Titel:
Bildungsziel Übergangsbewältigung: Pädagogisch didaktische Herausforderungen und Strategien am Übergang ins Ausbildungs- und Beschäftigungssystem
Beitrag von Martin KENNER (Universität Stuttgart)
Im folgenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche beruflichen Perspektiven und politischen Orientierungen bei Schülern des schulischen Übergangssystems anzutreffen sind. Untersuchungs-leitend ist dabei die Annahme, dass sowohl die beruflichen Perspektiven als auch die politischen Orientierungen bei dieser Schülergruppe deutlich entwicklungsbedürftiger ausfallen, als es bei Schülern von Schularten mit höherem Bildungsanspruch (Berufsschule, Beruflichen Oberstufe) der Fall ist. Der Annahme wird im Rahmen einer empirischen Untersuchung mit 40 Schulklassen der Region Stuttgart nachgegangen. Es zeigt sich dabei, dass Schüler des Übergangssystems zwar eine größere Distanz zum politischen System mitbringen, deshalb aber trotzdem die Verarbeitung ihrer gesellschaftspolitisch relevanten Alltagswelt zu erkennen geben. Zudem sehen viele der Schüler ihrer beruflichen Zukunft durchaus optimistisch entgegen. Die Befunde legen insgesamt eine schulart -differenzierende und keinesfalls pauschalisierend herabstufende Betrachtung des schulischen Übergangssystems nahe.
Untersuchungen zum politischen Interesse zeigen, dass Distanz zur Politik in jungen Lebensjahren nichts Ungewöhnliches ist. So sind nach der aktuellen Shell-Jugendstudie von 2010 über 60% der unter 21-Jährigen im Schnitt „wenig“ bis „gar nicht“ an Politik interessiert. Differenziert man die Gruppe weiter, so steigert sich das Desinteresse bei niederer Schulbildung sogar auf über 80% (vgl. DEUTSCHE SHELL 2010, 131ff.). Treten junge Menschen in das Arbeitsleben ein und müssen sich dort mit erheblichen Schwierigkeiten wie Arbeitslosigkeit auseinandersetzen, manifestiert sich die Distanz nicht nur, sondern scheint auch politische Einstellungen zu begünstigen, die die demokratische Grundordnung ablehnt und nach starken Figuren ruft (vgl. ROTH 1989, 99ff.).
Vor diesem Hintergrund geht der folgende Beitrag der Frage nach, ob sich die hier skizzierten Befunde der genannten Studien generalisieren lassen und auch für das schulische Übergangssystem – gemeint sind Schularten, die unterhalb der Berufsschule des Dualen Systems liegen – Gültigkeit beanspruchen können. Konkret soll geklärt werden,
(1) ob in diesen Klassen eine verunsicherte Schülerschaft anzutreffen ist, die aufgrund der ungünstigen Schulbildung und des Verbleibs im Übergangssystem erste berufliche Frusterlebnisse hinter sich hat und die deshalb ihre berufliche Zukunft alles andere als optimistisch sieht?
(2) ob infolge der fehlenden beruflichen Perspektiven entweder Desinteresse oder extreme politische Ansichten begünstigt werden?
Daran anknüpfend stellt sich schließlich die Frage, welche Rolle die Schule in den Augen der Schüler (wenn von Schülern die Rede ist, sollen immer beide Geschlechter damit gemeint sein) einnimmt:
(3) Gibt es Anzeichen dafür, dass die Schulzeit im Sinne der „Aufbewahrungsfunktion“ (GREINERT 1998) nur abgesessen wird, oder stellt sie aus der Sicht der Schüler eine wichtige Etappe in der beruflichen Entwicklung dar, in der auch Qualifizierungschancen gesehen werden?
Antworten auf die aufgeworfenen Fragen soll eine empirische Untersuchung liefern, die aktuell im Raum Stuttgart an 8 beruflichen Schulen gewerblich-technischer Fachrichtung durchgeführt wurde. Wegen der fachlichen Ausrichtung sind an diesen Schulen zwar überwiegend männliche Schüler anzutreffen, wie die Stichprobe der Untersuchung jedoch zeigt, besucht auch eine erkennbare Zahl von Schülerinnen diese Schulen. Der Beitrag ist wie folgt gegliedert:
Zunächst werden in Abschnitt 2 die zentralen Begriffe der Themenstellung erörtert. Dazu gehört die Beschreibung des „Schulischen Übergangssystems“ in Baden-Württemberg, aber auch das der Untersuchung zugrunde liegende Verständnis von „Beruflichen Perspektiven“ und „Politischen Orientierungen“. Im Abschnitt 3 wird darauf aufbauend ein Rahmenmodell der Untersuchung vorgestellt, an dem sich die Hypothesen für den nachfolgenden empirischen Teil entwickeln und begründen lassen. Anschließend werden in Abschnitt 4 ausgewählte Ergebnisse der angesprochenen empirischen Untersuchung referiert, die sich auf die Selektionsmechanismen an der 1. Schwelle, die beruflichen Perspektiven und auf die politischen Orientierungen beziehen. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick.
Wie in anderen Bundesländern liegt in Baden-Württemberg ein differenziertes, horizontal und vertikal weitgehend durchlässiges Schulsystem vor, das sich im Laufe der Zeit durch bildungspolitische Anstöße herausgebildet hat. Mit dem schulischen Übergangssystem werden in diesem Beitrag diejenigen Schularten bezeichnet, deren berufsfachlicher Anspruch unterhalb der Berufsschule (Duale Ausbildung) angesiedelt werden kann und die weitgehend einer Vollzeitschule entsprechen. In Baden-Württemberg treffen diese Kriterien für die berufsvorbereitenden Schularten und für die 1- und 2-jährigen Berufsfachschulen zu.
(1) Berufsvorbereitende Schularten: BEJ/BVJ/VAB
Als bildungspolitische Reaktion auf die ab den 70er Jahren auch quantitativ spürbaren Übergangsprobleme an der „1. Schwelle“ wurde das „Berufsvorbereitungsjahr“ kurz „BVJ“ in Baden-Württemberg erstmals 1978 als Schulversuch ins Leben gerufen (SCHROEDER/ THIELEN 2009, 59). Die Zielformulierungen bestanden neben der Erfüllung der Berufsschulpflicht u. a. darin, allgemeine und berufliche Qualifizierungen zu fördern und vorhandene Defizite auszugleichen, z. B. dem fehlenden Hauptschulabschluss oder die fehlende Berufsorientierung. Zur Verbesserung der Förderung wurden in den letzten 10 Jahren weitere Differenzierungen vorgenommen, die zu den folgenden Schularten führten (vgl. MKJS 1998, 2009, 2011):
(2) Berufsfachschulen
In den Berufsfachschulen liegen die Leistungsanforderungen im Vergleich zu den berufsvorbereitenden Schulen deutlich höher. Zudem haben die Abschlüsse formal eine größere Relevanz für den Zugang zu weiterführenden Ausbildungsphasen. Im Rahmen dieser Untersuchung wird zwischen der 1-und 2-jährigen Berufsfachschule unterschieden:
Das in diesem Beitrag interessierende Übergangssystem wird durch die unter (1) und (2) genannten Schularten repräsentiert. Schüler dieser Schularten wurden zu deren beruflichen Perspektiven und politischen Orientierungen befragt. Zur vergleichenden Einordnung und Kontrastierung der Befunde werden die Befragungsergebnisse von Berufsschülern (Duales System) und von Schülern der beruflichen Oberstufe (Berufskolleg mit FHSR, Berufliches Gymnasium) herangezogen.
Mit „Beruflichen Perspektiven“ wird hier ein Blickwinkel eingenommen, der sich auf die Möglichkeiten und Ziele der eigenen beruflichen Biographie und Weiterentwicklung richtet. Die terminologische Festlegung lässt sich durch unterschiedliche Theoriestränge fundieren. Ganz abgesehen davon, dass die Zukunftsbetrachtung zur Normalität menschlichen Denkens gehört, legen Erkenntnisse aus der beruflichen Sozialisationsforschung (vgl. z.B. LEMPERT 2006, 2007) nahe, die Beschreibung der beruflichen Zukunft als ein Ergebnis der mehr oder weniger bewussten Verarbeitung aktueller und vergangener berufsrelevanter Ereignisse und Erfahrungen aufzufassen. Werden dabei konkrete Berufsziele genannt, können Theorien zur beruflichen Orientierung und Aspiration (vgl. z.B. GOTTFREDSON 1981, HOLLAND 1997, RATSCHINSKI 2008) zur Erklärung und Einordnung herangezogen werden. Wenn schließlich in Betracht gezogen wird, wie stark dieser Blick von Zuversicht oder von Zweifeln begleitet ist, lassen sich theoretische Bezüge zum Selbstkonzept und zur Resilienz (vgl. z.B. FILIPP 1993, WEINER 1984; OSER/ DÜGGELI 2008) herstellen. In diesen Theorien spielen Einflussfaktoren eine Rolle, die sich auf die eigene Person (selbst) beziehen lassen oder die aus dem jeweiligen Kontext der Person (fremd) entstammen. Vor diesem Hintergrund erscheinen für die Untersuchung des Konstrukts folgende Aspekte und Fragen relevant:
„Politische Orientierungen“ werden hier in zweierlei Hinsicht verstanden:
(1) Zunächst als prinzipielle Ausrichtung oder Haltung der Person gegenüber dem existierenden politischen System und der sie leitenden demokratischen Grundordnung. Hier wäre zu unterscheiden, ob die Person dem politischen System gegenüber soweit zugeneigt oder daran interessiert ist, so dass das alltagspolitische Geschehen zumindest wahrgenommen und gedanklich verarbeitet werden kann. Mit dieser Ausrichtung ist eine Mindestvoraus-setzung gemeint, die selbst für die passivste Ausprägung des in der Politikdidaktik eingeführten „Bürgermodells“ (vgl. WEISSENO u. a. 2010, 26), nämlich die des „reflektierten Zuschauers“, für notwendig erachtet werden muss. Im anderen Fall sind Anzeichen für eine große Distanz oder gar Abkehr gegenüber dem politischen System vorhanden, die eine Auseinandersetzung mit politischen Sachverhalten erst gar nicht möglich machen oder in denen sich auch grundsätzliche Ablehnung gegenüber der Demokratie zeigen.
(2) Weil Individuen unabhängig von der eben beschriebenen prinzipiellen Ausrichtung gegenüber dem politischen System zwangsläufig in ihrer Alltagswelt mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen und Fragen konfrontiert, und durch ihre Einstellungen und durch ihr Verhalten selbst Teil des „Politischen“ werden, legt die zweite Perspektive den Fokus auf Alltagssituationen mit politischer Relevanz. Exemplarisch werden hierzu die Themen „Toleranz gegenüber Randgruppen“ und „Zuwanderung“ herangezogen, die auch in anderen Studien untersucht wurden (vgl. z.B. DEUTSCHE SHELL 2006, 131ff.; 2010, 158ff.) und von daher Vergleichsmöglichkeiten bieten. Die Validität der Thematik ist nicht zuletzt durch den hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund gegeben, die im Übergangssystem beschult werden.
Die bisherigen Überlegungen sind im nachfolgenden Rahmenmodell zusammengefasst (siehe Abb. 1). Angenommen wird dabei, dass beim Übergang in das berufliche Schulwesen Selektionsmechanismen wirksam werden, die sich besonders in den Schularten des schulischen Übergangssystems zeigen. Zentrale Einflussgrößen auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene sind hierzu in den letzten Jahren durch aufwändige Längsschnittstudien des BiBB (vgl. z.B. BEICHT u. a. 2008; GRANATO u. a. 2006) und des DJI (vgl. z. B. REISSIG u. a. 2009) bestimmt worden, die hier ebenfalls Eingang finden. So wird beispielsweise erwartet, dass Schüler des Übergangssystems eher eine niedrige Schulbildung mitbringen und auch aus bildungsfernen Elternhäusern stammen, das wenig Unterstützung bereitstellen kann (siehe Stichprobe 3.2). Ferner sind in Abb. 1 die beiden oben beschriebenen Zielvariablen Berufliche Perspektiven und Politische Orientierungen aufgeführt und es werden jeweils konkrete Aspekte der Befragung angedeutet. Befunde aus dem schulischen Übergangssystem zu den hier interessierenden Zielvariablen liegen nicht vor. Näherungsweise können jedoch Ergebnisse der eingangs zitierten Studien herangezognen werden, in denen Personen mit vergleichbaren sozial-kulturellen Voraussetzungen untersucht wurden. Beispielsweise sind Jugendliche mit geringer Schulbildung und niederer Schichtzugehörigkeit deutlich weniger zuversichtlich, dass ihre beruflichen Ziele in Erfüllung gehen (vgl. DEUTSCHE SHELL 2006, 73ff.). Eine ähnliche Segmentierung kann hinsichtlich der politischen Orientierungen getroffen werden. Insbesondere wenn männliche Jugendliche mit schlechten Bildungsvoraussetzungen von Arbeitslosigkeit betroffen sind, zeigen sie geringes politisches Interesse (vgl. DEUTSCHE SHELL 2010, 130f.) und neigen mehr zu rechtsextremen Einstellungen (vgl. ROTH 1989, 99f.).
Schließlich wird die Rolle der Beruflichen Schulzeit insbesondere im Kontext der Zielvariablen „Berufliche Perspektiven“ aufgegriffen: Wird sie von den Schülern als hilfreich wahrgenommen, etwa bei der Klärung der beruflichen Zukunft oder entspricht die Schulzeit eher einer „Warteschleife“, deren Abschluss für die weitere berufliche Entwicklung ohne Bedeutung ist?
Abb. 1: Rahmenmodell der Untersuchung
Vor diesem Hintergrund lassen sich in vergleichender Perspektive zu Schülern der dualen Berufsschule bzw. der beruflichen Oberstufe für die empirische Untersuchung der Konstrukte (Kap. 3.3 und Kap. 3.4) die nachfolgenden Arbeitshypothesen formulieren. Die kontrastierende Darstellung soll dazu dienen, Besonderheiten und Differenzierungen innerhalb des schulischen Übergangssystems sichtbar zu machen:
(1) Berufliche Perspektiven: Schüler des Übergangssystems …
H1 … formulieren häufiger unklare und weniger leistungsorientierte Ziele
H2 … sind weniger zuversichtlich, gesetzte Berufsziele zu erreichen
(2) Politische Orientierungen: Schüler des Übergangssystems …
H3: … sind prinzipiell an Politik weniger interessiert
H4: … neigen eher zu undemokratischen Vorstellungen
H5: … bringen gegenüber Randgruppen weniger Toleranz auf
(3) Unterstützung durch die Schule: Schüler des Übergangssystems …
H6: … empfinden die Schulzeit eher als demotivierende Warteschleife
Die Untersuchung wurde im Januar-Februar 2011 an 8 beruflichen Schulzentren der Region Stuttgart durchgeführt. Insgesamt waren 40 Klassen beteiligt, was zu einer Stichprobengröße von 654 Schülern führte. Die nachfolgende Tabelle 1 dokumentiert einige Merkmale der Stichprobe. Die mittlerweile gut fundierten Selektionsmechanismen am Übergang der 1. Schwelle (vgl. z. B. GRANATO u.a. 2006) lassen sich auch in dieser Stichprobe wiederfinden. Die Schüler der Schularten mit dem niedrigsten Leistungsanspruch (BVJ, BEJ) sind schulisch am geringsten ausgebildet (41% ohne Abschluss), stammen am häufigsten aus niederen sozialen Schichten (32%) und bringen nahezu ausschließlich (98%) einen Migrationshintergrund mit. Aus ähnlichen sozial-strukturellen Milieus entstammen die Schüler der 2BFS, jedoch wird hier zumindest ein HS-Abschluss für den Besuch vorausgesetzt. Wenn vergleichend dazu die ebenfalls zum Übergangssystem dazugehörigen Schüler der 1BFS betrachtet werden, sind merkliche Unterschiede erkennbar: Der Realschulanteil (23%) ist deutlich höher, nur wenige Schüler entstammen der Unterschicht (6%) und nur die Hälfte der Schüler verfügt über Migrationserfahrungen (49%). Die in der 1BFS curricular abgesicherte Nähe zur dualen Berufsausbildung, die häufig zu einem Vorvertrag für eine anschließende Ausbildung führt, scheint sich hier bemerkbar zu machen.
Tabelle 1: Stichprobenmerkmale der Untersuchung
|
|
|
| Geschlecht | Schulabschl. | Schicht |
|
Berufliche Oberstufe | BK/BG | 97 | 17,7 (±1,6) | 17,5 | 0/1/91 | 12/75/13 | 52 |
Duales System | BS | 351 | 19,4 (±3,4) | 19,4 | 3/23/65 | 6/80/14 | 33 |
|
|
|
|
|
|
|
|
| 2BFS | 87 | 17,2 (±1,2) | 0 | 0/91/9 | 21/72/7 | 80 |
1BFS | 67 | 17,3 (±1,8) | 1,5 | 0/75/23 | 6/83/11 | 49 | |
BVJ/BEJ | 52 | 16,8 (±1,2) | 3,9 | 41/59/0 | 32/66/2 | 98 | |
GES | 654 | 18,4 (±2,8) | 13,5 |
|
|
|
Die durch Befunde belegbare Selektion durch betriebliche Auswahlmechanismen an der 1. Schwelle (vgl. GRANATO u.a. 2006) lassen sich durch die Stichprobe insofern stützen, als dass sich die Unterschiede der eben genannten Merkmale fortsetzen, wenn die Schüler der Berufsschule (Duales System) betrachtet werden. Der Realschulanteil wird noch größer (65%) und der Migrationshintergrund geht auf ein Drittel zurück. Demgegenüber führt die berufliche Oberstufe (BG, BK) eher zum Ausgleich von sozial-kultureller Selektion, was bereits in der TOSCA-Studie (vgl. KÖLLER u. a. 2004) eindrücklich aufgezeigt wurde.
H1: Schüler des Übergangssystems formulieren häufiger unklare und weniger leistungsorientierte Ziele
In der Abbildung 2 ist erkennbar, dass die Hypothese nicht prinzipiell aufrechterhalten werden kann. Zwar ist bei knapp einem Drittel der Schüler des BVJ/BEJ und der 2BFS eine fehlende Zielorientierung auszumachen, allerdings gilt dies in ähnlicher Weise für die berufliche Oberstufe. Zu einer differenzierten Betrachtung innerhalb des Übergangssystems fordert das Ergebnis der 1BFS auf, denn nur bei einem kleinen Anteil der Schüler bleiben die nächsten beruflichen Schritte unklar. Ursache dafür dürfte die bereits getroffene berufliche Vorentscheidung dieser Schüler sein, die sich auch im Vorvertrag mit einem Ausbildungsbetrieb ausdrückt.
Abb. 2: Schulische und berufliche Ziele
Was die Leistungsorientierung der Schüler des Übergangssystems betrifft, muss die Hypothese ebenfalls relativiert werden. In der dominierenden Zielsetzung „Ausbildung“ drückt sich nicht nur die Bereitschaft zur Weiterentwicklung aus, sondern es zeigt sich darin außerdem eine gewisse realistische Einschätzung der verbleibenden Möglichkeiten. Das Studium spielt in diesem Kreis eine marginale Rolle, ganz im Gegensatz zu den Schülern der beruflichen Oberstufe.
H2: Schüler des Übergangssystems sind weniger zuversichtlich, gesetzte Berufsziele zu erreichen.
Die berufliche Zuversicht wurde mit dem ersten Item direkt erfragt (siehe Abb. 3).
Die Ausprägungen fallen in allen Schularten positiv aus und unterscheiden sich nicht signifikant voneinander. Offensichtlich wird der Zukunftsoptimismus nicht von wenig erfolgreichen Schulbiographien und von unerwünschten Zuweisungen in unattraktive Schularten des Übergangssystems eingeschränkt. Die Unterstellung einer gewissen Robustheit der Schüler des Übergangssystems gegenüber Negativerlebnissen lässt sich zudem mit gleichfalls untersuchten Aspekten des Selbstkonzepts (3 Items, α =0,68, in Abb. 3 nicht dargestellt) stützen. Es ist ebenfalls schulartübergreifend positiv ausgeprägt und korreliert als Gesamtskalenwert positiv mit der beruflichen Zuversicht (r=0,21, p<0,05%).
Abb. 3: Zuversicht/Angst hinsichtlich der beruflichen Zukunft (Mittelwerte)
Betrachtet man weiter die in Abb. 3 aufgeführten Items, die die Zuversicht einschränken könnten, zeigen sich jedoch in erwarteter Weise signifikante Unterschiede. So scheint die Angst keinen Ausbildungsplatz zu finden bei Schülern des BVJ/BEJ und der 2BFS deutlich größer zu sein, was sich angesichts der Erfahrungen dieser Schüler gut begründen lässt. Das Beispiel der 1BFS zeigt hier, welche Sicherheit bereits ein Vorvertrag mit einem Betrieb zu vermitteln vermag. In ähnlicher Weise sind auch die Einschätzungen der im letzten Item erfragten makroökonomischen Lage einzuordnen. Diese wird derzeit von Experten als sehr günstig aufgefasst und es zeigt sich, dass am ehesten die Schüler der beruflichen Oberstufe die Einschätzung teilen. Demgegenüber wird der Aufschwung nach der Krise von den Schülern des Übergangssystems nicht in gleicher Weise wahrgenommen.
H3: Schüler des Übergangssystems sind prinzipiell an Politik weniger interessiert.
Das Interesse an Politik wurde in der Untersuchung mit dem ersten Item direkt erfragt (siehe Abb. 4). Mit Ausnahme der 2BFS bestätigt sich die angenommene Hypothese, denn die Schüler der beiden verbleibenden Schularten des Übergangssystems artikulieren ein signifikant geringeres Interesse. Ähnliche Verteilungen mit ebenfalls erwartungskonformen Unterschieden ergeben sich auch bei den anderen drei Items, die Hinweise auf die freiwillige Auseinandersetzung mit Politik geben. So zeigt sich, dass die Schüler des BVJ/BEJ und der 1BFS in ihrem Umfeld signifikant weniger über Politik sprechen, Wahlen eine geringere Bedeutung beimessen und auch weniger darüber Bescheid wissen, welche Politiker derzeit mit welchen Aufgaben betraut sind (Grundwissen).
Abb. 4: Interesse an Politik (Mittelwerte)
H4: Schüler des Übergangssystems neigen eher zu undemokratischen Vorstellungen.
Hinweise zur grundsätzlichen Haltung gegenüber der Demokratie liefert die Abb. 5. Partiell lässt sich auch hier die angenommene Hypothese bestätigen, denn die Zustimmung für eine starke Persönlichkeit ist im BVJ/BEJ und in der 1BFS am größten. Für die beiden mittleren Items muss die Hypothese relativiert werden. Hinsichtlich dem Volksentscheid und dem aus demokratischer Sicht wünschenswerten Aspekt, Entscheidungen möglichst auf eine Breite gemeinsame Basis zu stellen, lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Schularten nachweisen.
Ergänzend dazu wurde die Zufriedenheit mit der bestehenden Demokratie erfragt. Die Ausprägungen zeigen, dass Schüler der beruflichen Oberstufe und der 2BFS die größte Zufriedenheit äußern. Bei der Suche nach Erklärungen wurde im Rahmen einer Regressionsanalyse untersucht, inwiefern die zuvor in Abb. 5 aufgeführten Items/Vorschläge zur strukturellen Verbesserung der derzeitigen politischen Ordung Einfluss auf die Zufriedenheit haben, bzw. inwiefern sie Unzufriedenheit begünstigen. Vorstellbar ist beispielsweise, dass derzeit Defizite hinsichtlich der direkten Bürgerbeteiligung gesehen werden.
Abb. 5: Einstellungen zur Demokratie (Mittelwerte)
Hier zeigte sich jedoch, dass die aufgeführten Items nicht zur Varianzaufklärung beitragen, auch nicht der Ruf nach einer starken Persönlichkeit. Allein die Einschätzung über die Arbeit der Politiker (Item: „Politiker leisten viel..“) gewinnt bei der Erklärung an Bedeutung (r = 0,28; p<0,01; in Abb. 5 nicht dargestellt).
H5: Schüler des Übergangssystems bringen gegenüber Randgruppen weniger Toleranz auf
Abschließend werden vergleichend Einstellungen gegenüber spezifischen Gruppen betrachtet, denen wenig Sozialprestige zugeschrieben wird und deren Mitglieder häufig ohne persönliche Schuld am Rand der Gesellschaft stehen. In der 16. SHELL-STUDIE wird der Umgang mit Randgruppen als ein Maß für die gesellschaftliche Integration einer Person gedeutet (vgl. DEUTSCHE SHELL 2010, 157). Positive Einstellungen gegenüber diesen Gruppen können dabei als Hinweise für Solidarität und Toleranz gewertet werden, im umgekehrten Fall stehen sie für Abwertung und Diskriminierung. Aus der Vorurteilsforschung ist bekannt, dass abwertende Einstellungen der Kompensation eigener Schwächen dienen können, etwa mangelndes Selbstwertgefühl oder Unsicherheit hinsichtlich der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung (vgl. SIX 1997, 366ff.).
Die in Abb. 6 dargestellten Items sind in die Frage eingebettet, wie man es fände („gut“ oder „schlecht“), wenn die genannten Personen in die Nachbarwohnung einziehen würden (vgl. auch. DEUTSCHE SHELL 2010, 158). Die Ergebnisse zeigen bei allen 4 Items signifikante Unterschiede, die jedoch nur partiell hypothesenkonform ausfallen. So werden von Schülern des Übergangssystems zwar homosexuelle Paare als potentielle Nachbarn am deutlichsten abgelehnt, gegenüber Sozialhilfeempfängern oder Familien mit dunkler Hautfarbe ist dies jedoch nicht der Fall.
Abb. 6: Einstellung zu potentiellen Nachbarn (Mittelwerte)
Hier wird vor allem von Schülern des BVJ/BEJ und der 2BFS eine deutlich größere Toleranz und Solidarität gezeigt, möglicherweise auch deshalb, weil sie in ihrem Alltag häufiger Personen aus diesen Gruppen antreffen, oder vielleicht selbst dazu gehören. Eine nachfolgend durchgeführte Regressionsanalyse erbrachte den Befund, dass die in der Grafik sichtbaren schulartspezifischen Einflüsse maßgeblich durch den Migrationshintergrund bestimmt werden, während die Schichtzugehörigkeit wenig Einfluss darauf hat.
H6: Schüler des Übergangssystems empfinden die Schulzeit eher als demotivierende Warteschleife
Zum Schluss soll auf die eingangs aufgeworfene Frage eingegangen werden, wie die Schüler die Zeit an der beruflichen Schule vor allem im Kontext ihrer eigenen beruflichen Entwicklung wahrnehmen. Den vorberuflichen Schularten des Übergangssystems eilt dazu der Ruf voraus, nichts anderes als eine Warteschleife zu sein, die Unzufriedenheit auslöst. Die Einschätzungen der Schüler fallen jedoch nicht durchgängig in diesem Sinne aus (siehe Abb. 7). Aus den Ergebnissen wird zunächst deutlich, dass insbesondere Schüler der vorberuflichen Schulen (BVJ/BEJ) die Förderung des fachlichen Interesses und die Bedeutung dieses Abschlusses im Kontext der eigenen beruflichen Entwicklung sehr hoch einschätzen. Hypothesenkonform dagegen zeigt sich deren Gesamtzufriedenheit, die von diesen Schülern am schlechtesten eingeschätzt wird. Eine ergänzend mit den BVJ/BEJ-Klassen durchgeführte Regressionsanalyse erbrachte den Befund, dass die Items „Stimmung in der Klasse“ und „Vorbereitung auf das Berufsleben durch die Lehrenden“ maßgeblich die Zufriedenheit dieser Schüler bestimmen (korr. R2 = 0,58). Der Einfluss der beiden Items auf die Zufriedenheit ist auch über alle Schularten hinweg sichtbar, allerdings nicht in gleicher Stärke (korr. R2 = 0,38) wie im BVJ/BEJ.
Abb. 7: Wahrnehmung der Schulzeit(Mittelwerte)
Zunächst sollen die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammengefasst werden:
Die zu Beginn formulierte Annahme, die Zeit im schulischen Übergangssystem eher als nutzlose „Warteschleife“ und „Aufbewahrung“ aufzufassen, wird von den Schülern also nicht geteilt. Die Hinweise der Schüler liefern dagegen eher Anzeichen von Ernsthaftigkeit, diese Zeit sinnvoll für die berufliche Zukunft zu nutzen. Haltungen dieser Art sollten Lehrende nicht kalt lassen, sondern zur Relativierung bisher weit verbreiteter Einstellungen führen, die dem Unterrichten in diesen Klassen wenig Bedeutsamkeit und Prestige zuschreiben und die eher als „Strafversetzung“ aufgefasst werden.
Zum Abschluss dieser ersten, ausschließlich deskriptiv angelegten Analyse der Daten kann festgehalten werden, dass das schulische Übergangssystem nicht als ein homogenes Gebilde, sondern schulartbezogen differenziert betrachtet werden muss. Weitere Aufschlüsse über die Wahrnehmung der Schüler, aber auch über die sie beeinflussenden Faktoren sind durch detaillierte statistischen Analysen (Faktorenanalysen, Strukturmodelle) zu erwarten, die dem beschreibenden Überblick nun folgen.
ALMOND, G./ VERBA, S. (1963): The Civic Culture. Political Attidudes and Democracy in five Nations. Princeton.
BEICHT, U./ FRIEDRICH, M./ ULRICH, J. G. (Hrsg.) (2008): Ausbildungschancen und Verbleib von Schulabsolventen. Bielefeld.
FILIPP, S.-H. (1993): Selbstkonzeptforschung. Probleme. Befunde. 3. Auflage, Stuttgart.
GRANATO, M./ ULRICH, J. G./ EBERHARD, V. (2006): Mangelware Lehrstelle - Zur aktuellen Lage der Ausbildungsplatzbewerber in Deutschland. In: Berichte zur beruflichen Bildung 279. Bielefeld, 197-212.
DEUTSCHE SHELL (2006): Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck. 15. Shell Jugendstudie. Frankfurt/Main.
DEUTSCHE SHELL (2010): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. 16. Shell Jugendstudie. Frankfurt/Main.
GOTTFREDSON, L. (1981):>Circumsrciption and compromise: A developmental theory of occupational aspirations. Journal of Counseling Psychology, 28 (6), 545-579.
HEITMEYER, W. (1992): Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen: München.
HOLLAND, J. L. (1997):>Making Vocational Choices: A Theory of Vocational Personalities and Work Environments. Psychological Assessment Resources.
KÖLLER, O./ WATERMANN, R./ TRAUTWEIN, U./ LÜDTKE, O. (Hrsg.) (2006): Wege zur Hochschulreife in Baden-Württemberg. TOSCA-Eine Untersuchung an allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien. Opladen.
LEMPERT, W. (2006): Berufliche Sozialisation. Persönlichkeitsentwicklung in der betrieblichen Ausbildung und Arbeit. Baltmannsweiler.
LEMPERT, W. (2007): Theorien der beruflichen Sozialisation. In: ZBW.
MKJS (2009): Der besondere Erziehungs- und Bildungsauftrag im Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf. Entwurf zum Schulversuch Berufsschule/VAB. Stuttgart.
MKJS (2011): Informationen des Ministeriums Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg zu beruflichen Schularen. Online: http://www.kultusportal-bw.de/servlet/PB/-s/1y4pfw81iqt2g118b1jozyh8q1marmlbh/menu/1208995/index.html (05-05-2011).
OSER, F./ ALTHOF, W. (1992): Moralische Selbstbestimmung: Modelle der Entwicklung und Erziehung im Wertebereich. Ein Lehrbuch. Stuttgart.
OSER, F./ DÜGGELI, A. (2008): Zeitbombe „dummer“ Schüler. Resilienzentwicklung bei minderqualifizierten Jugendlichen, die keine Lehrstelle finden. Weinheim.
RATSCHNINSKI, G. (2008): Das spontane Berufswahlverhalten schulschwacher Jugendlicher und mögliche Konsequenzen für Berufsorientierung und Berufsberatung. In: MÜNK, D./ GONON, P./ BREUER, K./ DEISSINGER, T. (Hrsg.): Modernisierung der Berufsbildung. Neue Forschungserträge und Perspektiven der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Opladen, 217-227.
REISSIG, B./ GAUPP, N./ LEX, T. (2009): Hauptschüler auf dem Weg von der Schule in die Arbeitswelt. Das DJI Übergangspanel.
ROTH, R. A. (1989): Jugendarbeitslosigkeit und politische Kultur. Passau.
SchroeDer, J./ THIELEN, M. (2009): Das Berufsvorbereitungsjahr. Eine Einführung. Stuttgart.
SCHULZE, G.(1977): Politisches Lernen in der Alltagserfahrung. Eine empirische Analyse. München.
SIX, U. (1997): Vorurteile. In: FREY, D./ GREIF, S. (Hrsg.): Sozialpsychologie. Ein Handbuch mit Schlüsselbegriffen. Weinheim, 365-371.
WEINER, B. (1984): Motivationspsychologie. Weinheim.
WEISSENO, G./ DETJEN, J./ JUCHLER, I./ MASSING, P./ RICHTER, D. (2010): Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell. Bonn.
KENNER, M. (2011): Berufliche Perspektiven und politische Orientierungen von Schülern im Übergangssystem. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 15, hrsg. v. JUNG, E./ KENNER, M./ LAMBERTZ, H.-G., 1-16. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft15/kenner_ft15-ht2011.pdf (26-09-2011).