bwp@ Spezial 14 - Juli 2017

Homo oeconomicus oder Ehrbarer Kaufmann – Reflexionen zum Verhältnis der Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften

Hrsg.: Tade Tramm, Tobias Schlömer & Christiane Thole

Editorial

Beitrag von Tade Tramm, Tobias Schlömer & Christiane Thole

EDITORIAL zur Spezial 14:
Homo oeconomicus oder Ehrbarer Kaufmann – Reflexionen zum Verhältnis der Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften

Die einschneidenden ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Krisen und Wandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte haben in den Wirtschaftswissenschaften zu kontroversen Diskursen über Denkschulen, Modelle und Theorieansätze geführt. Es finden sich inzwischen vielfältige Erklärungs- und Gestaltungsansätze in der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, die nicht nur tradierte Annahmen – wie etwa das Verhaltensmodell des homo oeconomicus – überwunden haben, sondern sich vielmehr bemühen, neue Herausforderungen und Entwicklungen wie beispielsweise Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Globalisierung, Interkulturalität, Entrepreneurship oder Wirtschaftsethik in ihre Überlegungen und Modelle zu integrieren. Die Wirtschaftspädagogik scheint nicht nur diese fachwissenschaftlichen Entwicklungen und Diskurse bislang kaum zur Kenntnis zu nehmen. Sie tut sich auch ausgesprochen schwer damit, auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, die in dieser Ausdifferenzierung und z. T.  paradigmatischen Neuorientierung der Ökonomie ihren Ausdruck finden, angemessene Antworten zu finden. Selbst in den curricularen Diskursen wird so das Kritik- und Innovationspotenzial der Wirtschaftswissenschaften nicht genutzt, das doch aus der Perspektive einer kritisch-emanzipatorischen Wissenschaftsorientierung dazu dienen könnte, dem Absolutheitsanspruch einer funktionalistischen Situationsorientierung eine normativ reflektierte, wertrationale Perspektive auf ein verantwortliches ökonomisches Handeln entgegenzusetzen. Es ist also nicht allein die Kritik am „Modernitätsrückstand“ kaufmännischer Curricula und wirtschaftspädagogischer Curriculumtheorie, sondern viel wichtiger, die Kritik daran, dass das Veränderung- und Gestaltungspotenzial kritischer ökonomischer Wissenschaften nicht genügend genutzt wird. Ein deutliches Indiz dafür ist die Tatsache, dass die Frage nach der Substanz ökonomischer Bildung im Kontext kaufmännischer Berufsbildung kaum gestellt oder beforscht wird und, dass die Wirtschaftspädagogik den Diskurs um die richtige oder „bessere“ ökonomische Bildung weitgehend den Didaktikern einer ökonomischen Allgemeinbildung überlassen hat.

Die vorliegende Spezialausgabe der bwp@ widmet sich diesem Desiderat und dokumentiert zugleich die Beiträge eines Symposiums, das im Rahmen der Jahrestagung der Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) im September 2016 an der Universität Hamburg stattfand. Die Beiträge sollen erste Impulse setzen, um eine curriculumtheoretische Auseinandersetzung mit fachwissenschaftlichen Entwicklungen sowie eine Reflexion zur Sinnhaftigkeit bestehender Bezugnahmen der Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften (wieder) in Gang zu setzen. Es geht um die Frage, wie die kaufmännische Berufsbildung der Zukunft in ihrem inhaltlichen und kulturellen Kern angelegt und ausdifferenziert werden kann. Der Diskurs im Symposium hat bekräftigt, dass die kaufmännische Berufsbildung (erstens) den Lernenden Zugänge zur Vielfalt der Wirtschaftswissenschaften und der korrespondierenden kaufmännischen Praxis anbieten sollte, (zweitens) sie die Komplexität und Gestaltungsoffenheit einer Praxis des kaufmännischen Handelns gehaltvoll abbilden sollte und (drittens) sie nicht auf eine verengte Qualifikationsentwicklung abstellen, sondern in der Tradition kaufmännischer Berufsbildung „ehrbare“ Kaufleute bilden und auf selbstbestimmte Berufsbiografien der Zukunft vorbereiten sollte.

Das Verhältnis der Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften lässt sich aus verschiedenen Perspektiven heraus abbilden und reflektieren. Ausgehend von einer Theorie- und Modellperspektive gilt es, solche wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmen, Modelle und Menschenbilder zu sichten, an denen wirtschaftsberufliche Bildung sinnvoll curricular orientiert werden könnte. Dieser wissenschaftsbezogene curriculare Zugang sollte interdisziplinär angelegt sein und vor allem auch wirtschaftsethische Imperative, Normen und Werte integrieren. Aus einer handlungspraktischen Perspektive betrachtet lassen sich relevante kaufmännische Handlungsprinzipien und -kulturen ermitteln, insbesondere solche, die auf eine kreative, innovative Problemlösefähigkeit und auf schöpferisches Unternehmertum abstellen. Und eine die Wissenschaft und Praxis verbindende Konzeptperspektive zeigt auf, welche modernen Konzepte, Ansätze, Methoden und Instrumente die Betriebs- und Volkswirtschaftslehre anbietet und welche davon als Lern- und Bildungsgegenstände Einzug erhalten können in die kaufmännische Berufsbildung.

Mit den fünf Beiträgen werden diese drei Perspektiven mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und Ausgestaltung eingenommen. Georg Tafner eröffnet mit seinem Beitrag eine neue Diskussion zum Selbstverständnis der Wirtschaftspädagogik. Er plädiert dafür, die ökonomische und beruflich-kaufmännische Bildung an sozio-ökonomischen Referenzkategorien zu orientieren. Sein Anliegen einer reflexiven Wirtschaftspädagogik nimmt neben ökonomischen gezielt auch soziale, ethisch-moralische und politische Elemente auf.

Im Beitrag von Andreas Liening wird ein Modell einer synergetischen Ökonomischen Bildung vorgestellt, das die Systeme der Wirtschaftswissenschaft, Wirtschaftsdidaktik und Wirtschaftspraxis konstruktiv aufeinander bezieht. Die Aussagen der Synergetik als Theorie der Selbstorganisation werden in Richtung einer reflexiven ökonomischen Bildung interpretiert und auf kognitive Lernprozesse sowie fachdidaktische Kontexte angewendet.

Über den Diskurs und die Forschungsergebnisse von Studierenden „auf der Suche nach dem Sinn des Kaufmännischen“ berichtet Marc Casper. Er entfaltet dabei eine Perspektive, die den Sinn des Kaufmännischen in einer Wertschöpfung sucht, die sich nicht auf enge ökonomische Begriffsauslegungen beschränkt, sondern explizit kulturelle, gesellschaftliche und individuumsbezogene Wertdimensionen als Sinnreferenzen kaufmännischer Berufe einbezieht.

Vor dem Hintergrund der bereits in Gang gesetzten Transformationen der Digitalisierung und nachhaltigen Entwicklung stellt Tobias Schlömer die strikte Bezugnahme der kaufmännischen Curricula auf die Theorie und Praxis der Prozessunternehmung in Frage. Ein Weg zur Modernisierung und Neuausrichtung kaufmännischer Curricula könnte über die Orientierung an Handlungslogiken des Entrepreneurship führen. Im Beitrag werden erste fachwissenschaftliche Zugänge illustriert.

Christiane Thole zeigt in ihrem Beitrag auf, wie sich eine reflexive Wirtschaftspädagogik in den Curricula der Ausbildung von Kaufleuten im Einzelhandel verwirklichen lässt. Dazu verknüpft sie handlungstheoretische Ansätze mit beruflicher Identitätsarbeit. In ihrem Modell bilden die sozio-ökonomischen Lebenssituationen der Lernenden den Bezugspunkt für die Entwicklung von Persönlichkeit und moderner Beruflichkeit der Lernenden.

Dank

Wir möchten uns sehr herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für die interessanten Beiträge bedanken.

Tade Tramm, Tobias Schlömer und Christiane Thole
im Juli 2017

Zitieren des Beitrags

Tramm, T./Schlömer, T./Thole, C. (2017): Editorial zum bwp@ Spezial 14: Homo oeconomicus oder Ehrbarer Kaufmann – Reflexionen zum Verhältnis der Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften, hrsg. v. Tramm, T./Schlömer, T./Thole, C., 1-3. Online: http://www.bwpat.de/spezial14/editorial_spezial14.pdf (27-07-2017).