bwp@ Spezial 15 - September 2017

Berufliche Förderpädagogik: Von der analytischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski

Hrsg.: Martin Koch, Günter Ratschinski, Ralf Steckert, Ariane Steuber & Philipp Struck

Das Kunstwerk des Subjekts im Produkt: Ein fragmentarisches Tableau zur Reflexion der Produktionsschule

Beitrag von Martin Koch, Bernd Reschke & Ralf Steckert

Wie die Pädagogische Idee der Produktionsschule anlässlich des Symposiums zum Gedenken an Arnulf Bojanowski debattiert wurde:

Produktionsschulen als pädagogische Idee und Ort von Erfahrungen haben im wissenschaftlichen Arbeiten von Arnulf Bojanowski eine herausragende Rolle gespielt. Er sah und nutzte sie einerseits als pädagogisch-utopisches Experimentierfeld. Damit standen sie seiner insgesamt pessimistischen Sicht auf die Entwicklung der Beruflichen Förderpädagogik im Zeichen sozialer Kälte und Ungleichheit gegenüber, die seine analytische Weltsicht bis in den Stil seiner Texte hinein konterkarierte. Andererseits waren sie für ihn Ort und Anlass kommunikativer Zusammenkünfte, die er immer wieder initiierte und an denen sich Ideen und pädagogische Praktiken jenseits – und doch auch immer in kritischer Auseinandersetzung – mit gegebenen Sachzwängen produktiv entwickeln konnten.

Dass im Rahmen des Symposiums zu seinem Gedenken am 26.11.2014 ein Workshop zum Thema „Pädagogische Idee der Produktionsschule“ stattfand, lag darum auf der Hand. Schwerlich konnte hierin die Komplexität all der Gedanken und Ideen abgebildet und weiter gedacht werden, die mit und um Arnulf Bojanowski in die Welt kamen. Zu kurz war die Zeit und zu begrenzt das Spektrum der Teilnehmer_innen. Es konnte jedoch noch einmal nachvollzogen werden, welche Form von lebhaften Diskursen mit ihm entstanden und damit zum Ausdruck gebracht werden, dass diese Dialog- und Debattenkultur über seinen Tod hinaus fortbesteht.

Der folgende Text gibt die Ergebnisse einer offenen Diskussion wieder. Er basiert auf protokollarischen Aufzeichnungen und Ausarbeitungen, die einzelne Teilnehmer_innen im Anschluss an diesen Disput vorgelegt haben. Entfaltet hat sich dabei ein fragmentarisches Tableau diskursiver Produkte. Ein Tableau, das wir zunächst sichteten, um dann im Nachgang  zu versuchen, die einzelnen Gedankenstränge nachzubilden. Vor dem Hintergrund dieses Entstehens erhebt der Text weder einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit noch ist er eine detaillierte Wiedergabe des damaligen  Austausches. Er behauptet auch nicht, Neuartiges hervorzubringen: Er ist vielmehr eine exemplarische Spiegelung davon, wie sich das, was Arnulf Bojanowski inhaltlich und kulturell in und zwischen Menschen hinterlassen hat, fortsetzt.

1 Ausgangslage am 26.11.2014

Produktionsschulen hatten jenseits ihrer inhaltlichen Programmatik in Arnulf Bojanowskis Leben und Werk zwei zentrale Funktionen:

Er empfand sie erstens als Orte, an denen Berufliche Förderpädagogik erprobt und zu einer utopischen Leitkonzeption ausgeformt werden konnte. Nicht umsonst hat er diesem Handlungsfeld zunächst den Titel „experimentelle Produktionsschule“ gegeben. Er meinte, eine „berufliche Förderpädagogik bräuchte ein „Modell“, einen „Prototyp“ von einer Einrichtung, besser: eine Vision einer Einrichtung, die so noch nicht existiert, die aber eine gewisse Chance hätte, als das Benachteiligteneinrichtungsmodell Vorbildcharakter zu gewinnen“ (Bojanowski 2005, 349; Herv. i. Org.). Über 20 Jahre lang hat er sich hier ein Laboratorium eingerichtet, wo Gedanken entstanden, die Wirklichkeit wurden, und wo aus experimenteller Vielfalt eine gemeinsame Bewegung entstand.

Zweitens waren Produktionsschulen für Arnulf Bojanowski immer mehr als ein Ort pädagogischer Interaktion. Er sah sie als Stätten innovativer Verhandlung unter praktischen und theoretischen Visionär_innen. Es gehört zum Konzept seines Vermächtnisses, dass sich in der unüberschaubaren Vielzahl verfasster Prinzipien, pädagogischer Standards und Programmatiken selten die Identitäten einzelner Autor_innen rekonstruieren  lassen. Arnulf Bojanowski stand für ein wissenschaftliches Denken, dass sich als Resultat kontroverser Kommunikation definierte.

Am 26.11.2014, als sich Student_innen, Psycholog_innen, Produktionsschulexpert_innen, Gastronom_innen, Soziolog_innen, Berufspädagog_innen und Künstler_innen zu einem visionären Produktionsschuldisput trafen, war darum niemand verwundert, dass die entfachte Debatte keinerlei Stockungen und Missverständnisse erlitt. Arnulf Bojanowski hat nicht gefehlt. Als Motor kommunikativer Bezüge, unbedingtem Entfaltungsdrang und visionärem Verlangen war er in allen Wortbeiträgen präsent. Es war merkwürdig einfach, die mit ihm begonnene Geschichte weiterzuspinnen.

2 Strukturierte Assoziationen auf drei Möglichkeitsebenen

Der Inhalt der Diskussion war übrigens wenig vorbereitet. Es lag nichts vor als eine Sammlung von Assoziationen, die seine Student_innen um die Begriffe „Bojanowski“ und „Produktionsschule“ gebildet hatten. Sie hatten sich lange Zeit intensiv mit Produktionsschulpädagogik und den Möglichkeiten zur Förderung scheinbar verborgener „Talente“ beschäftigt.

Zunächst nahmen sie Bezug auf den von Arnulf Bojanowski herausgebildeten pessimistischen Blick auf das zeitgenössische Übergangsgeschehen. Dabei stand insbesondere die oft abwertende Absicht von dessen politischer Steuerung in seinem Fokus. Er hatte darin immer mehr das systematische „Cooling-out“ (Bojanowski 2012a) einer eigentlich zukunftsweisenden Lebensphase gesehen und vermutete mit Foucault die Bösartigkeit eines neuen „Dispositivs der Macht“ (Bojanowski 2014). Vor der Kulisse dieses Gedankens werteten die Studierenden das Übergangsgeschehen als „Exklusion“ und die benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen darin zugewiesenen Positionen als „deklassierte Rollenformate“. Sie identifizierten ein von vornherein ausschließendes Bildungsverständnis („fremde Bildungswelt“), das lebensweltlich erworbenes Wissen durch die bezuglose Konfrontation mit formalen Bildungsbegriffen missachtet.

Auf einer darüber liegenden „Produktionsschulebene“ rekonstruierten sie einen Begriff „produktiver Arbeit“, nach dem junge Menschen mit auf dem Markt anerkannten Produkten auch die eigene Subjektivität zu gestalten vermögen. Weiter leiteten sie das Bildungsideal eines „begrifflichen Lernens“ ab, mit dem davon ausgegangen wird, dass produktive Tätigkeit ein gemeinsames Weltverständnis vermittelt, dass sich mit abstrakter Bildung zu verbinden vermag. Jugendliche würden damit zu Meistern und Meisterinnen ihres eigenen Schicksals. „Exklusion“ wandele sich zu tätiger „Motivation“.

Doch die Studierenden gaben sich nicht mit diesem Entwicklungsstand der Produktionsschulbewegung zufrieden. Darum projizierten sie einen „utopischen Horizont“. Sie monierten, dass sich auch das Konzept „produktiver Arbeit“ nicht systematisch auf die Lebenserfahrungen junger Menschen beziehe und stellten ihm die weiterweisende Vision von „Talent“ gegenüber. Die Summe gelebter Erfahrung verschaffe sich in jeder Lebensäußerung Ausdruck und zeichne damit Möglichkeiten und „Genialitäten“ einer künftig gestaltbaren Berufsrolle vor. Sie skizzierten ein Bildungskonzept „subjektiver Weltaneignung“: Alles, was ein junger Mensch erlebt, bewältigt und verarbeitet habe, sei vorhandenes Wissen, welches in formale Bildungsbegriffe übersetzt und sich exemplarisch in produktiver Tätigkeit verdeutlichen könne. Die bloße Herstellung von „Motivation“ sei darum längst noch nicht zielführend. Junge Menschen müssten vielmehr in die Lage geraten, aufgrund gelebter Erfahrung „Visionen von Zukunft“ zu produzieren.

Tabelle 1:     Matrix studentischer Assoziationen im Anschluss an Arnulf Bojanowski

„Systemebene“

Deklassierte Rollenformate

Fremde Bildungswelt

Exklusion

„Produktionsschulebene“

Produktive Arbeit

Begriffliches Lernen

Motivation

„Utopischer Horizont“

„Talent“

Subjektive Weltaneignung

Visionen von Zukunft

3 Diskursive Produkte

Entlang dieser Matrix entstanden nun weitere Ideen und Assoziationen, die sich – entsprechend der „Arnulf-Bojanowski-Methode“ – in kommunikativer Konfrontation zu diskursiven Produkten ausformten.

3.1 Systemebene

Zunächst waren sich die Diskursteilnehmer_innen darüber einig, dass das zeitgenössische Übergangsgeschehen als Teil eines segmentierenden Bildungssystems seiner deklarierten Bestimmung einer Öffnung von Bildungschancen widerspricht. Eine skandalös einseitige Reichtumsverteilung, wachsende Armutsanteile und eine immer höhere Vermögenskonzentration in den Händen des reichsten Prozents der Gesellschaft schlagen sich offenkundig auch in systemischen Strukturen der Benachteiligtenförderung nieder. Die Unterscheidung von Rechtsansprüchen in Abhängigkeit vom beruflichen Status der Angehörigen nach § 7 SGB II und verschärfte Sanktionsmechanismen bis hin zur Streichung sämtlicher Bezüge nach § 31 SGB II scheinen jugendliche Zugehörige unterer Schichten von vorherein beispielhaft zu stigmatisieren. Moritz Jegodtka (2015, 23) bilanziert „eine doppelte Exkludierung“ benachteiligter Jugendlicher und spitzt zu: „Auf der einen Seite wird ihnen die Integration durch Arbeit in die Gesellschaft systematisch verweigert (…). Auf der anderen Seite erleben sie (…) eine gesellschaftliche Stigmatisierung, die ihnen zusätzlich die Integration in Arbeit erschwert.“ Das gleiche gilt für eine normative Klassifizierung im Bildungssystem: Indem sich die Kommunikationspraktiken der unterschiedlichen sozialen Schichten immer mehr voneinander entfernen, werden gerade Schulnoten noch mehr zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung hierarchisch vergebener Bildungschancen. Sie bemessen den Grad einer kommunikativen Teilhabe an Bildungssprachlichkeit, ausgewählten Umgangsformen und ein von vornherein ungleich verteiltes Selbstvertrauen in diesbezügliche Fähigkeiten. Schließlich scheinen gleichsam auch Testierungs- und Diagnoseverfahren an der Lebenswirklichkeit der betroffenen Jugendlichen vorbei zu begutachten. Im Gegensatz zu oftmals pathologisierenden Gutachten kommen in der direkten, wechselseitigen Kommunikation oft beeindruckende „Talente“ zum Vorschein.

3.2 „Talent

Was aber sind „Talente“? Man war sich einig, dass „Talente“ immer und in jedem Menschen vorhanden sind. Doch zugleich wurde die immense Schwierigkeit, sie unter gegebenen diskursiven Bedingungen zu entdecken, gesehen. Das Wort „Talent“ klingt wie die Voraussetzung zur Ausprägung einer allgemein anerkannten Fähigkeit, wie dem Fußball-, Klavier- oder Schauspiel. Aus Sicht der versammelten Disputant_innen umfasst es jedoch weit mehr. „Talente“ bezeichnen die unverwechselbare Weise, sich selbst aufzuführen, das eigene Schicksal und mit ihm die Welt zu gestalten und sie in eigener Weise zu deuten. Damit ist „Talent“ zunächst das Produkt gelebter Erfahrung. Vielmehr noch bezeichnet es aber die Weise, diese Erfahrung zu einer produktiven Form gestaltender Weltaneignung zu nutzen. Das heißt aber (selbstverständlich) auch, dass „Talente“ in mehrfacher Hinsicht als Möglichkeitsreservoire gedacht werden müssen. „Talent“ muss sich nicht zwingend offenbaren. Es kann sein, dass wir es mit unseren sozial programmierten Sinnen überhaupt nicht bemerken und es kann sein, dass wir Umsetzungs- und Anforderungssituationen schaffen, in denen sich diese Gestaltungsstile nicht umsetzen können. „Talentist latent. Und es ist Arnulf Bojanowski nachzuempfinden, dass er den zeitgenössischen Übergangsbereich als Ort eines ziellosen Moratoriums ausmachte, an dem es geradezu systematisch an seiner Entfaltung gehindert wird. Produktionsschulen wären demgegenüber produktive Entwicklungsräume, in denen „Talente“ gelebt, ausgedrückt und kommuniziert werden können.

3.3 Utopische Produktionsschulhorizonte

Aber können Produktionsschulen diese Funktion ausfüllen? Und wie lassen sich solche „Talente“ erkennen? Bietet das Produktionsschulkonzept eine mögliche Ausgangsbasis, in der sich „utopische Horizonte“ entwickeln können oder ist es selbst zu sehr in den Zwängen einer Markt- und Maßnahmeorientierung verwoben?

Eine solche Trennung wurde in der nun folgenden Diskussion nicht vorgenommen. Vielmehr wurden in das Produktionsschulkonzept drei mögliche Formen projiziert, mit denen sich „Talente“ abbilden und umsetzen lassen könnten. Damit wurden Produktionsschulen als dialektische Aufführungsorte von „Talenten“ gedacht, in denen, obwohl sie dabei von sozialen Gegebenheiten eingeschränkt bleiben, auf diesen drei Wegen eben diese Gegebenheiten zugleich überschritten werden können.

3.3.1 Beziehungen

Die erste dieser drei möglichen Formen ist die der pädagogischen Beziehungen. Natürlich enthalten Interaktionen immer auch Mittel zur Artikulation. Was unter anderen Umständen verborgen bleibt, kann in Beziehungskontexten zum Vorschein kommen. Wo Rollen auf künstlichen Bühnen in Skripten und Drehbüchern festgelegt sind, definieren sie sich auf den Bühnen der Wirklichkeit in den Augen und Handlungen der Anderen. Beziehungen können wie erweiterte Sprachen wirken, mit denen zuvor Unaussprechliches ausgedrückt werden kann. Beziehungen sind Übereinkünfte, die wechselseitige Images und gemeinsames Wissen enthalten.

Wie aber müssen Beziehungen gestaltet werden, damit dergleichen im Sinne von „Talenterkennung“ gelingt? Oft ist zu hören, Pädagog_innen hätten authentisch oder empathisch zu sein, sie sollten Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen und gerade auch ihre Stärken anerkennen. Doch allzu selten wird jenseits eines proklamierten Anspruches bestimmt, was damit gemeint sein könnte. Im Anschluss an die referierte Debatte wurden diese Selbsttitulierungen erweitert und durch zentrale Inhaltsdimensionen fundiert.

Zunächst wurden Beziehungen in pädagogisch geleiteten Konstellationen als autonomiefördernde Schutzräume gesehen. Es sind demnach kommunikative Orte, in denen Jugendliche und junge Erwachsene als etwas in Erscheinung treten können, was ihnen das soziale Leben bis dahin versagt. Pädagog_innen geraten dabei in Funktionen von Mittler_innen, die zunächst hegend schützen, was sich zwischen ihnen und den Jugendlichen ereignet, um es dann später zu öffnen und gesellschaftlich anschlussfähig machen. Die Herstellung der bedeutenden, jedoch ominösen Zustände Empathie und Authentizität geschieht aber niemals von selbst. Sie ist zielgerichtete Arbeit, die immer wieder geleistet werden muss und im Konzept von Produktionsschulen – ebenso wie die Wertschätzung und Anerkennung benachteiligter junger Menschen – grundsätzlich angelegt ist. Paul-Simon Schroll (2016, 54) formuliert mit Bezügen zu Honneth: „Die Anerkennungsformen durchziehen das pädagogische Feld der Produktionsschule wie eine Schicht. Sie ist diffus, schwammig und setzt sich in der konzeptionellen Ausrichtung der Produktionsschule nicht als konkretes Element ab. Anerkennung ist gewissermaßen in das Konzept hineingewoben.“

Um „Talent“ zielgerichtet anerkennen zu können, wurde zunächst die Methode eines verstehenden Interesses diskutiert: Die Rollen, die Jugendliche in pädagogischen Interaktionen entwickeln, beruhen gleich der Bedeutung von Worten auf gemeinsamem Wissen um erlebte Geschichte. Sprache geht jedem Kommunizieren voraus und ist für jeden Menschen zunächst etwas Fremdes. Erst wenn praktische Erfahrungen mit Dingen und Menschen gemacht werden, erhalten die damit verbundenen Worte Bedeutung. Was Beziehungen darum ausmacht, ist ein darauf gegründetes gemeinsames Wissen. Es ist, wie Walter Benjamin (1996 [1923], 50) in der „Aufgabe des Übersetzers“ schreibt, die „Art des Meinens“, die in den Beziehungen zwischen den Worten Bedeutungskontexte abbildet. Wer Jugendliche verstehen und Beziehungen aufbauen will, muss darum erlebte Welten ergründen. Das heißt, es ist die Herablassung eines pädagogischen Deutungsanspruchs zurückzustellen und der Bedeutungsgehalt jedes einzelnen Lebens aus den Äußerungen der dafür einzig möglichen Expert_innen entgegenzunehmen. Wenn Jugendliche in die Lage geraten, ihre Geschichte erzählen zu können, können sich die Worthülsen Authentizität und Empathie mit Bedeutung füllen. Dann käme es zu der begeisternden Verwandlung, mit der junge Menschen in unseren Augen zu etwas Einzigartigem werden. Es entsteht ein fundiertes Verstehen von Handlungsmotiven und Wahrnehmungen. Denn zunächst sind lebendige Beziehungen nichts anderes als Bedeutungsverhandlungen, als deren Resultate etwas gemeinsam gemeint und verstanden wird. Zugleich kann einzig ein solches Verstehen erlebter Bedeutung die Grundlage von „Talenterkennung“ sein. Denn wie anders kann ein Mensch etwas können als auf der Grundlage der Verhältnisse, die er zur Welt eingegangen ist? Was kann Kreativität anderes sein, als die schöpferische Montage erlebter Bedeutungen? Und worauf sonst könnten Sozialkompetenzen beruhen als auf der verinnerlichten Erfahrung des Umgangs mit anderen Menschen? Es ist wohl genau das, was Arnulf Bojanowski und Günter Ratschinski (2013, 39) im Sinn hatten, als sie zum Komplex der Kompetenzfeststellung schrieben: „Die Kompetenz-Diagnostiker müssten sich wirklich den Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen der von ihnen zu verstehenden Jugendlichen öffnen. Dann erst könnte es gelingen aus den, auf den ersten Blick defizitären, jugendlichen Praktiken individuelle Ressourcen zu identifizieren. Es bedarf also neuer Formen der Feststellung von Eigenschaften; es sollte eine Kompetenzfeststellung sein, in die ein junger Mensch sich selbst einbringen kann“.

3.3.2 Produktion

Doch auch pädagogische Beziehungen ereignen sich nicht in hierarchiefreien Räumen. Sie sind institutionellen Verfahren und Machtverhältnissen eingelagert, die sie bis in subjektive Wahrnehmungen hinein vorstrukturieren. Außerdem bezeichnet ein förderpädagogisches Verstehen eine einleitend unvollständige, aber konzentrierte Kommunikation, in der vorerst allein die Erfahrungen der Jugendlichen begründet verhandelt und thematisiert werden. Beziehungen brauchen darum auch Orte wechselseitigen Austausches, in denen sie sich aufgrund gemeinsamer Erlebnisse produzieren. Weltverständnisse und „Talente“ können nicht nur durch ein Hörensagen erkannt werden. Um sie auf weitergehende Ziele beziehen zu können, bedarf es entwicklungsförderlicher Tätigkeiten. Denn was hier mit „Talent“ umschrieben wurde, fokussiert eben keineswegs allein das, was bereits zur konkreten Fähigkeit ausgeformt wurde. Es meint vielmehr auch die besondere Weise, in der ein Mensch etwas unter anderen Umständen können könnte.

Um dafür ein Instrument zu schaffen, wurde der Ansatz pädagogisch begleiteter Produktion als besonders geeignet betrachtet. Die Herstellung marktgängiger Produkte und Dienstleistungen überschreitet die von Arnulf Bojanowski diagnostizierte Barriere zwischen Arbeitsgesellschaft und der Exklave des Übergangssektors. Die mangelnden „Realitätsbezüge“, mit der die „Schulförmigkeit des Bildungslebens“ „nicht nur von der erwerbswirtschaftlichen Produktionssphäre, sondern auch von der Alltagswirklichkeit der Menschen [entfremdet]“ (Bojanowski 2012a, 116), werden damit durch Akte des Austauschprozesses überwunden. Produkte sind danach kommunikative Transmitter, mit denen sich in geschützten pädagogischen (Beziehungs-)Räumen ausgeprägte  „Talente“ der sozialen Welt übermitteln. Jugendliche entwickeln ihr gelebtes Leben im Raum von Produktionsschulbeziehungen, vergegenständlichen das darin ausgedrückte „Talent“ im Produkt und knüpfen damit an soziale Beziehungen der Mehrheitsgesellschaft an. So wirkt das Produkt wie eine Botschaft, mit der ein zuvor missachtetes Leben gesellschaftliche Anerkennung erfährt.

Und sofern es überdies gelingt, dass sich gelebte Erfahrung in Beziehungen ausdrückt und darauf in der Fertigkeit eines Produkts niederschlägt, entsteht auch ein verändertes Verhältnis zum Lernen. Denn selbst eine „fremde Bildungswelt“ kann sich in „subjektive Weltaneignung“ verwandeln, wenn sie sich auf Erfahrungen mit Dingen, die nunmehr mit formalen Bildungsbegriffen bezeichnet werden, bezieht. Die pädagogisch initiierte und gerahmte, jedoch selbstständig vollzogene „Produktive Arbeit“ erdet eine längst geleistete Entdeckungsarbeit. Sie installiert mit dem Produkt einen kommunikativen Knotenpunkt zwischen dem, was bereits von der Welt erfahren wurde und dem, wie diese Welt üblicherweise bezeichnet und wie mit ihr umgegangen wird. Das Produkt ist idealerweise also nicht nur ein für andere brauchbares Ding. Es ist die kommunikative, die signifikante sowie gegenständliche Übersetzung subjektiven Empfindens in eine objektivierende Welt.

3.3.3 Kunst und Kreativität

In diesem bedeutungsvollen Verständnis eines Produkts als Ausdruck eines Subjekts machten die Disputant_innen auch einen Widerspruch aus. Denn bei jedem einzelnen Produkt stellt sich die Frage, inwieweit darin überhaupt ein verausgabtes „Talent“ sichtbar werden kann. Produkte entsprechen am Markt i.d.R. standardisierten Aufträgen. Selbstverständlich wird in der Kundenzufriedenheit auch ein bestimmtes, z.T. sehr unmittelbares, Maß an Anerkennung gespiegelt. Doch per se ist nicht ausgemacht, dass sich darin Beziehungen und die Eigenart eines Weltverständnisses ausdrücken. Wie aber muss ein Produkt beschaffen sein, damit dies gelingt?

Vor dem Hintergrund dieser Frage zentrierte sich die Debatte auf die Möglichkeiten von Kunst und Kreativität in Produktionsschulen. Kunst ist auch an diesem Ort Abbildung „subjektiver Weltaneignung“. Sofern es hier gelingt, die besondere Art der Beziehungen zu Menschen und Dingen darzustellen, ist ‚selbstredend‘ künstlerischer Ausdruck gegeben. Kunst ist dem zu Folge gewissermaßen die Fortsetzung von eigensinnigem Verhalten. Nur ein Bruchteil unseres Weltempfindens wird mit den Worten einer vorgefundenen Sprache zum Ausdruck gebracht. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um die Sprache einer „fremden Bildungswelt“ handelt, deren Begriffe sich nicht mit den kommunikativen Erfahrungen „subjektiver Weltaneignung“ verbinden. Hier können Beziehungen in der beschriebenen Weise Bezüge zwischen Erlebnissen und ihrem Ausdruck vertiefen. Und doch ist die künstlerische Artikulation einer subjektiven Weltaneignung – gleich mit welchen bildlichen, sprachlichen oder musikalischen Mitteln – eine Neuschöpfung. Sie dringt vor in einen Raum diffuser Empfindungen und bringt etwas bis dahin Unaussprechliches zum Vorschein. Insofern erscheinen Kunst und Kreativität als hervorragende Mittel zur kulturellen Ausgestaltung von Produktionsschulen.

Doch Kunst ist in der  Gegenwart ein  gesellschaftlicher Raum sowie ein Kulturprodukt, in dem sich soziale Klassifizierungen abbilden und auch zuspitzen. Dies findet sich folglich in den Medienkulturen wieder. Als ausgeprägte Beispiele wurden hier TV-Formate wie Germany's Next Topmodel oder Deutschland sucht den Superstar genannt. Bis hin zur öffentlichen Demütigung von „Verlierer_innen“ findet darin eine erbarmungslose Wettbewerbsgesellschaft ihren kulturellen Ausdruck. Doch nicht allein das. Es repräsentiert sich damit auch eine Klassifizierung von Menschen jenseits sozialer Kontexte und „subjektiver Weltaneignung“. Denn das Wesen der zur Schau gestellten Menschen wird darin nicht anhand subjektiver Erfahrungen verstanden. Fremde „Expert_innen“ beurteilen es aufgrund externer Kriterien. Das Prinzip einer sozialen Übermittlung „subjektiver Weltaneignung“ über ein hergestelltes Produkt scheint mit dieser zeitgenössischen Kultur auf den Kopf gestellt. Nicht der tätige Mensch bringt seine Welterfahrung zum Ausdruck. Er wird vielmehr selbst zum Produkt und verschwindet in der Totalität einer nach kulturindustriellen Standards formatierten Warenwelt

Doch wie können „Talente“ unter Bedingungen entwickelt und anerkannt werden, die ihrem Wesen grundsätzlich widersprechen? Es wäre ein Fehler, die dem Begriff „Talent“ innewohnende genormte Oberflächlichkeit allein außerhalb von Produktionsschulen zu denken. Sie ist gleichzeitiger Bestandteil unseres Denkens und sicherlich auch der des Denkens der Produktionsschulteilnehmenden. Es lässt sich nicht verdrängen, dass gesellschaftliche Partizipation derzeit keiner anderen als dieser marktbestimmten Ankerkennungsform folgen kann. Produktionsschulen kommen also gar nicht umhin, ein Versprechen zu geben, welches die betroffenen Jugendlichen der Tendenz nach ausschließen und abwerten muss.

Wie lässt sich diesem Dilemma entgehen?

Hier bieten zwei geistige Orientierungsfiguren Arnulf Bojanowskis – Hans Uwe Schmidt und Anton Semjonowitsch Makarenko – Auswege an. Der Erste hat mit ihm über viele Jahrzehnte pädagogische Ideen aus künstlerischer Perspektive diskutiert. Der Zweite hat vor allem mit seinem „Pädagogischen Poem“ einen pädagogischen Erfahrungsbericht geliefert, auf den sich Arnulf Bojanowski in Vorträgen und Diskussionen immer wieder bezog und auf dessen Grundlage er theoretische Konstrukte aus beispielhafter Praxis gewann.

Hans-Uwe Schmidt hat im Anschluss an den hier referierten Disput eine eigene „Malerei-Theorie“ verschriftlicht und deren Inhalte auf das Produktionsschulkonzept bezogen. Darin treten die beiden Begriffe „Aufklärung“ und „Form“ als besonders erhellend hervor.

Zum Begriff „Aufklärung“ :

„<Aufklärung> [ist] eins meiner lebenslangen Arbeitsmotive und nicht nur Legitimations-Parole. Daher habe ich stets die Transparenz und Lesbarkeit in meinen Arbeiten angestrebt. Aber neben viel Anerkennung ist mir in diesem Punkt auch Kritik begegnet – im Sinne von: Kunst muss doch ihr Geheimnis wahren! Aber dafür ist nach meiner Erfahrung in der Erscheinung, Stimmung, Komposition und Form- und Farbgebung weiter Raum und die Möglichkeit unauslotbarer Tiefe für ästhetische(.) Erfahrungen gegeben.“ (Schmidt 2015, 1)

Wir können schlussfolgern: Selbst wenn Markt und Kulturbetrieb Anerkennung aufgrund extern formatierter Klassifikationen verteilen, so müssen und können wir uns nicht davon abwenden. Denn selbst diese Form ästhetischer Fremdbestimmung ist Teil der Welt, die wir erleben und verarbeiten müssen. Sie bestimmt unser Empfinden und keine künstlerische Wirklichkeitsdarstellung kann darüber ohne zu verkitschen hinweggehen. Doch steht es uns frei, sie auf unsere Weise zum Ausdruck zu bringen. Denn auch zu einer entfremdeten Welt müssen wir subjektive Bezüge herstellen und wenn wir sie ausdrücken, werden wir uns ihrer bewusst und eignen uns damit diese fremde Welt wieder an. Aufklärerische Kunst wahrt kein Geheimnis; sie macht sich dieses Geheimnis bewusst und bemächtigt sich der Regeln und Normen einer von einflussreicheren „Anderen“ geordneten Welt. Hans Uwe Schmidt berichtet von dem Erlebnis einer Van-Gogh-Ausstellung: „Sie hatte das Motto: ‘Die Welt mit seinen Augen gesehen.‘ Aber ich begriff sofort, dass es gar nicht anders funktioniert – und das ist eben bei allen Werken der bildenden Kunst so.“ (ebd.) Damit setzt er Kunst dem Prinzip „subjektiver Weltaneignung“ gleich und etabliert sie als weiteres Mittel neben dem kommunikativen Potenzial pädagogischer Beziehungen. Doch Aufklärung kann nicht punktuell auf ein einzelnes Phänomen beschränkt bleiben. Sie ist in Leben und Kunst auf die Komplexität ganzer Empfindungskontexte verwiesen. Hans-Uwe Schmidt schreibt:

„Aber wieder, wie am Anfang der mod. Malerei, galt es, das Räumliche oder Gegenständlich-Plastische so in die Fläche des Bildes einzuarbeiten, dass es (das Bild) seine Würde als dekorativer Gegenstand behält. Somit ist Ganzheit ein formal-ästhetisches oberstes Ziel. Meine Intention besteht darin, in meinen Bildern eine Bewusstseins-Situation zu schaffen.“ (ebd., 2f.)

Übertragen auf Produktionsschulpädagogik heißt das, dass das von Schmidt postulierte Prinzip der Aufklärung nur funktionieren kann, wenn es eine Empfindung in den Kontext von weiteren Empfindungen stellt; wenn es die Hoffnung auf Erfolg in Zusammenhang mit erlittenen Niederlagen setzt und das Prinzip Markt in Relation zu Beziehungen, die mit einer geldwerten Leistung vertieft werden sollen.

Genau dieses Prinzip vertieft Hans-Uwe Schmidt mit dem Begriff „Form“:

Immer dann, wenn ein Ereignis oder Umstände eintraten, die einen erschütterten, in Frage stellten oder als Person anzugreifen drohten, galt es, Fassung zu bewahren und/oder wiederzugewinnen. Das bedeutete: Die Angriffe von außen auf angemessene Distanz zu bringen, um sie mit den eigenen Vorstellungen abgleichen zu können. Diese Grundeinstellung hat mich zur Kunst gebracht oder besser: Im künstlerischen Arbeiten habe ich eine Methode erkannt, die inneren, eigenen Ansprüche, Sichtweisen, Werte mit den äußeren, fremden Ansprüchen, Zumutungen, Denkweisen in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Im Fassung gewinnen, eine Form zu finden, dies als Genesis von Form festzustellen, ist mir wichtig, weil heute alles Mögliche unter dem Begriff FORM diskutiert wird. So verstehe und gebrauche ich das Wort, den Begriff FORM, als den Zugriff auf eine Gestalt im Sinne ihrer Be-Deutung.“ (ebd., 3)

Damit nun schafft Hans-Uwe Schmidt einen Übergang, mit dem sich das Kunstwerk wohl noch an andere richtet, trotzdem aber nicht von der Person seines Urhebers getrennt werden kann. Es ist zugleich Ausdruck und Mittel einer reflexiven Entwicklung. In ihr erfindet und positioniert sich der Mensch immer wieder. Das, was auf bemaltem oder beschriebenem Papier, in Musik oder geformten Gegenständen erscheint, geschieht auch mit ihm selbst. Es ist der Niederschlag eines Prozesses, mit dem der Mensch erlittenes Schicksal in schöpferische Weltaneignung umwandelt, mit der er sich selbst in einer von anderen gestalteten Welt neu erfindet und damit diese Welt veränderbar macht. Der Mensch ist nach Hans Uwe Schmidts Kunsttheorie also selber das Kunstwerk, das in der Produktionsschule eine Umgebung vorfindet, in der es sich ausdrücken und damit erfinden kann:

[A]uch die Produktionsschule selbst muss jedem einzelnen ihrer Schüler das Bewusstsein vermitteln, dass es nicht darum geht, in jedem Schuljahr ein Musical aufzuführen, sondern dass es vielmehr darum gehen muss, dass der Mensch als Schüler, als Absolvent dieser Schulform das Kunstwerk ist, das diese Schulform hervorbringen will. Und die Schüler müssen begreifen, was sie KÖNNEN LERNEN MÜSSEN.“ (ebd., 4; Herv. i. Org.)

Wie aber könnte das aussehen? Wie kann Produktionsschule zu einem Ort werden, an dem der Mensch selber in der Weise zum Kunstwerk wird, dass er sich als gestaltenden Akteur vorgefundener Verhältnisse erkennt?

Hier bietet der Rückgriff auf Makarenkos „Weg ins Leben“ (1960) – in dem er Leben und Arbeiten mit straffällig gewordene Jugendlichen in einer Kolonie auf einem brachliegenden Gutshof im Anschluss an die Oktoberrevolution beschreibt – Ansatzpunkte. Denn zunächst beschreibt Makarenko Entwicklungen, mit denen einzelne Kolonisten von oft ablehnender Teilnahmelosigkeit Stück für Stück zu sensiblen und verantwortungsvollen Persönlichkeiten werden. Auch wenn er seine Figuren beschreibt und damit Künstler im schreibenden Sinne ist, sind seine Portraits Abbilder schöpferischer Subjekte, die im Sinne Hans Uwe Schmidts in ihrer Entwicklung selber zu Kunstwerken werden.

Wie aber geschieht das?

Zunächst ist die erzählte Welt der „Gorki-Kolonie“ ein nach außen geöffneter Rückzugsort. Auch die entstehende Sowjetunion ist den Kolonisten keineswegs freundlich gesonnen. Die jungen „Zöglinge“ sind Parias, als sie der Kolonie zugewiesen werden. Sie finden hier einen Schutzraum, aus dem heraus sie in kollektiven Aktionen in Kontakt zu der ländlichen Mehrheitsgesellschaft treten. Insofern beschreibt diese Kollage pädagogischer Szenen einen ständigen Dialog zwischen dem kollektiven Inneren der Kolonie und einem feindlichen Äußeren. Dabei spielen die zeitlichen Abstände eine erhebliche Rolle. Es gelingt den Jugendlichen immer wieder, die äußere Welt zu gestalten, weil sie sich im Inneren sowohl als Kollektiv als auch als Persönlichkeiten entwickeln. Der treibende Motor der Gorki-Kolonie ist aus Makarenkos eigener Sicht das Kollektiv. Die Kolonisten sind um ihr Überleben zu gewährleisten aufeinander angewiesen. Doch das Kollektiv ist nicht abstrakt. In seinem Rahmen bilden sich differenzierte Persönlichkeiten heraus. Dabei setzt Makarenko auf die Macht des Geschehens. Die Herausbildung von gemeinsamer und persönlicher Entwicklung beruht auf gemeinsamer Tätigkeit, die in jeder Sequenz etwas Nachhaltiges hinterlässt. Das Kollektiv wird dabei zum Gestaltungsraum, indem sich besondere Rollen und Funktionen herausbilden. Makarenko initiiert eine besondere Form interaktiver und technischer Arbeitsteilung. Im Rahmen dieser Besonderung erweitern die einzelnen Kolonisten nun ihre Planungshorizonte und gestalten die Welt mit immer weiterer Perspektive. Einerseits machen sie sich durch ihre produktiven Tätigkeiten zu den einzigartigen Akteuren, die Makarenko in seinem „pädagogischen Poem“ nachzeichnet. Andererseits aber scheint es genau das  Schreiben zu sein, dass dieses vermeintliche pädagogische Chaos erst zu ordnen vermag. Denn die beschriebene Arbeitsteilung erfolgt nur zum Teil aufgrund technischer Notwendigkeiten. Es ist vielmehr der scheinbare Zufall, aus dem heraus die einzelnen Kolonisten besondere Rollen einnehmen. Doch indem er sie beschreibt, erhalten all diese einzelnen Szenen etwas Planvolles. Die Einzigartigkeit jedes Kolonisten scheint erst dadurch zu Tage zu treten, dass Makarenko sich ihrer im Schreiben bewusst wird.

Ein Mensch wird also, wie bei jeder Kunst, erst dadurch zum Kunstwerk, indem jemand seine Einzigartigkeit artikuliert. Demensprechend muss auch der Produktionsschulalltag wohl als lang anhaltender Entwicklungsprozess angelegt sein. Es scheint der Planung und Umsetzung dauerhafter und umfangreicher Projekte zu bedürfen, um eine solche Form von Entwicklung zu ermöglichen. Wahrscheinlich meinte Arnulf Bojanowski auch das, als er schrieb:

„Gemeinsame Tätigkeit und positive Emotionen sind eng verknüpft. Mit Makarenko wäre auch festzuhalten, dass fehlende objektive gesellschaftliche Perspektiven als sinngebendes Leitmotiv (z. B. das Erreichen eines Abschlusses, Integration in Ausbildung oder Arbeit) vorübergehend durch intensive und auf emotionale Bedürfnisse ausgerichtete soziale Beziehungen ausgeglichen werden können (…). Damit relativiert sich auch der zumeist betonte „produktionische“ Zugang; Produktionsschule ist offenbar mehr als nur ein Lernort für Arbeiten und Lernen, sie ist auch ein Ort des Jugendlebens.“ (Bojanowski 2012b, 124; Herv. i. Org.)

Im Fall von Makarenko wurde das Kunstwerk der einzelnen Jugendlichen durch den pädagogischen Autor abgebildet. Es bleibt die offene Frage nach Möglichkeiten, Jugendliche in Produktionsschulen selbst zur gestaltenden Reflexion ihrer eigenen Entwicklungen zu motivieren.

4 Ausblick

Produktionsschulpädagogik ist offensichtlich eine Grenzdisziplin, die nicht nur zwischen der pädagogischen Exklave des Übergangsbereichs und den Anerkennungskreisläufen einer sozio-ökonomischen (Waren-)Welt, sondern auch zwischen weitgehend missachteten Weltbildern benachteiligter Jugendlicher und junger Erwachsener und den ästhetischen Standards fremdformatierter Produktpaletten, bildungssprachlicher Zeichensysteme und sozialen Klassifizierungen vermittelt. Sie stellt  entfernten oder entzogenen Bedeutungssphären einen geschützten Raum subjektiver Ausdruckmöglichkeiten entgegen und ermöglicht es jungen Menschen, sich darin selbst in Verhandlung zu einer fremdbestimmenden Welt zu erleben. Dabei können Beziehungen, Produktion und Kunst entscheidende (Förder-) Instrumente und Transfervehikel sein. Am Wichtigsten aber erscheint es, dass das, was getan und erlebt wird, auch eine reflexive Ausdrucksform findet. Dies ist entscheidender Bestandteil der kommunikativen Bojanowski-Methode. Dieser Text ist ein fragmentarisches Abbild des Versuchs ihrer Fortsetzung.

Literatur

Benjamin, W. (1996 [1923]): Die Aufgabe des Übersetzers. In: Opitz, M. (Hrsg.): Walter Benjamin. Ein Lesebuch. Frankfurt a. M., 45-57.

Bojanowski, A. (2005): Umriss einer beruflichen Förderpädagogik. Systematisierungsvorschlag zu einer Pädagogik für benachteiligte Jugendliche. In: Bojanowski, A./Ratschinski, G./Straßer, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits. Studien zur beruflichen Benachteiligtenförderung. Bielefeld, 330-362.

Bojanowski, A. (2011): Arbeiten, lernen und leben in Produktionsschulen. In: Biermann, H./Bonz, B. (Hrsg.): Inklusive Berufsbildung. Didaktik beruflicher Teilhabe trotz Behinderung und Benachteiligung. Berufsbild konkret. Band 11. Baltmannsweiler, 107-123.

Bojanowski, A. (2012a): Moratorium 2.0. Oder: Wie das Übergangssystem in Sozialisations- und Individuationsprozesse eingreift. In: Ratschinski, G./Steuber, A. (Hrsg.): Ausbildungsreife. Kontroversen, Alternativen und Förderansätze. Wiesbaden, 115-132.

Bojanowski, A. (2012b): Wann sind Produktionsschulen erfolgreich? Das Konzept der sieben Hauptfaktoren. In: Arbeitsförderung Offenbach (Hrsg.): Irgendwann kommt dieser „Klick“. Offenbacher Produktionsschüler erzählen, 119-127.

Bojanowski, A. (2014): Das Übergangsgeschehen – ein neues „Dispositiv der Macht“? Bericht über eine Verblüffung. In: Ahrens, D. (Hrsg.): Zwischen Reformeifer und Ernüchterung. Übergänge in beruflichen Lebensläufen. Wiesbaden, 161-180.

Bojanowski, A./Ratschinski, G. (2013): Kompetenzfeststellung und Förderplanung. In. Bojanowski, A./Koch, M./Ratschinski, G./Steuber, A. (Hrsg.): Einführung in die berufliche Förderpädagogik. Pädagogische Basics zum Verständnis benachteiligter Jugendlicher, 31-42.

Jegodka, M. (2015): „Die Genese des Stigmas“ – Erklärungsmuster beruflicher Ausgrenzung. Masterarbeit im Rahmen der Masterprüfung für den Studiengang Master of Education  Lehramt an berufsbildenden Schulen, Leibniz Universität Hannover.

Makarenko, A. S. (1960): Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Berlin (Ost).

Schmidt, H.-U. (2015): Meine Malerei im Lichte ihrer theoretischen Begründung. Unveröffentlichtes Manuskript. Kleve.

Schroll, P. S. (2016): „Auftauchen durch Anerkennung“ – Bedeutungstiefe und Gestaltbarkeit von Rollen benachteiligter Jugendlicher in der Lehrer-Schüler-Interaktion. Masterarbeit im Rahmen der Masterprüfung für den Studiengang Master of Education Lehramt an berufsbildenden Schulen, Leibniz Universität Hannover.

Zitieren des Beitrags

Koch, M./Reschke, B./Steckert, R. (2017): Das Kunstwerk des Subjekts im Produkt: Ein fragmentarisches Tableau zur Reflexion der Produktionsschule. In: bwp@ Spezial 15: Berufliche Förderpädagogik: Von der analytischen Struktur zur dynamischen Wissenschaft. Inspirationen und Expressionen aus einem Symposium zum Gedenken an Arnulf Bojanowski, hrsg. v. Koch, M./Ratschinski, G./Steckert, R./Steuber, A./Struck, P., 1-14. Online: http://www.bwpat.de/spezial15/koch_reschke_steckert_spezial15.pdf (08-09-2017).