Partner von bwp@: 
  SAP University Alliances Community (UAC)   giz - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit    Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.    Österr. Konferenz für Berufsbildungsforschung       

bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT18 - Sprachen
Herausgeber: Hilmar Grundmann

Titel:
Sprachen - Die Förderung der Lese- und Ausdrucksfähigkeit in den beruflichen Übergangssystemen als Beitrag zum Erwerb der Berufsreife


Sprachliche Hilfen für Auszubildende mit Hörbehinderung

Beitrag von Susanne WAGNER (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Abstract

Viele Kinder und Jugendliche mit Hörbehinderung haben aufgrund ihrer behinderungsbedingt geringen Lautsprach-Erfahrung auch ausgeprägte Probleme im schriftsprachlichen Bereich. Unbekannte Wörter und Wendungen sowie die geringe Vertrautheit mit den morphologischen und syntaktischen Regeln des Deutschen verschließen ihnen viele schriftsprachliche Lehr- und Fachbuch-Texte. Am Ende der Berufsausbildung stellt die schriftliche Prüfung – mit z.T. extrem komprimierten und komplizierten Aufgabentexten – die größte Barriere für einen erfolgreichen Berufsabschluss und Übergang ins Arbeitsleben dar. In der (Berufs)schule kann man mit verschiedenen Maßnahmen auf die Situation reagieren. Einerseits werden typischerweise spezifische Unterrichts-Einheiten zur Laut- und Schriftsprach-Förderung angeboten. Andererseits werden Fachtexte durch das Anpassen des Sprachniveaus von ihren sprachlichen Barrieren befreit (Textoptimierung). Die Textoptimierung von Fachtexten basiert auf der Annahme, dass man jeden Fachinhalt auf verschiedene Arten sprachlich realisieren kann - auch mit syntaktisch, morphologisch und lexikalisch einfachen Mitteln. Textoptimierte Lehrbuch-Texte, erstellt von den Lehrpersonen, machen die Ausbildungsinhalte für die Auszubildenden sprachlich zugänglich. Mit Textoptimierten Prüfungen, gemeinschaftlich erstellt durch berufsfachliche und linguistische Expert/inn/en, können Auszubildende ihr Fachwissen unter Beweis stellen, ohne vor jeder Aufgabe eine kleine „Deutsch-Prüfung“ bestehen zu müssen.

1 „Sie können nicht hören - aber lesen können sie doch !“

1.1 Lautsprach-Erwerb basiert auf Hören

Hörbehinderte Menschen können an einer gesprochenen Konversation nur schwer teilhaben. Der Grund scheint klar: Die auditive Reiz-Aufnahme bzw. -Verarbeitung ist gestört, also ist auch die Lautsprach-Wahrnehmung eingeschränkt bis unmöglich („Lautsprache“ wird verwendet in Abgrenzung zu „Gebärdensprache“). Doch das eingeschränkte Hören während des Gesprächs ist möglicherweise nicht der einzige Grund für das Konversationsproblem. Die Problemlage ist deutlich vielschichtiger und kann das gesamte Lautsprach-System in der gesprochenen wie in der geschriebenen Modalität betreffen.

Der natürliche Lautsprach-Erwerb im Kindesalter basiert vor allem auf dem Hören gesprochener Sprache. Diese Hauptquelle des Lautsprach-Erwerbs steht Kindern mit Hörbehinderung nur eingeschränkt zur Verfügung. Die Folge sind ein z.T. deutlich minimierter Wortschatz und eine geringe(re) Vertrautheit mit den grammatikalischen Regeln der Lautsprache, auch im Erwachsenenalter (MARSCHARK et al. 2009, 359). Diese lexikalischen und morpho-syntaktischen Folgen des eingeschränkten Lautsprach-Erwerbs zeigen sich im mündlichen ebenso wie im schriftlichen Bereich.

1.2 Lesen bei eingeschränkter Lautsprach-Kompetenz

Nicht (gut) hören können behindert das Lesen und Schreiben aber auch noch auf eine andere Art: Wenn Kinder (deutsch) lesen lernen, dann verstehen sie, dass Buchstaben für bestimmte Laute stehen. Lesen ist am Anfang eine Art Wiedererkennen von Wörtern, die durch die mündliche Konversation bereits vertraut sind (Kind liest: M - A - M - A. überlegt kurz - sagt: Ah! Mama!). Dieses Wiedererkennen ist umso schwerer, je unklarer die phonetisch-phonologischen Abbilder der Wörter im mentalen Lexikon sind.

Der folgende Text mag die Situation verdeutlichen. Der eheliche Dialog stammt von Lene Voigt, einer sächsischen Mundart-Dichterin (VOIGT 2005, 59):

's Galbsgoddlädd

Nee, Minna, de bisd doch wärgglich ä brächdches Weib, ich berei's ooch geene Seggunde, daß'ch dich dazemal geheirad hawwe. Un wie de nu heide Middahche wiedr das Galbsgoddlädd scheene gemachd hasd

Gwaddsche nor nich solchn Bleedsinn!

Nu awr mei Bubbchn, freid dich dänne das nich, wänn dei Männichen deine Gochgunsd so anergennd? De gannsdmrsch gloom, so ä abbedidliches Galbsgoddlädd …

Häär doch nu bloß uff mid so'n Schduß! Friß liewr!

Nee, mei Deibchn, heide verschdehch dich awr weeßgnebbchn nich. Nischd wie Freindlichgeedn sahch'ch dr un de beniemsd das Gwaddsch un Schduß.

Un da bleibch ooch drbei, un das is ooch heerer Bleedsinn, wänn ä Mann eechal von Galbsgoddlädd gwasseld, wo 'r doch ä Schweinsgoddlädd uffn Dällr hadd!


Hier steht die lautliche Basis auch für die Lesekompetenten auf sehr wackeligen Füßen, denn die mentalen Lexika der meisten Leser/innen enthalten zu den geschriebenen Wörtern nur mäßig passende Lautform-Einträge (Galbsgoddlädd - Kalbskotelett, Deibchn - Täubchen), und manchmal gibt es gar keinen Eintrag im mentalen Lexikon (weeßgnebbchn nich - „weiß Knöpfchen nicht“ - in etwa: „weiß Gott nicht / ganz bestimmt nicht“). Unter solchen Bedingen funktioniert das klassische Lesen – das Zuordnen von Buchstabenfolgen zu bekannten Lautfolgen – nur schwer oder gar nicht. In dieser Lesesituation befinden sich viele Menschen, die bereits als Kinder eine (schwere) Hörbehinderung hatten, ihr Leben lang.

Das Lesen hörbehinderter Menschen basiert daher stärker auf einem direkten visuellen Zugang zum mentalen Lexikon, wobei beim Verstehen nur eingeschränkt oder gar nicht auf die gesprochene Sprache zurückgegriffen wird. Das bedeutet: Lautsprach-Wörter werden überwiegend schriftsprachlich gelernt, auch die morphologischen und syntaktischen Regeln ihrer Verwendung.

Schriftsprache wird aber deutlich weniger verwendet als Lautsprache. Der eingeschränkte Lautsprach-Zugang in Kombination mit der geringen Nutzungsfrequenz von Schrift verhindert die weitgehende Automatisierung lautsprachlicher Sprachverarbeitung (gesprochen und geschrieben), wie sie in der Kindheit normalerweise stattfindet (für einen Überblick vgl. FRIEDERICI 2005). Diese Automatisierung ist ein wichtiger Prozess: Je automatischer die Sprachverarbeitung abläuft, desto weniger kognitive Ressourcen („Konzentration“) braucht man für die Sprachverarbeitung und umso mehr kognitive Ressourcen können in andere Aufgaben fließen. Dies ist vergleichbar mit dem hohen Konzentrationsaufwand, den ein Fahranfänger ins Autofahren investieren muss – im Gegensatz zur erfahrenen Autofahrerin, die viele Fahrhandlungen automatisiert ausführt, so dass sie nebenbei noch ein intensives Gespräch führen kann.

Die Verarbeitung lautsprachlicher Sprachstrukturen bleibt bei vielen Menschen mit Hörbehinderung im Startstadium: Das Lesen und Verstehen von Lautsprache belegt einen großen Teil der verfügbaren Verarbeitungskapazität, und es stehen weniger Ressourcen für andere kognitive Aufgaben zur Verfügung. Dies ist vor allem dann problematisch, wenn Lautsprache – gesprochen oder geschrieben – als Transportmittel für wichtige Inhalte dient, wie z.B. beim Lernen aus Texten und Vorträgen oder bei schriftlichen Prüfungen. Wenn ein Großteil der kognitiven Ressourcen ins Sprachverstehen investiert werden muss, dann stehen für die Wissensentnahme und für die Beantwortung von Prüfungsaufgaben entsprechend weniger Ressourcen zur Verfügung.

Fazit: Eine Hörbehinderung in der Kindheit beschränkt den Zugang zur Lautsprache und damit den Aufbau des Wortschatzes sowie die Anlage und Automatisierung des grammatikalischen Regelsystems im Gehirn. Diese Einschränkungen zeigen sich auch im schriftsprachlichen Bereich. Wenn Schriftsprache genutzt wird, um Informationen oder Anforderungen (z.B. Lehrinhalte oder Prüfungsaufgaben) zu übermitteln, kommt es schnell zu Verständnisproblemen. Darüber hinaus müssen die Auszubildenden vergleichsweise viel Energie in das Sprachverstehen investieren, und für die inhaltlichen Aspekte stehen weniger kognitive Ressourcen zur Verfügung. Auf diese Situation sollte mit entsprechend angepassten Lehr-Methoden und -Mitteln sowie sprachlich angepassten Prüfungsaufgaben reagiert werden.

2 Lernen in der Fremdsprach-Welt

2.1 Unterricht

Ein grundlegendes Merkmal des Unterrichts an Schulen, die spezifisch auf die Bedürfnisse hörbehinderter Auszubildender ausgelegt sind, ist die enge Verzahnung des Fachunterrichts mit der Sprachförderung. Fachunterricht ist immer verknüpft mit dem Aufbau der spezifisch notwendigen Sprachkompetenz. Das betrifft einerseits den Fachwortschatz, andererseits aber auch die standardsprachlichen Strukturen, die um den Fachwortschatz herum verstanden werden müssen. Ein zweites wesentliches Merkmal ist die spezielle technische Ausstattung, die für hörbehinderte Auszubildende vorgehalten werden muss, um optimale Kommunikationsbedingungen zu schaffen (verschiedene Höranlagen, Schalldämmung zur Minimierung des Störschalls, visuelle Informations- und Alarmsysteme, Licht-Adaptierbarkeit zum guten Absehen vom Mund usw., vgl. RUHE 2008).

Im Unterricht wird der bevorzugte Kommunikationsweg der Auszubildenden berücksichtigt. Es wird z.T. gebärdenunterstützt unterrichtet, und in bilingualen Schulversuchen wurde getestet, inwiefern Unterricht in Deutscher Gebärdensprache (DGS) bzw. in DGS und Lautsprache den Lernerfolg verbessert (GÜNTHER/ SCHÄFKE 2004). Die visuellen Möglichkeiten der Lautsprache werden im lautsprachlich geführten Unterricht ausgereizt: Gesten als normaler Bestandteil der Lautsprach-Kommunikation treten verstärkt auf und erleichtern das Verstehen lautsprachlicher Erläuterungen (OBERMEIER et al. im Druck); Bilder und Filme präsentieren Themen auf visueller Basis – oft mit Untertiteln – und erlauben es, das zugehörige Vokabular (oft in Lautsprache und Gebärdensprache) auf anschaubare Art einzuführen. Wichtige Satzstrukturen und Wendungen werden in spezifischen Lerneinheiten in Deutsch/Kommunikation erarbeitet; hier liegt der Fokus auf standardsprachlichen Strukturen.

Aufgrund der physikalischen Barrierefreiheit nimmt die Schriftsprache - trotz der oben geschilderten Problematik - eine wichtige Rolle im Unterricht ein. Schrift ist für Schüler/innen und Lehrpersonen physikalisch gleich gut zugänglich, und sie eignet sich als individuelles Speichermedium für Wissenswertes. (Für Gebärden gibt es bislang kein vergleichbar verbreitetes Schriftsystem.) Einige schriftsprachbasierte Methoden können die Kommunikation im Unterricht für hörbehinderte Menschen unterstützen:

Dolmetschen / Lautsprach-Schriftsprach-„Dolmetschen“: Neben dem Einsatz von Gebärdensprach-Dolmetscher/innen finden sich verschiedene Möglichkeiten, lautsprachlichen Unterricht in eine physikalisch zugängliche Form zu bringen – oft wird die gesprochene Sprache in geschriebene Sprache übertragen. Dies ist nicht trivial, denn wir sprechen deutlich schneller als wir schreiben können.

Mitschreibedienste bringen das gesprochene Wort exzerpierend zu Papier, womit einerseits ein (eingeschränktes) Mitlesen während des Unterrichts und andererseits späteres Nachlesen ermöglicht wird. Spezialisierte Schrift-Dolmetscher/innen (Terminus der Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung, vgl. BMJ 2002) verschriften mit Hilfe spezieller Technologien einen großen Teil der lautsprachlichen Äußerungen. Die Mitschriften können so genau sein, dass sie den Anforderungen genügen, die an Wortprotokolle von Parlaments-Debatten und Gerichtsverhandlungen gestellt werden (ausführlich dazu WAGNER 2005). Über Software-Lösungen wie C-Print, das es bislang allerdings nicht für Deutsch gibt, wird nicht nur Laut- in Schriftsprache übertragen, sondern die Auszubildenden können auch Fragen und Kommentare zurückschreiben und von den Lehrpersonen beantworten lassen (vgl. NTID 2011). In der interaktiven Version von C-Print werden ganze Teile der Unterrichts-Kommunikation in die Schriftlichkeit verlagert. Komplett schriftlich ist der Unterricht per Chat. So bildet der Chat-Unterricht ein wesentliches Standbein im „blended learning“-Konzept der Virtuellen Fachschulen, die das Rheinisch-Westfälische Berufskolleg für Hörgeschädigte in Essen seit vielen Jahren anbietet, um hörbehinderten Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung den Weg in die Höherqualifizierung zu eröffnen (PETERS 2011, FST 2011a).

Dialogue / Working Journals: In den Journals findet eine direkte schriftliche Kommunikation zwischen einer Schülerin / einem Schüler und einer Lehrperson statt. In Dialogue Journals tauschen sie sich eher über persönliche Themen aus, in Working Journals über ein spezifisches Fachthema. Über den direkten Dialog mit der Lehrperson entsteht bei den Auszubildenden (meist) eine hohe Motivation, sich über Schriftsprache auszudrücken. Die Lehrperson geht in ihren Beiträgen individuell und sprachlich angepasst auf die Texte der Schülerin / des Schülers ein und fördert innerhalb ihrer Antworten und oft unbemerkt deren sprachlichen Fähigkeiten. Die sprachliche Förderung erfolgt gleichsam "nebenbei", indem neue Vokabeln oder sprachliche Wendungen im Text so verwendet werden, dass ein sofortiges Verstehen möglich ist (über Kontext oder Bilder). Fehler der Auszubildenden werden typischerweise nicht korrigiert, sondern die Ausdrücke werden durch die Lehrperson in der Antwort korrekt benutzt (korrektives Feedback). Ausführliche Darstellungen finden sich u. a. in SCHLENKER-SCHULTE 2005, WAGNER/ SCHLENKER-SCHULTE 2005 a,b.

Sprachliche Adaption von Lehrmaterialien: Lehrbuchtexte sind – sprachlich gesehen – Fachtexten ähnlich. Fach-Termini, Definitionen, Merksätze und Formeln werden überwiegend in einer sehr verdichteten und oft auch grammatikalisch komplexen Sprache erklärt; mit vielen Genitiven, Nominalisierungen, zusammengesetzten Substantiven und komplexen Nebensatz-Konstruktionen (NIEDERHAUS 2011). Visuelle Hilfsmittel wie Bilder finden sich zwar durchaus, aber Gebärden-Erklärungen oder Filme stehen i.d.R. nicht zur Verfügung. Damit sind Lehrbuchtexte für viele hörbehinderte Auszubildende sprachlich kaum zu bewältigen. Aus diesem Grund werden Lehrbuchtexte für Auszubildende mit Hörbehinderung textoptimiert, d. h. an das Sprachniveau der Auszubildenden angepasst. Dabei ersetzen die Lehrkräfte die komplexen Formulierungen und seltenen Wörter durch leicht verstehbare sprachliche Konstruktionen. Dies entspricht in Teilen der „Didaktisierung“, mit der ebenfalls Lehrtexte zugänglich gemacht werden (u. a. KÖHLER-KNACKER 2009), das Primat der Textoptimierung liegt aber deutlich stärker auf den rein sprachlichen Veränderungen. Textoptimierung ist außerdem sehr wichtig, wenn es um das Absolvieren von Prüfungen geht. Hier zeigen sich die sprachlichen Probleme hörbehinderter Auszubildender in aller Klarheit.

3 Schriftliche Prüfungen - Sprachliche Komplexität in Höchstform

3.1 Prüfungsaufgaben

Viele Prüfungsaufgaben haben einen ganz charakteristischen Aufbau: Auf die Einleitung mit deskriptiver bzw. instruktiver Funktion folgt die eigentliche Aufgabenstellung, meist eine Frage oder Aufforderung. Bei handlungsorientierten Prüfungen hängen oft mehrere Aufgaben inhaltlich zusammen; ihnen ist häufig ein einleitender Text vorangestellt. Bei „multiple-choice“-Aufgaben stehen am Ende noch die Antwortvorgaben.

Unabhängig von den Spezifika der Aufgabentypen gibt es in allen Aufgabentexten viele Fachwörter, Nominalketten und Reihen von Präpositionalphrasen, vergleichbar mit typischen Amtstexten (EICHHOFF-CYRUS/ ANTOS 2008). Vergleichbar mit allgemein fachsprachlichen Texten findet man viele Nominalisierungen, Komposita-Bildungen, Wortneubildungen und Passivkonstruktionen (SCHLENKER-SCHULTE/ WAGNER 2006).

Die Kombination von Amtsdeutsch mit Fachsprachdeutsch ergibt Aufgabentexte, die morphologisch und syntaktisch sehr komplex und semantisch extrem verdichtet sind und so gut wie keine Redundanzen enthalten. Dieses klassische Prüfungsdeutsch ist sprachlich sehr anspruchsvoll. Anders ausgedrückt: solche Aufgabentexte sind sehr schwer verstehbar.

Beispiel:

 


Eine Analyse der Adressaten-Orientiertheit solcherart Prüfungsaufgaben zeigt ein 2-teiliges Bild. Formal und berufsfachlich betrachtet erfüllen die meisten Prüfungsaufgaben ihren definierten Zweck: Es sind Aufgabenstellungen, durch deren korrekte Bearbeitung die Prüflinge (= die Empfänger) Fachwissen und Fachkenntnisse nachweisen. Die Sender der Aufgabentexte sind klar definiert als prüfende Institutionen, die objektive Prüfungsanforderungen offiziell umsetzen. Die Prüfungserstellungs-Ausschüsse sind verpflichtet darauf zu achten, dass die Prüfungsaufgaben den Lehrplänen entsprechen, und sie kontrollieren das fachliche Schwierigkeitsniveau jeder Prüfung.

Ein anderes Bild zeigt sich für die sprachlichen Aspekte von Prüfungsaufgaben: Hierfür gibt es weder formale Vorgaben noch allgemein akzeptierte Standards, an denen die Prüfungserstellungs-Ausschüsse sich orientieren könnten. Einzig der Industrie- und Handelskammertag (DIHT) hat ein Anforderungs-Profil für Prüfungsaufgaben veröffentlicht, das zumindest als Orientierungsrahmen dienen kann:

"Prüfungen müssen

  • objektiv sein,
  • verständlich und eindeutig sein,
  • einseitige Schwerpunktbildung und Spitzfindigkeiten vermeiden,
  • die berufliche Handlungskompetenz überprüfen,
  • zuverlässige Ergebnisse liefern,
  • tatsächlich das prüfen, was sie inhaltlich prüfen sollen,
  • zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen trennen und
  • wirtschaftlich durchführen zu sein." (DIHT 2005)

Das sprachliche Entschlüsseln der Aufgabentexte ist die notwendige Voraussetzung für die Beantwortung der Prüfungsaufgaben. Wer eine Aufgabe aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten nicht versteht, der dringt nur teilweise oder gar nicht bis zum fachlichen Inhalt der Aufgabe vor und antwortet vermehrt verkehrt - allerdings nicht aufgrund der angeblich geprüften Fachkompetenz, sondern aufgrund mangelnder Sprachkompetenz.

Diese rein sprachliche (sic!) Problematik führt zu einer fachlichen Benachteiligung vor allem für Auszubildende mit unterdurchschnittlicher deutscher Schriftsprachkompetenz, d.h. für viele Auszubildende mit Hörbehinderung, Lernbehinderung, neurologischen Schäden nach Unfällen und auch für viele Auszubildende mit Migrationshintergrund.

Dass Sprachbarrieren das fachliche Leistungsbild der Prüflinge verfälschen, verstößt gegen die Prüfungsanforderungen. Diese verlangen, dass Prüfungen objektive Indikatoren für die fachliche Leistung der Prüflinge sein sollen, und dass das Prüfungsergebnis nicht durch nicht-fachliche Faktoren beeinflusst wird. Angesichts dessen ist das Fehlen von Vorgaben für die sprachliche Gestaltung der Aufgabentexte sehr verwunderlich.

3.2 Textoptimierte Prüfungsaufgaben

Seit Beginn der 1990-er Jahre können v.a. hörbehinderte Auszubildende mit „Textoptimierten Prüfungen“ (TOP-Prüfungen) geprüft werden. TOP-Prüfungen basieren überwiegend auf den Prüfungen der Prüfungserstellungs-Ausschüsse; sie durchlaufen jedoch zusätzlich ein sprachliches Optimierungsverfahren. Bei diesem Verfahren – die Methode wurde in mehreren Modellprojekten entwickelt (FST 2011b) – arbeiten Berufsfachleute und Sprachwissenschaftler/innen Hand in Hand. Sie identifizieren die Verstehensbarrieren in den Aufgaben und formulieren und gestalten die Aufgabentexte so um, dass sie auch von Auszubildenden mit geringerer Schriftsprachkompetenz gut verstanden werden können. Für gehörlose Auszubildende, die nur in Deutscher Gebärdensprache kommunizieren, können die TOP-Aufgaben als Grundlage für die Dolmetscher/innen dienen.

Oberstes Prinzip der Textoptimierung vorhandener Aufgaben ist der 100%ige Erhalt des fachlichen Aufgabeninhalts. Es werden grundsätzlich nur standardsprachliche Barrieren aus den Aufgaben entfernt; weder die Fachsprache noch der eigentliche Inhalt der Aufgabe werden verändert.

Die weiter oben angeführte Aufgabe sieht in Textoptimierter Form so aus:

 


Die Wirksamkeit der Textoptimierung wurde in einer Studie mit über 150 Teilnehmer/innen mit Prüfungsaufgaben aus dem Bereich Wirtschaft und Soziales nachgewiesen (WAGNER et al. 2006, SCHLENKER-SCHULTE/ WAGNER 2006). Die Teilnehmer/innen bearbeiteten jede Aufgabe 2 mal, 1 mal in der Original-Formulierung und 1 mal in TOP-Formulierung. Da die Aufgaben in 2 gemixten Blöcken und im Abstand von 2 Wochen beantwortet wurden, konnten Lern-, Strategie- und Erinnerungseffekte weitgehend eliminiert werden. Es zeigte sich, dass TOP-Aufgaben ca. 20% schneller richtig beantwortet wurden als nicht textoptimierte Aufgaben. Der TOP-Zeiteffekt zeigte sich stabil bei allen Teilnehmer/innen, er war unabhängig von (Hör-)Behinderung und Schulbildung. Die Anzahl der richtig gelösten Aufgaben erhöhte sich mit TOP-Aufgaben vor allem bei Auszubildenden, deren höchster Schulabschluss der Hauptschulabschluss war und bei Auszubildenden mit Hörbehinderung. (Fach-)Abiturient/innen zeigten keinen TOP-Korrektheitseffekt. Das bedeutet: Wenn die Prüfungen nicht textoptimiert sind, führt eine geringe Sprachkompetenz nachweislich zu schlechteren Prüfungsergebnissen. Textoptimierte Prüfungen sind somit eine Voraussetzung für Chancengleichheit bei schriftlichen Prüfungen.

Grundsätzlich kann jede Prüfung textoptimiert werden. Üblich ist die Textoptimierung derzeit vor allem für Berufsabschlussprüfungen, Meisterprüfungen und Ausbildereignungsprüfungen. Einen Rechtsanspruch auf textoptimierte Prüfungen gibt es jedoch nur für schwerbehinderte Prüflinge mit behinderungsbedingt verminderter Sprachkompetenz (z.B. Hörbehinderung, Aphasie, z.T. auch Legasthenie). Sie können nach Sozialgesetzbuch IX bei der prüfenden Institution einen Antrag auf Nachteilsausgleich in Form von TOP-Prüfungen stellen (mehr dazu unter http://www.textoptimierte-pruefungen.de).

In den letzten Jahren zeigen zunehmend auch die Prüfungserstellungs-Institutionen Interesse an der sprachlichen Barrierefreiheit ihrer Prüfungsaufgaben. Mit Schulungen für die Aufgabenerstellungs-Ausschüsse und durch die Einbeziehung spezialisierter Sprachwissenschaftler/innen wird darauf hin gearbeitet, dass die Prüfungen von vornherein wenig sprachliche Barrieren aufweisen, so dass alle Prüflinge unter fairen Bedingungen ihr Fachwissen unter Beweis stellen können. Angesichts vieler 1000 ehrenamtlicher Aufgabenersteller/innen in Deutschland wird es allerdings noch eine Weile dauern, bis sprachliche Barrierefreiheit für Prüfungsaufgaben zum Standard geworden sind.

Literatur

BMJ - BUNDESMINISTERIUM DER JUSTIZ (2002): Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung - BITV). Online: http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/bitv/gesamt.pdf  (10-05-2011).

DIHT - DEUTSCHER INDUSTRIE- UND HANDELSKAMMERTAG (2005): Ausbildungsprüfungen. Online: http://www.dihk.de/themenfelder/aus-und-weiterbildung/ihk-pruefungen/ausbildungspruefungen/ausbildungspruefungen  (10-05-2011).

EICHHOFF-CYRUS, K. M./ ANTOS, G. (2008): Verständlichkeit als Bürgerrecht?: Die Rechts- und Verwaltungssprache in der öffentlichen Diskussion. Mannheim.

FRIEDERICI, A. (2005): Neurophysiological markers of early language acquisition: from syllables to sentences. In: Trends in Cognitive Sciences 9(10), 481-488.

FST - FORSCHUNGSSTELLE ZUR REHABILITATION VON MENSCHEN MIT KOMMUNIKATIVER BEHINDERUNG (2011a): ZUK - Zukunftssicherung hörbehinderter ArbeitnehmerInnen in kaufmännischen und technischen Berufen durch berufsfeldübergreifendes Lernen. Online: http://www.fst.uni-halle.de/_uebersicht/_zuk/  (10-05-2011).

FST - FORSCHUNGSSTELLE ZUR REHABILITATION VON MENSCHEN MIT KOMMUNIKATIVER BEHINDERUNG (2011b): PMT - Prüfungsmodifikation durch Textoptimierung. Online: http://www.fst.uni-halle.de/_uebersicht/_pmt/  (10-05-2011).

GÜNTHER, K. B./ SCHÄFKE, I. (2004): Bilinguale Erziehung als Förderkonzept für gehörlose SchülerInnen. Hamburg.

KÖHLER-KNACKER, M. (2009): Mathematik- und Sprachförderung im Lernfeldkonzept für ausgewählte Berufe – Maler/Lackierer. Online: http://download.bildung.hessen.de/lakk/afl/beruf/sz4-forum-sprache/Praesentation1.pptWeilburg09.a.pdf  (10-05-2011).

MARSCHARK, M./ SAPERE P./ CONVERTINO, C. M./ MAYER, C./ WAUTERS, L./ SARCHET, T. (2009): Are deaf student’s reading challenges really about reading? In: American Annals of the Deaf 54(4), 357-370.

NIEDERHAUS, C. (2011): Fachtexte in Elektrotechnik und Körperpflege – Korpuslinguistische Analysen der Fachsprachlichkeit von Lehrbüchern der beruflichen Bildung. Berlin.

NTID - NATIONAL TECHNICAL INSTITUTE FOR THE DEAF (2011): C-Print. Online: http://www.ntid.rit.edu/cprint/  (10-05-2011).

OBERMEIER, C./ DOLK, T./ GUNTER, T. C. (im Druck): The benefit of gestures during communication: Evidence from hearing and hearing-impaired individuals.

PETERS, H. (2011): Virtuelle Fachschulen für Hörgeschädigte in Essen. Fachschule für Wirtschaft. Infomaterial und Übersicht. Online: http://www.rwb-essen.de/fileadmin/medienpool/sonstiges/Virtuelle_Fachschulen_Wirtschaft_2011.pdf  (10-05-2011).

RUHE, C. (2008): Büroräume für hörgeschädigte Mitarbeiter. Hinweise zur Ausstattung. Online: http://www.schwerhoerigen-netz.de/Ratgeber/barrierefrei/bueroraeume.pdf  (10-05-2011).

SCHLENKER-SCHULTE, C. (2005): Faszination Dialog – interaktional-kommunikatives  (Sprach-)Lernen mit Dialog-Journalen. In: KAUL, T./ JANN, P. (Hrsg.): Kommunikation und Behinderung. Festschrift für Heribert Jussen. Villingen-Schwenningen, 229-246.

SCHLENKER-SCHULTE, C./ WAGNER, S. (2006): Prüfungsaufgaben im Spannungsfeld von Fachkompetenz und Sprachkompetenz. In: EFING, C./ JANICH, N. (Hrsg.): Förderung der berufsbezogenen Sprachkompetenz. Befunde und Perspektiven. Paderborn, 189-213.

VOIGT, L. (2005): `s Galbsgoddlädd. In: SCHÜTTE, M./ SCHÜTTE, W. U. (Hrsg.): Lene Voigt Werke Band I: Mir Sachsen. Leipzig.

WAGNER, S. (2005): Intralingual speech-to-text-conversion in real-time: Challenges and Opportunities. In: GERZYMISCH-ARBOGAST, H. (Hrsg.): Proceedings of the first Euroconference on Multidimensional Translation. Saarbrücken. Online: http://www.euroconferences.info/proceedings/2005_Proceedings/2005_Wagner_Susanne.pdf  (10-05-2011).

WAGNER, S./ SCHLENKER-SCHULTE, C. (2005a). Dialog-Journale - ein neuer Ansatz für die Alphabetisierung? In: BUNDESVERBAND ALPHABETISIERUNG (Hrsg.): Alphabetisierung - Kultur – Wirtschaft. Stuttgart, 125-132.

WAGNER, S./ SCHLENKER-SCHULTE, C. (2005b). Mit Herz und Verstand - Schreiben lernen durch Dialog-Journale. In: Alfa-Forum 59/2005, 25-28.

WAGNER, S./ GÜNTHER, C./ SCHLENKER-SCHULTE, C. (2006): Zur Textoptimierung von Prüfungsaufgaben. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 53(4), 402-423.


Zitieren dieses Beitrages

WAGNER, S. (2011): Sprachliche Hilfen für Auszubildende mit Hörbehinderung. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 18, hrsg. v. GRUNDMANN, H., 1-11. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft18/wagner_ft18-ht2011.pdf (26-09-2011).



Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

http://www.hochschultage-2011.de/