verändern sich die Folgen der bisherigen ökonomischen Steuerung kurzfristig nicht. So gibt es 300.000 Pflegekräfte, die den Beruf verlassen haben und als Rückkehrpotential zur Verfügung stünden. Dies wäre jedoch nur erreichbar, wenn die Arbeitsbedingungen deutlich verbessert würden (vgl. Auffenberg et. al. 2022). Selbst wenn es gelänge dieses Potential zu gewinnen, sind die Folgen des demografischen Wandels nicht mehr zu stoppen. So treten z. B. in den nächsten zehn Jahren ca. 500.000 Pflegekräfte in die Rente ein (vgl. DPR 2021). Um diese völlig unzureichende Personalsituation zu verändern, ist seit 2023 gesetzlich vorgegeben, schrittweise ein wissenschaftlich basiertes Personalbemessungsverfahren in der stationären Langzeitpflege einzuführen, mit dem bis 2025 ca. 40.000 zusätzliche Stellen finanziert werden sollen (vgl. Rothgang et al. 2020). Die seit den 1990er Jahren geltende Fachkraftquote von 50 % wird damit abgeschafft und die Personalausstattung orientiert sich am qualitativ ermittelten Pflegebedarf, der unterschieden wird in stabile und komplexe Pflegesituationen. Da der größte Teil der Bewohner:innen in stationären Einrichtungen stabile Pflegesituationen aufweist, liegt der Bedarf vor allem bei einjährig ausgebildeten Pflegeassistenzkräften und beim Personal der sozialen Betreuung. Der Anteil der Pflegefachkräfte ist abhängig von der Anzahl der Bewohner:innen mit komplexen und gesundheitlich instabilen Versorgungslagen. Dies bedeutet, dass die Organisation und Steuerung der Pflege- und Betreuungsprozesse in qualifikationsgemischten Teams so gestaltet werden müssen, das Beschäftigte entlastet werden und die Versorgungsqualität gesichert ist. Hierzu gibt es bisher keine evaluierten Erkenntnisse und Konzepte (vgl. Görres/Brannath 2020; Brandenburg/Kricheldorf 2019). Stationäre Langzeitpflegeeinrichtungen sind also nicht nur gefordert, sich der Personalakquise zu widmen, sondern auch die neue Personalbemessung aktiv zu gestalten. Der Qualifikations- und Kompetenzmix ist daher so zu „managen“, dass der Gefahr eines hochgradig zergliederten arbeitsteiligen Versorgungsprozesses (Taylorisierung) entgegengewirkt wird und die Arbeitsbedingungen wieder attraktiver werden. Hierin liegt eine wesentliche Gestaltungsanforderung für die betrieblich-berufliche Bildung. Damit ist die Frage verbunden, welche Arbeitsorganisation und Kompetenzen für die Teilhabe und Selbstbestimmung von pflegebedürftigen Menschen im stationären Setting notwendig sind. In den (didaktischen) Konzeptionen der beruflichen Bildung müssen daher Versorgungsgestaltung und Arbeits- und Fachkräftesicherung zusammengedacht und in ihren wechselseitigen Wirkungen gestaltet werden, damit die Langzeitpflege Bestandteil der sozialen Daseinsversorgung bleibt.
Dies ist auch in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung formuliert, in der der Zugang zu einer guten Gesundheitsversorgung für alle und die Sicherung der Qualität der Versorgung in Gesundheit und Pflege für die kommenden Generationen herausgestellt wird (vgl. BMG 2021). Im Jahr 2021 waren mehr als 4,8 Mio. Menschen pflegebedürftig, von denen 3,76 Mio. ambulante Leistungen in Anspruch nahmen und 843.000 in stationären Einrichtungen lebten (vgl. BMG 2022). Durch die demografische Entwicklung und insbesondere durch die Alterung der Babyboomer-Generation ist von einer Zunahme der Pflegebedürftigkeit auszugehen: Im Jahr 2045 werden die Babyboomer zwischen 80 und 90 Jahre alt sein und die Nachfrage nach pflegerischen Leistungen wird steigen (vgl. Blüher et. al. 2023). Allerdings ist Pflegebedürftigkeit kein naturgegebenes, altersbedingtes Lebensereignis, sondern in hohem Maße durch chronische Krankheiten verursacht. Gesundheitsförderung sowie die sekundäre und tertiäre Prävention haben daher unter den Aspekten der sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeit eine herausragende Rolle für das Ausmaß und die Entwicklung der Pflegebedürftigkeit (vgl. Schaeffer et al. 2020). Ansatzpunkte zur Prävention liegen z. B. in der Vermeidung und Verzögerung von kognitiven Abbauprozessen und der Demenz, in der medikamentösen und nichtmedikamentösen Schmerztherapie und der Bewegungsförderung im Rahmen der Tertiärprävention und der Rehabilitation (vgl. Blüher et al 2023). Dies sind originäre Handlungsfelder der beruflichen Pflege, die auch in der neu geregelten Ausbildung inhaltlich vorgegeben sind. Das Pflege- und Berufsverständnis der generalistischen Pflegeausbildung basiert auf der Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und einer „hermeneutischen Fallkompetenz“, mit der die Lebenswelt bzw. die Deutungs- und Handlungsmuster der zu pflegenden Person und ihrer sozialen Bezüge situativ erschlossen werden und als Grundlage des Pflegehandelns dienen (vgl. Fachkommission 2020). Damit einher geht ein kommunikativ verständigungsorientiertes Handeln, welches auf eine intersubjektive Aushandlung im Kontext des Pflegeprozesses abzielt, denn pflegerische Interaktion drückt sich u. a. auch in der Wahrnehmung von Atmosphären, Emotionen und leiblichem Gespür in einer Pflegesituation aus. Böhle et al. (2015) sprechen in diesem Kontext von einer Interaktionsarbeit, die durch vier wesentliche Merkmale gekennzeichnet ist: Kooperationsarbeit, Emotions- und Gefühlsarbeit sowie subjektivierendes Arbeitshandeln. Pflegehandeln ist eben nicht immer zielgerichtet oder planbar und erfolgt oft situativ: „Ob eine pflegerische Handlung angemessen ist, entscheidet sich deshalb durch die Wahrnehmung und Deutung der individuellen Situation des zu pflegenden Menschen, einschließlich seines Erlebens und seiner biografisch geprägten Deutungs- und Handlungsmuster.“ (Fachkommission 2020, S. 9) Mit diesem Pflege- und Berufsverständnis und den damit zu erwerbenden Kompetenzen in der Ausbildung können Langzeitpflegeeinrichtungen die Attraktivität des Berufs fördern, indem sie den expliziten Beitrag der Pflege zur sozialen Nachhaltigkeit in der Versorgung mit Teilhabe, Selbstbestimmung und der Prävention von Pflegebedürftigkeit miteinander verbinden. Hierzu gehört auch pflegebedürftige Menschen vor den Folgen des Klimawandels (z. B. Hitze) zu schützen und sie zu diesen Themen zu beraten. Als größte Berufsgruppe im Gesundheitssystem haben beruflich Pflegende zudem einen hohen Einfluss auf die ökologische Nachhaltigkeit hinsichtlich Energie, Material, Ernährung und Mobilität. Sie sind damit in der Lage auf verschiedenen Ebenen als Multiplikatoren für Nachhaltigkeit zu wirken. Diese spezifischen Aspekte der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit für die Pflege in Lern- und Veränderungsprozesse zu übersetzen, ist eine weitere Gestaltungsanforderung für die betrieblich-berufliche Bildung in der Langzeitpflege.
Die Digitalisierung hat für die aufgezeigten transformativen Entwicklungen der Arbeitskräftesicherung und der nachhaltigen Versorgungsgestaltung eine Schlüsselrolle. Bisher fokussiert sich die digitale Transformation in der Langzeitpflege jedoch weitgehend auf die Implementierung der digitalen Pflegedokumentation. Die Versorgungsangebote bzw. -qualität könnten jedoch auch durch Telemedizin, kognitive Förderung von pflegebedürftigen Menschen mittels digitaler Anwendungen sowie Sensorsystemen zur Sturzprävention erhöht werden. Dies alles ist prototypisch entwickelt, jedoch noch nicht flächendeckend eingeführt. Auch wenn die Erwartungen an eine entlastende und zugleich innovative Funktion der Digitalisierung in der Langzeitpflege hoch sind, ist der Umgang damit in den Einrichtungen eher zurückhaltend. Dies hängt auch mit der mangelnden Beteiligung, Qualifizierung und Begleitung der Beschäftigten bei der Einführung digitaler Techniken zusammen (vgl. Hielscher 2020). Dort, wo Digitalisierung als partizipativer Lern- und Gestaltungsprozess betrieblich organisiert wird, werden die Vorteile für Beschäftigte und Pflegebedürftige jedoch erfahrbar (vgl. Evans et. al. 2020). Daraus leitet sich eine weitere Gestaltungsanforderung für die betrieblich-berufliche Bildung in der Langzeitpflege ab. Es gilt die Digitalisierung als partizipatives Lernfeld für die Versorgungsgestaltung, die Personalarbeit, die Arbeitsorganisation und das Lernen selbst zu entfalten.
2 Förderung von Bildung, Kompetenzen und Lernen in und mit der Praxis
Die Methodik des beruflichen und betrieblichen Lernens hat sich, durch den Wechsel von einer Qualifizierungs- zu einer Kompetenzdiskussion, geändert. Ausgehend von der Qualifikationsentwicklung verlaufen die betrieblichen Lernprozesse nach einer Input-Output-Didaktik, also nach einem linearen Vermittlungsprozess. Dem Lernenden wird dabei eine passiv-rezeptive Rolle zugewiesen und die Lernziele werden meist extern, z. B. durch die Personalentwicklungsabteilung, bestimmt (vgl. Dietzen 2020). Kompetenzentwicklung wird dagegen durch ein ganzheitliches Lernen ermöglicht, denn unter Kompetenzen werden Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie Kenntnisse und Wertvorstellungen verstanden, die ein Leben lang weiterentwickelt werden (vgl. Dehnbostel 2022). Kompetenzen sind hoch individualisiert und durch Handlungen sowie mentale Modelle geprägt. Kompetenzen sind stets subjektbezogen, da sie sozial-kommunikative, aktionale und persönliche Handlungsdispositionen umfassen (Arnold/Schüssler 2001). Sie bilden das „innere Potenzial eines Menschen“ (Euler 2020, 208), „also ein unsichtbares Vermögen“ (Tafner 2018, 55). Sichtbar ist die Kompetenz nicht, sondern „nur“ ihre Anwendung in den konkreten Handlungskontexten – die Performanz.
Für die betriebliche Bildungsarbeit in der Langzeitpflege bedeutet dies einen Rollenwechsel des Bildungspersonals sowie ein Wechsel der Funktion und Aufgabe von Personalentwicklung. Im Folgenden werden zentrale Konzeptionen und Ansätze skizziert, die wesentlich für einen solchen Change sind.
2.1 Lernen und Kompetenzentwicklung im Kontext der Interaktionsarbeit
Interaktionsarbeit ist ein Kernbereich der Langzeitpflege und ihre Gestaltung beeinflusst die Arbeits- und Versorgungsqualität in der Langzeitpflege. Sie birgt auch großes Potenzial in, mit und durch die Arbeit zu lernen bzw. Kompetenzen auszubauen, denn durch Interaktion ist die Bewältigung konkreter Handlungssituationen sowie eine Wechselwirkung zwischen Umwelt und Individuum gegeben, was Kompetenzentwicklung erst ermöglicht. Auch die Kooperation in Form von Teilnahme an Gemeinschaft und Ausübung sozialer Beziehungen fördert die Entwicklung von Kompetenzen (vgl. Dehnbostel 2022). Gillen (2013) betont, dass vor allem die betriebliche Konstitution von Erfahrung durch eine Wechselwirkung von Erleben und Verarbeiten eine individuelle Kompetenzentwicklung ermöglicht, wobei ein Auf- und Ausbau von Erfahrung durch Reflexion erfolgt. Solche reflexiven Arbeitsstrukturen unterstützen darüber hinaus die Verknüpfung von formalen (organisiertes Lernen) und informellen Lernprozessen (Lernen über Erfahrung), also von Theorie und Praxis. Das betriebliche Bildungspersonal ist gefordert einen reflexiven Rahmen zu schaffen bzw. zu gestalten, damit diese Verknüpfungen möglich werden. Damit geht ein Rollenwechsel einher: Von der Anleitung (nach dem Motto: Vormachen, nachmachen) hin zur Lernbegleitung (nach dem Motto: Hilfe zur Selbsthilfe). Ein solches Selbstverständnis steht auch im Einklang mit den neuen Rahmenplänen der Pflegeausbildung. Zahlreiche Kompetenzen der neuen Ausbildungs- und Prüfungsordnung zielen nicht auf einzelne Handlungen oder bestimmte Tätigkeitskomplexe ab, sondern definieren vielmehr professionelle Haltungen für die Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz. Für die betriebliche Ebene müssen diese Haltungen jedoch übersetzt werden: „Obwohl in der Pflegedidaktik ein differenziertes Bild der für die Pflege relevanten Handlungsbegriffe besteht und diese in pflegedidaktischen Ansätzen reflektiert werden, finden sich diese in der Praxis der Pflegeausbildung kaum wieder.“ (Darmann-Finck 2020, 122)
Praxisanleitung ist bisher eher durch instruierende Lernformen geprägt: „Praxisanleitung wird so als Prozess des Vormachens, Nachmachens und Übens verstanden.“ (Tschupke/Meyer 2020, 29) Mit diesen Lernformen ist jedoch beispielsweise eine berufliche Bildung für nachhaltige Entwicklung kaum möglich, denn dabei geht es nicht nur um Fachlichkeit (in Form von Professionswissen und Können), sondern auch um entsprechende Werte und Haltungen, welche grundlegend für nachhaltige Entwicklung sind (vgl. Casper et al. 2023). Ein Ansatz, um sowohl berufliche Handlungskompetenz als auch Haltung in betrieblichen Lehr-/Lernsettings zu fördern, liegt in der Bewältigung von Ziel- und Handlungskonflikten zwischen Ressourcenmangel, Belastungen, Versorgungsqualität, ökonomischen Zwängen und ökologischen Anforderungen. Die dafür notwendigen kommunikativen Kompetenzen und die Fähigkeit zur Perspektiveinnahme und -wechsel, zur Rollenübernahme und zum reflexiven Handeln sind zwar in den neuen Rahmenplänen implizit und explizit vorhanden, doch für die betriebliche Bildungsarbeit bisher kaum systematisch operationalisiert. „Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht lernen, wie „man“ in welchen Situationen zu handeln hat, sondern sie sollen „befähigt“ werden, dies in solchen Situationen selbst herauszufinden. Sie sollen nicht lernen, „wie etwas geht“ oder „wie man etwas richtig macht“, sondern sie sollen lernen, selbstständig den angemessenen, hier und jetzt realisierbaren, erfolgversprechenden Weg herauszufinden und zu gehen.“ (Brater 2016, 208)
Lernende benötigen, neben Feedback und entsprechenden Lerntools, vor allem Raum und Möglichkeiten entdeckend, experimentierend und reflektierend vorzugehen. Lernen erfolgt dabei aus den gesammelten Erfahrungen, die sich bei der Bewältigung von komplexen Arbeitsaufgaben ergeben. Indem diese Erfahrungen reflektiert werden, bleiben sie nicht beliebig, sondern können entweder mit abstraktem Wissen verknüpft oder allgemeine Regeln daraus abgeleitet werden (vgl. Kolb 1984). Der didaktische Zugang der Exemplarität (vgl. Klafki 1996) stellt daher weiterhin einen zentralen Ansatz in der beruflichen Bildung in der Langzeitpflege dar.
Bestimmte Kompetenzen, wie z. B. Ambiguitätstoleranz, Planungs- und Entscheidungsfähigkeit oder soziale Verantwortung, lassen sich im besonderen Maße am Lernort Praxis entwickeln, denn die betriebliche Gemeinschaft der Beschäftigten bzw. die sozialen Interaktionen fördern individuelle Reflexionsprozesse und damit auch die Änderung von Deutungs- und Handlungsmustern. Eine reflexive Kompetenzentwicklung bedeutet daher nicht nur, dass Auszubildende und Beschäftigte zukünftige, arbeitsimmanente Problemstellungen eigenständig und zielorientiert lösen können, sondern auch, dass die individuelle Selbstlernkompetenz gesteigert wird (vgl. Hiestand/Rempel 2021). An dieser Stelle sei jedoch darauf hingewiesen, dass es bei der betrieblichen Bildungsarbeit nicht nur um die Sicherstellung von Beschäftigungsfähigkeit (im Sinne einer Employability) geht, sondern um eine Förderung der Beruflichkeit. „Obwohl Ausbildung immer auch die Beschäftigungsfähigkeit vor Augen hat – sonst wäre sie keine Ausbildung –, muss sie aber immer auch für Bildung offen sein. Eine Absolutsetzung der Employability, im Sinne einer Ausgrenzung von Bildung ist nicht möglich, wenn die Förderung von Verantwortungsbewusstsein und die damit einhergehende persönliche Willensbildung ernstgenommen werden.“ (Slepcevic-Zach/Tafner 2012, 39)
2.2 Förderung von Bildung und digitaler Mündigkeit in der betrieblichen Bildungsarbeit
„Bildung“ erfährt vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Orientierungs- und Gestaltungsanforderungen eine Renaissance. Bildung kann sowohl der Weg zur Selbstbestimmung als auch der Ausdruck dieser sein. Bildung ist ein Entfaltungsvorgang des Individuums und zugleich dessen Ergebnis: Die Persönlichkeit. Und an diesem Punkt setzt der Aspekt der Erziehung ein, denn Erziehung bezeichnet soziale Handlungen, mit denen Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer zu beeinflussen (vgl. Lederer 2014). Teil der betrieblichen Bildungsarbeit sind also auch „Erziehungsaufgaben“, wobei sowohl die Vermittlung (impliziter) Regeln, Routinen und Werte gemeint ist als auch die Förderung der beruflichen Identität. Diese beschreibt die Art und Weise, wie Menschen sich selbst aus ihrer Biografie heraus in der ständigen Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Umwelt wahrnehmen und verstehen. Die berufliche Identität ist ein prägender Aspekt für die Gesamtidentität eines Menschen, da sie Status, Einkommen, Zeit, Kommunikation etc. definiert. Die berufliche Identität äußert sich beispielsweise in den Deutungs- und Handlungsmustern und somit in der Performanz. Sie wird gefördert durch bewusste und unbewusste Internalisierung von Strukturen, Prozessen, Regeln und Routinen, also durch berufliche Sozialisationsprozesse (vgl. u. a. Thole 2021; Lempert 2006; Holland 1997).
Um eine „Ganzheitlichkeit der Subjektentfaltung“ (Lisop 1999, 39) im Sinne einer beruflichen Identität ermöglichen zu können, verweist Oelke (2005, S.653 f.) auf die Förderung von Reflexionsfähigkeit als spezifische Zielausrichtung in pflege- und gesundheitsberuflichen (Aus-)Bildungsprozessen. Sie bezieht sich dabei auf drei Ebenen: Selbstreflexion sowie ethische und politische Reflexionsfähigkeit. Es geht „zum einen darum, dass den mitunter ja erst 17-jährigen Schülern und Schülerinnen bewusst und gezielt Raum und Zeit gegeben wird, sich mit Fragen der eigenen Identitätsfindung - also dem ,,Wer bin ich?" - auseinanderzusetzen. (…) Zum anderen geht es - eher berufsspezifisch - darum, die Schüler und Schülerinnen zu fordern und zu fördern, ihre eigene Haltung zu den für pflegerische und gesundheitstherapeutische Arbeit charakteristischen existenziellen Themen zu reflektieren.“ (Meyer/Oelke 2013, 345f.)
In der betrieblichen Bildungsarbeit gilt es, neben den dem pflegerischen Beruf immanenten ethischen Dilemmata, auch gesellschaftspolitische Aspekte zu reflektieren, wie z. B. Aspekte der pflegerischen Beruflichkeit (vgl. Meyer/Hiestand 2021). Für die Gestaltung betrieblicher Lehr-/Lernsettings sind daher, neben Handlungsaufgaben, vor allem auch solche Aufgabenarrangements förderlich, die nicht nur komplex sind, sondern auch so genannte Schlüsselprobleme berücksichtigen (vgl. Klafki 1996). Wie bereits erwähnt, entspricht dies auch dem Ansatz einer beruflichen Bildung für nachhaltige Entwicklung, bei der u. a. die Bewältigung und Gestaltung von Ziel- und Handlungskonflikten fokussiert wird.
Hinsichtlich der digitalen Transformationsprozesse in der Langzeitpflege und den damit verbundenen Kompetenzentwicklungsanforderungen erscheinen solche Lern- bzw. Anleitungssituationen zielführend, welche die digitale Mündigkeit (vgl. Köberer 2022; Seufert et al. 2018) der (angehenden) Pflegekräfte fördern. Gerade im Kontext der professionellen pflegerischen Interaktionsarbeit ist Mündigkeit im Sinne innerer und äußerer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung besonders im Umgang mit digitalen Arbeits- und Lernsystemen unabdingbar, z. B. hinsichtlich der kritischen Einordnung und Bewertung digitaler Informationen, dem reflektierten Einsatz digitaler Medien für verschiedene Arbeitszwecke oder der Rechte und Pflichten verschiedener am Pflegeprozess beteiligten Akteure.
Um diese digitale Souveränität in der beruflichen Bildung zu fördern, bedarf es nach dem Aktionsrat Bildung (2018) an einem „Mehr“ an digitalisierten Lehr-/Lernarrangements: „Es ist festzustellen, dass die Potentiale digitaler Medien sicher nicht ausgeschöpft werden, wenn das Nachdenken über ihre Nutzung an eine bloße Fortführung bewährter pädagogischer Konzepte gebunden bleibt. Dann wird die Bibliothek durch ein Content-Management-System ersetzt, das Buch durch ein PDF, Vorträge durch MOOCs, das Seminar durch einen virtuellen Klassenraum, die Tafel durch ein interaktives Whiteboard etc.“ (Blossfeld et al. 2018, 231f.) Durch ein solches Vorgehen werden partizipative Wissenskonstruktionen von Lehrenden und Lernenden sowie ein diversitätsorientiertes und soziales Lernen im digitalen Kontext nur eingeschränkt berücksichtigt (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund der ausgeprägten Heterogenität der Lernenden im Funktionsfeld Pflege (hinsichtlich Alter, Geschlecht, Lernvoraussetzungen, Kultur, Sprache, etc.) sind solche Lernformen jedoch besonders relevant.
2.3 Betriebliche Bildungsarbeit und organisationales Lernen in der Langzeitpflege
Für die transformativen Entwicklungen der Nachhaltigkeit in der Langzeitpflege reicht der Blick auf die individuelle Kompetenzentwicklung nicht aus. Vielmehr trägt die Förderung von Kompetenzen und Bildung insofern zur organisationalen Dynamik von Pflegeeinrichtungen bei, als dass Organisationslernen möglich wird, wenn Beschäftigte im Rahmen ihrer Interaktionsarbeit Wissen, Werte und Kultur auf kollektiver Ebene verändern und in neue geteilte Routinen übertragen. So können beispielsweise Dynamic Capabilities von Organisationen ausgebildet bzw. neue und vorhandene Ressourcen verknüpft (Ambidextrie) werden (vgl. Hiestand 2017). Zentral dabei ist der Grad an Partizipationsmöglichkeiten, da dieser u. a. den sozialen und kollektiven Prozess des Lernens bestimmt (vgl. Köster 2015). Kompetenzentwicklungsprozesse führen jedoch nicht automatisch zur organisationalen Dynamik, d. h. organisationales Lernen kann nicht mit der Summe individueller Lernprozesse gleichgesetzt werden, da organisationales Lernen eine eigene soziale Qualität aufweist (vgl. Argyris/Schön 1999). Problematisch gestaltet sich, diese Qualität weiter auszudifferenzieren– zumal diesbezüglich kein theoretisch einheitliches Fundament besteht.
Lernen wird organisational wirksam, wenn die betrieblichen Veränderungen in den kollektiven Deutungsmustern der intra- und interprofessionellen Teams verankert sind. Die Organisation lernt durch einen von Werten und Wahrnehmung geleiteten Prozess der sozialen Gestaltung von Wirklichkeit. In diesem kann individuelles Wissen evaluiert und zu organisationalem Wissen transformiert werden (vgl. Duncan/Weiss 1979). Individuelles Lernen basiert hierbei auf Erfahrungslernen, das reflektiert werden muss, um in organisationales Wissen umgewandelt bzw. integriert werden zu können (vgl. Dehnbostel 2022). Organisationales Lernen erfolgt durch kontinuierliche Interpretation und Reflexion von Erfahrungen und Deutungsmustern. Diese sind geprägt durch Werte und Normen, Rationalisierungen des Handelns und implizite, handlungsleitende Prinzipien, welche durch organisationale Sozialisationsprozesse entstehen. Die Organisationskultur, „sprich das Muster an kollektiv geteilten, handlungsleitenden Werten und Prämissen“ (Zinth 2010, 71), nimmt entweder einen förderlichen Einfluss auf Innovation und Entwicklung, wenn diese Verbesserungsvorschläge, Feedback und Kritik zulassen, oder einen hemmenden Einfluss, wenn die Kultur nicht offen und kreativförderlich gestaltet ist. (Lern-)Situationen, die individuelles und kollektives Lernen verbinden (wie Qualitätszirkel, KVP-Gruppen oder Communities of Practice) und dem betrieblichen Bildungspersonal methodisch-didaktische Unterstützung bieten, stellen weitere förderliche Faktoren für organisationales Lernen dar. Verschiedene Personalentwicklungstools, wie z. B. Lessons Learned Workshops und kollegiale Beratung können das betriebliche Bildungspersonal dabei unterstützen Prozesse der Selbstreflexion sowie der strukturellen und kollektiven Reflexion anzuregen (vgl. Lash 1996; Müller 2015). Indem top-down und bottom-up Prozesse wechselseitig aufeinander bezogen werden, können zudem die Potenziale der Ambidextrie genutzt werden, was gerade hinsichtlich der in Kapitel eins genannten Orientierungs- und Gestaltungsanforderungen zielführend sein kann.
Die Qualität von organisationalem Lernen zeigt sich u. a. in einer organisationalen reflexiven Handlungsfähigkeit, worunter eine kollektive Kompetenz verstanden wird, „welche die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft von Kollektiven bezeichnet, innerhalb betrieblicher Strukturen kompetent zu handeln, diese Strukturen (damit auch Ressourcen, Regeln und Routinen) kritisch zu hinterfragen (kollektive Reflexion) und sie aktiv zu gestalten.“ (Hiestand 2017, 204) Um diese reflexiven Momente in der Langzeitpflege anzuregen und zu gestalten, sind zum einen Strukturen und Rahmenbedingung und zum anderen eine Lernprozessbegleitung notwendig, die sowohl individuelles als auch kollektives Lernen methodisch-didaktisch rahmen kann. Welche Tools dabei unterstützend wirken, wird im folgenden Kapitel skizziert.
3 Betriebliche Bildungsarbeit in der Langzeitpflege
Die in unterschiedlichen Forschungsprojekten konzipierten und erprobten Tools zielen darauf ab, neben der individuellen Förderung von Kompetenzentwicklung, auch organisationales Lernen zu ermöglichen. Dies gelingt, indem über kulturelle Ausprägungen, geteilte Deutungsmuster und strukturelle Rahmenbedingungen sowohl individuell als auch kollektiv nachgedacht wird und entsprechende Veränderungen eingeleitet werden. Da partizipativ und reflexiv ausgehandelt wird, welche Werte, Normen, Strukturen und Regeln in der intra- und interprofessionellen Zusammenarbeit formal und implizit gelebt werden sollen, kann eine organisational reflexive Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. Gerade die Langzeitpflege ist häufig durch einen hohen Grad an Standardisierung und Rationalisierung der Pflegetätigkeiten geprägt. Eigenen berufsethischen Vorstellungen, wie und in welchem zeitlichen Umfang Pflegetätigkeit ausgeübt werden sollte, können die Pflegekräfte kaum nachgehen (vgl. Fischer et al. 2020). Jedoch werden diese Rahmenbedingungen überwiegend hingenommen, d. h. es kommt kaum zu kritischen, sozialen Aushandlungsprozessen – eher verlassen Pflegekräfte ihren Beruf oder wechseln in Teilzeit (vgl. Auffenberg et al. 2022). Hier setzen die im Folgenden beschrieben Tools an, indem eine betriebliche Bildungsarbeit unterstützt wird, die u. a. den Erwerb von Werten, Einstellung und Haltung ermöglichen. Dies entspricht auch dem Ansatz von Marchwacka (2023), die hervorhebt, dass Bildungsprozesse immer auch Partizipationsprozesse sind. Dabei betont sie, dass eine „partizipative Haltung als Teil der Professionalität im Pflegeberuf betrachtet werden“ (82) und diese vor allem im Kontext eines Lernens im Prozess der Interaktionsarbeit ausgebildet werden kann. Eine solche Haltung ist auch im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung und einer Förderung von digitaler Souveränität unabdingbar.
3.1 Der Kompetenzindikator – Kompetenzen für die Arbeit an und mit Menschen erkennen und fördern
Vor dem Hintergrund der Schlüsselstellung der Interaktionsarbeit in der Langzeitpflege wurde ein Verfahren zur Kompetenzeinschätzung für Beschäftigte entwickelt. Auf Basis qualitativer und quantitativer Daten (26 Experteninterviews und eine standardisierte Onlinebefragung (N=209)) konnten mittels einer konfirmatorischen Faktorenanalyse zehn Kompetenzen für die Interaktionsarbeit zwischen Pflegekräften und zu Pflegende identifiziert werden: Dialogbereitschaft, Konfliktfähigkeit, Lösungsorientierung, Machtsensibilität, kollektive Orientierung, Ambiguitätstoleranz, Selbstführung, Veränderungsenergie, digitale und fachliche Kompetenzen.
Die Daten wurden im Rahmen des BMBF und ESF finanzierten Forschungsprojektes KomIn (Kompetenzorientierte Interaktionsarbeit in der Pflege) gewonnen. Die Interaktionskompetenzen wurden wiederum durch verschiedene Items operationalisiert, empirisch überprüft und im Rahmen einer webbasierten Applikation zur Verfügung gestellt. Der so entwickelte Kompetenzindikator (www.projekt-komin.de/kompetenzindikator) bietet die Möglichkeit, Kompetenzen für die Interaktionsarbeit in der Langzeitpflege strukturiert und den verschiedenen Qualifikationsniveaus entsprechend zu identifizieren und sie zu stärken: Zum einen können Pflegende mit Hilfe des Indikators eine Selbsteinschätzung bezüglich ihrer Kompetenzausprägung vornehmen. Zum anderen kann durch die jeweilige Führungskraft auch eine Fremdeinschätzung erfolgen. Beide Perspektiven – Selbst- und Fremdbild – können anschließend in einem Personalentwicklungsgespräch abgeglichen und entsprechende Maßnahmen abgeleitet werden: Beispielsweise Weiterbildungsmaßnahmen, falls eine Kompetenz nicht so ausgeprägt sein sollte, wie es für das Aufgabengebiet notwendig ist. Zudem können auf diese Weise Kompetenzressourcen seitens der Pflegenden sichtbar gemacht werden, die ggf. bisher noch nicht wirksam in die Arbeitsorganisation eingebunden wurden. In diesem Fall kann dann z. B. über eine neue Aufteilung der Tätigkeiten im Team nachgedacht werden (vgl. Hiestand et al. 2022). In der Erprobung wurde deutlich, dass ausgeprägte Ressourcen in fachlichen Kompetenzen sowie Machtsensibilität und Dialogbereitschaft bestehen; Lern- bzw. Qualifizierungsbedarf besteht vor allem bezüglich der Kompetenzen Veränderungsenergie, digitale Kompetenzen und Selbstführung. Gerade Veränderungsenergie und Selbstführung sind zentrale Faktoren, die für eine partizipative Mitgestaltung von Arbeitsprozessen notwendig sind. Zudem zeigten die Erprobungen, dass sich ein großer Anteil der Pflegekräfte über alle Qualifikationsniveaus hinweg in ihren Kompetenzausprägungen selbst geringer einschätzt als deren Führungskräfte. Zudem hat die Reflexion der Pflegekräfte über ihre Kompetenzen dazu beigetragen, dass sie sich mit den Führungskräften partizipativ mit den Rahmenbedingungen der (Team-)Arbeit auseinandersetzten. Sie stellten z. B. fest, dass sie zwar über Kompetenzen verfügen, diese jedoch aufgrund von Zeitmangel, nicht hinterfragten Routinen oder Teamkonflikten nicht einbringen konnten. Durch das strukturierte Personalentwicklungsgespräch können solche hinderlichen Faktoren identifiziert und bearbeitet werden, denn auch den Führungskräften wird dadurch ermöglicht, Veränderungsbedarfe hinsichtlich Strukturen, Ressourcen und Regeln sowohl in Bezug auf individueller, als auch kollektiver und organisationaler Ebene zu identifizieren. Es wird ein reflexiver Rahmen geschaffen, in welchem Pflegekräfte ihre Kompetenzausprägungen erkennen, individuelle und organisationale Bedarfe mit der Führungskraft aushandeln und so ihre Entwicklung aktiv gestalten. Der Kompetenzindikator unterstützt somit auch die Steuerung des Qualifikationsmixes auf Basis von Kompetenzen, wie es für die Umsetzung der neuen Personalbemessung erforderlich ist.
3.2 Die Kompetenzbedarfsanalyse – Lern- und Entwicklungsbedarfe im Team entdecken
Kompetenzentwicklung im Prozess der Arbeit vollziehen sich im wechselseitigen Wirken individueller Lernprozesse und organisationaler Veränderung. Bedeutsam sind der Grad an Partizipationsmöglichkeiten und die kollektive Reflexion z. B. im Team von Erfahrungen und Deutungsmustern. Die soziale Praxis eines Teams lässt sich dabei nicht nur auf die Handlung und Kompetenz der einzelnen Mitglieder des Teams zurückführen, sondern sie weist Merkmale einer kollektiven Kompetenz auf (vgl. Fischer/Röben 2011). „Kompetenzen von Gruppen werden erschlossen aus Handlungen, die einzelne Personen nicht hervorbringen könnten, weil sie an die unmittelbare Interaktion gebunden sind, diese Handlungen also ausschließlich im Gruppenkontext auftauchen können.“ (Baitsch 1996, 106) Das Individuum ist mit seiner beruflichen Handlungskompetenz zwar an der jeweiligen sozialen Interaktion beteiligt, doch stellt die Zusammenarbeit im Team gruppenspezifische Anforderungen beispielsweise hinsichtlich der Problemlöse- und Teamfähigkeit. Im Fokus von kollektiven Kompetenzen stehen somit sowohl die Performanz der gesamten Gruppe bzw. des Teams (in Form von Handlungs- und Selbststeuerungsfähigkeit) als auch die gemeinsame Reflexion über diese Performanz: Eine individuelle reflexive Steuerung wird organisational durch ein Lernen in der Gruppe (also auf der Grundlage von kollektiven Reflexionsprozessen) wirksam, da sich auf diese Weise nicht nur individuelle Routinen, Regeln und Ressourcen verändern, sondern auch die eines gesamten Teams, einer Abteilung und ggf. eines ganzen Unternehmens (vgl. Hiestand 2017). Hier setzt das Tool Kompetenzbedarfsanalyse (KBA) an, welches im BMBF finanzierten Forschungsprojekt ADAPT (Implementierung eines adaptiven Weiterbildungsunterstützungssystems im Berufsfeld Pflege) entwickelt und erprobt wird. Die KBA wird von der jeweiligen Führungskraft partizipativ mit dem gesamten Team durchgeführt. Im ersten Schritt gehört dazu ein Teamcheck, in welchem die Führungskraft Ressourcen und Entwicklungsbedarfe des Teams hinsichtlich fachlicher, digitaler und interaktiver Kompetenzen einschätzt. Zudem beschreibt und analysiert sie, welche Lernorganisations- und Begleitungsformen im Sinne des arbeitsintegrierten Lernens bislang umgesetzt wurden. Ein Leitfaden unterstützt sie dabei. Parallel bestimmt und reflektiert jedes Teammitglied seine individuellen Kompetenzausprägungen und Lerngewohnheiten anhand des oben beschriebenen Kompetenzindikators und eines gesondert entwickelten Analysetools zur Identifizierung der Lernpräferenzen.
In einer gemeinsamen Besprechung stellt die Führungskraft ihre Ergebnisse des Teamchecks vor. Anschließend wird auf Basis der individuellen Selbsteinschätzungen herausgearbeitet, welche Stärken und Entwicklungsbedarfe im Team vorhanden sind und welche Veränderungen bzw. Maßnahmen sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene dafür notwendig sind. Dabei müssen die einzelnen Teammitglieder ihre Kompetenzausprägungen und Lerngewohnheiten nicht offenlegen, wenn sie dies nicht möchten. Es geht darum, partizipativ die eigene Rolle und auch Aufgabenbereiche im Team zu finden und den Kompetenz- und Qualifikationsmix aktiv (im Sinne eines vollständigen Pflegeprozesses) zu gestalten. Anhand von Leitfragen werden in der KBA die Performanz sowie die Entwicklungsbedarfe und -wünsche des gesamten Teams sichtbar gemacht und damit auch gestaltbar. Dabei werden auch die Vorüberlegungen der Führungskraft bzgl. der Lernmöglichkeiten im Prozess der Arbeit berücksichtigt. Als abschließender Schritt werden Maßnahmen gefunden und fest vereinbart, die die eruierten Lernbedarfe und -wünsche decken können. In der Erprobung der KBA wurden beispielsweise Job Rotation, Tandemlernen, Hospitation und informelles Mentoring als Maßnahmen durchgeführt. Mit diesem Ansatz kann die soziale Nachhaltigkeit für die Langzeitpflege operationalisiert werden, indem die Führungskraft und ihr Team mittels des Teamchecks z. B. Anforderungen für die Prävention festlegen, für die dann über den weiteren Prozess der KBA Lern- und Entwicklungsbedarfe sowie die notwendigen organisatorischen Veränderungen identifiziert werden. Darüber hinaus hilft die KBA dabei den Personalmix in der Langzeitpflege aktiv zu gestalten und die damit verbundenen Herausforderungen im Team zu identifizieren, zu besprechen und Lösungen zu erarbeiten.
3.3 Die CareIna – Kollaborative Förderung eines selbstbestimmten Miteinanders
Aus einer sozialen Nachhaltigkeitsperspektive gewinnt die Frage der Selbstbestimmung und Teilhabe bei Eintritt von Pflegebedürftigkeit an Relevanz. So erwarten zu Pflegende in der stationären Langzeitpflege einen respektvollen Umgang, gut ausgebildetes Pflegefachpersonal sowie eine sorgfältig durchgeführte Pflege, die an ihre Bedürfnisse angepasst und zeitlich ausreichend ist (vgl. Sonntag et al. 2017). Der tatsächlich realisierte Grad an Selbstbestimmung in der pflegerischen Versorgung ist jedoch äußerst heterogen und personen- und einrichtungsabhängig: Im Alltag sind es die vermeintlichen Kleinigkeiten, die den Anspruch auf Selbstbestimmung ausdrücken und durch welche die Erfahrung von Selbstbestimmung hergestellt werden kann (vgl. Stadelbacher et al. 2021). Doch es kann dabei zu Konflikten bzw. Spannungsfeldern kommen, wenn sich z. B. organisationale Anforderungen (Routinen, Regeln, Strukturen) mit individuellen Bedürfnissen und Wünschen der zu Pflegenden schwer vereinbaren lassen oder eine Pflegekraft zwischen Selbstbestimmung und Schutzauftrag eine Balance finden muss. Auch kann eine undifferenzierte Forderung nach Autonomie mitunter einer Überforderung einzelner zu Pflegender gleichkommen, da das Bedürfnis und das Verständnis von Selbstbestimmung individuell geprägt sind: einige zu Pflegende möchten Entscheidungen teils abgenommen bekommen – andere zu Pflegende eben nicht (vgl. Schlögl-Flierl et al. 2021). Hier setzt das Tool CareIna an, mit dem eine Balance bzw. Lösung für verschiedene Zielkonflikte anhand eines Schlüsselproblems gefunden werden kann. Im Rahmen des BMG finanzierten Projektes SeLeP 2.0 (Selbstbestimmtes Leben im Pflegeheim) wurde ein Konzept zur Förderung von Würde und Selbstbestimmung in der stationären Langzeitpflege entwickelt und erprobt. Das Weiterbildungskonzept vereint Selbstlernphasen mit Präsenzveranstaltungen und richtet sich an alle Zielgruppen, die in Pflegeeinrichtungen zusammenkommen, also z. B. zu Pflegende und ihre Bezugspersonen, Führungs-, Pflege- und Betreuungskräfte und Ehrenamtliche. Die Weiterbildung besteht aus analogen und digitalen Inhalten, zusammengestellt in einer Lernbegleiterin „CareIna“ (www.pflegenetzwerk-deutschland.de/careina), die im Tandem sowie im gemeinsamen Austausch in Workshops in einem Zeitraum von etwa 11 Wochen bearbeitet werden. Begleitet wird die Weiterbildung durch Managementworkshops, in welchen die Analyse und Gestaltung der betrieblichen Rahmenbedingungen bzgl. eines selbstbestimmten Miteinanders im Fokus stehen.
In allen Lernformaten wird kollaboratives Lernen angestrebt, um so die vorherrschenden und oft nicht hinterfragten Regeln, Routinen und Strukturen hinsichtlich Selbstbestimmung zu reflektieren und ggf. neu zu gestalten. Der Ansatz ermöglicht die Partizipation aller Akteur:innen und regt Aushandlungsprozesse auf der individuellen, kollektiven und organisationalen Ebene an. Beispielsweise werden auch klassische Formate, wie kollegiale Beratung und World-Cafe eingesetzt, da auf diese Weise kollektive Sinnzuschreibungen entstehen können; d. h. konkret eine Organisationskultur, die Selbstbestimmung als elementaren Teil des Handelns und Denkens berücksichtigt. Zudem wird über die CareIna ein niederschwelliger Zugang zum digitalen Lernen ermöglicht, indem Lerninhalte mittels unterschiedlicher digital gestützter Formate dargeboten werden (z. B. Podcasts, Videos und digitales Lernbuch). Anfängliche Lernwiderstände diesbezüglich konnten vor allem bei den zu Pflegenden durch ein Lernen im Tandem (z. B. mit einer Führungs- oder Pflegekraft) abgebaut werden. Auch die Verknüpfung von digital gestützten Selbstlernphasen und analogen Reflexionssitzungen konnte dazu beitragen Hemmungen in Bezug auf das digitale Lernen zu reduzieren.
3.4 Der Hackathon – Partizipative Erarbeitung innovativer Lösungsansätze
Als eine weitere neue Orientierungs- und Gestaltungsanforderung wurde die digitale Transformation in der Langzeitpflege beschrieben und die damit verbundene Förderung digitaler Kompetenz bzw. Souveränität und Beteiligung z. B. von Pflegekräften bei den betrieblichen Implementierungsprozessen der digitalen Hard- und Software. Hierzu eignet sich ein Hackathon besonders gut, denn mittels diesen Tools können die verschiedenen Aspekte (Kompetenz, Souveränität, Partizipation) anhand eines exemplarischen Problems bzw. Aufgabenstellung berücksichtigt werden. Ein Hackathon ist eine Veranstaltung, bei der Beschäftigte und Führungskräfte unterschiedlicher Hierarchieebenen und Berufsgruppen für eine begrenzte Zeit zusammenarbeiten und gemeinsam innovative und bedarfsorientierte Lösungsmöglichkeiten für Probleme im Arbeitsalltag der Pflege entwickeln. Der Begriff Hackathon wurde aus dem Bereich der IT-Branche übernommen und setzt sich zusammen aus dem Englischen „to hack“ („tüfteln) und „Marathon“. Ziel ist es, einen Prototyp zu entwickeln, der anschließend in der Praxis getestet werden kann (vgl. Hasenbein 2020).
Im Forschungsprojekt ADAPT (Implementierung eines adaptiven Weiterbildungsunterstützungssystems im Berufsfeld Pflege) wurde das Instrument mit 20 akademisch qualifizierten Pflegekräften im Rahmen eines eintägigen Workshops getestet und anhand der Problemstellung eines fehlenden Einarbeitungskonzepts für neue Mitarbeiter:innen erprobt. Neben inhaltlichen Inputs (z. B. zur Personalentwicklung und möglichen Formen für betriebliches Lernen) entwickelten die Pflegekräfte kollaborativ die Inhalte des Einarbeitungskonzepts und deren Strukturierung. Zur Systematisierung der Arbeitsergebnisse und Erstellung der Konzeptinhalte wurde die digitale Lernplattform eDoer (www.projekt-adapt.de/edoer) genutzt. Dadurch konnten zudem digitale Kompetenzen erworben oder erweitert werden. Vor allem rechtliche und didaktische Aspekte digitalen Contents wurden von den Pflegekräften im Kontext des Hackathons diskutiert und bearbeitet.
Durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen und Mitarbeitender verschiedener Hierarchieebenen (Pflegefachkraft, Pflegehilfskraft, Pflegedienst-, Wohnbereichsleitung etc.) wird interaktives und soziales Lernen möglich, wodurch Handlungs- und Deutungsmuster auf individueller und kollektiver Ebene reflektiert und verändert werden können. Zudem werden die im Unternehmen vorhandenen Ressourcen und das Know-How der Mitarbeitenden genutzt. Der Einsatz digitaler Tools zur eigenständigen Aufgabenbearbeitung und Problemlösung während des Hackathons zielt darauf ab, die digitale Mündigkeit der Beschäftigten zu stärken.
4 Fazit
Die skizzierten Gestaltungsanforderungen der transformativen Entwicklungen in der Langzeitpflege erfordern eine beruflich-betriebliche Bildung, die Kompetenz- und Organisationsentwicklung reflexiv verknüpft. Voraussetzung dafür ist jedoch eine Organisations- und Führungskultur, die dieses Lernen nicht nur in Form formaler Bildung ermöglicht, sondern auch bereit ist, organisationale Veränderungen zuzulassen und sogar zu fördern. Damit können Arbeitsbedingungen verbessert werden, um den Berufsausstieg zu verhindern und den Wiedereinstieg zu fördern. Zudem sind Konzepte des Lernens im Prozess der Interaktionsarbeit notwendig, um die soziale Nachhaltigkeit in der Langzeitpflege für Teilhabe, Selbstbestimmung und Versorgungsqualität zu gestalten. Dies erfordert wiederum einen Funktions- und Rollenwechsel der betrieblichen Bildungsarbeit und des -personals, der nicht auf Instruktion basiert, sondern Lernen und Reflexion in der Arbeit ermöglicht und begleitet. Die hier vorgestellten Tools können dazu einen Beitrag leisten. Darüber hinaus sind sie für die Personalentwicklung insofern relevant, als dass dadurch insbesondere kreative und veränderungsbereite Beschäftigte identifiziert werden können, die als treibende Kraft bei der Umsetzung von Innovationen und Change Prozessen für die transformativen Entwicklungen in der Langzeitpflege fungieren können.
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