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bwp@ 34 - Juni 2018
Was berufliche und akademische Bildung trennt und verbindet.
Entgrenzungen an der Schnittstelle von Berufsschule, Betrieb, Hochschule und Universität
Hrsg.:
, , &Berufsbildungswissenschaftliche Reflexionen zur Bewältigung von Gestaltungsaufgaben in der Berufsbildungspraxis – Über Einheit und Differenzierungen in der Berufsbildung
Im Diskurs über „berufliche“ und „akademische“ Bildung geht es aus berufsbildungswissenschaftlicher Sicht u. a. um Interpretationen, Definitionen etc. der Worte Beruf, Wissenschaft und Bildung sowie der Beziehungen zwischen ihnen. Deshalb sind für diskursive Verständigungen und als Grundlage für politisches und pädagogisches Handeln Bedingungsanalysen erforderlich, aus denen Perspektiven für zukunftsoffenes Gestaltungshandeln zu gewinnen sind. Eine nachhaltige Handlungsperspektive sehen wir in einer institutionell gestützten, professionellen Entwicklung von Berufsbildungsgängen für alle Bereiche des Berufsbildungssystems: für die vorberufliche Berufsbildung im Sekundarbereich I, für die Berufsausbildung im Sekundarbereich II und im Tertiärbereich sowie für die berufliche Fort- und Weiterbildung im Tertiär- und Quartärbereich. Dafür schlagen wir die Orientierung an einem curriculumtheoretisch begründeten Modell für die Curriculumkonstruktion mit sechs Bezugspunkten vor, durch die die Spannung von Allgemeinem und Besonderem austariert werden kann (Kap.2). Gemeinsam wären organisierte Beratungen über alle sechs Bezugspunkte dieses Modells – für jeden Bildungsgang spezifisch; Einheit stiftend wäre die Orientierung am Bildungsbegriff, konkretisiert als Zielkategorie Berufsbildung. Differenzierungen in den Berufsausbildungsgängen (z. B. Studiengängen) sind vor allem für die Bezugspunkte Beruf und Wissenschaft erforderlich. Die Interpretationen und Gewichtungen sind für jeden Berufsbildungsgang durch theoretische Reflexionen und Bedingungsanalysen zu begründen.
Für alle Berufsbildungsgänge wären zur Begründung curricularer Entscheidungen spezifische Bedingungsanalysen durchzuführen, um Rahmenbedingungen für und Einflüsse auf die Entscheidungen zu klären. Dazu gehören Analysen über historische Entwicklungen Kap. 3), über gesellschaftliche Vorstellungen, Ideologien, Subkulturen und wissenschaftliches Wissen (Kap. 4) sowie über die Einflüsse auf die curriculare Entwicklung von Berufsbildungsgängen (Kap. 5).
1 Vorbemerkungen
Aussagen über einige Entwicklungen in der Berufsbildung werden mit „Akademisierung beruflicher Bildung“ (im Sekundarbereich II) und „Verberuflichung akademischer Bildung“ (im Tertiärbereich) überschrieben. Das veranlasst zu der Frage, ob solche Überschriften eher als politischer Jargon anzusehen sind oder ob wissenschaftlich definierte Begriffe im Sinne von Kategorien verwendet werden. In jedem Fall besteht Klärungsbedarf.
Im Diskurs über gegenwärtige Entwicklungen im Bildungssystem, hier speziell im Tertiärbereich, gibt es viele Erklärungen und Einschätzungen über Anlässe und Ursachen, die von außerhalb des Bildungssystems zu Folgen und Wirkungen innerhalb des Tertiärbereichs führen. Wir gehen davon aus, dass das Bildungssystem – und Hochschulen als Institutionen im Tertiärbereich – einerseits auf Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Subsystemen reagiert, insbesondere auf Entwicklungen im Beschäftigungs- und im Politisch-Administrativen-System, dass andererseits aufgrund relativer Autonomie des Bildungssystems, speziell der Universitäten, Traditionen, Kulturen, Subkulturen etc. bewahrt und weiter entwickelt werden können. In den Wechselbeziehungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem wird davon ausgegangen, dass im Sinne des Arbeitskräfte-Bedarfs-Ansatzes auch von der Berufsbildung im Tertiärbereich erwartet wird, dass es die Qualifikationsanforderungen von (neuen, insbesondere technikinduzierten) Arbeitsplätzen erfüllt.
In den Wechselbeziehungen zwischen Beruf, Wissenschaft und Bildung wird dadurch bei der Gestaltung von Berufsbildungsgängen der Pol Beruf stark – wenn nicht gar einseitig – gewichtet. Im Politisch-Administrativen-System dominiert ein bildungspolitisches Handeln des muddling-through, in dem die Anforderungen aus dem ökonomischen System gegenüber denen aus dem soziokulturellen System Vorrang haben (vgl. Kell 1996, 42; Buchmann 1999). Die Bologna-Reformen sind Teil dieser Bildungspolitik.
Die Hochschulen reagieren unterschiedlich auf Forderungen, am Arbeitsmarkt verwertbare Kompetenzen und Qualifikationen bereit zu stellen. Wenn für die Lehre eine „Verberuflichung akademischer Bildung“ konstatiert wird, ist zum einen zu klären, was unter Beruf (Verberuflichung), Wissenschaft (akademisch) und Bildung verstanden wird. Zum anderen ist für die curriculare Gestaltung von Berufsbildungsgängen (Studiengängen) darüber zu beraten und zu entscheiden, wie die drei Begriffe definiert und bei der Curriculumkonstruktion gewichtet werden sollen. Solche Klärungen sind wichtig, weil das politische und pädagogische Handeln von subjektiven Theorien, gesellschaftlichen Vorstellungen und wissenschaftlicher Expertise beeinflusst werden.
2 Curriculare Entwicklung von Berufsbildungsgängen als Gestaltungsperspektive
Bereits vom Deutschen Bildungsrat (1974) und von der Planungskommission Kollegstufe NW (1972) ist die bildungspolitische Positionierung von Bildungsgängen und deren Bedeutung hervorgehoben und sind zahlreiche Anregungen zur curricularen Entwicklung gegeben worden. Seitdem haben sich Curriculumtheorien weiterentwickelt, in Modellversuchen wurden Curriculumentwicklungsprozesse erprobt und die Ergebnisse in der Praxis evaluiert. Als Fazit aus der angedeuteten Entwicklung gehen wir von Folgendem aus: (a) Bildungsgang bezeichnet unter institutionellem Aspekt „eine curricular strukturierte und rechtlich geordnete Organisationsform eines längeren, in der Regel mehrjährigen Qualifikations- und Sozialisationsprozesses, der zu einem bestimmten Abschluss mit zumeist zertifizierten Berechtigungen führt. In subjektbezogener Betrachtung wird unter Bildungsgang der in institutionellen Bildungsgängen vollzogene individuelle Entwicklungsprozess verstanden, in dessen Verlauf sich der Lernende komplexe fachliche Kompetenzen und damit verbundene Verhaltensweisen und Einstellungen aneignet." (Kell et al. 1989, 23). Bildungsgänge sollen kontinuierliche Entwicklungsprozesse ermöglichen und zu einer strukturierten Entfaltung von Humanvermögen beitragen. (b) Als weitgehender Konsens in der Curriculumtheorie und -forschung kann festgestellt werden, dass mindestens folgende Bezugspunkte bei der Curriculumkonstruktion zu berücksichtigen sind: (1) Ziele für die Bildungsgänge; (2) Lernvoraussetzungen und Lernbedürfnisse der Adressaten (Subjekte); (3) Qualifikationsanforderungen von (Erwerbs)Berufen im systemischen Kontext von Strukturen und Entwicklungen der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit; (4) Erkenntnisse der Wissenschaften; (5) organisatorische und institutionelle Umwelten für die Bildungsgänge; (6) Gestaltungsoptionen für berufsbezogenes Lehren und Lernen (Didaktik als professionelle Handlungslehre). Diese sechs Bezugspunkte sind grundlegend für das zur Orientierung vorgeschlagene Korrelationsmodell (vgl. Buchmann, 2014, 202), Wie diese Bezugspunkte im Bedingungsgefüge insgesamt gewichtet und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen durch curriculare Vermittlungen gestaltet werden sollen, kann nicht durch Technologien festgelegt werden. Dafür sind diskursive Analyse-, Planungs- und konsensuale Entscheidungsprozesse zu organisieren. (c) Entscheidungen über konkrete Ziele für jeden Berufsbildungsgang sollten an einer für alle Bildungsgänge gemeinsamen pädagogischen Norm orientiert sein, z. B. an der Zielkategorie Berufsbildung. (d) Jeder Berufsbildungsgang sollte Lernbereiche enthalten, deren differenzierte Gestaltung an den Zielen des Schwerpunkt-, Obligatorik- und Wahlbereichs orientiert sind. (e) Alle sechs in (b) genannten Bezugspunkte sollten bei Beratungen und Entscheidungen über die Gestaltung von Berufsbildungsgängen beachtet werden, insbesondere die Wechselbeziehungen zwischen ihnen, z. B. zwischen Bildung (pädagogische Norm), Beruf (Qualifikationsanforderungen) und Wissenschaft (differenziert nach Wissenschaften bzw. unter Berücksichtigung neuer Wissensarchitekturen). (f) Die strukturellen Merkmale der Berufsbildung im Sekundarbereich II und im Tertiärbereich weisen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Deshalb können alle Curricula für Berufsbildungsgänge in beiden Bereichen des Bildungssystems nach einem Modell entwickelt werden. Mit übereinstimmender Strukturierung aller Berufsbildungsgänge könnte auch zur Erhöhung der Durchlässigkeit im Bildungssystem beigetragen werden. Auch ein wechselseitiger Austausch von Erfahrungen und Forschungsergebnissen wäre wünschenswert, z. B. zwischen Berufsbildungs- und Hochschulforschung, insbesondere im Bereich der Didaktik. (g) Durch Analysen von praktizierten Berufsbildungsgängen aus dem Sekundar- und Tertiärbereich könnten Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Entwicklungstendenzen in der Gewichtung und Auslegung zwischen den Bezugspunkten Bildung, Beruf und Wissenschaft transparent gemacht, bewertet und begrifflich angemessen bezeichnet werden.
2.1 Studierende in der Umwelt von Berufsbildungsgängen.
Menschen entwickeln sich in Wechselbeziehungen zu ihrer Umwelt (Bronfenbrenner 1981). Durch die pädagogische Gestaltung von Berufsbildungsgängen als spezifische Umwelten soll es Subjekten ermöglicht werden, sich durch Lern- und Arbeitsprozesse in Richtung auf Normen (rechtliche, gesellschaftlich vereinbarte, wissenschaftlich begründete, z. B. Zielkategorie Berufsbildung) zu entwickeln. Berufsbildungsgänge sind wiederum Teile systemischer Umweltstrukturen. Zum Verständnis der vertikalen Strukturmerkmale ist die Umweltstrukturierung von Bronfenbrenner, konkretisiert für den Tertiärbereich, in Abbildung 1 visualisiert.
Dazu noch kurze Erläuterungen: (1) Subjekte erleben ihre unmittelbare Umwelt in Lebenssituationen, insbesondere in berufsbezogenen Lehr/Lern- und Arbeitssituationen (Mikrosystemebene). (2) Situationen werden beeinflusst von Institutionen und Organisationen, in die sie einbezogen sind (Mesosystemebene). (3) Institutionen werden politisch gestaltet unter den strukturellen Bedingungen des jeweiligen gesellschaftlichen Subsystems (z. B. Bildungs-, Beschäftigungs-, Sozialsystem) (Exosystemebene). (4) Diese Systeme niedrigerer Ordnung werden überwölbt und durchdrungen von Einflüssen, „die in der Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen oder bestehen könnten, einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Weltanschauungen und Ideologien“ (Bronfenbrenner 1981, 42) (z. B. tradierte Vorstellungen über Bildung, Beruf, Wissenschaft – Makrosystemebene). Die systemisch bedingten Einflüsse auf die curriculare Entwicklung von Berufsbildungsgängen sind durch Bedingungsanalysen aufzuklären. (Über Betrachtungen personaler Entwicklungsprozesse in der Zeit vgl. Kell 2013, 8).
2.2 Ziele für die Entwicklung von Berufsbildungsgängen
In den Beiträgen der Ausgabe 23 wird das Wort Bildung mit unterschiedlichen ergänzenden Adjektiven verwendet: allgemeine, berufliche, akademische, hochschulische, tertiäre (Weiter/Erwachsenen) Bildung. Die Wortverbindungen werden als wissenschaftliche Begriffe selten explizit definiert, und sie sind aus dem jeweiligen Sprachkontext nur schwer zu interpretieren. Deshalb kann vermutet werden, dass in diesen Wortverbindungen das Wort Bildung wie im hochschulpolitischen Sprachgebrauch, z. B. vom BMBF in der Wortkombination digitale Bildung, „lediglich als ‚Containerbegriff’ (Lenzen 1997, 949) verwendet wird, mit Bezug auf das Bildungssystem insgesamt als organisationale Kategorie“ (Pietraß 2017, 20). Alle fünf Wortverbindungen scheinen zur Kategorie Containerbegriff zu gehören, denn sie werden nicht als Begriffe definiert, sondern mit Bezug auf organisatorische Teile des Bildungssystems (z. B. Tertiärbereich) bzw. auf Institutionen (z. B. Hochschule) verwendet. Für die am häufigsten verwendete Wortverbindung akademische Bildung kann angenommen werden, dass sie bezogen ist auf eine durch Akademien vermittelte Bildung. Ob und wie Bildung in Akademien (oder anderen Institutionen) erworben werden kann, ist aber abhängig sowohl von der Person, die sich in der Umwelt einer Institution entwickelt, als auch von der Struktur dieser Institution, den Zielvorstellungen im Hinblick auf Bildung sowie den Verfahren, die zur Zielerreichung eingesetzt werden. Inhaltlich ist die zu erwerbende „akademische“ Bildung im weiten Spektrum der mit Akademie bezeichneten Institutionen je spezifisch. Das Spektrum reicht von Akademie der Wissenschaften, Akademie zur Vermittlung eines bestimmten Fachwissens (in unvollständig ausgebauten Hochschulen) bis zur Akademie des Deutschen Bäckerhandwerks. Überwiegend scheint der Wortteil akademisch mit Bezug auf Akademie als Bezeichnung für wissenschaftliche Gesellschaften (Gesellschaft der Gelehrten) verwendet zu werden, also für eine Bildung, die in Auseinandersetzung mit Wissenschaften erworben wird, entweder durch ein Studium der Wissenschaften (Berufsausbildung) oder durch wissenschaftliche Arbeit (Forschung und Lehre). Es besteht also Klärungs- und Konkretisierungsbedarf, was jeweils gemeint ist, insbesondere mit Allgemeinbildung und Berufsbildung und wie die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Bildung interpretiert werden.
Für das Wortteil Bildung[1] kann konstatiert werden, dass „'Bildung' als Zielperspektive menschlichen Lernens und persönlicher Entwicklung ... Persönlichkeitsmerkmale (umschließt), wie sie üblicherweise als Selbstbestimmung, Mündigkeit, Autonomie, Authentizität, persönliche Identität, Individualität gekennzeichnet werden" (DFG 1990, 62). Bildung in diesem Verständnis kann als Ziel Geltung beanspruchen für pädagogisches Handeln zur Förderung von Subjektentwicklung. Die entwicklungstheoretisch orientierte Berufsbildungswissenschaft (BBW) geht mit Bezug auf Bronfenbrenner (1981) davon aus, dass sich Subjekte in Wechselbeziehungen von Person und Umwelt entwickeln (vgl. Kell 2007, 2016). Durch politisch-pädagogische Gestaltung spezifischer Umwelten, z. B. von Bildungsgängen als Entwicklungsrahmen, kann und soll ermöglicht werden, dass Subjekte sich in Richtung des Ziels Bildung entwickeln können. Die Wortverbindung Berufsbildung als Zielkategorie hat eine dominante Zieldimension Bildung (Menschenbildung für alle), die in einer Wechselbeziehung steht zur Zieldimension Beruf (spezielle Qualifizierung für Einzelne bzw. Gruppen). Beruf als Zieldimension kann nicht bildungstheoretisch begründet werden. Diese Zieldimension soll die Beziehung zur Erwerbsarbeit als wichtiger Teil gesellschaftlicher Praxis sichern, auf die eine Berufsausbildung vorbereiten soll. Diese Sicherung ist notwendig, weil die Entwicklung der Gesellschaft u. a. davon abhängt, dass Subjekte die Anforderungen von Arbeitsplätzen erfüllen können (berufliche Funktionstüchtigkeit). Aus der Interpretation der Wechselbeziehungen zwischen Bildung und Beruf als polare Spannung[2] können zwei Konsequenzen gezogen werden: (1) Die bildungstheoretische Einsicht, dass eine individuelle Entwicklung zur Erreichung der Zieldimension berufliche Tüchtigkeit notwendige aber in keiner Weise hinreichende Voraussetzung dafür ist, dass Bildung im Medium des Berufs ermöglicht wird – Identitätsentwicklung. (2) Die berufsbildungspolitische Forderung, Umwelten für berufsbezogene Lehr-Lernprozesse politisch und pädagogisch so zu gestalten, dass Bildung als vorrangige Zieldimension handlungsleitend wirken kann. Pointiert formuliert heißt das: Berufliche Tüchtigkeit soll Mittel bleiben zur Erreichung der Zieldimension Bildung. Beruf als Zieldimension für individuelle Entwicklungsprozesse darf nicht durch bloße Anpassung an Qualifikationsanforderungen beruflich organisierter Arbeit zum Selbstzeck werden.
Die Definition des Begriffs Allgemeinbildung und die Interpretation der Wechselbeziehungen zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung sind für politisch-pädagogisches Handeln folgenreich, z. B. für politische Entscheidungen über Berechtigungen, insbesondere für Zulassungen zum Tertiärbereich (vgl. Kell 1982). In der in Kap. 3 (4) erörterten Reformphase gab es politische Aktivitäten zur Annäherung/Verbindung/Verzahnung/Integration von Allgemein- und Berufsbildung (vgl. Dauenhauer/Kell 1990). Die curriculare Entwicklung doppelt qualifizierender Bildungsgänge war ein Konzept, um die Durchlässigkeit vom Sekundarbereich II zum Tertiärbereich zu erhöhen. Für den Kollegschulversuch in Nordrhein-Westfalen ist unter Federführung von Herwig Blankertz die Entwicklung solcher Bildungsgänge bildungstheoretisch begründet worden. Zum Begründungskontext gehört die Einsicht, dass das Wortteil allgemein sich beziehen kann auf Inhalte, z. B. septem artes liberales, Fächerkanon des Gymnasiums, oder auf Subjekte, auf alle Bürger oder auf Teilgruppen (Bildungs-Eliten). In Bezug auf Inhalte bedeutet allgemein das gesamte Wissen der Menschheit (Erkenntnis). Allgemein gebildet wären Subjekte, die dieses Wissen in sich vereinigt haben. Diesbezüglich bleiben gegenwärtig alle Subjekte speziell gebildet. Ein Fächerkanon für eine Schule ist nie allgemein, sondern speziell, ausgewählt für bestimmte Zwecke nach bestimmten Kriterien als Reaktion auf Anforderungen der Gesellschaft. Die septem artes liberales waren ausgewählt für kleine Eliten, die frei waren von den Zwängen der Erwerbsarbeit. Der Fächerkanon des Gymnasiums ist ausgewählt für den Teil der Jugendlichen, der nach Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht (am Ende des Sekundarbereichs I) nicht übergeht in das Übergangs-, Berufsschul- oder duale System des Sekundarbereichs II. Die Wortverbindung berufliche Bildung (bzw. Berufsbildung) wurde als organisationale Kategorie in fast allen Beiträgen der Ausgabe 23 nicht umfassend, sondern eingeschränkt verwendet - bezogen auf eine Berufsausbildung im dualen System und im beruflichen Schulsystem.
Der Fächerkanon des Gymnasiums ist inhaltlich speziell, weil er auf Studien an Universitäten und gleichgestellten Hochschulen vorbereiten soll; er hat die Funktion der Berufsvorbereitung für eine Berufsausbildung im Tertiärbereich. Inhaltlich erfüllt das Gymnasium diese Funktion nur eingeschränkt. Die Berechtigung der Allgemeinen Hochschulreife verschleiert, dass weder die Entwicklungsprozesse der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in den verschiedenen Gymnasialtypen zu gleichen Ergebnissen führen, noch dass jede Abiturientin und jeder Abiturient für alle Studiengänge vorbereitet ist. Die Folgen tragen die Hochschulen, die bei der Gestaltung ihrer Studiengänge in der Eingangsphase Lernzeit planen müssen, um unterschiedliche Studienvoraussetzungen ausgleichen zu können.
Der Allgemeinbildungsanspruch des Gymnasiums stellt aber ein gravierendes Hindernis für alternative Zugänge zu den Universitäten und für die Entwicklung doppelt qualifizierender Bildungsgänge dar. Deshalb verzichtet das für Nordrhein-Westfalen entwickelte Kollegschulkonzept auf eine inhaltliche Festlegung von Allgemeinbildung in einem Fächerkanon für Bildungsgänge des Sekundarbereichs II, denn diese „Allgemeinbildung“ wäre nicht für die gesamte Jugend gedacht. Sollte sie allen Jugendlichen zugänglich gemacht werden, hieße das: Abitur für alle vor jeder Berufsausbildung. Mit Allgemeinbildung kann aber auch (im Sinne von Grundbildung) ein „Umkreis von Lerninhalten -Wissen und Verhalten -“ gemeint sein, „der in einer bestimmten geschichtlichen Lage für alle Menschen einer Gesellschaft zur Lebensbewältigung unerlässlich ist.“ (Kultusminister NW 1972, 20). Mit der allgemeinen Schulpflicht bis zum Ende des Sekundarbereichs I wird diese Perspektive bildungspolitisch gestaltet und mit dem Kollegschulkonzept für den Sekundarbereich II weiterverfolgt. In Übereinstimmung mit dem vom Deutschen Bildungsrat vertretenen Grundsatz, Bildungsgänge „nach einem gemeinsamen organisatorischen und curricularen Konzept“ zu gestalten (Deutscher Bildungsrat 1974, 47). hat das Kollegschulkonzept drei Lernbereiche: Schwerpunkt-, Obligatorischer und Wahlbereich. Für die didaktische Gestaltung des Schwerpunktbereichs ist die Zielkategorie Berufsbildung maßgebend. Das Ziel der Lebensbewältigung in der Gesellschaft (einschließlich der Befähigung zum Zusammenleben in der Demokratie) kann im Obligatorischen Bereich durch verschiedene Lerninhalte verfolgt werden, auch in Wechselbeziehung zu denen im Schwerpunktbereich. (Zur Gesellschaftslehre und Sprache waren Strukturierungsvorschläge für den Obligatorischen Bereich als Anlagen den Empfehlungen der Planungskommission beigefügt). Im Wahlbereich soll durch die Beschäftigung mit selbst gewählten Lerninhalten ein Höchstmaß an individueller Entfaltung ermöglicht werden. Dafür wurde im Modellversuch ein Lernort Studio gestaltet. Mit der Differenzierung in einen obligatorischen und einen Wahlbereich wird die Bildungsperspektive aufgenommen und aktualisiert, die mit den septem artes liberales einer Minderheit vorbehalten war, mit dem Grundstudium in der Philosophischen Fakultät hochschulpolitisch bedeutsam wurde, mit dem studium generale verkümmerte und mit dem Bologna-Prozess abbrach und derzeit über eine Reaktivierung des studium generale flankiert von vereinheitlichenden Rahmenverordnungsversuchen neu aufgelegt wird – vordergründig als Strategie gegen zunehmend virulent werdende Segregationsprozesse, vor allem aber zur Sicherung arbeitsmarktgängiger Flexibilität. Die Perspektive, Bildung im Sinne der Subjektentwicklung als Entwicklung und Entfaltung der menschlichen Vermögen zu ermöglichen, nicht als Privileg für einzelne Teile der Nation, sondern für die ganze ungeteilte Masse, ist damit in Teilen des Tertiärbereichs gefährdet, also auch für Studierende als prinzipiell privilegierte Gruppe in der nachwachsenden Generation.
Wenn Subjektentwicklung zur Annäherung an die Zieldimension Bildung durch bestimmte spezielle Inhalte (materiale Bildung – Fächerkanon) nicht für alle gesichert werden kann, besteht für curriculare Entscheidungen die alternative Möglichkeit, das Konzept der formalen Bildung auszuloten. Von der Einsicht ausgehend, dass Entscheidungen über Lerninhalte nicht durch Ableitungen aus der Zieldimension Bildung gewonnen werden können, sondern vorgegeben werden durch die Umwelt, insbesondere durch die Ansprüche der Gesellschaft an ihre Bürger, hat Robinsohn (1967) für die Curriculumreform den Dreischritt (Lebens)Situation-Qualifikation-Inhalt vorgeschlagen. In Bezug auf die Zielkategorie Berufsbildung entspricht die Zieldimension Beruf diesem Vorschlag: Berufsbezogene Lerninhalte müssen so ausgewählt und strukturiert werden, dass Subjekte befähigt werden, Lern- und Arbeitssituationen im Berufsbildungs- und im Beschäftigungssystem zu bewältigen (Tüchtigkeit). Die Zieldimension Bildung verlangt mündiges Handeln in diesen Situationen. Dazu kann die Auseinandersetzung mit Wissenschaften beitragen. Zum mündigen Handeln gehört aber vor allem die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Kritikfähigkeit – auch in Bezug auf Wissenschaften.
Deshalb sollte die Zielkategorie Berufsbildung handlungsleitend sein für die curriculare Entwicklung aller Berufsbildungsgänge mit einer gemeinsamen Binnenstruktur (orientiert an den Teilzielen der drei Lernbereiche), mit speziellen Berufsbezügen in den Sekundarbereichen I und II (zur Berufsorientierung/-vorbereitung und Berufsausbildung), im Tertiärbereich (zur Berufsaus- und -weiterbildung) und im Quartärbereich (zur beruflichen Fort- und Weiterbildung) sowie für die Anwendung des vorgeschlagenen Modells für die Curriculumkonstruktion.
3 Rückblick: Von der Universität Bologna zum Bologna-Prozess
Politische und pädagogische Gestaltungsmöglichkeiten im Tertiärbereich werden nicht nur von Außen, von Strukturen und Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Subsystemen, sondern auch von eigenen Traditionen und weiter entwickelten Kulturen (Selbstverständnis, Habitus, Wissenschaftstheorien etc.) beeinflusst. Deshalb sei im Sinne einer Bedingungsanalyse auf einige historische Entwicklungslinien hingewiesen, die in den gegenwärtigen Strukturen der Hochschulen und ihrer Studiengänge nachwirken.[3] Sie sollen auf spezifische Wechselbeziehungen zwischen Bildung, Beruf und Wissenschaft aufmerksam machen.
(1) Die Universität Bologna gilt als älteste Universität Europas, von der wichtige Entwicklungen ausgingen. Das Gründungsdatum 1088 ist nicht eindeutig, weil sie sich aus mehreren kleineren Rechtsschulen entwickelt hat. Ein Einflussfaktor war das Interesse des Kaisers an gut ausgebildeten Rechtsgelehrten für die politische Gestaltung seines Reiches. Diese Universität war also vorrangig eine Institution höherer Berufsausbildung. Gleiches kann für die Entwicklung von Medizinschulen zu Medizinhochschulen (wie in Salerno etwa 1057) und für die theologische Ausbildung zum Kirchendienst festgestellt werden. Der Berufsausbildung in den Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin (als Praktische Künste) vorausgesetzt wurde später ein Studium der Sieben Freien Künste, (die eines freien Mannes würdig sind). Frei war der Mann, der nicht zum Broterwerb arbeiten musste. Die (sieben) Freien Künste (Artes) wurden im Vergleich zu den Praktischen Künsten als höherrangig bewertet, weil sie nicht durch spezielle Anforderungen von Erwerbsarbeit funktionalisiert wurden. In einer Gründungswelle im 14. Jahrhundert im deutschen Sprachraum wurden die Artes in einer eigenen (vierten) Fakultät organisiert, in der durch diese „allgemeine“ Bildung (als Grundstudium) auf die speziellen Studien in den (höheren) Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin vorbereitet werden sollte. Aus Artistischen Fakultäten sind Philosophische Fakultäten hervorgegangen, in denen hauptsächlich in den Geisteswissenschaften geforscht und gelehrt wurde, zu denen aber auch Natur- und Sozialwissenschaften gehörten. Während die Berufsausbildung in den drei Praktischen Künsten vorrangig für (Erwerbs-)Berufe außerhalb der Universitäten qualifizieren sollte, diente die Lehre (in Einheit mit der Forschung) in der Philosophischen Fakultät vorrangig der Qualifizierung des eigenen Nachwuchses für die wissenschaftliche Arbeit innerhalb der Universität. Durch das Recht der Fakultäten, akademische Grade zu verleihen, entstanden wissenschaftliche Laufbahnen z. B. in Paris vom Bakkalaureus (der von einem Magister vergeben wurde) zum Lizentiaten (der durch eine Fakultätsprüfung erworben wurde) bis zum Magister (Meister, oft auch als Doktor bezeichnet), der zur selbständigen Lehre berechtigt war – ein Beispiel für die Entstehung von Berufen durch die Organisation wissenschaftlicher Arbeit innerhalb der Universität.
(2) Als weitere wichtige Entwicklungslinie ist auf die Gründung der Universitäten im Geiste des Neuhumanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinzuweisen (vgl. Aurich 1956; Prahl 1983). Nach der Aufklärung und vor der Industrialisierung wurde ein Typ der modernen Universität gegründet - auch als Gegenwelt des Geistes zur feudalistischen Herrschaft -, der im Humboldtschen Sinne die allseitige Vervollkommnung des Menschen im Medium der Wissenschaften zum vorrangigen Ziel hatte. Diese Universitätsidee war gegenüber einer auf Funktionalität hin ausgerichteten Bildung zur `Industrie´ (industria im utilitaristischen Sinne von Gewerbefleiß) kritisch eingestellt. Die Idee der `Humboldtschen´ Universität fand Ausdruck in der Einheit von Forschung und Lehre, im gemeinsamen Grundstudium und in der Dominanz der Philosophischen Fakultät. Die Organisation des Studiums und der Fakultäten folgte dem Postulat, dass vor einer Spezialisierung durch eine Berufsausbildung – also auch vor einer akademischen Berufsausbildung zum Theologen, Juristen, Mediziner etc. – die Studierenden ihre Allgemeinbildung vervollkommnen sollten. Deshalb stand die `Bildung´ der Studierenden im Vordergrund. Allerdings wurde die im Grundstudium erworbene `allgemeine´ Bildung als geeignete Voraussetzung angesehen, um Führungsaufgaben in der Gesellschaft, insbesondere beim Staat, übernehmen zu können – ein weitgehend unreflektierter Berufsbezug.
(3) Mit der Industrialisierung begann der Staat zur Entwicklung der Volkswirtschaft mit dem Aufbau eines höheren technischen Schulwesens, dessen Aufgabe auf die Vermittlung nützlicher Fähigkeiten und praktischer Nutzanwendung konzentriert war. Er setzte dabei zum Teil an bei bereits bestehenden Institutionen wie Technische Akademien für Militär und Verwaltung, Gewerbe- oder Baufachschulen usw. und baute viele von ihnen unter dem Einfluss von Wirtschaftsverbänden und Großunternehmen gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Technischen und Handels-Hochschulen aus. Dem seinerzeit an Universitäten vorherrschenden Leitbild vom Philosophen als Lehrendem, von der Einheit von Lehre und Forschung und von der Entwicklung der Wissenschaften durch zweckfreie Forschung wurde dem neuen Hochschultyp die Aufgabe erteilt, Wissen zu generieren und durch wissenschaftlich ausgebildete Spezialisten in die Praxis der Betriebe zu transferieren, insbesondere zur ökonomischen und technischen Gestaltung der Industrie.[4] Die für diese Aufgabe maßgebenden Vorstellungen über das Theorie-Praxis-Verhältnis waren orientiert an dem der Pariser École Polytechnique: Theorie als "Vorwurf" der Praxis (vgl. Bankertz 1969b, 71). Durch die Organisation der Arbeit in anwendungsbezogener Forschung, in technischer und ökonomischer Entwicklung und in der Lehre entstanden innerhochschulische Berufe (z. B. Professor. Wiss. Mitarbeiter, Techniker) und Berufsausbildungen (Diplom-Studiengänge) für außerhochschulische Berufe (z. B. `höhere´ Führungskräfte in privaten Unternehmen und staatlicher Verwaltung).
(4) In einem Reformjahrzehnt von etwa 1965 bis 1975 ist u. a. versucht worden, die weiteren Entwicklungen der Universitäten und der Technischen bzw. Wirtschaftshochschulen hochschulpolitisch so zu steuern, dass sie sich annähern: in der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben, in den zu verfolgenden Zielen in der Spannung von Bildung, Wissenschaft und Beruf und in Erweiterungen des jeweiligen Wissenschaftsspektrums. Die Umwandlung von Technischen Hochschulen in Technische Universitäten, die Diskussion über Konzepte für ein studium generale und die hochschulpolitischen Debatten über die Struktur des Tertiärbereichs insgesamt sowie über Ziele und Aufgaben von Hochschulen in der modernen Gesellschaft sind Indizien für Annäherungsversuche (vgl. Ellwein 1985; Habermas 1986). Speziell für die Berufsausbildung von Berufsschullehrern kam es im Tertiärbereich zur Annäherung zwischen der Ausbildung für die Berufliche Fachrichtung Wirtschaft und Verwaltung und den gewerblich-technischen Fachrichtungen durch die Integration Berufspädagogischer Institute (BPI) in Technische Universitäten.
(5) Eine strukturell neue Entwicklungslinie neben solchen hochschulpolitischen Steuerungen wurde durch die Gründung von Fachhochschulen Anfang der 1970er Jahre und deren Zuordnung zum Tertiärbereich wirksam. Denn durch die Überleitung der Höheren Fachschulen als Institutionen der `höheren´ beruflichen Weiterbildung (im Quartärbereich), in denen aus der beruflichen Praxis (auf dem Niveau von Facharbeitern und -angestellten) für eine anspruchsvollere berufliche Praxis (auf dem Niveau `mittlerer´ Führungskräfte) weitergebildet wurde, in die neu gegründeten Fachhochschulen (im Tertiärbereich), gewann ein Theorie-Praxis-Verständnis im Tertiärbereich an Bedeutung: Die berufliche Praxis wurde als organisierendes Prinzip und zentraler Bezugspunkt maßgebend für die Entwicklung von Kurzzeit-Studiengängen, in denen die Wissenschaften und ihre Disziplinstrukturen nur noch insofern (als `Steinbruch´) maßgebend sind, als dies aus den Verwertungsperspektiven beruflicher Tätigkeitsfelder oder Arbeitsplätze erforderlich erscheint. Theorie (Wissenschaft) wird nicht als Vorwurf der Praxis gesehen, aus der die Konsequenz gezogen wird, die Berufsausbildung im Tertiärbereich an der Struktur einer (Leit-)Wissenschaft zu orientieren, sondern die berufliche Praxis wird als der Theorie (Wissenschaft) vorgängig betrachtet mit der Konsequenz, dass die Anforderungsstrukturen von Arbeitsplätzen (Berufen) zum organisierenden Prinzip bei der Auswahl von Bestandteilen verschiedener Wissenschaften zur didaktischen Strukturierung von Fachhochschulstudiengängen maßgebend sind. In der Zielspannung von Bildung, Wissenschaft und Beruf gewann die Zieldimension Beruf im Tertiärbereich noch stärkeres Gewicht[5], u. a. durch den forcierten Ausbau des Fachhochschulbereichs. Speziell für eine Berufsausbildung von Berufschullehrern begannen hochschulpolitische Diskussionen über eine Verlagerung von den Universitäten in die Fachhochschulen (Wissenschaftsrat 1993, These 4, 32; KWB 1994; Buchmann/Kell 2001).
(6) Mit einer Erklärung der Europäischen Bildungsminister von 1999 in Bologna über einen Europäischen Hochschulraum wurden im (deutschen) Tertiärbereich Entwicklungen fortgesetzt und verstärkt, die mit der Gründung von Fachhochschulen begonnen hatten: Durch arbeitsmarktbezogene Qualifizierung sollen Hochschulen international wettbewerbsfähiger werden und zu Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung beitragen – und zwar effektiv und effizient. Bachelor- und Masterabschlüsse werden als eigenständige berufsqualifizierende Hochschulabschlüsse eingeführt, die an Fachhochschulen und Universitäten zu erwerben sind. Als „Transparenzinstrumente“ sollen das europäische Kreditsystem ECTS, Zeugniserläuterungen (Diploma Supplement) und ein einheitlicher Qualifikationsrahmen für Hochschulabschlüsse verwendet und durch Zertifizierungen die Ausbildungsqualität gesichert werden. Zu den mit den Begriffen Bildung, Wissenschaft und Beruf ausgedrückten Zielen sind explizite Aussagen zur Bildung nicht zu finden. Mit Bezug auf die Wissenschaften müssen „Bachelorstudiengänge die für die Berufsqualifizierung notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen, Methodenkompetenz und berufsfeldbezogenen Qualifikationen vermitteln“ und „Masterstudiengänge sind nach den Profiltypen „stärker anwendungsorientiert“ und „stärker forschungsorientiert“ zu differenzieren“ (KMK 2003). Das Wort Beruf wird am häufigsten und mehrdeutig verwendet, vorrangig mit Bezug auf Erwerbsberufe des Beschäftigungssystems.
Da die hochschulpolitische Steuerung im Bologna-Reformprozess unverkennbar auf eine Strukturierung des Tertiärbereichs zu einem (höheren) Berufsbildungssystem zielt, muss für die curriculare Entwicklung von Berufsbildungsgängen geklärt werden, was durch Wissenschaft zur Zielerreichung (z. B. der Zielkategorie Berufsbildung) beigetragen werden kann.
4 Verortung von Beiträgen über Verberuflichung und Akademisierung
Von den Beiträgen in dieser Ausgabe erwarten die Herausgeberinnen und Herausgeber aus gutem Grund, dass sie an die Beiträge in Ausgabe 23 zum Thema „Akademisierung der Berufsbildung“ anknüpfen. Denn es ist zu wünschen, dass in Diskursen die vorgetragenen Forschungsergebnisse, Sachverhalte, Begriffe etc. sowohl synchronisch aufeinander bezogen als auch hinsichtlich Kontinuität, Vertiefungen und Ergänzungen etc. diachronisch beobachtet, analysiert und bewertet werden. Die Verständigung durch Diskurse wird u. a. davon beeinflusst, ob für die jeweils erörterten Sachverhalte und Entwicklungen die gleichen Worte verwendet und auf „den Begriff“ gebracht werden. Deshalb sollte geklärt werden, ob gleiche Worte für verschiedene Sachverhalte vice versa verwendet wurden und werden, und ob sie die Komplexität von Sachverhalten angemessen ausdrücken. Sind z. B. Akademische Bildung, Hochschulbildung, Tertiärbildung verschiedene Begriffe für gleiche Sachverhalte oder sollen sie jeweils unterschiedliche Akzente, Sichtweisen etc. zum Ausdruck bringen?
Ein Instrument zur Analyse von Worten und Begriffen ist die Strukturierung von Sachverhalten, auf die sie sich beziehen (könnten). Nach Erfahrungen mit Inhaltsanalysen über Vorstellungen von Parteien, Verbänden etc. zur Berufsausbildung im Sekundarbereich II (Kell 1970) und zur akademischen Berufsausbildung (Buchmann (1999) ist für ein Forschungsprojekt „Berichterstattung über Berufsbildungsforschung“ eine Strukturmatrix entwickelt worden (Buer v./Kell 1990, 52), um Forschungsprojekte thematisch verorten und Forschungszusammenhänge transparent machen zu können. Die Strukturmatrix könnte in modifizierter Form geeignet sein, im Sinne einer Bedingungsanalyse Sachverhalte zu verorten, auf die Worte bezogen sind, die in den Beiträgen der Ausgabe 23 und weitere für die Themenschwerpunkte einschlägige Beiträge sowie die von den Herausgeberinnen und Herausgebern formulierten strukturierenden Fragestellungen und Erläuterungen zu den Ausgaben 23 und 34 verwendet wurden. Wir können die Strukturmatrix hier auf den Diskurs nicht anwenden und die Matrixfelder inhaltlich füllen, sondern sie nur beschreiben und die horizontalen und vertikalen Strukturmerkmale erläutern und sie als Instrument für Inhaltsanalysen empfehlen.
Die Spaltenstruktur folgt der Strukturierung des Bildungsrates (1970) mit berufsbiografischer Perspektive: (1) Berufsorientierung/Berufsvorbereitung im Sekundarbereich I (z. B. Arbeitslehre/Polytechnik, Berufswahlunterricht). (2) Berufsvorbereitung für eine Berufsausbildung im Sekundarbereich II (Maßnahmen im Übergangssystem). (3) Berufsvorbereitung für eine Berufsausbildung im Tertiärbereich (z. B. Fachoberschule, Fach/Berufsgymnasien). (4) Berufsausbildung im Sekundarbereich II (Duales und Berufsschul-System). (5) Berufsausbildung zwischen Sekundarbereich II und Tertiärbereich (z. B. Berufsakademien). (6) Berufsausbildung im Tertiärbereich (differenziert für Erwerbsberufe außerhalb und innerhalb des Tertiärbereichs). (7) Berufliche Weiterbildung im Tertiärbereich. (8) Berufliche Weiterbildung im Quartärbereich.
Die Zeilenstruktur folgt der in Abbildung 1 visualisierten Systemstruktur: Mikrosystem (Berufliches Lehren und Lernen), Mesosystem (Organisationen und Institutionen), Exosystem (Gestaltung-Politik), Makrosystem (Reflexion).
Aus der Kombination der horizontalen und vertikalen Strukturmerkmale ergibt sich eine Strukturmatrix mit 32 Matrixfeldern, denen Sachverhalte thematisch zugeordnet werden können. Die Matrixspalten können für detaillierte Analysen differenziert werden, z. B. die Spalte 6 nach Institutionen wie Universität, gleichgestellte Hochschulen, Fachhochschulen, Akademien etc.
Für eine Bedingungsanalyse wäre zudem zu berücksichtigen, dass Chancengleichheit als bildungspolitisches Ziel u. a. durch eine Verbesserung der Durchlässigkeit im Bildungssystem erreicht werden soll. Dafür hat die politische und pädagogische Gestaltung von Übergängen in und zwischen den Berufsbildungsgängen große Bedeutung. Als Reaktion auf Problemlagen an Übergängen hat sich in der BBF ein Forschungssegment Übergangsforschung entwickelt (vgl. Kutscha 1991). Die berufsbiografisch orientierte Spaltenstruktur der Matrix macht die institutionelle und organisatorische Binnenstruktur des Bildungssystems sichtbar, durch die Übergänge in Berufsbiografien verursacht werden. In vielen Beiträgen der Ausgabe 23 und im CfP dieser Ausgabe sind Probleme an solchen Übergangen (sog. Mismachtes, vgl. Buchmann 2007/2011) thematisiert, die durch Verortung in den Matrixfeldern aufeinander bezogen werden können, um Übereinstimmungen, Differenzen und offene Fragen zu erkennen. Durch die Zeilenstruktur rücken weitere Übergänge in den Blick, die die Subjektentwicklung beeinflussen. Bronfenbrenner hat theoretisch und empirisch nachgewiesen, dass „ökologische(n) Übergänge(n), d. h. (bei) Veränderungen der Rolle oder des Lebensbereichs“ für die individuelle Entwicklung besonders bedeutsam sind (1981, 22). In der ersten Matrixzeile sind (wechselseitige) Übergänge zu verorten von Lebenssituationen (außerhalb von Lernsituationen) in Lern- und Arbeitssituationen (Mikrosystemebene). Die zweite Matrixzeile erfasst Übergänge zwischen Lernräumen (z. B. Labore, Seminar-, Computerräume etc.) in Institutionen (z. B. Schule, Betrieb, Überbetriebliche Bildungsstätte im Sekundarbereich II, Universität, Fachhochschule im Tertiärbereich) (Mesosystemebene). In Abbildung 1 ist die Positionierung von Bildungsgängen visualisiert als Verbindung zwischen Mikro- und Mesosystemebene. Auf dieser Zwischenebene sind Übergänge zwischen Berufsbildungsgängen innerhalb eines Teilbereichs (horizontal) und zwischen den Teilbereichen (vertikal) erkennbar zu machen, z. B. vom Sekundarbereich II in den Tertiärbereich. Die dritte Matrixzeile verweist auf Übergänge zwischen gesellschaftlichen Subsystemen, z. B. zwischen Bildungs-, Beschäftigungs-, Sozial-, Gesundheitssystem.
Die Strukturmatrix als Instrument zur Beobachtung, Analyse und thematischen Verortung von Diskursbeiträgen, Forschungsergebnissen etc. kann beitragen zu Transparenz, wechselseitiger Information und Kooperation sowie zur Klärung von Bezeichnungen für Entwicklungen, von Begriffen und Gestaltungsperspektiven.
5 Bedingungsanalyse zur Curriculumentwicklung im Tertiärbereich
Die BBF ist auf Grund ihrer Entwicklung weitgehend auf die Berufsbildung im Sekundarbereich II fokussiert (vgl. Buer v./Kell 1999; Kell 2015b, 14 ff.), und es gibt kaum wechselseitige Bezüge zu oder Kooperationen mit der Hochschulforschung. Das sollte sich als Reaktion auf Entwicklungen im Beschäftigungssystem und im Sekundar- und Tertiärbereich ändern. Die folgenden Überlegungen zur Berufsbildung im Tertiärbereich sind also keine Grenzüberschreitungen, sondern sie basieren auf dem Selbstverständnis einer entwicklungsorientierten BBW. Sie sind konzentriert auf Interpretationen der Bezugspunkte (1) Bildung, (3) Beruf und (4) Wissenschaft im Bedingungsgefüge der sechs Bezugspunkte des vorgeschlagenen Modells zur Curriculumkonstruktion.
(1) Bildung ist als pädagogische Norm im Selbstverständnis von Universitäten verankert. Für sie und für andere Institutionen des Tertiärbereichs wäre zu klären, ob und inwieweit diese normative Orientierung mit der Zieldimension Bildung in der Zielkategorie Berufsbildung (in der Spannung mit der Zieldimension Beruf) kompatibel ist, und welche Bedeutung und Gewichtung dieser Zieldimension in den Studiengängen bisher beigemessen wurde - als Klärung der Ausgangslage für Weiterentwicklungen und Neugestaltungen von Berufsbildungsgängen. Als ein Prüfergebnis ist zu erwarten, dass in den Wissenschaften unterschiedliche Selbstverständnisse über den „Bildungsgehalt“ ihrer Wissenschaft bestehen. Sie müssen geklärt werden, um daraus Folgerungen für die Curricumentwicklung zu ziehen. Robinsohn (1967) hatte bereits auf die unterschiedliche Bedeutung und Gewichtung von Fachwissenschaften und anthropologischen Wissenschaften (zu denen er die Erziehungswissenschaft zählt) für die Curriculumentwicklung hingewiesen (vgl. die Darstellung in Blankertz 1969a, 164 ff.). Wir gehen davon aus, dass die Auseinandersetzung mit Wissenschaft individuelle Entwicklungsprozesse in Richtung der Zieldimension Bildung zwar ermöglicht, aber nicht allein sichert. Deshalb sollten für jeden Berufsbildungsgang die spezifischen Wechselbeziehungen zwischen den Bezugspunkten Bildung (der Zieldimension Bildung in der Zielkategorie Berufsbildung) und Wissenschaft (den jeweils beteiligten Wissenschaften) geklärt werden.
(3) Mit Beruf wird der Sachverhalt bezeichneten, der im Modell dem Bezugspunkt (3) nämlich den curricular vermittelten Qualifikationsanforderungen entspricht: Um einen Beruf ausüben zu können, muss eine Person die Qualifikationsanforderungen eines Arbeitsplatzes erfüllen. Arbeitsplatz als kleinste Basiseinheit im Betrieb ist der Sachverhalt, für den der Begriff Beruf verwendet wird (vgl. Kell 2015a, 16). Wissen über Qualifikationsanforderungen muss innerhalb der BBF vor allem von der (berufsbildungswissenschaftlichen) Qualifikationsforschung generiert werden (vgl. Buchmann 2004; 2006a; 2006b; 2014; Buchmann/Huisinga 2006). Wissen über Berufe, für die in Berufsbildungsgängen des Tertiärbereichs qualifiziert werden soll, steht bisher nur begrenzt zur Verfügung. Angenommen wird, dass die Anforderungen dieser Berufe sehr komplex sind und das Anforderungsniveau im Vergleich mit anderen Berufen hoch ist.[6] Differenziert betrachtet werden sollten Unterschiede zwischen Berufsausbildungen für Berufe außerhalb und innerhalb des Tertiärbereichs und deren Wechselbeziehungen. Die Vielfalt der Aufgaben, die von Wissenschaftlern (z. B. von Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Assistentinnen und Assistenten, Akademischen Räten, Professorinnen und Professoren) durch Berufe im Tertiärbereich zu erfüllen sind, lassen sich mehrheitlich den vier Aufgabenbereichen Forschung, Lehre (Berufsausbildung), Beratung und (Selbst)Verwaltung sowie Institutionenentwicklung zuordnen, die allerdings im Rahmen der Implementierung der neuen öffentlichen Steuerungsmodelle (NPM[7]) einer erheblichen Bedeutungsverschiebung zugunsten der Verwaltungs- und Entwicklungsaufgaben unterliegen. Berufsausbildungen, die zu solchen Berufen führen (wissenschaftliche Laufbahnen), sind mit der Berufsausübung der Wissenschaftler in den vier Aufgabenbereichen verflochten.[8] Sie sind nur in geringem Umfang in curricular konstruierten Berufsbildungsgängen organisiert. Im Vergleich der Berufsausbildung für wissenschaftliche Arbeit innerhalb des Tertiärbereichs mit der Berufsausbildung für eine Erwerbsarbeit in einem anderen Subsystem und der Praxis der Curriculumentwicklung für Berufsbildungsgänge im Sekundarbereich II erweist sich erstgenannte als am schwächsten organisiert. Aber die Praxis der Curriculumentwicklung für Berufsbildungsgänge in allen Bereichen des Bildungssystems weist zu den curriculumtheoretisch begründeten Anforderungen (vgl. Buchmann 2014) erhebliche Defizite auf. Immerhin ist die Berufsausbildung im Tertiärbereich durch Studienordnungen geregelt, die die Lehre (im weitesten Sinne) leiten – im Rahmen der Freiheit von Forschung und Lehre (Tendenz zur Input-Steuerung). Die Berufsausbildung zur Professorin, zum Professor für BBW ist durch ihre Verflochtenheit mit der Berufsausübung der Professorinnen und Professoren partiell abhängig von den Ausbildungsleistungen, die von ihnen für Berufe außerhalb des Tertiärbereichs zu erbringen sind, z. B. für Lehrkräfte. Solche Wechselbeziehungen tragen dazu bei, dass diese wissenschaftliche Laufbahn weniger systematisch organisiert ist. Durch Promotions- und Habilitationsordnungen werden allerdings die Anforderungen geregelt, die an die Nachfrager nach den Zertifikaten Promotion und Habilitation zu stellen sind. Geprüft werden tendenziell die Ergebnisse des Lernens (und partieller Mit-Arbeit) in einer weitgehend individuell gesteuerten Berufsausbildung – mit relativ hohen Risiken (Tendenz zur Output-Steuerung). Zudem wird die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses für die BBF durch die angedeuteten Aufgabenverflechtungen von weiteren Faktoren beeinflusst, z. B. von den Möglichkeiten, Lehrveranstaltungen in Berufsbildungsgängen, die für Berufe außerhalb des Tertiärbereichs qualifizieren sollen, zu nutzen zur Qualifizierung für die BBF, sowie von speziellen Beratungs- und Betreuungsleistungen (z. B. durch Professorinnen und Professoren) und von außerhochschulischen Qualifizierungsmöglichkeiten.[9] Die Umweltbedingungen für die Berufsausbildung zur Professorin, zum Professor in BBW scheinen also nur suboptimal zu sein für die Qualifizierung zur BBF.
(4) Wissenschaft hat als Bezugspunkt im Bedingungsgefüge des Modells für die Curriculumkonstruktion für Berufsbildungsgänge im Tertiärbereich besondere Bedeutung. Unter den Bedingungen verwissenschaftlichter Produktion und Dienstleistung (Stichwort: Digitalisierung) muss auf weiteres und spezielles wissenschaftliches Wissen Bezug genommen werden. Zu denken ist an (mindestens) drei Arten von wissenschaftlichen Wissensbeständen, die zu generieren und à jour zu halten sind: (a) Transformationswissen (gesellschaftliche Transformationsbedingungen sind in ihrer Relevanz für curriculare Fragen zu erfassen und zu reflektieren); (b) Subjektwissen (die damit veränderten psychosozial-motivationalen Lagen und Sozialisationserfahrungen der nachwachsenden Generation sind zur Erkenntnis zu bringen); (c) Curriculares Wissen (wie das zum Bezugspunkt (6), insbesondere unter den Maßgaben „Methodische Leitfrage“, „Repräsentationen“ oder „Bildungsgehalt“).
(5) Die Bedeutung von Wissenschaft für die Hochschulen sollte sie auch dazu verpflichten, die Curriculumentwicklung von Studiengängen wissenschaftlich zu basieren. Das wäre mit dem vorgeschlagenen Modell für die Curriculumkonstruktion möglich. Es geht davon aus, dass Berufsbildungsgänge nicht linear aus einem Guss und schon gar nicht als Ableitung aus dem Arbeitsprozess oder einer Wissenschaft entstehen kann. Sie werden vielmehr entwickelt aus einem finalen System von Fragekomplexen und Konstruktionsschritten, die jeweils mehrfach „durchlaufen“ werden. Qualifikationsforschung und Curriculumentwicklung sind nach diesem Konzept unabdingbar aufeinander verwiesen. Eine Qualifikationsforschung ohne curriculares Erkenntnisinteresse (Stichwort: Subjektbildung) ist berufsbildungswissenschaftlich und damit unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ebenso wenig tragfähig wie eine Curriculumentwicklung ohne qualifikationstheoretisch-empirische Fundierung. Insofern geht dieses Modell von der Auffassung aus, dass die Erkenntnisperspektive in der Sicherung der Subjektentwicklung und -entfaltung zu liegen hat und diese ist ohne Rekurs auf eine empirisch gesicherte Bedarfserhebung an konkreten Arbeitsvermögen weder zu gewährleisten noch gesellschaftlich sinnvoll zu verantworten. Die gesellschaftlich notwendigen Arbeitsvermögen ergeben sich aus komplexen Konfigurationen aufgrund technischer, technologischer, ökonomischer, juristischer und sozialer Entwicklungen. Mit Strukturwandlungen bzw. den Transformationsprozessen verändern sich bekanntermaßen die Bedarfe an Arbeitsvermögen bzw. Arbeitskraft sowie das dort inkorporierte Wissen und Können. Die berufsbildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung setzt deshalb strategisch an den Forschungsprozessen der Freisetzung und Vergesellschaftung an, um von daher die empirische Fundierung curricularer Gestaltung zu sichern. Darin unterscheidet sie sich von anderen Qualifikationsforschungsansätzen. Wissenschaftliches Wissen ist erforderlich über (1) Funktion und Stellenwert des empirischen Arbeits- und Tätigkeitsfeldes, (2) im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, (3) der organisationalen Formgebungen dieser Arbeit, (4) der konkreten prototypischen Operationen und den erforderlichen Qualifikationen, (5) der Arten von Wissen (z.B. Faktenwissen, Regelwissen, Theoriewissen, Problemlösewissen), (6) der Wissensarchitektur, die erforderlich ist (unabhängig von Prüfungskatalogen), (7) von prototypischen Wertmustern, Denk- und Urteilsmustern, Rollenmustern, (8) von arbeitsfeldbezogenen Habitualisierungen mit zugehörigen Mentalitäten der im jeweiligen untersuchten Relevanzfeld auftretenden Rationalitäten, Interessen, Widersprüche, Konflikte oder auch unterschiedlicher Sichtweisen, die es durchdringen, um es als Transformationswissen mit den bildungstheoretischen Implikationen (Subjektwissen und curriculares Wissen) zu korrelieren. Mit der Erhebung dieser empirischen Daten verknüpft ist eine erkenntnistheoretische Komponente. Da das gewonnene Verfügungswissen um Orientierungs- und Problemlösewissen (zwecks Zukunftsgestaltung) ergänzt werden muss, wird das zu untersuchende Relevanzfeld auf Rationalitäten, Interessen, Widersprüche, Konflikte oder auch unterschiedliche Sichtweisen, die es durchdringen, untersucht und nach wissenschaftlichen und praktischen bzw. sozialen Lösungsmustern geforscht. Schließlich soll in einem dritten Forschungsschritt der Subjektbezug, also Lebensweltbezüge, grundlegende Bedürfniskonstellationen und Gebrauchswertorientierungen von Wissen im Relevanzfeld erhoben werden. An diese Materialsammlungen schließt sich ein differenzierter Prozess der Ermittlung von Korrelationen und Verdichtungen an, um die jeweiligen Lernumwelten in den Berufsbildungsgängen curricular gestalten zu können.
6 Schlussbemerkungen
Berufsbildungsgänge, die auf der Basis unserer berufsbildungswissenschaftlichen Reflexionen und in Anwendung des Modells für die Curriculumkonstruktion entwickelt werden, sind einerseits einheitlich in ihrer formalen Struktur und andererseits differenziert für die jeweiligen konkreten Umweltstrukturen im Sekundar-, Tertiär- und Quartärbereich. Durch ein System aufeinander bezogener Berufsbildungsgänge könnte die Durchlässigkeit im Bildungssystem erhöht werden. Dazu beitragen würden auch z. B. die Gestaltung einer Eingangs- und Ausgangsphase in jedem Berufsbildungsgang zur Verbesserung von Übergangsmöglichkeiten in andere Bildungsgänge, eine Zusammenschau aller Berufsbildungsgänge durch Verortungen unter Berücksichtigung der Strukturmatrix, so dass ein „System“ von Berufsbildungsgängen erkennbar wird, das Informationen bietet für Beratungen. Teile dieser Berufsbildungsgänge, z. B. Module, sollten grundsätzlich auch von Nachfragern genutzt werden können, die individuelle Bildungsgänge planen, z. B. weil sie Marktlücken erkennen und nutzen oder weil sie ihr Humanvermögen nicht als Humankapital im Beschäftigungssystem verwerten, sondern als Bedürfnisbefriedigung im Hinblick auf Weltverstehen, Weltverfügung und Weltgestaltung.
Diese Gestaltungsperspektiven sind als eine Alternative zum Vorschlag von Rauner (2012) zu verstehen, zwei getrennte Bildungswege mit Übergangskorridoren zu gestalten: einen weitgehend dualisierten „Beruflichen Bildungsweg“ bis zum Ph. D. (Professional) und einen bis zum Ph. D. (Science Arts etc.) führenden „Akademischen Bildungsweg“. Aus der deutschen Bildungsgeschichte in Bezug auf Bewertungen von allgemeiner und beruflicher sowie akademischer und beruflicher Bildung folgern wir, dass eine solche vertikale Struktur die Erreichung des bildungspolitischen Ziels der Gleichwertigkeit eher behindert als fördert. Denn die tradierte Unterbewertung von Beruf im Vergleich zu Bildung und Wissenschaft (als Subkulturen/Denkmuster/Ideologien auf der Makrosystemebene) ist keineswegs überwunden. Davon wird das Handeln auf allen darunter liegenden Systemebenen beeinflusst. Wenn für alle Berufsbildungsgänge im Tertiärbereich durch Analysen transparent gemacht würde, wie die Bezugspunkte Bildung, Wissenschaft und Beruf im jeweiligen Bedingungsgefüge gewichtet und konkretisiert sind, könnte eine Basis für (neue) Bewertungen geschaffen werden – unter Angabe und Begründung der Bewertungsmaßstäbe. Die institutionelle Struktur des Tertiärbereichs wird sich nach der Bologna-Reform auch mittelfristig kaum verändern. Die Reformstrategie von Robinsohn (1967) „Bildungsreform als Revision des Curriculum“ zu planen, die Vorschläge des Bildungsrates zur Entwicklung von Bildungsgängen, die Strategien zur Entwicklung doppelt qualifizierender Bildungsgänge im Sekundarbereich II sind als Gestaltungsperspektiven für den Tertiärbereich aktueller denn je. Statt institutioneller Versäulung präferieren wir als Gestaltungsperspektive die curriculare Entwicklung von Berufsbildungsgängen nach einheitlichen Standards. Diese Gestaltungsperspektive enthält einen utopischen Überschuss. Denn der Abstand der Curriculumentwicklungspraxis zu curriculumtheoretischen Erkenntnissen und Ansprüchen ist im Tertiärbereich noch größer als im Sekundarbereich II. Aber im Rahmen globaler staatlicher Vorgaben haben die Hochschulen größere Chancen zu autonomer Curriculumentwicklung. Sie sind dabei verpflichtet, an ihren Grundsätzen orientiert zu handeln - Universitäten z. B. am Grundsatz der Einheit von Lehre und Forschung und der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden.[10] Die Curriculumentwicklung im Tertiärbereich ist auch zur Wissenschaftsorientierung und Anwendung wissenschaftlichen Wissens besonders verpflichtet - sie sollte deshalb auf Ergebnissen der Curriculumforschung basieren. Solchen Ansprüchen wird sie nicht gerecht. Sie ist in Bezug auf die Entwicklung von Berufsbildungsgängen unterentwickelt, theoretisch unzureichend fundiert und kaum durch Forschungsergebnisse basiert. In Kommissionen über Prüfungs- und Studienordnungen wirken die Vertreterinnen bzw. Vertreter der Fachwissenschaften oft wie Lobbyisten ihrer Wissenschaft, ohne zu reflektieren, dass sie in Bezug auf die Curriculumentwicklung Laien sind. Deshalb ist mindestens eine professionelle Vorbereitung und Moderation solcher Entwicklungsprozesse erforderlich.
Zur Verbesserung der Berufsausbildung gibt es an Hochschulen vielfältige organisatorische Maßnahmen und Aktivitäten, z. B. Lehrerbildungszentren und Lehrerbildungsforschung (vgl. die Übersicht auf https://zlb.uni-due.de/node/52; Schaefers 2002), Zentren für Hochschuldidaktik und Hochschulforschung (vgl. Deutsche Gesellschaft für Hochschuldidaktik https://www.dghd.de/), Qualitätsmanagementsysteme und Maßnahmen zur Qualitätssicherung, die von den Akkreditierungsverfahren angeschoben wurden, und die die Verbesserung von Studium und Lehre als ihre Arbeitsschwerpunkte ausweisen (vgl. Boentert 2017)[11]. Zum Bezugspunkt (6) des Modells zur Curriculumkonstruktion ist auf neue Lehr-Lern-Arrangements hinzuweisen, die durch Verwendung elektronischer Medien entwickelt werden, z. B. Aktivitäten unter dem Titel Curriculum 4.0 (https://www.stifterverband.org/curriculum-4-0), deren Produkte als Teile in Berufsbildungsgänge integrierbar sind. Digitalisierte Lernangebote erhöhen auch die Chancen, dass Lernende ihre Berufsbildungsgänge selbst planen und gestalten können. Bei der Verwertung ihres durch individuelle Entwicklungsprozesse in dieser Umwelt erworbenen Humanvermögens sind sie allerdings auf Anrechnung, Anerkennung und Zertifizierung durch Institutionen angewiesen. Bei diesen Prozeduren werden die Institutionen Maßstäbe verwenden, die für die eigenen Berufsbildungsgänge maßgebend sind. Welche Folgen die Digitalisierung von Lehre und Forschung für eine „Universität 4.0“ haben (können), ist in Berichten über eine Fachtagung der DGfE dokumentiert (in Erziehungswissenschaft 28. (2017), Heft 55, 9-78).
Diese angedeuteten Maßnahmen und Aktivitäten sind für die Berufsausbildung im Tertiärbereich wichtig, aber sie verlieren nur allzu leicht den Bezugspunkt Bildung aus den Augen, sind zu wenig auf einander abgestimmt sowie nicht dauerhaft und nachhaltig genug. Viele Lehr-Lern-Arrangements müssten in Berufsbildungsgänge integriert werden, damit sie als Teile dieser Umwelt zur Ermöglichung einer kontinuierlichen individuellen Entwicklung beitragen. Um eine solche Integration durch die Curriculumentwicklung von Berufsbildungsgängen zu erreichen, sind in den Hochschulen Organisationseinheiten, Institute, Zentrale Einrichtungen etc. erforderlich - mit speziell qualifiziertem Personal auf Dauerstellen und mit Sachmitteln angemessenen ausgestattet.
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Wissenschaftsrat (1993): 10 Thesen zur Hochschulpolitik (Drs.1001/93). Berlin.
[1] I n der Allgemeinen Erziehungswissenschaft gehört der Diskurs über Bildung zu einer zentralen Thematik, der auf der Makrosystemebene geführt wird (vgl. Lenzen 1997; Tenorth 1997). Wenn Erziehungs- bzw. Berufsbildungswissenschaft als Handlungswissenschaft wirksam sein will, müssen Wissenschaftler sich für einen von vielen Bildungsbegriffen entscheiden, z. B. um eine normative Orientierung zu gewinnen für die Konkretisierung von Zielen bei der curricularen Entwicklung von Berufsbildungsgängen.
[2] Mit polarer Spannung ist ein dialektisches Verhältnis gemeint, in dem kein Pol (als theoretisches Konstrukt) allein wirksam werden kann und die Realität zwischen den Polen zu verorten ist, aber keinem Pol entspricht. Der Pol Beruf ist bezogen auf Arbeitsplätze als gesellschaftliche Realität zu verstehen. Der Pol Bildung ist ein (Ziel)Ideal. Berufsbildung dient der Vermittlung zwischen beiden Polen, die vor allem durch die Konstruktion von Berufsbildungsgängen als spezifische Umwelten gelingen soll.
[3] Wir verwenden für den Rückblick Textteile aus Buchmann/Kell 1997.
[4] Rauner hat am Beispiel der Elektrotechnik Entwicklungen zum neuen Hochschultyp erörtert (1987; 2012).
[5] Als These, die hier nicht erörtert werden kann, sei angefügt: Der unreflektierte Umgang mit dem Lernfeldkonzept und die „Berufswissenschaften“ sind Entwicklungen, die zu dieser Gewichtung beitragen.
[6] Meyer verwendet für das Anforderungsniveau von Berufen den Begriff „Beruflichkeit“ und unterscheidet drei Ebenen: Unorganisierte Arbeit - Beruf - Profession (2012, S. 2). Unorganisierte Arbeit gibt es nicht. Gemeint sind wohl Arbeitsplätze/Berufe mit niedrigem Anforderungsniveau. Um unterschiedliche Anforderungsniveaus von Berufen zu klassifizieren und Niveauebenen zu bezeichnen, müssten Merkmale und Merkmalsausprägungen für Qualifikationsanforderungen entwickelt und begründet werden.
[7] Die seit den 1990er Jahren politisch gewollte liberalisierende, deregulierende und privatisierende Steuerungslogik in den gesellschaftlichen Reproduktionsbereichen stärkt zunächst (auch) die Institutionen der Berufsbildung in ihrer Autonomie, konfrontiert sie gleichzeitig jedoch mit der Aufforderung, ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Auftrag explizit zu formulieren, über outputorientierte Verfahren systematischer Überprüfung zuzuführen und gegebenenfalls Ziele, Arbeitsorganisationsprozesse und -strukturen zu verändern (vgl. Buchmann 2017).
[8] Diese Verflechtung wird besonders beeinflusst von Vorstellungen über die Einheit von Lehre und Forschung und über die Didaktik Forschenden Lernens (vgl. Lilienthal 2016).
[9] Aktivitäten der DGfE zur Nachwuchsförderung, z. B. Summer/Winter-Schools, Fachtagungen zur Methodenausbildung, sind als Entmischungen (vgl. Buchmann 2011) Indizien für erkennbare Mängel in der universitären Berufsausbildung zur Professorin, zum Professor für Erziehungswissenschaft, die zu Reorganisationen der überkommenen Qualifizierungswege geführt haben.
[10] Für alle universitären Berufsausbildungsgänge sollten die gleichen Grundsätze gelten, also sowohl für die, die für Berufe innerhalb, als auch für die, die für Berufe außerhalb des Tertiärbereichs qualifizieren sollen.
[11] „Alle am Kernprozess Lehre Beteiligten müssen bereit sein, sich innerhalb eines integrierten Qualitätsmanagementsystems selbstkritisch zu reflektieren und Lern- und Lehrleistungen regelmäßig zu prüfen. Eine solche Bereitschaft zur Reflexion des eigenen Handelns bildet die Basis für eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung und macht aus Hochschulen lernende Organisationen“ (Leitende Fragestellungen der 46. dghd-Jahrestagung 2017).
Zitieren des Beitrags
Buchmann, U./Kell, A. (2018): Berufsbildungswissenschaftliche Reflexionen zur Bewältigung von Gestaltungsaufgaben in der Berufsbildungspraxis – Über Einheit und Differenzierungen in der Berufsbildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 34, 1-22. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe34/buchmann_kell_bwpat34.pdf (30.06.2018).