Editorial bwp@ 18
Editorial von Karin Büchter, Anke Grotlüschen & H.-Hugo Kremer
Die seit den 1970er Jahren nachweisbaren Abstimmungsprobleme zwischen dem Bildungs- und dem Berufsbildungssystem sowie zwischen dem Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem haben deutlich gemacht, dass die Idealvorstellung der Nachkriegszeit von einer „Normalbiographie“ nicht haltbar ist. Das seit den 1980er Jahren anwachsende „Parallelsystem ergänzender Bildungsangebote“, das unter dem Namen „Übergangssystem“ in der (Berufs-)
Bildungsdiskussion und -forschung behandelt wird, ist vielmehr Ausdruck für die Normalität diskontinuierlicher individueller Berufsbildungs- und Beschäftigungsverläufe. Diesem Übergangssystem kommt aus der Perspektive der Arbeitsmarkt- und Ausbildungspolitik eine wichtige absorbierende Funktion zu, die durch die Aufnahme von ca. 500.000 Jugendlichen in eine Vielzahl von Maßnahmen erfüllt wird. Diese Angebote führen jedoch zu keinem der dualen Ausbildung gleichwertigen Berufsabschluss. Doch auch nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung ist der Weg in die Beschäftigung nicht immer gradlinig. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der Absolventen und Absolventinnen einer dualen Ausbildung ergibt sich an der sog. „zweiten Schwelle“ von der Ausbildung in Beschäftigung eine Arbeitslosenquote von 35,6 %. Für viele Jugendliche bedeutet demnach die Abstimmungsproblematik zwischen dem Bildungs- und Beschäftigungssystem, dass (Berufs‑)bildungswege blockiert, abgebrochen, umgeleitet, verlängert werden.
Bereits in den 1970er Jahren zeichnete sich das Problem mangelnder Anschlussfähigkeit von Bildung, Berufsbildung und Beschäftigung ab. Seit der damaligen Diskussion haben sich zu seiner Bewältigung zwei Lösungsoptionen durchgesetzt: „institutionelle Flexibilisierung“ und „selbstregulative Abstimmung“ (BECK/ BRATER/ DAHEIM 1980) (BECK, U./ BRATER, M./ DAHEIM, H. (1980): Soziologie der Arbeit und Berufe. Reinbeck bei Hamburg.). Mit institutioneller Flexibilisierung ist die Entbürokratisierung des Zugangs zu Wissen, der Aneignung von Wissen, der Organisation von Wissenstransfer sowie der Anerkennung verschiedener Formen des Wissen gemeint. Diese Entkrustungen sollen zu einer besseren Anschlussfähigkeit von (Berufs-)Bildung an Beschäftigung und damit zur besseren Durchlässigkeit beitragen. Die Option der selbstregulativen Abstimmung konzentriert sich weniger auf die Entbürokratisierung institutioneller Ordnungen, sondern auf die individuelle Verantwortung für eine bessere Abstimmung von Berufsbildung und Beschäftigung, und zwar durch Selbststeuerung der Aneignung und der Verwertung von subjektiven Wissensbeständen (Stichworte: „Arbeitskraftunternehmer“, „Employability“, „berufsbiographische Gestaltungskompetenz).
In der Praxis stoßen beide Optionen an sozialhistorisch generierte und sozialstrukturell verankerte Grenzen im Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem. So hat sich seit den 1960er Jahren eine prinzipielle Vielfalt an Berufsbildungswegen und Wegen in Beschäftigung ausdifferenziert, die jedoch im Hinblick auf ihre Zugangsregelungen, Anerkennungsprozeduren, Selektionsmechanismen häufig nach tradierten Logiken gesteuert werden. Selbst im Kontext institutioneller Flexibilisierung im Berufsbildungssystem kommen alte Muster der Zuweisung in Übergänge und Selektionen wieder zum Durchbruch. Die Grenzen selbstregulativer Abstimmung liegen darin, dass mit der institutionellen Entbürokratisierung noch schwerer greifbar wird, auf welcher Basis Entscheidungen über Zugang zu weiter führender Berufsbildung und Beschäftigung getroffen werden. Das Konzept der selbstverantworteten Integration in Berufsbildung und Beschäftigung stößt aber vor allem angesichts ungleicher individueller Entwicklungsmöglichkeiten und berufsbildungsbiographischer Erfahrungen, die zu ungleichen Bedingungen bei der Entscheidung für und Gestaltung von individuellen (Berufs-)Bildungs- und Beschäftigungswege führen, an Grenzen.
So befinden sich trotz einer zunächst scheinbaren Fülle an (Berufs-)Bildungsmöglichkeiten befinden sich viele Jugendliche und Erwachsene im Berufs-/Weiterbildungswesen dort, wo sie eigentlich nicht hin wollten.
Mit dieser Ausgabe von bwp@ wollten wir Beiträge versammeln, in denen vor allem die subjektive Sicht von Jugendlichen und Erwachsenen in Berufsbildungsverläufen in den Blick genommen wird. Deshalb hatten wir dazu aufgefordert, Aufsätze, die sich theoretisch, empirisch und praktisch-konzeptionell mit Chancen und Widerständen in individuellen Bildungsverläufen im Berufsbildungswesen, mit biographische Auswirkungen von diskontinuierlichen Bildungsverläufen und mit Fragen nach der Selbstverantwortung und berufsbiographische Gestaltungskompetenz auseinandersetzen.
Auf den call for papers für diese Ausgabe sind eine Reihe an Beitragsvorschlägen eingegangen, für die wir uns recht herzlich bedanken möchten.
Leider konnten wir nicht alle Beiträge berücksichtigen. Dies lag beispielsweise daran, dass die Themen nicht ganz in den inhaltlichen Rahmen der Ausgabe passten, dass durchaus vielversprechende Forschungsprojekte, über die berichtet werden sollte, sich in einem noch sehr frühen Stadium befinden oder dass theoretische oder methodische Überlegungen zu knapp ausfielen.
Teil 1: Wege im Berufsbildungssystem – Einmündungen und Entscheidungen
Ralf Dorau analysiert in seinem Beitrag die Einmündungsprozesse von dualen Ausbildungsabsolventen. Verglichen werden nicht nur einzelne Zeitpunkte, sondern Berufsverläufe in einem dreijährigen Beobachtungszeitraum. Weiterhin wird analysiert, welchen Einfluss der Wirtschaftszweig des Ausbildungsbetriebs und die Ausbildungsberufsgruppe auf die Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beschäftigungssegment ausüben.
Obwohl in der (Berufs-)Bildungsforschung das Konzept der Normalbiographie inzwischen als nicht mehr tragfähig angesehen wird, geht Ulrike FROSCH in ihrem Beitrag davon aus, dass sich der moderne Lebenslauf in der Funktion eines gesellschaftlichen Ordnungssystems weiterhin an der Dreiteilung, Ausbildung, Erwerbsarbeit und Ruhestand, orientiert. Die Autorin thematisiert vor allem die strukturellen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und die damit verbundenen Chancen und Risiken für die Berufsbildungswegeplanung Jugendlicher und junger Erwachsener.
Jacqueline Bomball, Aylin Schwanke, Svenja Schmitt, Martina Stöver, Markus Zimmermann und Stefan Görres gehen in ihrem Beitrag der Frage nach, wie Pflegeauszubildende in den Beruf gelangen und warum Schüler und Schülerinnen eine äußerst geringe Neigung zur Ergreifung eines Pflegeberufes zeigen. Hierzu wurden Daten von 472 Jugendlichen in der Phase der Berufsorientierung sowie von 267 Auszubildenden in Pflegeberufen zu ihrem Berufswahlverhalten und den Einflussfaktoren zur Berufsentscheidung ausgewertet.
Im Mittelpunkt des Beitrags von Stefan Bestmann und Sarah Häseler stehen die Ergebnisse der Evaluation eines Berliner Modellprojekts: „Netzwerk Bildung – Begleitung – Beruf“. Im Rahmen dieses Modellprojektes werden Jugendliche beim Übergang von einem Oberstufenzentrum in die Berufsausbildung durch Beratungs- und Bildungsangebote begleitet. In der Evaluation geht es vor allem um die Frage, ob und inwieweit Jugendliche durch diese Angebote Unterstützung für ihre beruflichen Perspektiven erhalten.
Teil 2: Individuelle Berufsbildungsbiographie – Identität und Gestaltungskompetenz
Ausgehend von herkunftsbedingten und sozialstrukturellen Unterschieden, institutionellen Schließungsprozessen und Diskriminierungen im (Berufs-)Bildungssystem geht Daniela Ahrens in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Konsequenzen die hohe Regelungsdichte des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in die duale Ausbildung für die individuelle Planung von Karriere hat. Ziel es Beitrag ist es, die Debatte um den Eintritt von Jugendlichen in die duale Ausbildung mit dem Aspekt der Identitätsentwicklung im Jugendalter zu verknüpfen.
Mit dem Anspruch, Stärkung des Subjekts zur Bewältigung des Wandels, fragen Wiebke Petersen und Gerald Heidegger in ihrem Aufsatz danach, welche Formen der Anerkennung den Individuen zu rechtlicher, sozialer sowie zu „Selbst-Anerkennung“ verhelfen, die sie mit berufspädagogischer Unterstützung aus sich selbst heraus gewinnen müssen. Eine zentrale Kategorie stellt dabei die berufsbiographische Gestaltungskompetenz dar, die im Hinblick auf Faktoren und Fähigkeiten ausgelotet wird. Exemplarisch wird hierbei auf ein Projekt zur Selbstevaluation zurück gegriffen.
Eva Anslinger und Eva Quante-Brandt knüpfen an Befunde an, nach denen Jugendliche und junge Erwachsene zusätzliche Kompetenzen benötigen, um Eingang in die berufliche Bildung zu finden und kritisieren, dass die Grundbildung im Übergangssystem weder systematisch diagnostiziert noch gefördert wird. Anhand qualitativer Daten aus dem Projekt Literalitätsentwicklung wird herausgearbeitet, über welche Kenntnisbestände die Lernenden im Bereich der Grundbildung verfügen, und wie eine individuelle Kompetenzentwicklung erfolgen kann.
Sarah Häseler plädiert in ihrem Beitrag dafür, dass Berufsorientierung derart ausgerichtet sein, muss, dass zugleich die Bereitschaft für lebenslanges Lernen gefördert wird. Die Autorin fokussiert dabei auf den individuellen Nutzen bürgerschaftlichen Engagements im Kontext lebenslangen Lernens. Anhand von qualitativen Interviews mit ehrenamtlichen Mentoren und Mentorinnen, die Jugendlichen beim Übergang von der Schule in die Ausbildung begleiten, soll der für diese Mentoren und Mentorinnen durch den Begleitprozess entstehende Nutzen bezüglich ihrer eigenen individuellen beruflichen Orientierung betrachtet werden.
Zur Förderung berufsbiographischer Gestaltungskompetenz schlägt Uwe Elsholz die Portfolioarbeit vor. Der Aufsatz zeigt die Spannbreite möglicher Einsatzfelder des Portfoliokonzepts in der beruflichen Bildung auf. Ausführlicher wird dabei auf ein Ausbildungsportfolio eingegangen. Er zeigt, dass Portfolioarbeit dabei unterstützen kann, die eigenen Lernwege und die individuelle berufliche Entwicklung einzuschätzen.
Bei den Autorinnen und Autoren möchten wir uns recht herzlich bedanken. Sie haben dazu beigetragen, dass die Ausgabe zustande kommen konnte, die sich als ein Angebot für Diskussionen versteht.
Karin Büchter, Anke Grotlüschen & H.-Hugo Kremer
im Juni 2010