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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS22 - Geringqualifizierte
Herausgeber: Eckart Severing & Jürgen Spatz


Titel:
Wie werden aus An- und Ungelernten Fachkräfte?


Editorial zu Workshop 22: Wie werden aus An- und Ungelernten Fachkräfte?

Die größte Herausforderung für die deutsche Wirtschaft wird in den nächsten Jahrzehnten die Bewältigung des demografischen Wandels sein. Bereits heute ist in einzelnen Branchen bzw. Berufen ungedeckter Fachkräftebedarf zu konstatieren. Eine gesamtwirtschaftliche Perspektive verdeutlicht das gesamte Ausmaß der Problematik: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt in einer Modellrechnung zu dem Ergebnis, dass sich das Erwerbspersonenpotenzial aus demografischen Gründen (trotz Nettozuwanderung und verändertem Erwerbsverhalten bei Frauen und Älteren) von 2010 bis 2020 um 1,8 Mio. und bis 2025 um weitere 1,8 Mio. Personen schrumpfen wird.

Damit rückt die Erschließung von Qualifikationsreserven in den Vordergrund der berufsbildungs‑ und arbeitsmarktpolitischen Aufmerksamkeit. Neben der Diskussion um eine weitere Steigerung der Erwerbsquote von Frauen, um eine im Lebensverlauf verlängerte Arbeitstätigkeit, um reibungslosere Übergänge von den allgemeinbildenden Schulen in die Berufsausbildung und um eine qualifikationsselektive Migrationspolitik geht es auch um die Frage, wie An‑ und Ungelernte: Erwachsene ohne Berufsabschluss, besser qualifiziert und integriert werden können.

Zwei Dekaden mit hohen Arbeitslosenraten und einem im Verhältnis zur Zahl der Ausbildungsaspiranten bei weitem nicht ausreichenden Angebot an betrieblichen Ausbildungsstellen haben zu einer großen Zahl von An‑ und Ungelernten geführt. Die Ungelerntenquote der 20-34-jährigen verharrte in den vergangenen Jahren zwischen 14 % und 17 % (BIBB 2011). Rund vier Millionen Menschen im Alter von 25 bis 50 Jahren verfügen nicht über einen anerkannten Berufsabschluss. Sie werden voraussichtlich nicht mehr in eine reguläre Berufsausbildung einmünden und tragen damit ein hohes individuelles Arbeits­losigkeits­risiko: Die Arbeitslosenquote der Geringqualifizierten liegt mit knapp 22 % dreimal höher als die der Beschäftigten mit Berufsabschluss (IAB 2001).

Lange Jahre ist diese Problematik vorwiegend unter sozialpolitischen und kurativen Gesichtspunkten diskutiert worden. Damit war verbunden, dass Programme zur Qualifizierung von An- und Ungelernten randständig geblieben waren – stets nur in temporären Programmen und Projekten finanziert, stets der Frage ausgesetzt, ob berufliche Bildung am unteren Rand sich lohne, wenn bei hoher Arbeitslosigkeit sogar die Integrationschancen vieler Fachkräfte mit Berufsabschluss gering waren. Langjährige Modellversuchsreihen des Bundesinstituts für Berufsbildung zur Nachqualifizierung von An- und Ungelernten haben in diesen Jahren nicht zu nennenswertem Praxistransfer geführt, sondern galten vielen als praktizierter berufspädagogischer Idealismus.

Erst seit sich Fachkräftemangel abzeichnet, der zum limitierenden Faktor des weiteren Wirtschaftswachstums in Deutschland werden könnte, werden die vielen Geringqualifizierten als Fachkräftepotenzial entdeckt – ein Potenzial, das im Unterschied zu noch anzuwerbenden Migranten bereits im Lande wohnt und dessen berufliche Integration aus Transferempfängern Beitragszahler in die Sozialkassen machen würde.

Wenn sich heute der Arbeitsmarkt dreht, heißt das allerdings noch lange nicht, dass An- und Ungelernte ohne weiteres in stabile Beschäftigungsverhältnisse einmünden könnten. Die Unternehmen haben auch in den unteren Hierarchieebenen hohe Anforderungen an ihr Personal: Die fortschreitende Automatisierung und Computerisierung der Produktion sowie die steigende Bedeutung produktionsbegleitender Prozesse hat im verarbeitenden und produzierenden Gewerbe auf allen Rängen zu deutlich komplexeren und vielfältigeren Arbeitsanforderungen, erweiterten Handlungs- und Entscheidungsspielräumen und erhöhtem Kommunikationsbedarf geführt. Auch im Dienstleistungssektor sind steigende Anforderungen an personale und sozialkommunikative Kompetenzen und zunehmend komplexere und sich ändernde Arbeitstätigkeiten zu konstatieren.

Daher gilt es, An‑ und Ungelernte auf diese Anforderungen vorzubereiten, sie zu qualifizieren und sie nach Möglichkeit auch als Erwachsene noch an einen regulären Berufsabschluss heranzuführen. Dabei ist eine doppelte Übergangsproblematik zu bewältigen:

Zum einen müssen Geringqualifizierte den Übergang in Aus- bzw. Weiterbildung bewältigen und brauchen dafür Unterstützung. Gering qualifizierte Arbeitslose haben regelmäßig persönliche Hürden zu bewältigen – häufig spielen neben Lernentwöhnung, fehlender Lernmotivation aufgrund negativer Lernerfahrungen auch Schwierigkeiten aufgrund einer längeren Absenz vom Arbeitsmarkt und daraus resultierender Dequalifizierung eine Rolle. Für gering qualifizierte Beschäftigte bestehen außerdem häufig finanzielle und organisatorische Hürden (schlechtere Zugänge zu betrieblichen Weiterbildungsangeboten, schwierige Vereinbarkeit von Weiterbildung mit Erwerbstätigkeit und Familie etc.), bei deren Überwindung auch die Unternehmen gefordert sind.

Zum anderen muss – im Anschluss an die Qualifizierungsphase – der Übergang bzw. der möglichst dauerhafte (Wieder-)Einstieg in eine adäquate Beschäftigung gelingen. Bei arbeitslosen Geringqualifizierten kommt hier insbesondere der Nachfrageseite auf dem Arbeitsmarkt eine entscheidende Rolle zu – für Arbeitgeber muss erkennbar sein, dass ein Bewerber motiviert, bedarfsgerecht qualifiziert und möglichst ohne lange Einarbeitungs- und Schulungszeiten produktiv einsetzbar ist.

Einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der skizzierten Übergangsproblematik und damit zur Erschließung der bisher vernachlässigten Humanressourcen können Bildungsangebote liefern, die beide Übergänge in den Blick nehmen und die bereits bei der Konstruktion und Ausgestaltung nicht nur die Besonderheiten der Zielgruppe, sondern auch die Arbeitsplatzanforderungen und Bedürfnisse potenzieller Arbeitgeber deutlich stärker als bisher berücksichtigen.

Im Rahmen des Workshops wurde erörtert, wie Bildungs- und Qualifizierungsangebote gestaltet werden müssen, um

-        Geringqualifizierte zu aktivieren bzw. ihnen den Zugang zu (Weiter-)Bildung zu ermöglichen,

-        ihre Vorerfahrungen und Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen,

-        zugleich die Anforderungen des Arbeitsmarktes und den Bedarf der Wirtschaft zu erfüllen und

-        über standardisierte Zertifikate bzw. Anerkennungs- und Anrechnungsverfahren auf bestehende Abschlüsse die Chancen auf Teilhabe im Bildungssystem zu erhöhen.

Aus diesen Anforderungen ergeben sich Qualitätsstandards für die Konstruktion und Durchführung entsprechender Maßnahmen.

Im Workshop wurden die „Modulare Nachqualifizierung“ des Strukturentwicklungs­programms „Perspektive Berufsabschluss“ des BMBF, das Programm „Jobstarter Connect“ ebenfalls des BMBF, sowie die Entwicklung zertifizierter und standardisierter Teilqualifikationen der Bundesagentur für Arbeit vorgestellt. Daneben standen Praxisbeispiele modularer Qualifizierung der Werkstatt Frankfurt e. V., des qualiNetzes Duisburg im Rahmen des „3. Wegs“ in Nordrhein-Westfalen und der integrierten Sprachförderung geringqualifizierter Migranten.

Die im Workshop präsentierten Erfahrungsberichte und Konzepte wiesen – bei allen Differenzen in der Anlage und der strategischen vs. praktischen Ausrichtung – mehrere Gemeinsamkeiten auf: Es ging erstens in allen darum, An‑ und Ungelernte zu einem Berufsabschluss zu bringen – sie also nicht mit kurzen Trainingsmaßnahmen in dann oft auch nur kurze und wenig stabile Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. Zweitens ging es immer um modulare Qualifizierungskonzepte, weil in der Regel weder die Lebenssituation noch die bisherige Bildungsbiografie von Geringqualifizierten eine monolithische Ausbildung bis zum Abschluss zulassen. Es ist Flexibilität in den Lernzeiten und in der Lernorganisation nötig; zugleich müssen erreichte Zwischenstände fixiert, zertifiziert und nach Möglichkeit auf eine Abschlussprüfung anrechenbar gemacht werden.

Damit sind diese Konzepte Vorläufer einer breiten Umorientierung der Weiterbildungs­praxis für Geringqualifizierte, bei der es nicht mehr um unüberschaubar vielfältige „Maßnahmen“ mit intransparenten Zertifikaten gehen wird, sondern um anrechenbare Ausbildungsbausteine, die am Referenzsystem der dualen Ausbildung Maß nehmen.


Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

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