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bwp@ 35 - Dezember 2018
Ökonomisierung in der Bildung und ökonomische Bildung
Hrsg.:
, &Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion. Eine Polemik in konstruktiver Absicht und Wolfgang Lempert zum Gedenken
„Menschlichkeit der Technik“ (Blankertz), „Leistung und Emanzipation“ (Lempert), diese Themen waren für die Ideengeber der emanzipatorischen Berufs- und Wirtschaftspädagogik von zentraler Bedeutung. Heute gehören sie im berufsbildungswissenschaftlichen Diskurs eher zum Schnee von gestern. Und das, obwohl Berufsbildungspolitik und -praxis angesichts der Herausforderungen durch nicht kontrollierbare technologische Dynamik und diese antreibenden Kapitalverwertungsdruck mit der Frage konfrontiert ist, wie die nachwachsende Generation auf eine Welt vorbereitet werden kann, von deren potenziellem Zerfall sie bedroht ist. Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik drückt sich weithin um diesen Fragenkomplex herum und betrachtet die zunehmend digitalisierte Arbeitswelt, so wie sie nun mal ist, als normative Kraft des Faktischen. Sie konzentriert sich auf Theorie, Forschung und Praxis der Vermittlung und Aneignung beruflicher Handlungskompetenzen als Surrogat für berufliche Bildung. Dabei bleibt außen vor, dass berufliche Kompetenzentwicklung Teil der kapitalbasierten Maschinerie und des darauf fixierten Wertesystems ist. Jedenfalls entzieht sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik als bodenständige Disziplin nüchtern betrachtet einer radikalen Neubesinnung ihrer „einheimischen“ Begrifflichkeiten und Forschungsarbeiten.
Für ebenso problematisch wie die Substituierung des Bildungs- durch den Kompetenzbegriff halte ich die ideologische Gleichsetzung von beruflicher Handlungskompetenz und beruflicher Bildung. Sie vereinnahmt den Bildungsbegriff für berufsbildungspolitische Programme, die aus politisch-ökonomischer Sicht funktional darauf angelegt sind, die Adressaten der Berufsausbildung für die „Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit“ (Berufsbildungsgesetz) in marktadäquate Austauschbeziehungen einzugliedern. Diese These wird in einem ersten Schritt fallstudienartig am Beispiel des Warencharakters der Ausbildung im Warenverkauf erörtert (Teil 1). Daran anschließend (Teil 2) setze ich mich provokativ mit dem ordnungspolitischen Credo vom „gemeinsamen Bildungsauftrag von Berufsschule und Ausbildungsbetrieben“ (Kultusministerkonferenz) auseinander. Rückblickend auf den emanzipatorisch orientierten Theorie- und Forschungsansatz bei Herwig Blankertz und Wolfgang Lempert werden im Teil 3 Perspektiven einer politisch-ökonomisch reflektierten Sichtweise der Berufs- und Wirtschaftspädagogik angesprochen. Und Teil 4 thematisiert abschließend die Schwierigkeiten der Berufsschule, ihre Möglichkeiten als Bildungseinrichtung wahrzunehmen. Dabei nehme ich Bezug auf die zur Diskussion stehende Verabschiedung des „Berufsbildungsmodernisierungsgesetzes“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung); es handelt sich um ein aktuelles Beispiel für Reformpolitik nach dem Motto „Kontinuität im Wandel“.
Die Unterwerfung der beruflichen Bildung unter die Hegemonie von Ökonomie und Technik scheint alternativlos zu sein. Alternativlos ist gerade deshalb schonungslose Kritik. Gute, phantasiereiche Diskussionsanstöße sind solche, die es vermögen, der beruflichen Bildung und Ausbildungspraxis eine neue Dimension hinzuzufügen, anstatt Widersprüche naiv zu überspielen oder gar ideologisch zu verstärken. Darin lag und liegt noch immer das Potenzial der emanzipatorischen Berufs- und Wirtschaftspädagogik, bei Herwig Blankertz ebenso wie bei Wolfgang Lempert.
Vocational education and professional competence out of political-economic reflection – A polemic in constructive intent in memory of Wolfgang Lempert
The humanity of technology, work and emancipation were topics of central importance to the initiators of emancipatory vocational and business education in Western Germany (Blankertz, Lempert). Today they are rather old news in the theoretical discourse of vocational and economic education. VET science focuses on theory, research and practice of acquiring professional skills without considering that these are part of the capital-based, overall political-economic context.
Vocational competence is characterized economically by its usability in the production of goods and services and in this way by its impact on the productivity of work for the benefit of return on assets. The characterization of occupational competencies as a commodity is discussed in part 1, using the example of vocational training in retail. Part 2 discusses the ideology of equating vocational competence on the one hand and vocational education on the other within the framework curricula for vocational education arranged by the Federal Länder Coordination Committee for Vocational Training Regulations. Specific to the concept of emancipatory vocational education is the dimension of critical reflection, in particular the political-economic and societal reflection of work experience in training companies. This is explained in more detail in part 3, which refers to the educational theory and research concepts of Herwig Blankertz and Wolfgang Lempert. Finally, part 4 takes a critical look at the difficulties that prevent vocational schools in Germany’s Dual System of vocational education and training from fulfilling their educational mission, combined with vocational competence and beyond. This part refers to the so-called "modernization" of the Vocational Training Act. The actual amendment of the current law is considered as an example of the reform policy called "Continuity in Change”. This is especially true for the final examinations that are the responsibility of the chambers of commerce and industry, and the chambers of crafts. These examinations in the dual training system are not only geared to the requirements of the training companies, but also greatly influence the teaching in vocational schools.
There seems to be no alternative to the subjection of vocational education to the hegemony of global finance and digital technology. There is also, therefore, no alternative apart from the ability of radical criticism. As the author sees it, this is still, more than ever, the potential of emancipatory vocational and business education according to the ideas of Herwig Blankertz and Wolfgang Lempert.
„Es steht schlecht um die Berufs- und Wirtschaftspädagogik (BWP) in unserem Land:
Als mittlerweile angejahrte (Doppel-)Disziplin kämpft sie gleichwohl noch immer mit
fundamentalen terminologischen, theoretischen und methodologischen Problemen, die zwar
anderen Sozialwissenschaften ebenfalls zu schaffen machen, diese jedoch kaum essentiell verunsichern oder gar existenziell gefährden.“
(Wolfgang Lempert 2009, 1).
1 Einstieg: Kompetenzentwicklung für den Warenverkauf – Warencharakter beruflicher Bildung
Das Konzept beruflicher Handlungskompetenz kann inzwischen als „disziplinspezifisch“ für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik angesehen werden (Gillen 2018, 228). Anders als ‚berufliche Bildung‘ suggeriert der Begriff ‚berufliche Handlungskompetenz‘ distanzierte Neutralität, die ihm die Weihe wissenschaftlicher Objektivität und – nicht zuletzt – die Würde akademischer Drittmittelforschung verleiht. Der Verzicht darauf, berufliche Kompetenzentwicklung im Kontext politisch-ökonomischer Zusammenhänge zu erfassen und in Bildungsprozesse zu transferieren, führt dazu, utilitäre Berufsbildung (Blankertz 1963) auf hohem Niveau zu praktizieren.
Um diese These an einem Beispiel zu illustrieren, sei auf den Rahmenlehrplan für die Ausbildungsberufe Kaufmann/Kauffrau im Einzelhandel und Verkäufer/Verkäuferin verwiesen (Kultusministerkonferenz 2016). Der Unterricht habe sich an einer für die Aufgaben der Berufsschule „spezifischen Pädagogik“ auszurichten, „die Handlungsorientierung betont“ und auf „Lernfelder“ bezogen ist, als deren didaktische Bezugspunkte der Rahmenlehrplan „Situationen“ vorgibt, „die für die Berufsausübung bedeutsam sind (Lernen für Handeln)“. Dazu gehört im ersten Ausbildungsjahr das Lernfeld „Verkaufsgespräche kundenorientiert führen“.
Die Lehrplanausführungen zu den „Zielen“ dieses Lernfelds deuten aus berufsbildungstheoretischer Sicht das Dilemma handlungsorientierter Kompetenzentwicklung an. So heißt es im Duktus angestrebter Handlungskompetenzen formuliert: „Die Schülerinnen und Schüler führen unter Anwendung von Waren-, Kommunikations- und Verkaufskenntnissen Verkaufsgespräche zur Zufriedenheit der Kunden und des Unternehmens. Sie beherrschen wichtige Elemente der Kommunikations- und Verkaufstechnik sowie Techniken zum Erwerb wesentlicher Kenntnisse über Waren“ (Kultusministerkonferenz 2016, 9). Das klingt unverfänglich – instrumentell und harmlos. Der leerformelhafte Charakter ist für eine Anleitung zum handlungsorientierten Lernen völlig ungeeignet. Was heißt zum Beispiel Elemente der Kommunikations- und Verkaufstechniken zu „beherrschen“, oder was ist mit „Techniken zum Erwerb wesentlicher Kenntnisse über Waren“ gemeint? Das Lernfeld „Verkaufsgespräche kundenorientiert führen“ neutralisiert die politisch-ökonomische Brisanz des Warenverkaufs in einer Welt globaler Verschwendung und Vernichtung knapper und begrenzter Ressourcen.
Es drängt sich die Frage auf, wie dringend ein „Perspektivenwechsel zur Neuorientierung der Warenlehre“ auf der Grundlage politisch-ökonomischer und bio-ökonomischer Erkenntnisse geboten ist, um die „Zukunftsfähigkeit von Produktion und Konsum von Waren“ in den Vordergrund einer paradigmatischen Wende zu stellen (Seifert 2013, 13). Kritisch-reflexiver Warenverkaufsunterricht wäre geboten, wenn Bildung keine Ware und Warenverkaufsunterricht auch als Bildung vorstellbar sein soll, statt sich auf Verkaufsstrategien und Techniken zum Erwerb von Warenkenntnissen als Elemente beruflicher Handlungskompetenz zu fokussieren.
Kritische Kompetenzentwicklung für Verkäuferinnen und Verkäufer im Berufsschulunterricht stößt schon deshalb an enge Grenzen, weil das Hochschulstudium in Deutschland eine wissenschaftlich fundierte verkaufskundliche und warenwirtschaftliche Ausbildung für Lehrer und Lehrerinnen der Fachrichtung Wirtschaftswissenschaften seit Jahrzehnten nicht mehr vorsieht. Die Umorientierung von der warenkundlichen Ausrichtung des Unterrichts in Einzelhandelsfachklassen (vgl. Schönfeld 1928/29) zum Marketingkonzept der Verkaufslehre (vgl. Schlieper 1932) vollzog sich in den späten 1920er Jahren unter dem Einfluss der absatzwirtschaftlich orientierten Verkaufskunstliteratur in den USA (vgl. Kutscha 1988, 17 ff.). Namentlich Friedrich Schlieper, zuständig für das wirtschaftspädagogische Studium von Diplom-Handelslehrern und -lehrerinnen an der Universität Köln, fand mit seiner absatzwirtschaftlich und verkaufspsychologisch geprägten Didaktik der Warenverkaufskunde in der fachkundigen Öffentlichkeit große Beachtung. „Das Verkaufsgespräch, dessen Behandlung der Kernpunkt des verkaufskundlichen Unterrichts bildet, ist ein Werbemittel“ (Schlieper 1932, 27). Demzufolge sollten die Berufsschüler und -schülerinnen im Einzelhandel nicht nur die Anwendung dieses Werbemittels erlernen, sondern auch erkennen, worin seine Wirkung begründet sei. Die „übende Anwendung der Verkaufstechnik“ war Bestandteil dieses Konzepts (vgl. Schlieper 1932b). Es prägt noch heute – ohne direkte Bezugnahme auf Schlieper – maßgeblich den curricularen Impetus des handlungs- und marketingorientierten Unterrichts für Auszubildende im Einzelhandel.
Die Struktur des Verkaufsgesprächs, wie sie dem Rahmenlehrplan zugrunde liegt, ist ein Beispiel für den Warencharakter schulisch vermittelter und betrieblich verwertbarer Handlungskompetenzen par excellence. Der Sprechende „wird zur Verausgabung seiner sprachlichen Arbeitskraft gezwungen, und ihm werden zwangsweise die Formen dieser Verausgabung gelehrt. Ein großer Teil des sprachlichen Verhaltens besteht gerade in der Verwendung schon vorhandener Produkte, in deren unbewußt auf eben diese Weise verfestigte und perpetuierte Modelle reproduzierendem Konsum“ (Rossi-Landi 1972, 204). Und so spiegelt es sich auch in den gängigen Lehrbüchern für den Berufsschulunterricht wider: Auszubildende werden in Dienst genommen für die systematische Beherrschung der Regeln betrieblicher Kommunikationsstrategien zur Realisierung einzelwirtschaftlicher Interessen, tendenziell aus der engen „Ladentischperspektive“ der Verkaufsarbeit (Reetz/Witt 1974).
Was hier beispielhaft am Warencharakter des Verkaufsgesprächs angesprochen ist, geht über den speziellen Bereich der Berufsausbildung im Einzelhandel hinaus, ganz abgesehen davon, dass der personelle Verkauf angesichts der Herausforderungen im Plattform-Kapitalismus (Srnicek 2018) zunehmend an Bedeutung verliert. Der Internethandel hat in der Berufsausbildung mit einer neuen Ausbildungsordnung für den Kaufmann und die Kauffrau im E-Commerce Einzug gehalten. Im darauf abgestimmten Rahmenlehrplan für den Berufsschulunterricht (vgl. Kultministerkonferenz 2017) wird der Begriff „Ware“ nicht mehr verwendet, sondern durch das Wort „Produkt“ ersetzt (Kultusministerkonferenz 2017, 6). Die politisch-ökonomische Konnotation des Warenbegriffs und die damit verbundene Dialektik von Tauschwert und Gebrauchswert, ohnehin kein Thema der handlungsorientierten Didaktik ökonomische Bildung, bleiben so außer Sichtweite.
2 Berufliche Handlungskompetenz als „gemeinsamer Bildungs- und Erziehungsauftrag“ von Berufsschule und Ausbildungsbetrieben – Red herrings
Die Instrumentalisierung und systemimmanente Vereinnahmung von Bildung schlechthin und von beruflicher Bildung im Besonderen wirft die Frage nach den Beziehungen zwischen Bildung und Ökonomie (vgl. Euler 2015) insofern verschärft auf, als der zur „Megamaschine“ vernetzte Gesamtkomplex von Kapitalismus, Globalisierung und Digitalisierung die Gefahr einer „scheiternden Zivilisation“ evoziert (Scheidler 2018) und damit das, was mit ‚Bildung‘ einst als Zukunftsvision einer besseren Welt gemeint war, radikal in Frage stellt. Von „Bildungskapitalismus“ zu sprechen, gilt als linke Polemik. Dabei wird übersehen: „As an economic system capitalism determines what counts as success in most modern societies“ (Barkauskas 2014). Eine Analyse der Grundbegriffe und Prinzipien der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist dringend geboten. Auch für sie gilt: „Das Niveau einer Wissenschaft bestimmt sich daraus, wie weit sie einer Krisis ihrer Grundbegriffe fähig ist“ (Heidegger 1963, 9).
Im Folgenden kommentiere ich Aspekte der Unterscheidung zwischen beruflicher Handlungskompetenz bzw. Handlungsfähigkeit, beruflicher Erfahrung und beruflicher Bildung. Eine besondere Herausforderung stellt die Diffusion von (ordnungs)politischem und wissenschaftlichem Sprachgebrauch bei der Verwendung des Bildungs- und Kompetenzbegriffs dar. Theoretische Konzepte dieser Art werden in Ausbildungsordnungen für Legitimationszwecke instrumentalisiert, und umgekehrt geht die Berufs- und Wirtschaftspädagogik als wissenschaftliche Reflexionsinstanz beruflicher Bildung distanzlose Allianzen mit der Berufsbildungspolitik ein. Normative Proklamationen kommen wie empirische Als-Ob-Aussagen daher und verhindern letztlich den dringend erforderlichen kritischen Diskurs zwischen Theorie, Praxis und Politik. So heißt es in der Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz über die Berufsschule (2015, 2): „Die Berufsschule und die Ausbildungsbetriebe erfüllen in der dualen Berufsausbildung einen gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsauftrag“. Mantrahaft wird das Dogma vom gemeinsamen Bildungsauftrag in jeder neuen Ausbildungsordnung rezitiert. Ein typisches Beispiel dafür, wie mit rhetorischen Leuchtkerzen falsche Fährten gelegt werden. Anliegen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik als wissenschaftliche Disziplin hingegen sollte sein, die Nichtübereinstimmung zwischen deklarierten Zielen und oftmals als deskriptiv vorgetäuschten Normen einerseits sowie empirischen Sachverhalten andererseits aufzuspüren und aufs Korn zu nehmen. Das hat auch etwas mit Ideologiekritik zu tun.
Wie marktwirtschaftlich agierende Unternehmen angesichts globaler ökonomischer Vernetzung das dafür erforderliche humane Qualifikationspotenzial rekrutieren und ihr Personal dafür „handlungsfähig“ machen, gehört zu den Kernproblemen der betrieblichen Aus- und Weiterbildung und der Personalentwicklung. Betriebe sind keine Bildungseinrichtungen, sondern funktional an einzelwirtschaftlichen Erfolgs- und Überlebenskriterien (Kapitalrentabilität, Zahlungsfähigkeit) orientierte Sozialsysteme. Dabei war soziales Handeln in Betrieben bislang immer auch eine unverzichtbare Voraussetzung für ökonomischen Erfolg. Das allerdings könnte sich unter Bedingungen expandierender Digitalisierung grundlegend ändern.
Berufsschulen als staatlich beaufsichtigte Anstalten schulisch organisierten Lernens könn(t)en anders als marktwirtschaftlich agierende Ausbildungsbetriebe berufliche Lernprozesse unabhängiger vom unmittelbaren Verwertungszwang initiieren, unterstützen und fördern. Sie verfügen über einen institutionellen Rahmen, der ‚Bildung‘ ermöglicht, aber nicht gewährleistet. Dafür müsste sich die Berufsschule – mehr denn je – auf ihren eigenen (spezifischen) Bildungsauftrag besinnen. Ausbildungsbetriebe nehmen für sich in der Regel keinen Bildungsauftrag in Anspruch. Realistischerweise ist im Berufsbildungsgesetz (BBiG) bei der Legaldefinition für die betriebliche Berufsausbildung von „Bildung“ nichts zu lesen. Der dort als Zielbestimmung vorgesehene Ausdruck „berufliche Handlungsfähigkeit“ (§ 1,3 BBiG) fasst die Gesamtheit der in einem „geordneten Ausbildungsgang“ zu vermittelnden „Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten“ zusammen. Darüber hinaus heißt es: Die Berufsausbildung „hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen“. Dieser Formulierung ist zu entnehmen, dass der Gesetzgeber ausdrücklich zwischen „geordnetem Bildungsgang“ als curricularem Bezugsrahmen (Ausbildungsordnung) und „Berufserfahrungen“ als subjektivem Lernprozess unterscheidet.
Was Berufserfahrungen sind und wie sich diese von der Vermittlung formal geregelter Handlungsfähigkeiten unterscheiden, bleibt im Gesetz und in den darin anschließenden Rechtsverordnungen ungeklärt. Bei Berufserfahrungen handelt es sich um informell angeeignetes orientierendes, sinnlich verankertes implizites Wissen (vgl. Neuweg 2015), das über die in Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen explizit formulierten beruflichen Handlungsfähigkeiten bzw. Handlungskompetenzen hinausweist, so zum Beispiel die „Verinnerlichung organisationaler Anforderungsstrukturen“ als „entscheidende Basis für einen erfolgreichen Erwerbsverlauf“ (Pfeiffer/Ritter/Schütt/Hillebrand/Brem 2017, 24). Das Konstrukt des formal standardisierten Wissens als Grundlage beruflichen Könnens ist insbesondere durch Forschungsarbeiten auf dem Gebiet des impliziten Wissens (zumindest) in Frage gestellt. „Können“, so das übereinstimmende Fazit dieses Ansatzes, lässt sich durch manifest verfügbares Wissen nicht vollständig ermöglichen, und Erfahrung ist durch Belehrung nur begrenzt substituierbar (vgl. Böhle et al. 2009; Neuweg 2015; Pfeiffer/Suphan 2015).
Für die berufliche Bildung an Berufsschulen wäre daran die Frage zu knüpfen, wie informell erworbene Berufserfahrungen so verarbeitet werden können, dass auf der Grundlage orientierenden Lernens im Bildungsprozess begreifendes Lernen ermöglicht wird. (Zur begrifflichen Differenz und zum Verhältnis von ‚orientierendem‘ und ‚begreifendem Denken‘ vgl. Holzkamp 1973, 336 ff.). Begreifendes Lernen erfordert die Entwicklung geistiger Tätigkeiten (Leont´ev 1977), die „im anschaulichen Erkennen der eigenen Lebenswelt ihre Grundlagen haben und zum problemlösenden Denken in der utilitaristischen Praxis befähigen, zugleich aber auch ein kritisch-begreifendes Denken ermöglichen, das Distanz und Widerstand gegenüber den in fremdorganisierten Lernprozessen enthaltenen Beschränktheiten zulässt“ (Kell/Kutscha 1977, 366).
Wie immer man es dreht und wendet, Handlungsfähigkeit im Rahmen der betrieblichen Ausbildung bedeutet: Handeln auf betriebsspezifische Ziele und Arbeitsprozesse auszurichten. Das gilt für die Verkäuferin im Einzelhandel ebenso wie für den Industriemechaniker oder den Estrichleger im Bauhandwerk, wobei zu beachten ist, dass sich Handeln und Handlungsfähigkeit im Dienstleistungsbereich, bei handwerklichen Tätigkeiten oder in der industriellen Produktion erheblich voneinander unterscheiden. Sieht man von begrifflichen Konstrukten der Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne ab, so vollzieht sich berufliches Handeln immer an einem raum-zeitlichen Standort der Handlungssubjekte, und zwar im Kontext konkreter betrieblicher Anforderungen und Aufgaben. Das muss bei digitalisierten Arbeitsprozessen nicht unbedingt der im Betrieb „verortete“ Arbeitsplatz sein. Gleichwohl: die vom Betrieb erwarteten und verlangten Fähigkeiten und Operationen beruflichen Handelns bestehen darin, Tätigkeiten so auszuführen (nicht bloß ausführen zu können!), dass sie den betriebsspezifischen Zielen und Anforderungen entsprechen.
Daran ändern auch die überbetrieblichen Standards der Ausbildungsordnungen nichts. Alle Befragungen von Auszubildenden unterschiedlicher (handwerklicher, industrieller und kaufmännischer) Ausbildungsberufe, die in unserem Fachgebiet für Berufspädagogik und Berufsbildungsforschung an der Universität Duisburg bzw. Duisburg-Essen durchgeführt wurden (vgl. Kutscha 2016), deuten darauf hin, dass aus Sicht der Auszubildenden die Betriebsspezifik der Ausbildung dominiert. Das wurde von den Auszubildenden unserer Stichproben auch nicht beklagt. Probleme resultierten aus Sicht der Auszubildenden u.a. aus Konflikten mit Vorgesetzen und Mitarbeitern, unzureichender Betreuung und Vorbereitung auf die zu erledigenden Arbeiten, mangelnder Wertschätzung oder aus Angst, Fehler zu machen bzw. für Fehler sanktioniert zu werden (vgl. u.a. Kutscha/Besener/Debie 2012).
Was die Berufsschule betrifft, so könnte ihr Potenzial darin liegen, die betriebliche Berufsausbildung durch einen eigenen, auf „begreifendes Lernen“ ausgerichteten Bildungsauftrag zu ergänzen, der über den Erwerb betriebsspezifisch vermittelter Handlungsfähigkeiten hinausweist und sich nicht hinter der ideologischen Metapher des „gemeinsamen Bildungsauftrags“ verbirgt. Politische Priorität haben derzeit (durchaus wichtige!) Fragen der technischen Ausstattung beruflicher Schulen und deren Finanzierung. Indes spiegeln sie in ihrer Dominanz die einseitige Orientierung der Berufsschule an der betrieblichen Verwertbarkeit beruflicher Handlungskompetenz wider. Das schließt Zielsetzungen wie die der Befähigung zum selbständigen Lernen und deren pädagogische Überhöhung durch das Prinzip der Mündigkeit nicht aus. Aber ohne Einbindung in den gesamtgesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhang, ohne systematische Anstrengung, die utilitären Beschränktheiten beruflicher Kompetenzentwicklung durch einen substantiell gehaltvollen Bildungsprozess zu überbieten, bleibt die pädagogische Orientierung am Mündigkeitspostulat beliebig in Bezug auf die Herausforderungen von Technik, Wirtschaft und Gesellschaft, mit denen es Auszubildende in Gegenwart und Zukunft zu tun haben (werden).
3 Perspektiven emanzipatorischer Berufsbildung – Herwig Blankertz und Wolfgang Lempert
Zukunft ist nicht vorhersehbar. Aber die Frage bleibt und stellt sich dringender denn je: „Wie steht es mit der Menschlichkeit der Technik?“ (Blankertz 1964, 457). Es handelt sich um das Kernproblem der emanzipatorischen Berufsbildungstheorie, bei Herwig Blankertz mit Blick auf die Reform des Schulwesens ebenso wie in der empirischen Berufsbildungsforschung bei Wolfgang Lempert mit Schwerpunkt auf dem Bereich der betrieblichen Sozialisation. Beiden Wissenschaftlern ging es um Mündigkeit (Autonomie) im Sinne sowohl kritischer auch handlungsfähiger Subjekte als Voraussetzung für die Beherrschung technischer Prozesse, gesellschaftlicher Veränderungen und politischer Teilhabe. Die zugrunde liegende Idee der „Beherrschung technischer Prozesse“ gehörte bei Blankertz zu den Leitprinzipien sowohl der Arbeitslehre in der Sekundarstufe I (vgl. Blankertz 1971a) als auch der beruflichen Bildung im Rahmen der integrierten Sekundarstufe II (Kollegstufe NRW, vgl. Blankertz 1971b). Beherrschung technischer Prozesse wird bei Blankertz verstanden „im Sinne der Verfügung über vergegenständlichte Prozesse als Möglichkeitsbedingung technischer Weltbeherrschung, also nicht auf Produktionstechnik beschränkt, sondern ebenso auf Ökonomie, Sozial- und Informationstechnik bezogen, sofern hier ein durchgehendes Prinzip angewandt wird“ (Blankertz 1971a, 31).
Der in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik eher selten rezipierte Aufsatz über „Die Menschlichkeit der Technik“ markiert in der Theorieentwicklung bei Blankertz den Übergang von der geisteswissenschaftlich orientierten Phase zur emanzipatorischen, von der Kritischen Theorie inspirierten Erziehungswissenschaft (einschließlich Berufs- und Wirtschaftspädagogik). Im Kern ging es um die Frage, ob die Rationalisierung betrieblicher Arbeitsprozesse und gesellschaftlichen Lebens durch eine erweiterte Kontrollgewalt hantierender Menschen erreicht werden könne. Hierzu unverzichtbar ist bei Blankertz „eine höhere Reflexionsstufe, ein in der Emanzipation fortschreitendes Bewußtsein handelnder Menschen“ (Blankertz 1964, 460).
Lempert setzte mit der Veröffentlichung „Leistung und Emanzipation“ (1971) eigene Akzente. Er hatte sich 1967 an der Freien Universität Berlin im Fach Wirtschaftspädagogik habilitiert. „Nicht aus eigener Initiative“, wie er später berichtete, „sondern angestoßen und unterstützt durch Herwig Blankertz, der gerade auf den dortigen Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik berufen worden war“ (Lempert 2003, 68). Lempert hatte zunächst an eine soziologische Habilitation gedacht. Den Unterschied zum wissenschaftlichen Ansatz seines „Mentors“ kennzeichnete Lempert folgendermaßen: Während Blankertz eine „moralphilosophisch fundierte bildungstheoretische Konzeption“ vertreten habe, tendierte er zu einer zwar moralphilosophisch reflektierten, aber von vornherein stärker „arbeitspolitisch akzentuierten Berufs- und Wirtschaftspädagogik“. Beide, Blankertz und Lempert, waren für die 1968er Generation des berufs- und wirtschaftspädagogischen Nachwuchses an Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen (zu der auch ich gehöre) wegweisend. Handlungskompetenz ohne das Potenzial der Kritik und der Bereitschaft zum Handeln – so ließe sich Lemperts Position in „Leistung und Emanzipation“ markieren – verfehle das Prinzip beruflicher Bildung. Und Kritik ohne die Befähigung zu individuellen und kollektiven Leistungen bleibe folgenlos. „Demnach wäre Tüchtigkeit am Ende mit Mündigkeit nicht nur vereinbar, sie würde um der Mündigkeit willen sogar verlangt. Doch ist diese Tüchtigkeit nicht mit jener zu verwechseln, die unser derzeitiges Wirtschaftssystem prämiert“ (Lempert 1971, 137).
Lemperts wissenschaftliches Anliegen auf dem Gebiet der beruflichen Bildung (vgl. Achtenhagen/Beck 2019) war geprägt von seiner eigenen Berufsbiographie, speziell von seiner Lehrzeit und Berufstätigkeit im Handwerk. Sie ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was Berufserfahrungen für den Entwicklungsprozess eines Menschen positiv bewirken können, aber auch welchen Problemen und Restriktionen dieser Prozess ausgeliefert ist, wenn die betrieblichen Sozialisationsbedingungen weder die Wertschätzung beruflicher Leistungen zulassen noch mündiges Verhalten und die Entfaltung moralischer Urteilsbildung ermöglichen. Lempert hat das facettenreich in seinem Buch „Berufliche Sozialisation oder Was Berufe aus Menschen machen“ (1998) theoretisch und empirisch dargelegt und mit autobiographischen Anmerkungen veranschaulicht. „Berufliche Sozialisation“ heißt bei Lempert (1971, 202): „Vergesellschaftung des Menschen, durch die sowohl die Aneignung als auch die Distanzierung von sozialen Rollen erklärt werden soll.“
Den Begriff ‚Berufsbildung‘ vermied Lempert, weil das, was dieser Begriff nahelege, einer näheren Prüfung der empirischen Realität nicht standhalte. Das ist nicht zuletzt als Vorbehalt gegen leeres Bildungsgerede gemeint. Zu fragen bleibt indes, ob die heute gestellte Aufgabe, berufliche Sozialisationsprozesse im Rahmen des Dualen Ausbildungssystems gegen die Vereinnahmung durch ein System der ökonomischen Zerstörungskräfte zu gestalten und zu praktizieren, ohne einen kritisch-emphatischen Bildungsbegriff, wie ihn Blankertz verwendete, auskommen kann. Bei Blankertz war die Beibehaltung des Bildungsbegriffs an die Bedingung geknüpft, „daß er durch alle beschämenden Kapitulationen hindurch als uneingelöstes Versprechen sichtbar gemacht wird. Die Definition von Bildung als Freiheit zu Urteil und Kritik kann im Sinne der Tradition von demjenigen bestätigt werde, der hinzufügt, dass dieses Bildungsversprechen bisher immer wieder entgegen eigener Versprechungen dazu mißbraucht wurde, politische Verhältnisse zu rechtfertigen, die in Wirklichkeit die Bedingung für Bildung im behaupteten Sinne nicht zuließen“ (Blankertz 1974, 68).
So hat es letztlich auch Lempert gesehen, bei allem Vorbehalt gegenüber der Verwendung der sprachlichen Bezeichnung ‚Bildung‘. Solche terminologischen Differenzen betreffen aber nicht die Substanz der von Lempert und Blankertz gemeinsam vertretenen Position emanzipatorischer Berufspädagogik. Darüber sind inzwischen Jahrzehnte vergangen. Was könnte heute überzeugend als kritische Alternative zur Dominanz kompetenzorientierter Berufsdidaktik aufgeboten werden? Welchen Sinn macht es, von Bildung und Mündigkeit zu reden, wenn ‚Mündigkeit‘ im Sinne selbständigen Handelns inzwischen zum Leistungsprinzip der Erwerbsarbeit in der kapitalistischen Produktion und Subjektivierung von Berufstätigkeit zum hervorstechenden Leistungsmerkmal geworden sind? (vgl. Dammer 2015, 43 f.). Wenn ‚Bildung‘ nur zählt, sofern damit für Markt und Macht verwertbare Titel erworben werden können (Bourdieu/Boltanski/de Saint Martin/Maldidier 1981) und digital abrufbares Wissen als Halbbildung (Adorno 1962) zum globalen netzbasierten Kommunikationsmittel avanciert? Für welche Mündigkeit sollte sich emanzipatorische Pädagogik stark machen, wenn „Emanzipation“ von der libertären „Logik der Singularitäten“ (Reckwitz 2018) vereinnahmt und damit die sozial-regulative Idee gesellschaftlichen Fortschritts untergraben wird. Es ist schwierig oder unmöglich geworden, das vormals hohe Ansehen von Bildung und Mündigkeit für eine emanzipatorische Bildung ins Feld zu führen, ohne dem Bildungskitsch politischer Programme zu frönen. Mündigkeit ist nicht ohne Widerspruch zu haben. Auf den Punkt gebracht: „Die ins Aberwitzige getriebene technologische Zivilisation, die nahezu ausschließlich unter der Herrschaft des Verwertungsprinzips steht und auf den weltgesellschaftlichen Ruin hinausläuft, ist der Widerspruch, der Mündigkeit, in welch unterschiedlichen global differenzierten Gestalten auch immer radikal provoziert“ (Euler 2015, 88).
Es bietet sich mit Wolfgang Lempert an, auf den Glanz der großen Bildungserzählungen zu verzichten, dafür umso klarer und unmissverständlicher über Probleme und Inhalte zu sprechen und zu forschen, die der Welt im buchstäblichen Sinne auf den Nägeln brennen. Lempert hat die Herausforderungen des Wirtschaftssystems mit scharfem Blick unter die Lupe genommen (vgl. Lempert 2009; 2011). Das kann im Einzelnen in bwp@ nachgelesen werden. Worum es ihm geht, hat Lempert in seiner Besprechung der weltweit beachteten Veröffentlichung „Die Idee der Gerechtigkeit“ von Amarty Sen (2010) pointiert auf den Punkt gebracht. Was ist von einem Wirtschaftssystem zu halten, so fragt Lempert (2011,19), in dem
- „ein schwindender Teil der arbeitsfähigen und arbeitswilligen Menschen atemlos in einem immer schnelleren Wettlauf Leistungen erbringt,
- die zu einem wachsenden Teil nicht zur Deckung, sondern zur Weckung eines entsprechenden Bedarfs benötigt werden, weil sich sonst nicht genügend Abnehmer fänden, und das,
- obwohl sie dazu tendieren, die nötigen natürlichen Ressourcen auf die Dauer in einen rauchenden Müllberg, eine stinkende Kloake und eine giftige Gaswolke umzuwandeln,
- während die restlichen potentiell Beschäftigten gezwungen sind, nur als passive Abnehmer dieser ‚Versorgungs’-Leistungen’ dahin zu vegetieren,
einem Wirtschaftssystem, in dem weiterhin
- diejenigen, deren Tätigkeiten ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten eher steigern als erschöpfen, zudem meist überdurchschnittliche Einkommen erzielen und mehr soziales Ansehen genießen als jene anderen, deren einseitig belastende Arbeit ihre Kräfte eher erlahmen und verkümmern und sie oft vorzeitig sterben lässt, und in dem
- grosso modo die reichen Personen, Gruppen und Nationen immer reicher und die armen immer ärmer werden“.
Konfrontiert mit diesem Problemkatalog wird deutlich, wie wenig Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne inhaltlich darauf eingestellt sind, berufliche Handlungskompetenzen im Zusammenhang mit sozio- und politisch-ökonomischen Einfluss- und Bedingungsfaktoren zu vermitteln. Ansätze dazu gab es im Rahmen früherer Reformprojekte wie dem des Modellversuchs Kollegstufe in Nordrhein-Westfalen. So beispielsweise in Anlehnung an Blankertz (1975) der Strukturgitteransatz und auf dessen Grundlage „Das politisch-ökonomische Curriculum“ für den beruflichen Unterricht im Schwerpunkt Wirtschaftswissenschaften (Kutscha 1976, hierzu: Kutscha/Fischer 2003 und Kutscha 2009). Dieser Entwurf ging davon aus, dass kaufmännische Handlungen sich auf warenwirtschaftliche, monetäre und informationelle Transaktionen beziehen und die dazu erforderlichen Unterrichtsaktivitäten auf den Ebenen technischen, praktischen und emanzipatorischen Interesses gestaltet werden müssten. Dabei wurde der Implikationszusammenhang von (praktischen) kaufmännischen Handlungen und politisch-ökonomischen sowie wirtschaftsethischen Aspekten unter Gesichtspunkten von Armut, Ausbeutung und Entfremdung in das berufs- und wirtschaftsdidaktische Konzept einbezogen. Ein hoher Anspruch, der in der Unterrichtspraxis – wie unsere Evaluationsergebnisse belegten – nur in bescheidenem Maße umgesetzt werden konnte. Immerhin war es ein Versuch, Berufsschülern und ‑schülerinnen ein wenig die „Augen zu öffnen“ (Lempert 2009, 18) und ihnen den Weg zu eigenem Urteil und Kritik zu ermöglichen. So wenig anspruchsvoll diese Bewertung der Untersuchungsbefunde sein mag, sie entspricht der „Eigenstruktur der Erziehung“ (Blankertz 1982, 306). Ein erstes (elementares) Kriterium zur Beurteilung der Unterrichtsaktivitäten, so Lempert, möge das Maß sein, in dem Lehrende Lernende als Opponenten und deren Eigensinn als Subjekte achten. Gleichwohl blieb die inhaltliche Substanz des Berufsschulunterrichts bei Lempert ein zentrales Anliegen, so beispielsweise wenn er in kritischer Absicht darauf hinwies, dass der obligatorische Politikunterricht an Berufsschulen kaum als betriebsdemokratische Bildung vermittelt werde und der gesellschaftliche Wandel in seinen technischen, ökonomischen und politischen Dimensionen fast immer unberührt bleibe.
Selbstverständlich sind für eine kritisch-reflexive Wirtschaftsdidaktik kategorial unterschiedliche Möglichkeiten denkbar (vgl. zum Beispiel in der vorliegenden bwp@-Ausgabe bei G. Tafner „Die Dimensionen einer reflexiven Wirtschaftsdidaktik“, 16 ff.). Wesentlich ist die von Blankertz und Lempert für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik sowie für die berufliche Bildung und Sozialisation aufgeworfene Problematik der Menschlichkeit von Technik und Ökonomie und die damit verbundenen Fragen, wie sie ausbildungs- und unterrichtspraktisch aufgearbeitet werden kann und welche bildungspolitischen Voraussetzungen dafür zu schaffen sind.
Die spezifische Reflexionsleistung einer emanzipatorisch orientierten Berufs- und Wirtschaftspädagogik sehe ich in Anlehnung an Blankertz und Lempert darin, „durch den Theorienstreit und die dadurch bedingte Weltauslegung hindurch solche Strukturen freizulegen, die Lernen ohne von vorherein indoktrinierende Randbedingungen ermöglichen“ (Blankertz 1975, 180). Dieses Prinzip eröffnet Perspektiven, den Ansatz der Pluralen Ökonomik (vgl. u.a. Decker 2019; Garnett/Olsen//Starr 2013) auch im Berufsschulunterricht zu erproben. Katastrophale Zustände wie die Gleichzeitigkeit von Hunger und Verschwendung, Verknappung natürlicher Ressourcen und Umweltzerstörung, Vermögenskonzentration und Finanzmarktkrisen, Diskrepanzen zwischen arm und reich sozialer Gruppen und regional-kultureller Lebensräume – diese wenigen Stichworte mögen genügen, um deutlich zu machen, dass eindimensionale Handlungslogiken wie die des Prinzips ökonomischer Rationalität und der Markteffizienz nicht nur die Lebenswelt der einzelnen Akteure betreffen, sondern weltweit bedrohliche Fehlentwicklungen erzeugen. Politisch- und sozio-ökonomische Bildung vor den Herausforderungen einer unberechenbaren Welt (Kutscha 2014, 73 ff.) sollte integraler Bestandteil des Berufsschulunterrichts sein: zielstrebig (und nicht nur randständig) mit der Perspektive, Handlungskompetenzen auch für demokratische Formen des Protests und des Widerstands zu ermöglichen. „Doch genügt nicht der bloße Widerstand. Gefragt sind alternative Modelle rationalen wirtschaftlichen Handelns, Lernen und Lehrers …“ (Lempert 2003, 78).
Um Rahmenbedingungen und Möglichkeiten einer gesellschaftskritisch reflexiv-handlungsorientierten beruflichen Bildung abschätzen zu können, bedürfte es einer gehaltvollen, auch überprüfbaren Theorie der Wirksamkeit berufsübergreifenden Lernens. Dies gilt insbesondere für die Frage, welche Bedeutung Kritikfähigkeit und speziell kritische Berufsbildung angesichts der dominanten Rechtfertigungslogik ökonomischer Sachzwänge und der zugrundeliegenden (neo)liberalistischen Theorie(varianten) nach dem Scheitern staatssozialistischer Projekte haben kann. Entsprechende Forschungsarbeiten liegen in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nicht vor. Ansatzpunkte für politisch-ökonomisch orientierte Theorie- und Forschungsinitiativen lassen sich zum Beispiel der Arbeit von Boltanski/Chiapello „Der neue Geist des Kapitalismus“ (2003) entnehmen. Die Autoren gehen von einem dynamischen Wechselverhältnis von Kapitalismus und Kritik aus. Wie schon Habermas in seiner Studie „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973) und in seinem „Modell des Spätkapitalismus“ (Habermas 1975) darlegte, vertreten die Autoren die These, dass ein ungebremster Kapitalismus infolge des Widerspruchs mit verallgemeinerungsfähigen Normen und Interessen systemgefährdende Legitimationskrisen verursachen könnte. Darauf müssten Wirtschaft und Staat im Interesse ihrer Selbsterhaltung reagieren. Waren es in der alten Bundesrepublik vor allem marktsubstituierende und marktkompensierende Maßnahmen des Staates, der Maßnahmen nach dem politischen Steuerungsmodell der „Integration“ übernahm und damit zur Entschärfung sozialer Konflikte beitrug (vgl. für die Berufsbildungspolitik Offe 1975), sind mit zunehmender globaler Liberalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten im Rahmen der neuen Ökonomie seit den 1990er Jahren gesellschaftliche (u.a. politische und soziale) Legitimationsprobleme aufgetreten, die so zuvor nicht akut waren. Funktion kritischer Bildung könnte die Sensibilisierung für Legitimations- und Rechtfertigungsfragen sein, deren Umsetzung in politisches Engagement – wie schon an vielfältigen systemkorrektiven Bewegungen zu beobachten ist (vgl. Scheidler 2018, 205 ff.) – zur demokratischen Eindämmung kapitalistischer Auswüchse und zur Gestaltung gemeinwohl- und gerechtigkeitsorientierter Alternativen beitragen könnte.
In welche Richtungen solche Veränderungen gehen, ist nicht vorherzusagen. Indes: Alle politisch-ökonomischen Systeme in demokratisch organisierten Gesellschaften standen und stehen mehr oder weniger unter dem Zwang, sich an rechtfertigungsbedürftigen Normen ausrichten zu müssen. Hier anzusetzen, um auch Auszubildende zu befähigen, verallgemeinerungsfähige Legitimationsansprüche gegen den „Geist des Kapitalismus“ wirksam geltend zu machen, wäre aus politisch-ökonomischer Sicht eine Perspektive für denkbar folgenreiche Optionen der allgemeinen und beruflichen Bildung.
Doch davon ist der Unterricht an Berufsschulen im Dualen Ausbildungssystem weit entfernt. Einige Ursachen dafür werde ich nunmehr erörtern.
4 Modernisierungsschleifen – Sackgassen der Berufsbildungsreform
Die Ausführungen dieses Beitrags könnten als prinzipieller Einspruch gegen das Konzept der beruflichen Handlungskompetenz missverstanden werden. Davon kann und soll nicht die Rede sein. Das Konzept der umfassenden beruflichen Handlungsorientierung geht zurück auf gewerkschaftliche Initiativen zur Modernisierung der betrieblichen Berufsausbildung, speziell der industriellen Metall- und Elektroberufe in den 1980er Jahren. Wie Klaus Heimann (1980) in seiner Dissertation, einer grundlegenden „Analyse der Politik des DGB zur beruflichen Bildung“ nachzeichnete, sahen sich die Gewerkschaften nach Einführung des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) von 1969 verpflichtet, „Modelle einer rationalen, vor allem den Problemen der Technik und des Betriebs begründeten Berufsausbildung zu propagieren“ (Heimann 1980, 180). Zwar wurden im Zuge der Umsetzung und Novellierung des BBiG Forderungen zu einer umfassenderen politischen und öffentlichen Verantwortung für die berufliche Bildung gestellt, aber dies „allein“ – so Heimann (1980, 180) – „unter der Fragestellung, wie ist es möglich, eine optimale Eingliederung von Berufsanfängern in den Produktionsprozeß zu gewährleisten.“ Heimann spitzte diese These auf die Aussage zu, dass der technisch-ökonomische Primat der Berufsausbildung, an dem sich auch die Gewerkschaften orientierten, zu einer „einseitigen Zurichtung der Berufsausbildung“ im „Herrschafts- und Machtgefüge des Betriebs“ geführt habe.
Das änderte sich in den 1980er Jahren, als unter dem Einfluss computergesteuerter Arbeits- und Produktionsmittel (z.B. Einsatz der CNC-Maschinen im gewerblich-technischen und der Personalcomputer im kaufmännischen Bereich) neue Anforderungen an das Beschäftigungssystem insgesamt und infolgedessen auch an die berufliche Aus- und Weiterbildung gestellt wurden. Die industriesoziologischen Forschungsbefunde dieser Jahre (u.a. Kern/Schumann 1984) schärften das Bewusstsein dafür, dass sich ein substantieller Umbruch in den Konturen und Profilen traditioneller Erwerbsarbeit abzeichnete. Vor diesem Hintergrund kam es im Jahr 1987 zur Neuordnung der industriellen Elektro- und Metallberufe, bei der sich – maßgeblich auf Initiative der IG Metall – das Leitbild einer umfassenden handlungsorientierten Berufsausbildung im Sinne selbständigen Planens, Durchführens und Kontrollierens von Arbeitsprozessen durchsetzte. Es ist seit Verabschiedung des Berufsbildungsreformgesetzes von 2005 – Bestandteil der Legaldefinition für den Begriff der „Berufsausbildung“ (§ 1,3 BBiG).
Keine Frage: Die Orientierung am Konzept der umfassenden Handlungsfähigkeit ist ein Markstein für die Modernisierung der curricularen Rahmenbedingungen der Berufsausbildung im Dualen System! Was die Umsetzung in die betriebliche Ausbildungspraxis betrifft, variiert sie nicht unerheblich nach Ausbildungsbereichen und ‑berufen, insbesondere nach Betriebsgrößen. Die Diskussion um die Reform des Berufsschulunterrichts (und auch der darauf bezogene akademische Diskurs der Berufs- und Wirtschaftspädagogik) hat sich auf die von Seiten der betrieblichen und dabei insbesondere von der industriellen Berufsausbildung forcierten Vermittlung beruflicher Handlungskompetenzen fokussiert, und zwar unter Vernachlässigung des darüber hinausweisenden Bildungsauftrags der Berufsschule, wie er insbesondere im Bereich berufsübergreifenden Lernens zum Tragen kommen könnte. Dies, um die im Ausbildungsbetrieb erworbenen Erfahrungen der Auszubildenden zu verarbeiten und in der Perspektive einer umfassenden reflexiven Handlungskompetenz zu vertiefen, betriebsdemokratische Bildung (wie sie Lempert einklagte) anzubahnen und politisches Engagement u.a. für Klima- und Umweltschutz, für Nachhaltigkeit, Diversität und Genderfragen, für soziale Gerechtigkeit und Solidarität zu fördern.
Was hindert die Berufsschule daran, solche Kompetenzen intensiver als bisher zu entwickeln und zu unterstützen? Gründe für Schwierigkeiten, den Berufsschulunterricht über die Vermittlung beruflicher Handlungskompetenz hinaus als politischen Bildungsauftrag in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen von Ökonomie und Technik zu akzentuieren, liegen angesichts der derzeit etablierten Zuständigkeiten im Dualen System auf der Hand. Die Abschlussprüfungen sind das „heimliche Curriculum“ der Berufsausbildung. Sie unterliegen der „Prüfungshoheit“ der Kammern (Büchter 2018, 11). Die Organisation des Prüfungswesens auf Grundlage des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) engen die Möglichkeiten eines an betriebsübergreifenden, an gesellschaftlichen Belangen orientierten Berufsschulunterricht auf eine periphere Rolle ein. Das war schon früher so, und daran wird sich durch das „Berufsbildungsmodernisierungsgesetz“ (BBiMoG), wenn es – wie zu erwarten – dem vorliegenden Novellierungsentwurf des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2018) folgt, voraussichtlich auch künftig nichts ändern. Ein Blick in die Geschichte der Berufsschule zeige, konstatiert Karin Büchter (2018, 11), dass ihr „unterprivilegierter Status in der dualen Ausbildung“ historische Kontinuität habe, ebenso wie Bemühungen, sie von ihrem „Anhängsel-Status in der dualen Ausbildung“ zu befreien.
Das BBiG „feiert“ in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Jubiläum. Es dauerte ebenfalls fünfzig Jahre, bis dieses Gesetz nach den ersten gewerkschaftlichen Initiativen zu Beginn der Weimarer Republik über mehrere gescheiterte Gesetzesvorlagen hinweg im Rahmen der großen Koalition von CDU/CSU und SPD (1969) verabschiedet werden konnte (vgl. Pätzold 1982). Aus Sicht der Kritiker verfehlte es das Ziel einer modernen, auf “öffentliche Verantwortung für Berufsbildung“ (Richter 1970) gerichteten Reform (vgl. Kutscha 1983; Nölker/Schönfeld 1979)). Die Kritik entzündete sich u.a. an der gesetzlich nicht geregelten Absicherung des Angebots an Ausbildungsstellen, an der Übertragung hoheitlicher Aufgaben an die Selbstverwaltungseinrichtungen der Wirtschaft (Kammern) und – damit zusammenhängend – an dem inferioren Status der Berufsschulen, insbesondere bei der Beteiligung an den Abschlussprüfungen. Auch die derzeit vorbereitete Novellierung des Berufsbildungsgesetzes sieht am Ende der Berufsausbildung eine Abschlussprüfung in alleiniger Zuständigkeit der Kammern vor, ohne Abstimmungserfordernisse mit den schulischen Aufsichtsbehörden der Länder bzw. der Berufsschulen. Der Prüfungsausschuss der Kammern hat Letztentscheidungsrecht über Noten, Bestehen und Nichtbestehen der Abschlussprüfung (vgl. IG Metall 2019; Krüger 2014).
Was ist modern am geplanten „Berufsbildungsmodernisierungsgesetz“? Von Einzelheiten abgesehen, bleibt das geplante BBiMoG ordnungspolitisch ein Gesetz der Bestandserhaltung, speziell zur Gewährleistung der Selbstverwaltung der Wirtschaft auf dem Gebiet der beruflichen Bildung. Von Beginn an wurde das Berufsbildungsgesetz in seiner Gesamtkonstruktion in Frage gestellt (vgl. Nölker/Schönfeld 1979, 69). Dieser Kritik ist auch angesichts der ministeriellen Vorlage zur Novellierung des BBiG beizupflichten. Das Novellierungsvorhaben folgt einer Modernisierungsstrategie nach dem Motto „Kontinuität im Wandel“. Damit scheint, wie schon Pätzold mit Bezugnahme auf das frühere Berufsbildungsförderungsgesetz von 1981 formulierte, „die Tendenz einer über den Staat vorangetriebenen notwendigen Vergesellschaftung der beruflichen Bildung und ihrer strukturellen Reform zunächst nicht weiterzugehen“ (Pätzold 1982, 42). Zu Lasten des Bildungsauftrags der Berufsschule! In der Stellungnahme des Bundesverbandes der Lehrkräfte für Berufsbildung e.V. zum oben zitierten Novellierungsentwurf (2019, 70) heißt es kurz und bündig: „Die Länder und auch die Berufsschulen und ihr Bildungsauftrag spielen eine untergeordnete Rolle.“
Lehrer und Lehrerinnen an Berufsschulen, die sich kritisch-konstruktiv den Herausforderungen der ökonomischen und technischen, neuerdings der digitalen Entwicklung stellen (wollen), um „eine lebenswerte Welt zu schaffen und zu erhalten“ (Blankertz 1982, 306), sind mit schwer überwindbaren Barrieren konfrontiert. Insbesondere dann, wenn es um Interessenkonflikte zwischen betrieblichen Anforderungen und gesamtgesellschaftlichen Belangen geht. Dabei sind es weniger direkte Interventionen seitens der Ausbildungsbetriebe, die den Berufsschulunterricht in seinen Bildungsmöglichkeiten einschränken, als vielmehr die Erwartung der Schülerschaft, die Berufsschule möge sie gezielt auf die Abschlussprüfungen vorbereiten. Was über die Prüfungsanforderungen hinausgeht und als erweiterter handlungsreflexiver und handlungsübergreifender Bildungsauftrag der Berufsschule zu gestalten wäre, fällt tendenziell der (Psycho-)Logik prüfungsrelevanten Lernens zum Opfer.
Vom Bildungsauftrag der Berufsschule zu sprechen, läuft ins Leere, wenn nicht zuvorderst die Organisation des Dualen Systems und die in diesem System geregelten Prüfungszuständigkeiten ins Auge gefasst werden. Nicht ohne Grund schwor Siegfried Bernfelds (fiktiver) Unterrichtsminister Machiavelli (in „Sisyphos oder Die Grenzen der Erziehung“) seine Hofräte auf die Priorität organisatorischer Maßnahmen ein. „Sie müssen nämlich verstehen, daß die Organisation des Erziehungswesens das entscheidende Problem ist, das wir konsequent und unerbittlich unserem Einfluß restlos vorbehalten müssen, während wir Lehrplan- und Unterrichts-, selbst Erziehungsfragen beruhigt den Pädagogen, Ideologen, ja selbst den Sozialdemokraten überlassen können“ (Bernfeld 1925, 98).
Dieses sarkastische Urteil mag einseitig und provokativ erscheinen. Und so ist es hier auch gemeint, um das Anliegen der von mir angestrebten politisch-ökonomisch orientierten, kritisch-reflexiven Berufsbildung zu profilieren. Der oben mit Boltanski/Chiapello (2003) angesprochene „neue Geist der Kapitalismus“ lässt befürchten, dass die scheinbar alternativlose „Unterwerfung unter die Wirtschaftsgesetze“ bereits teilweise Realität geworden ist. Alternativlos muss deshalb schonungslose Kritik sein, wie sie Wolfgang Lempert beharrlich ins Grundsätzliche vorangetrieben hat.
Und so möchte ich denn das eingangs an die Adresse der Berufs- und Wirtschaftspädagogik gerichtete Motto von Wolfgang Lempert zum Abschluss ergänzen mit einem „Aufruf“ an diese ihm im Grunde „fremd“ gebliebene Disziplin (Lempert 2003, 75 ff.): sich dem „Strom des Zeitgeistes“ und dem „grassierenden Wahnsystem unserer gegenwärtigen Wirtschaftsweise“ zu widersetzen. Denn anders wären alle pädagogischen Bemühungen um und Reden über Bildung und moralische Entwicklung der heranwachsenden Generation vergeblich. „Auf eine zwar griffige, aber einprägsame Formel gebracht, droht heute die Einfalt des homo oeconomicus die Vielfalt kultureller Lebensformen der Menschen einzuebnen, bis am Ende nur noch zählt, wer zahlt, und zwar nur noch rechnet, was sich rechnet …“ (Lempert 2003, 77 f.).
Lemperts Warnsignal sollte Anstoß für einen bislang versäumten Paradigmenwechsel der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sein.
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Kommentare
Franz Gramlinger
11.05.2019
Wir laden Sie ein diesen Beitrag zu kommentieren und sind gespannt, ob eine konstruktive Polemik Reaktionen hervorruft!?
Die bwp@ HerausgeberInnen
Helmut Woll
30.08.2019
Beitrag Günter Kutscha
Günter Kutscha hat wieder einmal einen ausgezeichneten Beitrag geschrieben. Er gibt einen genauen und klugen Rückblick auf die kritische Position. Mir war bisher nicht bekannt, dass Blankertz sich zur 'Menschlickkeit der Technik' geäussert hat. Technik und Ökonomie werden meist in ihren quantitativen Dimensionen erläutert, die Qualitätsfragen werden dagegen stiefmütterlich behandelt.
Dieter Staudt, OStD
25.05.2019
Endlich mal wieder ein Beitrag, der kritisch und begründet die heutige Situation des Lernens an den beruflichen Schulen beleuchtet. Er müsste zur Pflichtlektüre in der Lehrerausbildung für das Lehramt an beruflichen Schulen gemacht werden. An den Unis wird auch nur noch die alternativlose Handlungskompetenz gepredigt, wie ich es von der TU Darmstadt weiß. Dort soll demnächst auch die letzte Professur für kritische Pädagogik in eine Digitalprofessur umgewandelt werden. Herzlichen Dank an Prof. Kutscha
Zitieren des Beitrags
Kutscha, G. (2019): Berufliche Bildung und berufliche Handlungskompetenz im Abseits politisch-ökonomischer Reflexion. Eine Polemik in konstruktiver Absicht und Wolfgang Lempert zum Gedenken. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 35, 1-19. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe35/kutscha_bwpat35.pdf (01.05.2019).