bwp@ Profil 7 - Juni 2022

Perspektiven wirtschafts- und berufspädagogischer sowie wirtschaftsethischer Forschung

Profil 7: Digitale Festschrift für Gerhard MINNAMEIER zum 60. Geburtstag

Hrsg.: Rico Hermkes, Tim Bruns & Tim Bonowski

Vorwort

Beitrag von Rico Hermkes, Tim Bruns & Tim Bonowski

Gerhard Minnameier feiert in diesen Tagen seinen 60. Geburtstag. Von diesen 60 Jahren ist er mittlerweile elf Jahre beruflich in Frankfurt am Main beheimatet. Im Jahr 2011 trat er die Pro­fessur für Didaktik der Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftspädagogik an der Goethe Universität an und übernahm zudem die Leitung des Center for Business Ethics. Nur ein Jahr später wurde daraus die Professur für Wirtschaftsethik und Wirtschaftspädagogik, die Gerhard Minnameier seitdem innehat. Die doppelte Denomination des Lehrstuhls spiegelt dabei das breite Spektrum an Forschungsinteressen des Inhabers wider und umfasst wirtschafts- und berufspädagogische Lehr-Lern-Forschung, Didaktik der beruflichen Aus- und Weiterbildung und wirtschafts- und unternehmensethische Forschung.

Eine erkenntnistheoretische Problemstellung, die dabei immer wieder in den Fokus rückt, betrifft strukturgenetische Prozesse und ließe sich vielleicht mit der Frage auf einen Nenner bringen: Wie entwickeln sich neue Strukturen aus einer bestehenden Ordnung? Die Frage betrifft sowohl die individuelle (moral-)kognitive Entwicklung als auch die Entstehung und Veränderung sozialer Strukturen. Bereits in der zweibändigen Dissertation aus dem Jahr 2000 widmet Gerhard Minnameier sich dieser Frage und knüpft dabei an Piagets Äquilibrations­theorie im Bereich der kognitiven Entwicklung sowie an Kohlbergs Stufentaxonomie im Bereich der moralkognitiven Entwicklung an, um eine kognitive Moralstufenkonzeption zu ent­wickeln. Darüber hinaus orientiert sich seine Arbeit an naturwissenschaftlichen Theorien, ins­besondere denen von David Bohm und James Crutchfield, um grundlegende Prinzipien zu iden­tifizieren, die Entwicklungsprozesse antreiben und Anlässe für solche strukturgenetischen Pro­zesse darstellen und diese dann auf Fragen der kognitiven Entwicklung anzuwenden: Auf wel­che Weise kann ein Individuum auf neue Aspekte seiner Umwelt überhaupt aufmerksam wer­den? Wie werden diese neuen Aspekte in bestehende kognitive Strukturen integriert, und wie können kognitive Hierarchien von Ordnungen entstehen?

Eine theoretische Grundlegung fand diese Auseinandersetzung in der inferentiellen Theorie, die auf Charles Sanders Peirce’s erkenntnislogischen Ansatz aufbaut und 2005 in „Wissen und inferentielles Denken“ entwickelt, in der Folge weiter ausgearbeitet wurde und mit der Gerhard Minnameier weit über die Disziplingrenzen hinaus wirkte. Die inferentielle Theorie erfüllt da­bei die Funktion, strukturgenetische Prozesse – und darunter insbesondere Lern- und Entwicklungsprozesse – als Prozesse logischen Schließens zu rekonstruieren und mit einer solchen Rekonstruktion, wie Gerhard Minnameier es selbst formuliert, „eine Brücke in Form einer bruchlosen logischen Verbindung vom Ausgangs- zum Endzustand“[1] zu schlagen. Die inferentielle Triade verkörpert insofern die Schritte der Entstehung und Etablierung neuer (kognitiver) Strukturen und Ord­nungen und fand in der Folge Einsatz in zahlreichen berufs-, wirtschaftspädagogischen und wirtschaftsethischen Anwendungskontexten. So entwickelte Gerhard Minnameier an seine Analyse des wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesens anknüpfend einen strukturgeneti­schen didaktischen Ansatz für den Rechnungswesen-Unterricht, der anschließend empirisch erprobt und untersucht wurde. Weitere Anwendungsfelder lagen in der berufs- und wirt­schaftspädagogischen Lehr-Lern-Forschung sowie der Unterrichtsqualitätsforschung. In der langen Liste von Beiträgen zu diesen Themenstellungen, die Gerhard Minnameier zu diesen Themen bei nationalen wie internationalen Fachtagungen präsentiert hat, zeigt sich nicht nur die Produktivität in Gerhard Minnameiers Schaffen, sondern auch seine Freude am kritisch-konstruktiven Austausch mit der wissenschaftlichen Community.

Das gilt in besonderer Weise auch für seine Arbeiten zur Moralentwicklung und zum morali­schen Handeln, die eine Verbindung von berufs- und wirtschaftspädagogischer sowie wirt­schaftsethischer Forschung darstellen. Gerade die Auseinandersetzung mit letzterer ging mit dem Erfordernis einher, auch implizite Prozesse bzw. intuitives Handeln in die inferentielle Theorie einzubeziehen. Ein wesentlicher Punkt in der Konzeption von Gerhard Minnameier ist dabei, dass Moralprinzipien nicht als bloße subjektive Wertvorstellungen angenommen werden, sondern – im spieltheoretischen Sinne – als Lösungen für Kooperationsprobleme aufgefasst werden, die es durch den Akteur (abduktiv) zu erschließen, (deduktiv) umzusetzen und schließ­lich auch hinsichtlich ihres Erfolgs (induktiv) zu bewerten gilt. Insofern kommt Moralprinzi­pien nicht nur die Rolle von Motivatoren für individuelles Handeln und für die Etablierung von Institutionen zu, sondern sie können selbst als Institutionen verstanden werden. Vom ethischen Standpunkt – eines unbeteiligten und möglichst objektiven Beobachters – stellt sich dann die Frage nach der Implementation solcher Moralprinzipien in eine gesellschaftlich-soziale Ord­nung.

Publiziert wurde die inferentielle Theorie, wie bereits ausgeführt, im Buch „Wissen und infer­entielles Denken“ im Jahr 2005. Wo die Überlegungen zur Logik, insb. in ihrer Bedeutung für die Wissensgenese und Vermittlung von Wissen – mithin auch als persuasives Mittel – ihren Ausgangspunkt nahmen, wie sie zu einer Theorie reiften und welchen Einflüssen dieser Entste­hungsprozess unterlag, darüber können wir nur spekulieren. Möglicherweise spielten hierbei ja auch kulturelle Einflüsse eine Rolle, und wir denken dabei insbesondere an die britische Debattenkultur. So hat Gerhard Minnameier in der Wendezeit 1989/90 ein Jahr als Fremd­sprachenassistent an verschiedenen Schulen in Großbritannien in der Grafschaft Hertfordshire verbracht. Das war zu einer Zeit, in der wir selber noch die Schulbank drückten und uns engli­sche Debattenkultur vorstellten, wie sie weniger im Englischunterricht, als vielmehr durch Monty-Python-Sketche vermittelt wurde (die sich hinsichtlich ihres didaktisches Potentials vor einem Vergleich mit mancher Englischstunde nicht zu verstecken brauchten und die, wie man hört, auch schon in einigen Einführungsvorlesungen, die Gerhard Minnameier in Wirt­schaftspädagogik und in Wirtschaftsethik hielt, didaktisch gezielten Einsatz gefunden haben). So lernte man in einem solchen Monty Python-Video zum Beispiel, dass es im Vereinigten Königreich offenbar „argument clinics“ gibt und britische Angestellte sich in Bezug auf das Führen von Streitgesprächen in Mikro-Training-Kursen weiterbilden konnten. Und man konnte, vermittelt durch dieses Lehrvideo, nachvollziehen, wie ein solches Streitgespräch wohl aufzubauen und zu führen sei. Ein Auszug daraus soll einmal einen beispielhaften Eindruck vermitteln, wie ein solcher Kurs standardmäßig abläuft und auf welchen didaktischen Prinzi­pien er fußt. Der Kursteilnehmer (T) betrifft den Raum und wird vom Kursleiter (L) empfangen:

T: Is this the right room for an argument? / L:  I’ve told you once. / T: No you haven't! / L: Yes, I have. / T: When? / L: Just now. / T: No you didn't! / L: Yes, I did! / T: You didn't! / L: I did! … / T: Oh look, this isn't an argument! / L: Yes, it is! / T: No it isn't! It's just contradiction! / L: No it isn't! / T: It IS! / L: It is NOT! / T: You just contra­dicted me! … An argument isn't just contradiction. / L: Well! it CAN be! / T: No it can't! An argument is a connected series of statements intended to establish a proposi­tion. / L: No it isn't! / T: Yes, it is! 'tisn't just contradiction. / L: Look, if I *argue* with you, I must take up a contrary position! / T: Yes but it isn't just saying 'no it isn't'. / L: Yes, it is! / T: No it ISN'T! Argument is an intellectual process. Contradiction is just the automatic gainsaying of anything the other person says. / L: It is NOT! / T: It is! / L: Not at all! / T: It is! (The Arguer hits a bell on his desk and stops.)

Aus damaliger Schülersicht bot das einerseits ein Paradebeispiel britischer Debattenkultur, andererseits aber auch einen Eindruck britischen Humors und in die durch ständige und beinahe schwindelerregende Perspektiven- und Themenwechsel erreichte Komik dieser Szene. Aus einer heutigen – berufs- und wirtschaftspädagogischen – Sicht illustriert das Beispiel aber auch noch zwei über diese Eindrücke hinausgehende Aspekte. Zum einen zeigt es, dass auch didak­tische Techniken, wie die sokratische Methode, offenkundig übungsbedürftig sind, und dass insbesondere der sokratische elenchos, also die Widerlegung unzureichend durchdachter Behauptungen und untauglicher Definitionsvorschläge einige pädagogische Fertigkeiten erfor­dert. Zum anderen illustriert das Beispiel auch, dass es in der pädagogischen Forschung oft darauf ankommt, die Innensicht der Akteure einzubeziehen, also aus der Perspektive der Pro­tagonisten zu denken, um den semantischen Gehalt von Aussagen bzw. die Sinnhaftigkeit von Standpunkten oder Verhaltensweisen beurteilen zu können. Das gilt für empirisch-forschungs­bezogene Kontexte wie bei der der inferentiellen Rekonstruktion von Lernprozessen oder der Beurteilung von Entscheidungen hinsichtlich Ihrer Rationalität gleichermaßen wie für didakti­sche Kontexte: der Entwicklung von Lerngelegenheiten, der praktischen Planung und Durch­führung von Unterricht oder der Initiation und Unterstützung von Lernprozessen.

Wie bereits erwähnt, hat die inferentielle Theorie verschiedene Anwendungsbereiche. Hinzu kommt noch ein weiterer. Etwas freier interpretiert vermag die inferentielle Triade auch die Skills und Eigenschaften abzubilden, die Gerhard Minnameiers wissenschaftliches Arbeiten charakterisieren und an denen wir uns als seine Mitarbeiter gerne ein Vorbild nehmen. Da sind zum einen die „abduktiven Eigenschaften“: die wissenschaftliche Neugier und Offenheit, neue Perspektiven zu erwägen und einen Blick über die Grenzen der eigenen Disziplin hinauszu­wagen, verbunden mit dem Bestreben, die Sachverhalte schließlich in kohärenter Weise zuei­nander zu bringen. Des Weiteren sind da die logische Stringenz und analytische Präzision in der wissenschaftlichen Arbeit, die sich in Begriffsbestimmungen zeigen und in der Durchdrin­gungstiefe wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche widerspiegeln. Darin bestehen gewisser­maßen die „deduktiven Skills“. Und nicht zuletzt ist da die Auffassung, dass Nachdenken und Räsonieren im Studierzimmer oder Tüfteln im Labor nur einen Teil der wissenschaftlichen Arbeit ausmacht und ein weiterer – mindestens ebenso wichtiger Teil – in der Partizipation an wissenschaftlichen Communities besteht, die ein konstruktives Ringen um Theorien, Stand­punkte und Positionen bedeutet und insofern Wissenschaft in den Modus diskursiver Auseinan­dersetzung setzt. Dies sind schließlich die „induktiven Eigenschaften“.

In diesem Sinne wünschen wir uns mit der Veröffentlichung dieser Festschrift, sie möge zur Anregung dienen und zur Fortsetzung des wissenschaftlichen Austauschs beitragen oder viel­leicht sogar zur Eröffnung neuer Diskurse anregen. Die Beiträge der Festschrift umfassen ein breites thematisches Spektrum und sowohl konzeptionelle als auch empirische Beiträge zu berufs- und wirtschaftspädagogischen Problemstellungen. Sie wurden von langjährigen Kolle­ginnen und Kollegen, Weggefährtinnen und Weggefährten sowie von ehemaligen und aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Gerhard Minnameier verfasst.  Der Band  beinhaltet Beiträge zur pädagogischen Theorienentwicklung, zur Modellbildung und begrifflichen Bestim­mungen berufsbezogener Konzepte, Beiträge, die pädagogische Vermittlungsfragen in der beruflichen Ausbildung und Bedingungen moralischen Handelns in beruflichen Kontexten betreffen, sowie Beiträge, die sich konzeptionell mit aktuellen Fragen und Problemstellungen der Wirtschafts- und Unternehmensethik auseinandersetzen und die Positionierung der Wirt­schaftsethik in den Wirtschaftswissenschaften, der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung und der ökonomischen Bildung betreffen.

Die Herausgabe dieser Festschrift ist mit großem Dank an Gerhard Minnameier verbunden, für die herzliche Arbeitsatmosphäre, für die immerwährende hilfreiche Unterstützung, insbeson­dere in den Qualifikationsphasen, für eine offene, anregende und inspirierende Diskussionskul­tur, für Geduld und für gewährte Freiräume in der wissenschaftlichen Arbeit und bei der Aus­einandersetzung mit wissenschaftlichen Fragestellungen.

Dass diese Festschrift überhaupt entstehen konnte, ist der Bereitschaft und dem Mitwirken der zahlreichen Autorinnen und Autoren zu verdanken. Wir möchten uns daher bei allen beitragen­den Autorinnen und Autoren herzlich bedanken, dass Sie diesen Band mit Leben gefüllt haben.

Unser Dank gilt zudem den Herausgeberinnen und Herausgebern der bwp@. Insbesondere möchten wir Franz Gramlinger für die redaktionelle Betreuung danken.

Rico Hermkes, Tim Bruns und Tim Bonowski
(Herausgeber von Profil 7)
Juni 2022

 

[1] In: Minnameier, G. (2005): Wissen und inferentielles Denken. Frankfurt am Main, 241.

Zitieren des Beitrags

Hermkes, R./Bruns, T./Bonowski, T. (2022): Vorwort für bwp@ Profil 7: Digitale Festschrift für Gerhard Minnameier. In: bwp@ Profil 7: Perspektiven wirtschafts- und berufspädagogi­scher sowie wirtschaftsethischer Forschung. Digitale Festschrift für Gerhard Minnameier zum 60. Geburtstag, hrsg. v. Hermkes, R../Bruns, T./Bonowski, T., 1-5. Online: https://www.bwpat.de/profil7_minnameier/vorwort_profil7.pdf (12.06.2022).