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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS01 - Die erste Schwelle
Herausgeber: Tobias Brändle

Titel:
Übergänge im Bildungssytem - Brüche oder Brücken? Die Rolle der Berufsschule im Prozess des Lebenslangen Lernens


Die biographische Relevanz (schul-)pädagogischer Fördermaßnahmen am Übergang Schule-Beruf

Beitrag von Jutta ECARIUS, Alena BERG & Stefan E. HößL (Universität zu Köln)

Abstract

Im Beitrag werden erste Ergebnisse des DFG-Forschungsprojekts „Sozial benachteiligte Jugendliche in pädagogischen Fördermaßnahmen am Übergang Schule-Beruf“ (Kurztitel) präsentiert. Das Projekt hat zum Ziel, auf der Grundlage qualitativer Verfahren, zu untersuchen, warum Jugendliche an diesem Übergang erfolgreich sind oder aus welchen Gründen sie scheitern. Es wird eine subjektorientierte Perspektive verfolgt, welche die Biographien von Jugendlichen in den Mittelpunkt rückt, die an den inner- bzw. nachschulischen Fördermaßnahmen SchuB und FAuB teilgenommen haben. Dementsprechend werden im Beitrag Ergebnisse präsentiert, die auf der Auswertung narrativ-biographischer (Leitfaden-)Interviews mit ehemaligen MaßnahmenteilnehmerInnen beruhen. Zunächst wird auf einer stark subjektorientierten und anschließend auf einer abstrakteren Ebene der Frage nach der biographischen Relevanz der Maßnahmen nachgegangen. Dafür werden zwei kontrastierende Jugendbiographien herangezogen, die stellvertretend für zwei Typen der im Forschungsprojekt erarbeiteten Typologie stehen. Aus der Forschungsperspektive der (SchülerInnen-)Biographieforschung lässt sich festhalten: Die konkretisierten Typen verweisen darauf, dass die biographische Relevanz solcher Maßnahmen auf sehr heterogene Weise und in einem dialektischen Verhältnis mit der individuellen Lebensgeschichte steht und auch als solche in den Fokus der Forschung gerückt werden muss.

1 Einleitung

Der Beitrag beruht auf ersten Ergebnissen des von der DFG geförderten Forschungsprojekts „Sozial benachteiligte Jugendliche in pädagogischen Maßnahmen am Übergang Schule-Beruf“, welche auf den HTBB 2011 referiert wurden.

Es werden zunächst zentrale Forschungsfragen und Ziele des Projekts (2.1), dessen subjektorientiertes qualitatives Vorgehen (2.2) und die beiden Maßnahmen (2.3), mit denen sich das Forschungsprojekt befasst, dargestellt, um im Anschluss auf einige exemplarische Forschungsergebnisse einzugehen. Anhand zweier biographischer Fallportraits (3.) werden zwei Typen aus der erarbeiteten Typologie präsentiert und dahingehend beleuchtet, inwiefern die Fördermaßnahmen biographische Relevanz erlangen konnten (4.). Am Ende erfolgt ein Ausblick (5.).

Die Frage nach der biographischen Relevanz – der Bedeutung der untersuchten Fördermaßnahmen – umfasst zwei Aspekte, welche im Rahmen der Biographie miteinander verbundenen sind. Es geht einerseits darum, welche Bedeutung der Biographie beim Besuch der Fördermaßnahme zukommt und andererseits um den Einfluss der Maßnahme auf die (weitere) Biographie der TeilnehmerInnen und inwiefern diese nachhaltig wirken kann. Damit liegt der Fokus des Beitrages nicht auf dem Übergang Schule-Beruf, sondern explizit auf den Biographien von Jugendlichen, welche in dieser Phase an Fördermaßnahmen teilgenommen haben.

2 Das Forschungsprojekt

2.1 Forschungsfragen und Ziele

Das Forschungsprojekt hat zum Ziel, auf der Basis qualitativer Verfahren, zu untersuchen, warum Jugendliche am Übergang Schule-Beruf erfolgreich sind oder aus welchen Gründen sie scheitern. Fokussiert werden dabei Jugendliche mit geringen Chancen auf einen Schulabschluss und/oder Ausbildungsplatz, welche an unterschiedlichen (schul-)pädagogischen Fördermaßnahmen teilgenommen haben. Als solche wurden die hessischen Maßnahmen SchuB (Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb) und FAuB (Fit für Ausbildung und Beruf) ausgewählt. Diese verfolgen – wie andere berufsvorbereitende Maßnahmen auch – das Konzept, Kompetenzen von Jugendlichen (z.B. durch individuelle Förderung, sozialpädagogische Unterstützung, (Lernort-)Kooperationen, Praxisbezüge) zu stärken, um diese am Übergang Schule-Beruf zu unterstützen und somit etwaigen (sozialen) Benachteiligungen entgegen wirken zu können.

Mit Blick auf die Bedeutung von FAuB und SchuB für das biographische Werden von Jugendlichen stehen im Forschungsprojekt entsprechend Fragen im Mittelpunkt, die sich darauf beziehen, welche biographisch erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen in der Alltags- und Lebensbewältigung sowie im Umgang mit Leistungsanforderungen bei den Jugendlichen bereits vor der Teilnahme an der jeweiligen Maßnahme vorhanden waren. Darüber hinaus ist von Interesse, welche Möglichkeiten des Erwerbs biographischer Kompetenzen im Kontext des Maßnahmenbesuchs von den Jugendlichen erschlossen werden konnten. Damit ist auch die sich in zwei Aspekte aufschlüsselnde Frage nach der biographischen Relevanz angesprochen. Es wird u.a. den Fragen nachgegangen, welche Fähigkeiten und Kompetenzen die Jugendlichen in ihrem Leben schon erworben haben und ob sie nun ihr Leben, welchen Anschluss an die Maßnahme sie auch immer „gewählt“ haben, eigentätig gestalten können (oder nicht), wie sie nachhaltig von den Lernprozessen in der Maßnahme durch „neue“ Handlungskompetenzen[1] profitieren (oder nicht).

2.2 Forschungsperspektive der (SchülerInnen-) Biographieforschung

Um die subjektorientierte und die (SchülerInnen-) Biographien von Jugendlichen in den Mittelpunkt rückende Perspektive zu verfolgen, wurde ein qualitativer Forschungszugang gewählt. Erst eine solche Forschungshaltung ermöglicht es zu untersuchen, wie die Dimensionen sozialer Erfahrungen und Beeinflussungen sich in den unterschiedlichen Lebenssphären der einzelnen Jugendlichen miteinander verschränken. Als derartige Felder lassen sich die sozialisatorisch bedeutsamen Instanzen – schulische Kontexte, freundschaftliche Arrangements sowie das familiale Umfeld – benennen. Die Jugendlichen gestalten ihre Biographie in der individuellen Auseinandersetzung sowie auf der Basis ihrer subjektiven Erfahrungen mit diesen Sphären und den jeweils bedeutsamen AkteurInnen. Ihre biographischen Hintergründe geben zentrale Hinweise darauf, mit welchen Voraussetzungen und biographischen Vorerfahrungen die Jugendlichen in die Maßnahme hineinkommen und wie diese dann wiederum daran anknüpfen kann.

Die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung (KRÜGER/ MAROTZKI 2006) sowie deren Subdisziplin, die SchülerInnenbiographieforschung (HELSPER 2008), bieten als Forschungszugänge „besondere Möglichkeiten, den Lebenswelten und den spezifischen Problemkonstellationen von Jugendlichen gerecht zu werden“ (BERG/ HÖßL 2011, 117). Das Erkenntnisinteresse der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung an Lern- und Bildungsprozessen lenkt den Blick auf die Frage nach dem Lernen der Menschen und wie dadurch ihre gesellschaftliche Teilhabe gesichert werden kann (vgl. ECARIUS/ FRIEBERTSHÄUSER 2005, 8). Insofern ist zu untersuchen, was die Jugendlichen vor dem Hintergrund ihrer biographischen Vorerfahrungen in den besuchten Maßnahmen lernen und zur Bewältigung des Übergangs Schule-Beruf anwenden konnten.

Um den Prämissen des gewählten Forschungszugangs zu entsprechen, wurden mit den jugendlichen MaßnahmenteilnehmerInnen circa zwei bis drei Jahre nach Beendigung der Maßnahme insg. 40 narrativ-biographische Interviews (SCHÜTZE 1983) geführt, die mit Leitfadenfragen ergänzt wurden. Weiterhin wurden Elterninterviews geführt, um einen tieferen Einblick in die Lebenswelten und -geschichten der Jugendlichen und darüber hinaus eine zusätzliche Perspektive in Bezug auf die Maßnahmen zu erhalten. Zur Auswertung der Interviews mit den Jugendlichen wurde einerseits das narrationsstrukturelle Verfahren nach SCHÜTZE (1981, 1983, 1984) und andererseits die Dokumentarische Methode nach BOHNSACK (BOHNSACK 2003, NOHL 2007) herangezogen, sodass im Zuge der komparativen Analyse der einzelnen Fälle – in Ergänzung der Interpretationsergebnisse aus den Elterninterviews – eine Typologie entwickelt werden konnte.

2.3 SchuB und FAuB

Anhand der Interviews wurden die Biographie von Jugendlichen analysiert, die an den – auf den Schulabschluss und den Beruf vorbereitenden – Maßnahmen SchuB und FAuB teilgenommen haben. Zur Darstellung der beiden Maßnahmen werden deren Charakteristika in Tabelle 1 aufgeschlüsselt und gegenübergestellt.

 

Tabelle 1:   Gegenüberstellung von SchuB und FAuB (vgl. HKM 2005, HSM 2008)

SchuB

Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb

FAuB

Fit für Ausbildung und Beruf

§  Innerschulisch:

Angebot der Regelschule

(hauptsächlich an Hauptschulen)

§  zweijährig (8./9. Klasse)

§  Curriculum: allgemein- und berufs-bildender Unterricht (in Fächerverbünden)

§  Langzeitpraktika (i.d.R. vier)

§  Lernortkooperation:

3 Tage Schule – 2 Tage Betrieb

§  Sozialpädagogische Unterstützung durch eine halbe Fachkraft pro Klasse

§ Nachschulisch:

Angebot vor allem von freien Bildungsträgern und Berufsschulen

§ einjährig (10. Pflichtschuljahr)

§ Curriculum: allgemein- und berufsbildende Unterrichtsanteile

§ Langzeitpraktika (eins und mehr)

§ Lernortkooperation:

2 Tage Schule – 3 Tage Betrieb

§ Sozialpädagogische Unterstützung durch

ProjektkoordinatorIn

 

3 Biographische Fallportraits

Im Folgenden werden die Biographien der 19jährigen Kira (FAuB) stellvertretend für den Typus elementarer biographischer Brüche und des 17jährigen Davide (SchuB) stellvertretend für den Typus phasenweiser biographischer Gefährdungen dargestellt.

3.1 Kira: „am liebsten Loch auf (.) Kira weg (.) Deckel zu“ (1543f.)[2]

Kira wächst mit zwei jüngeren Schwestern in einem Dorf auf und erlebt dort zunächst eine ‚heile Welt der Kindheit‘. In ihrer Grundschulzeit ist für sie alles „noch relativ leicht“ (401f.). Der Schulbesuch macht ihr Freude. Obwohl die Eltern in den ersten Lebensjahren Kiras wegen ihrer beruflichen Einbindung wenig präsent sind, erfährt sie Kohärenz und (emotionalen) Rückhalt. Es ist insbesondere der Großvater, dem in dieser Hinsicht in ihren ersten neun Lebensjahren eine sehr große Bedeutung zukommt. Kira lebt in dieser Zeit viel bei ihren Großeltern. Vor allem für den Großvater ist sie „sein ein und alles“ (1689). Bei ihm genießt Kira viele Freiheiten und findet Anerkennung.

3.1.1 Die ‚heile Welt‘ zerbricht mehr und mehr

Als dramatischen Einschnitt empfindet sie es, als der Großvater stirbt. Sie ist zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Weil Kira sehr stark unter seinem Tod leidet, bekommt sie einen Hund als „Trostpflaster“ (1733) – dieser hilft ihr über den Verlust der zentralen Bezugsperson des Großvaters hinweg.

Im Alter von etwa zehn Jahren findet sich Kira in Lebenssituationen wieder, die sie und ihr Werden nachhaltig beeinflussen. Anfang und mitunter Ursache ihres als „chaotisch“ (16) empfundenen Lebens ist die Trennung der Eltern. Diese stellt eine Zäsur in Kiras bis dahin relativ kohärenten und harmonischen Leben dar – auch hinsichtlich der Schule. Kira erledigt keine Hausaufgaben mehr und ist in der Schule mit den „Gedanken woanders“ (405). Sie erlebt die Scheidung der Eltern als traumatisierend. In einer relativ schnellen Abfolge kommt zu diesem Trauma hinzu, dass die Mutter – für Kira sehr überraschend – eine homosexuelle Beziehung eingeht und zusammen mit ihr aus den gewohnten Umfeldern wegzieht. Kira kann die Ereignisse und die damit einhergehenden Dynamiken dieser Zeit kaum (er)fassen.

Als ‚Wessi’ und Tochter einer lesbischen Frau stigmatisiert, wird sie von ihren neuen MitschülerInnen gemobbt. Ihre Mutter ist in dieser Zeit kein Rückhalt – sie „wollte davon auch gar nix hören“ (27f.), „hat das halt überhaupt net so realisiert wie ich gelitten hab“ (434f.). Kira fühlt sich allein gelassen. Gefühle der „Angst“ (408) (vor allem vor Mobbingsituationen) bestimmen ihren Alltag und sie entwickelt diverse Strategien zur Vermeidung von Schule. Diese ist für sie nicht durch Aspekte des Lernens o.ä. gekennzeichnet, sondern vielmehr ein Ort sozialer Interaktionen – Interaktionen, die für Kira in großem Maße belastend sind. Die Dramatik ihrer subjektiv empfundenen Hilflosigkeit schildert sie mit den Worten: „ich hab des auch immer wieder gesacht dass ich in der Schule leide“ (430f.). Kira reagiert mit Aggressionen und Gewalt, sie fängt „an auszurasten“ (150ff.). Wie auch dem vermeidenden Verhalten liegt dem aggressiven kausal Hilflosigkeit zugrunde: „ich kam mir halt so was von (.) unverstanden vor“ (153).

3.1.2 Rückkehr und enttäuschte Hoffnungen führen zu biographischer Abwärtsspirale

Nach einem halben Jahr in den neuen Bundesländern trennt sich Kiras Mutter von ihrer Partnerin. Mutter und Tochter ziehen wieder zurück. Hier bildet die Beziehungsdynamik der Eltern einen noch intensiveren biographischen Einschnitt. Mit dem Wissen darum, dass die Eltern wieder zusammenziehen wollen und voller Freude darüber, kehrt Kira zurück. Die Versöhnung der Eltern findet jedoch nicht statt. Noch am Tag der Ankunft schickt der Vater Mutter und Kira fort. Letztere „leidet ja dann unendlich“ (449f.). Der erste, überwunden geglaubte „Schock“ (451) entwickelt sich zu einer noch tiefer gehenden Traumatisierung mit umfangreichen Folgeerscheinungen:

In der fünften Klasse brechen Kiras schulische Leistungen ein. Ihr schulisches Verhalten ist nun primär durch Resignation und Apathie geprägt. Kira verliert mehr und mehr den Anschluss an die Lehrinhalte und darüber hinaus jeglichen Antrieb: „für mich war ja da schon die Zukunft sowieso beendet weil die Familie war kaputt“ (464f.).

Mit zwölf Jahren wird Kira für fünf Wochen in eine Psychiatrie eingewiesen – in der Folge ihrer biographischen Erfahrungen entwickelte sie neben den aggressiven Verhaltensweisen auch Depressionen. In der Psychiatrie plagen starke Gefühle des „Heimweh“ (243) die zwölfjährige Kira. Sie versteht nicht, wieso sie dort ist und sträubt sich gegen die Behandlung – entsprechend kann dieser Aufenthalt kaum wirken. Kurz danach beginnt sie damit sich „zu ritzen“ (236). Sie verletzt sich selbst, indem sie sich Schnitte zufügt. Streitigkeiten in der Familie führen letztlich dazu, dass Kira in dieser Zeit gar Suizidgedanken äußert: „ich bring mich um“ (267f.).

Trotz allem Erlebten ist es Kira noch möglich, eine relative – wenngleich prekäre – Stabilität wiederzuerlangen. Der transitive Charakter von Schule spielt in dieser Zeit keine Rolle mehr: Kira definiert diese Zeit vor allem als Moratorium, in dem sozialen Beziehungen der Vorrang vor anderem gegeben wird. Die Eltern zeigen zwar gegen Anfang der Schullaufbahn noch ein gewisses Interesse an Kiras Leistungen und honorieren positive mit Geld. Nach und nach nimmt dieses jedoch ab. Wirkmächtig ist hier vor allem ein Moment der Gewöhnung bei den Eltern: bei Kira ist es nach der fünften Klasse „eigentlich Gang und Gebe“ (1049), dass sie „schlechte Noten nach Hause“ (1049f.) bringt. Die Eltern resignieren. Es scheint so, als würde ihr Interesse mangels Motivation oder adäquater Möglichkeiten der Intervention schwinden. Schlechte Schulleistungen der Tochter werden als Normalität akzeptiert.

Mit etwa zwölf Jahren beginnt Kira mit dem Konsum psychotroper Substanzen (Alkohol und Zigaretten, später Haschisch), der sich über die folgenden Jahre (bis zur neunten Klasse) in einem Maße steigert, dass Kira dazu erzählt: „entweder war ich voll oder ich war bekifft“ (1025f.). U.a. dadurch stürzt sie in schulischen Kontexten „immer weiter ab[…]“ (1024f.).

Mit dreizehn Jahren erfährt sich Kira wieder in einer Situation der Ohnmacht, als sie von der Mutter in ein Heim gegeben wird. Mit ihrem Umzug in die Wohngruppe wechselt sie auch ihre Schule. Diese besitzt für sie eine markante biographische Bedeutung: Mobbing durch Heim-BewohnerInnen und problematische Konstellationen im schulischen Kontext – Kira ist hier „dauerbreit“ (498) – verstärken einander dermaßen, dass Kira gar von einem „Genickbruch“ (477) spricht. Die Dreizehnjährige hält sich „an gar nix mehr“ (305f.) und setzt damit eine Strategie um, die zum Ziel hat, von der Schule verwiesen zu werden, um zur „Ruhe“ (308) zu kommen – vor allem bezüglich der extremen Gewalt-/Mobbingerfahrungen. Obwohl eine immense Distanz der Mutter zu Kira festgestellt werden kann, so ist sie es doch, die letztlich in dieser Situation „die Notbremse“ (304) zieht und Kira wieder zu sich holt – in einem Moment, in dem Kira „sowieso geflogen“ (305) wäre.

Nach der Intervention der Mutter bzw. nach dem Schulverweis kommt Kira wieder nach Hause. Mitunter in dieser Zeit spitzt sich ihre Resignation in einem Maße zu, dass sie sich selbst aufgibt: „es war wirklich so ne Zeit wo ich da wenn de jetz überfahren wirst dann wirste überfahren es is mir scheiß egal wenn ich mich jetz ins Bett lege und morgen net mehr aufwach dann is es so mir is des wurscht“ (1030ff.). Von den folgenden Lebensjahren erfahren wir wenig. Kira beschreibt jedoch, dass sie diese Zeit vor allem im Sinne eines Freizeitmoratoriums nutzt. Sie geht nicht mehr in die Schule und schreibt ihren Abschluss ab. Der Konsum von Drogen und das Zusammensein mit FreundInnen scheinen in dieser Zeit zentral zu sein.

3.1.3 FAuB: „des war dann halt son Lichtblick“ (531f.)

Kiras Situation scheint mit sechzehn Jahren ausweglos – da meldet sie die Mutter in FAuB an. Zu Beginn der Maßnahme hat Kira viel Freude damit: FAuB macht ihr „Spaß“ (554) und sie empfindet den Lernstoff als leicht und die LehrerInnen als „cool“ (559). Kira erfährt hier Zufriedenheit mit ihren schulischen Leistungen und erlebt entsprechend subjektive Erfolg(smoment)e. Dass der Unterricht und die Beziehungen zu den FAuB-PädagogInnen „lockerer wie auf normalen Schulen“ (608) sind und dass sie das Klima „eher familiär als schulisch“ (610f.) wahrnimmt, trägt dazu bei, dass sich Kira wohl fühlt. Dennoch gibt es auch in dieser Zeit Probleme: wegen des langjährigen Konsums psychotroper Substanzen leidet Kira während FAuB unter Schlafstörungen. Sie nimmt zwar noch am Unterricht teil, aber nur noch unregelmäßig. Die Praktika begrenzen sich auf insgesamt ein zweiwöchiges in einer Gärtnerei. In dieser problematischen Situation erfährt sie Hilfe und Unterstützung von ihrer Projektkoordinatorin. Diese meldet Kira nicht ab, sondern besucht sie vielmehr zwei Mal wöchentlich Zuhause und unterrichtet sie dort. Durch die individuelle Förderung und Unterstützung der Pädagogin motiviert, beginnt Kira kurz vor den Prüfungen zu lernen und erwirbt auf diese Weise letztlich den Hauptschulabschluss (HSA). Durch FAuB und vor allem auch durch das Bestehen des HSA erfährt Kira (anscheinend) erstmalig, dass sie etwas schaffen kann: „des war des erste Mal dass irgendwas (.) funktioniert hat“ (1660), „das hast du jetz mal gepackt“ (1669). Diese Erfahrung eröffnet Kira motivationalen Antrieb auch in anderen Bereichen ihres weiteren Lebens – bspw. in Bezug auf ihre Zukunftsplanung (Realschulabschluss).

3.1.4 … „viele Bahnen durchlaufen“ (17) nach FAuB

Nach FAuB entstehen Zuhause Konflikte, welche Kira, die am Wunsch nach einer Normalität im Familienleben festhält, dazu veranlassen, eigeninitiativ das Jugendamt aufzusuchen, um eine „Familienhilfe“ (322) einzufordern. Beim Amt erlebt Kira jedoch wieder eine einschneidende Situation. Ihre Mutter sagt dort für Kira völlig überraschend: „ich nehm meine Tochter net mehr mit heim“ (326). Grund ist mitunter, dass die zu dieser Zeit fünfzehnjährige Schwester Kiras ein Kind erwartet. Kira muss u.a. gehen, damit in der Wohnung Platz für den erwarteten Nachwuchs gemacht werden kann.

Über das Jugendamt kommt Kira in eine Einrichtung des betreuten Wohnens. Diese erfährt sie anfänglich als relativ positiv – weil sie dort ihre lange ersehnte „Ruhe“ (342) hat. Aber auch die Zeit im betreuten Wohnen ist wieder nur von kurzer Dauer. Nach „Stress mit m Mädchen“ (352), während dessen Verlauf Kira dieses ohrfeigt, muss sie die Einrichtung verlassen.

Sie ist etwa achtzehn Jahre, als sich ihr Leben stark verändert. Zu diesem Zeitpunkt zieht sie vom betreuten Wohnen direkt zu einem Bekannten, mit dem sie später eine Beziehung eingeht, die auch zum Zeitpunkt des Interviews von Bestand ist (1161: „ham sich halt zwo gesucht und […] gefunden“). Die anfänglichen Beziehungen zu den ‚Schwiegereltern’ verlaufen sehr harmonisch. Kira wird dort „mit offenen Armen“ (365) empfangen und fängt im Familien-Betrieb zunächst eine Aushilfstätigkeit und später eine Ausbildung zur Metzgereifachverkäuferin an. Ihr berufliches Engagement erstreckt sich über etwa ein Jahr. Was zunächst überaus positiv wirkt (Ankommen in der neuen Familie, Ausbildung) endet wiederum jäh durch die Trennung der ‚Schwiegereltern‘, den anschließenden Verkauf des Geschäfts und den damit verbundenen Abbruch der Ausbildung.

3.1.5 Aktuell: „es wird immer besser (.) langsam“ (1679f.)

Im Moment ist die finanzielle Situation Kiras äußerst angespannt und belastend. Eine relative Armut und diesbezügliche Ängste sind im Alltag stets präsent. Kiras derzeitige Lebensphase ist durch eine relative Ziellosigkeit bestimmt. Sie lebt ohne Regelmäßigkeiten. Trotzdem blickt sie – zwar auch kritisch und ängstlich – aber doch optimistisch in die Zukunft: sie hat die Aufnahmeprüfungen einer Abendschule bestanden und möchte diese besuchen, um ihren Realschulabschluss anzugehen. Für die eigene Zukunft wünscht sie sich: „Abschluss machen und dann möcht ich gern mal den Beruf erlern“ (2047f.). Der Beruf ist ihr Traumberuf, den sie darin sieht, mit Tieren zu arbeiten. Für diesen benötigt sie den Realschulabschlusses.

Kira ist sich ihres relativ labilen Zustandes bewusst und hat diesbezüglich auch Zukunftsängste. Sie stellt selbst fest: „das Eis is sehr dünn auf dem ich mich bewege“ (852). In ihrer aktuellen Lebensphase bzw. -situation ist dennoch Hoffnung vorhanden – so bspw. Kiras sehnlichster Wunsch, nach einem ‚normalen’ Leben (877: „endlich in ein normales Leben herein rutsche[n]“) und nach einem „normalen Tagesablauf“ (878).

3.2 Davide „möcht was Höheres erreichen“ (1046)

Seine lebensgeschichtliche Erzählung beginnt Davide mit den Worten „an meine Kindheit kann ich mich ähm zum Teil nich so gut erinnern (.) aber so ab der Grundschule da äh hab ich dann schon mehr Erinnerung“ (13ff.) und leitet damit gleichsam in die von ihm gewählte Erzählstruktur – das institutionelle Ablaufmuster – ein. Damit blendet er seine Kindheitserfahrungen außerhalb von Bildungsinstitutionen aus. Etwas später verweist er darauf, dass zu Hause „immer alles ganz gut“ (210f.) oder aber „alles glatt“ (1300) lief. Nur auf Nachfrage berichtet Davide von Aktivitäten im familiären Kontext, in welchem er sich wesentlich wohler fühlt als im Kindergarten: „ich hatte dann auch vielmals keine Lust auf den Kindergarten“ (214f.).

3.2.1 ‚Sündenbock-Phänomen‘ prägt Davides Kindergarten- und Grundschulerfahrungen

Davides Unlust bezüglich des Besuchs des Kindergartens resultiert aus dem Verhalten der Kindergärtnerinnen ihm gegenüber. Er beklagt sich, dass diese „nich so […] ansprechbar und [.] nich so freundlich“ (18f.) sind. Von ihnen scheint Davide sich mehr Nähe, Anerkennung und Gehör zu wünschen. Diese subjektiv wahrgenommene Distanz wächst aufgrund eines nachhaltig wirkenden Spielerlebnisses, bei dem sich ein Junge verletzt und ein anderer Junge Davide beschuldigt. Dieser ihn anschuldigende Junge, so sagt Davide, „war son Liebling von der Kindergärtnerin“ (168f.). Er fühlt sich von der Kindergärtnerin nur nachrangig beachtet, zurückgewiesen und, da sie ihm seine Unschuld nicht glaubt, unverstanden sowie ungerecht behandelt. Er muss sich den Schuldzuweisungen beugen und fortan mit der ihm zugewiesenen Rolle des ‚Sündenbocks‘ leben: „und ab dem wars Zeitpunkt wars dann eigentlich fast immer so dass ähm wenn was passiert is oder so und ich in der Nähe war (atmet ein) wär ichs halt gewesen“ (176ff.).

„und in der Grundschule hat sich des dann son bisschen fortgesetzt […] gabs auch mal viele Situation wo ich dann ähm auch mal böse geworden bin und dann aus der Klasse äh (atmet ein) also rausgesetzt wurde“ (22ff.)

Aufgrund der gemeinsamen Einschulungen mit dem Jungen, der ihn im Kindergarten schon „nich so leiden konnte“ (173), trägt Davide die Problemkonstellation aus dem Kindergarten mit in die Grundschule hinein. „Streitsituationen“ (229) mit diesem Jungen und „Konfliktsituationen“ (184) mit Lehrerinnen gibt es in dieser Zeit viele. Nach wie vor fühlt sich Davide ungerecht behandelt. In ihm stauen sich Wut und Ohnmacht, bis er sich schließlich nicht anders zu helfen weiß, als seinen angestauten Aggressionen freien Lauf zu lassen: „dann wars halt irgendwann so dass ich ausgerastet bin“ (193f.).

3.2.2 Manifestation von Verhaltens- und Lernauffälligkeiten in der Schule

Davide erzählt kaum von schulfachlichen Leistungen oder Problemen. In seiner Erzählung legt er stattdessen den Schwerpunkt auf soziale und emotionale Erfahrungen, die seine institutionelle Laufbahn und ihn selbst prägten. Es sind die Interkationen mit sowie Beziehungen zu Gleichaltrigen und Lehrkräften, welche Davide als problembelastet schildert.

So ist es auch in der Förderstufe, welche er im Anschluss an die Grundschulzeit absolviert. Der Zwölfjährige kann es sich selbst nicht richtig erklären, warum es „wieder nich so gut“ (30) läuft und sucht die Schuld bei anderen: „ich weiß nich jetz obs auch an der Lehrerin hing oder nich (atmet ein) auf jeden Fall die Mitschüler waren auch dran beteilicht“ (31f.).

Erst mit dem Übergang von der Förder- in die Sekundarstufe erzählt Davide nicht mehr nur von sozialen Problemen. Seine eigene ‚Faulheit‘ hat ihn – er selbst sagt „etwas freiwillig“ (278) – in die Hauptschule geführt: „ich hatte ja immer da meine Probleme so weil ich ein sehr faules Kind [lachend] war+ hab ich äh nich viel gelernt“ (279f.). [3] Aber auch in dieser siebten Klasse kommt Davide weder mit seinen MitschülerInnen (39: „auch so Problemfälle“) noch mit seiner neuen Lehrerin (36f.: „die ich äh überhaupt nich leiden konnte“) aus, sodass es wiederum „viele Stresssituation“ (40) gibt. Er betrachtet seine schulische Situation in der siebten Klasse als nahezu unlösbares Problem und fragt sich: „wie soll ich n das hinkriegen die Schule zu schaffen […] da war ich echt am Verzweifeln“ (2463ff.).

3.2.3 SchuB hat sich Davide „nich entgehen lassen“ (46f.)

Die Lösung des Problems ergibt sich durch den Wechsel in die SchuB-Klasse, die der nun Vierzehnjährige als „was vom Besten was ich je gemacht hab“ (2470) benennt. Seine Erzählung bringt deutlich zum Ausdruck, dass seine Erfahrungen in und mit SchuB im völligen Kontrast zu seinen bisherigen schulischen Erfahrungen stehen. Wie das nachfolgende Zitat verdeutlicht, fühlt sich Davide nun auf allen Ebenen verstanden, aufgehoben und anerkannt.

„ich weiß nich das hing wahrscheinlich am Herr Grimmel aber ich hab mich äh innerhalb diesen zwei äh SchuB-Jahren (atmet ein) ähm so was von verändert und ähm auch so in im Unterricht und so ich war nich mehr so so ganz so faul und (atmet ein) die Mitschüler waren nach der Zeit auch ziemlich freundlich und es es lief irgendwie besser […] auch das zum Beispiel mit dem Praktikum hab ich wirklich viel gelernt“ (51ff.).

Herr Grimmel – sein Klassenlehrer – trägt durch seine Empathie maßgeblich dazu bei, dass Davide es schafft, sozusagen zu sich selbst zu finden, sich persönlich in der sozialen Interaktion zu spüren und sozial adäquate Verhaltensweisen zu entwickeln: „Herr Grimmel [.] mit seiner Redensart und mit seim mit dem Verhalten von mir (atmet ein) so umzugehen dass äh (.) ich mich von selber auch äh irgendwann äh dass ich auch merke […] dass ich lieber ruhig bleibe“ (1370ff.). Herrn Grimmel beschreibt Davide als weisen, alten ‚Märchenonkel‘, der sich den SchülerInnen gegenüber öffnet und viele Geschichten aus dem eigenen Leben erzählt, aus denen sie etwas lernen sollen. Mit seiner großväterlichen Art zieht er Davide förmlich in seinen Bann und hinterlässt bleibende Wirkung, da sich Davide nun verstanden, wichtig und anerkannt fühlt.

Während seiner Praktika finden weitreichende Veränderungen hinsichtlich Davides Verhalten und dessen Reflexion statt: „durch das Praktikum dann merkt man da schon da wird man da auch äh erwachsener und (atmet ein) is auch nich mehr so am Quatsch machen […] merkt halt in der Si= in den Situationen wenn was äh (atmet ein) überflüssich is halt wenn man mal die Klappe halten sollte“ (1375ff.).

Aber nicht nur von Herrn Grimmel, sondern vom gesamten Pädagogen-Team – hierzu zählt noch der Sozialpädagoge Herr Kreuz – scheint Davide sehr angetan. Er schätzt die Konflikt-/Problemlösungsansätze des „echt top“ (798) Pädagogen-Duos, das immer sofort und situationsangemessen reagiert. In diesem Kontext bewertet er die zusätzliche Anwesenheit von Herrn Kreuz als sehr positiv bzw. „ziemlich praktisch […] ziemlich gut und hilfreich“ (498ff.). Dieser ist ebenso nahbar wir Herr Grimmel, da er für „Späßchen“ (683) zu haben ist und geduzt werden darf: „er war immer sehr sympathisch und man konnt immer mit ihm reden“ (439f.). Und auch er hilft Davide sich in seinem Verhalten zu verändern.

Nach einer Eingewöhnungsphase beginnt Davide, sich auch unter seinen MitschülerInnen wohl zu fühlen, da diese ihm „ziemlich freundlich“ (55) entgegentreten. Dann ist es „wirklich so so toll“ (428f.) und es entwickelt sich eine solidarische Klassengemeinschaft, die bei Problemen zusammenhält und sich gegenseitig „beruhigt“ (435).

Die kleinere (solidarische) Klasse hilft Davide auch dabei, eine neue Einstellung zum Lernen zu entwickeln: „es war äh nich so [..] dass da jetz jeder (.) Müll gemacht hat oder miteinander geredet hat also (atmet ein) man konnte miteinander diskutieren es war eigentlich sehr sehr leichte Atmosphäre (atmet ein) und das hat mir schon ziemlich gefallen“ (461ff.). Davide ist „dann nich mehr so faul“ (82) und lernt „auch mal zu Hause“ (82f.). So ist es möglich, dass er sich aufgrund seiner gesteigerten Lernmotivation zum „Klassenbesten“ (1688) entwickelt und SchuB mit dem Qualifizierenden Hauptschulabschluss beendet.

Auch hinsichtlich seiner beruflichen Vorstellung bzw. Zukunft ist SchuB wegweisend für Davide. Von Beginn an hat er den Sinn und Zweck der verschiedenen Praktika erkannt: „also das mit dem Praktikum war auf jeden Fall hilfreich dass man sehen kann äh dass man sich mehr berufsorientiert bewegt“ (964f.). Auch bezüglich der Berufsorientierung ist Herr Grimmel für Davide ein Ansprechpartner. Es werden Gespräche geführt, Ratschläge erteilt und berufliche Möglichkeiten diskutiert. Aufgrund dessen und seiner Praktikumserfahrungen entwickelt Davide schließlich den Berufswunsch Koch.

3.2.4 Davide beginnt umzudenken: „ich riskier es“ (1112)

Seine Entwicklungen in der SchuB-Zeit führen Davide schließlich nicht etwa in eine duale Berufsausbildung zum Koch, sondern lassen ihn nach ‚Höherem‘ streben. Der Sechzehnjährige nimmt sich vor, den Realschulabschluss auf der zweijährigen Berufsfachschule (Bereich Koch) zu erwerben. Aber nach drei Monaten wechselt er zurück zur Gesamtschule, um seinen Realschulabschluss in der 10. Hauptschulklasse zu erlangen. Davide begründet den Wechsel einerseits auf der sozialen Ebene (106f.: „ich weiß net ich hab hab meine alte Schule glaub ich so vermisst“) und andererseits auf einer relativ objektiven Ebene. Hinter dieser verbergen sich persönliche Kosten-Nutzen-Überlegungen, die auf zunehmende Bildungs-/Aufstiegsorientierung hinweisen, denn in der 10. Hauptschulklasse kann man den Realschulabschluss schneller – in einem Jahr anstelle von zwei Jahren – erhalten: „das eine Jahr das wär so Verschwendung“ (1112). In diesem Jahr beginnt Davide damit umzudenken und sich vom Berufswunsch Koch abzuwenden.

3.2.5 Nachdem Davide seinen „Realschulabschluss erfolgreich abgeschlossen“ (127) hat…

Aufgrund des Realschulabschlusses und vor dem Hintergrund seiner in SchuB erworbenen (Lern-)Kompetenzen erschließen sich Davide schließlich völlig neue Wege: „ich hab jetz n besseren Abschluss gemacht und möcht was Höheres erreichen“ (1045f.). Gedanken über die (berufliche) Zukunft treten deutlicher zu Tage und Davide entwickelt eine langfristige Perspektive, die Einfluss auf seine Entscheidungen hat. Höhere Bildung eröffnet ihm noch mehr Möglichkeiten. Sie ist sein Ziel, für das es sich anzustrengen lohnt. Stolz und motiviert (2371ff.: „und auch so bei de Schule schon äh bin ich auch stolz uff mich dass ich schulisch so was erreicht hab dann (atmet ein) und wenn ich das geschafft hab bin ich uff jeden Fall super stolz“) beschließt er, weiter zur Schule zu gehen und seine Fachhochschulreife auf der Fachoberschule (FOS) im Bereich Informationstechnik zu erwerben:

„dachte oah das lief ziemlich gut und (.) wenn du jetz äh dich noch mal aufn Hosenboden setzt und (atmet ein) ähm machst noch mal weiter Schule dann kannste auch noch mal was Besseres werden oder du hast dann für immer äh halt n besseren Abschluss mal und wenn du danach ne Lehre machst (.) und danach kann mer immer noch mal studieren oder so was (atmet ein) [mhm] und da dacht ich mir des is uff jeden Fall äh ne gute Idee“ (1053ff.).

3.2.6 Aktuell: „is einfach toll irgendwie so (.) so man fühlt sich halt gut dass man was er= auch was erreicht hat“ (2369f.)

Davide ist sichtlich zufrieden mit sich und dem bisher schulisch Erreichten. So schließt er seine erste Stegreiferzählung mit den Worten: „jetz hab ich dann nach diesem Jahr jetz noch n Jahr […] und ich hoffe ja dass das genauso gut läuft“ (154f.).

Davide weiß um seine Fähigkeiten und Begabungen sowie Möglichkeiten aufgrund seines Abschlusses. So zieht er nach dem Abschluss der FOS eine Laufbahn als Polizist (aufgrund seiner Sportlichkeit), den Beruf des technischen Zeichners und Berufe im kaufmännischen Bereich in Betracht, über die er gut informiert zu sein scheint. Eine Berufsausbildung zieht er derzeit (aus finanziellen Gründen) dem Studium vor, welches er sich jedoch später noch vorstellen kann. Grundsätzlich blickt er optimistisch in seine berufliche Zukunft, die er frühzeitig plant: „ich fang ja auch jetz schon bald an mich zu bewerben schon mal für nächstes Jahr […] ich wird bestimmt was bekommen also (atmet ein) da mach ich mir keine so großen Gedanken“ (1523ff.).

4 Typenbezogene Schlussfolgerungen

Die Biographien von Kira und Davide lassen sich nun heranziehen, um die Frage nach der biographischen Relevanz der beiden Fördermaßnahmen SchuB und FAuB zu beantworten. Dabei hat, wie einleitend dargestellt, eine Antwort auf zwei Dimensionen bezogen zu erfolgen: zum einen ist die individuelle (SchülerInnen-)Biographie zu berücksichtigen – mit anderen Worten: es geht um die Bedeutung der Biographie im Kontext des Maßnahmenbesuchs (A). Zum anderen geht es um Anknüpfungs- und Einflussmöglichkeiten der Maßnahmen und darum, inwiefern diese nachhaltig wirken konnten (B). Dies soll im Folgenden – bezogen auf die Typen, welchen sich die dargestellten Jugendbiographien zuordnen lassen – verdeutlicht werden.

4.1 Typus elementarer biographischer Brüche

(A) Die Biographien der Jugendlichen dieses Typus weisen gravierende Brüche mit schwerwiegenden biographischen Folgen auf, wie exemplarisch an Kiras Biographie deutlich wird. Die Jugendlichen erleben bspw. den Tod zentraler Bezugspersonen oder eine elterliche Scheidung als über sie hereinbrechende Situationen, die sie nachhaltig belasten. Durch traumatisch wirkende Lebensereignisse verlieren die Jugendlichen (oftmals bereits in der Kindheit) jegliche Sicherheit in ihrem Leben. Emotionaler Rückhalt und die Strukturierung ihres Alltags bleiben ihnen nahezu verwehrt.

Bei den Jugendlichen dieses Typus steht in der Zeit des Maßnahmenbesuchs und auch darüber hinaus vor allem die Alltags- und Lebensbewältigung sehr deutlich im Vordergrund. Sie sehnen sich nach einem geregelten Leben, mit dem sie einen strukturierten Tagesablauf verbinden – einen Tagesablauf, in dem das Arbeiten selbstverständlich integriert ist.

(B) Die Maßnahmen können den jeweiligen TeilnehmerInnen dieses Typus im besten Fall kurzfristig Halt geben. Aufgrund der Intensität der biographischen Erfahrungen sind die pädagogischen Maßnahmen nur eingeschränkt imstande, Veränderungen herbeizuführen. Vor allem die sozialpädagogische Begleitung und eine individuelle Förderung wirken als maßgebliche Faktoren, die motivationalen Antrieb ermöglichen können. Dies geht oft mit einer Stärkung des (meist geringen) Selbstbewusstseins und -wertgefühls der Jugendlichen einher. In der Maßnahme entfalten sie erste Handlungskompetenzen. Den Jugendlichen dieses Typus war es in ihrem bisherigen Leben – aufgrund ihrer spezifischen Traumatisierungen – kaum möglich, in biographischen Lernprozessen (ECARIUS 2006, 2008) derartige Kompetenzen zu entwickeln. In der Maßnahme können sie nun bestenfalls grundlegende Handlungskompetenzen (bspw. zur Alltagsorganisation) entwickeln. Darüber hinaus kann ihnen durch die Maßnahme ein Bildungszertifikat ermöglicht werden, welches den Grundstein für eine schulisch-berufliche Weiterentwicklung legen kann. Insgesamt ist es aber eher eingeschränkt möglich, bei diesen Jugendlichen umfassende und nachhaltig wirkende Veränderungen herbeizuführen.

Stark kontrastierend zum dargestellten Typus elementarer biographischer Brüche ist der Typus phasenweiser biographischer Gefährdungen zu fassen, für welchen Davide als idealtypisch betrachtet werden kann.

4.2 Typus phasenweiser biographischer Gefährdungen

(A) Die Biographien der Jugendlichen dieses Typus weisen Dynamiken auf, die im Unterschied zu denen im oben skizzierten Typus zeit- bzw. phasenweise zum Tragen kommen und zu prekären (vor allem schulischen) (Lebens-)Situationen führen. Etikettierungsprozesse sind meist Ursache für Verhaltens- und Lernauffälligkeiten in der Schule, aufgrund derer die Jugendlichen Gefahr laufen, schulisch zu scheitern. Zudem gefährden sie die Jugendlichen gravierend bezüglich ihres Selbstwertgefühls und -bewusstseins. Schulisches Lernen wird für sie mehr und mehr zur Nebensache; ihr Schulabschluss ist zunehmend gefährdet.

(B) Die Maßnahmen besitzen für die Jugendlichen des Typus phasenweiser biographischer Gefährdungen dahingehend Einflussmöglichkeiten, dass es ihnen durch den Maßnahmenbesuch gelingt, an sich und für ihre berufliche Zukunft zu arbeiten – indem sie sich weiterentwickeln bzw. ändern. Die Maßnahmen können bei diesem Typus also sehr positiv wirken, wobei insbesondere die personellen Spezifika biographische Lernprozesse ermöglichen. Während des Maßnahmenbesuchs kann ein (nachhaltiger) Wandel herbeigeführt werden, welcher sich bestenfalls darin zeigen kann, dass Jugendliche eine Zukunftsperspektive und -orientierung entwickeln und dadurch Zugänge zu bspw. höherer Bildung finden. Verhaltens- und Einstellungsänderungen, beeinflusst durch die Maßnahme, führen zu einer positiveren Sicht auf sich selbst, die Welt und andere Dinge. Die Jugendlichen sind überzeugt davon, ihre erarbeiteten neuen Ziele (vor allem beruflicher Art) realisieren zu können und wissen, was sie dafür tun müssen. Sie entwickeln Durchhaltevermögen, Lernstrategien und andere Handlungskompetenzen, die ihnen ermöglichen, ihre Zukunft eigeninitiativ und selbstverantwortlich in Angriff zu nehmen.

5 Ausblick

Auf der Basis der beiden dargestellten Einzelfälle bzw. deren Einordnung in Typen wird ersichtlich, dass in den Fördermaßnahmen Jugendliche mit sehr unterschiedlichen biographischen Erfahrungen zusammentreffen. Die individuellen Biographien bieten sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die Maßnahmen.

Die Frage nach der biographischen Relevanz schulpädagogischer Maßnahmen am Übergang Schule-Beruf betrachtend, kann auf der Basis der bisherigen Darstellungen festgehalten werden, dass (1) die biographischen Erfahrungen von Jugendlichen auf das Engste mit dem (nachhaltigen) Erfolg oder Misserfolg in einer Maßnahme verbunden sind. Die beiden dargestellten, kontrastreichen Fallportraits verdeutlichen: Ob und inwiefern die Möglichkeiten in der Maßnahmen-Zeit genutzt werden können, ist durch die Biographie jeder einzelnen Teilnehmerin bzw. jedes einzelnen Teilnehmers sowie die jeweiligen Handlungskompetenzen beeinflusst. (2) Eine adäquate Einschätzung des (Miss-)Erfolgs von Jugendlichen am Übergang Schule-Beruf ist nicht ohne den Einbezug der Subjekte mit ihren individuellen Biographien möglich. Der Blick auf das Erreichen eines Abschlusses genügt nicht hinreichend, um Aussagen darüber zu treffen, inwiefern die besuchten Fördermaßnahmen erfolgreich und auch nachhaltig wirken konnten bzw. wieso nicht. Um Fragen nach dem (Miss-)Erfolg – den Subjekten angemessen – zu beantworten, sind Herangehensweisen erforderlich, die den Blick auf die Biographien von Jugendlichen, ihre Werdensprozesse und die hierin (in biographischen Lernprozessen) erworbenen Handlungskompetenzen richten. Die Rekonstruktion der Jugendbiographien – enthaltene Brüche, phasenweise Dynamiken, Gefährdungen und auch (biographische) Potentiale – liefert besondere Möglichkeiten zur Beantwortung von Fragen nach der biographischen Bedeutung pädagogischer Fördermaßnahmen und deren Nachhaltigkeit. Die method(olog)ischen Herangehensweisen der Biographieforschung liefern in diesem Zusammenhang sehr fruchtbare Zugangsmöglichkeiten zu den einzelnen Jugendlichen in ihrem biographischen Werden. Über den Fokus auf individuelle Lebensgeschichten eröffnet diese Forschungsperspektive „einen Zugang zu pädagogisch relevanten Sachverhalten“ (SCHULZE 2006, 51), der als Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn in unterschiedlicher Hinsicht für verschiedene (berufs-)pädagogische Disziplinen nutzbar gemacht werden kann.

 

Literatur

BERG, A./ HÖßL, S. E. (2011): Biografieforschung. In: THIELEN, M. (Hrsg.): Pädagogik am Übergang. Arbeitsweltvorbereitung in der allgemeinbildenden Schule. Bad Heilbrunn, 115-123.

BOHNSACK, R. (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Opladen.

ECARIUS, J./ FRIEBERTSHÄUSER, B. (2005): Einleitung: Literalität, Bildung und Biographie – eine empirische und theoretische Herausforderung. In: ECARIUS, J./ FRIEBERTSHÄUSER, B. (Hrsg.): Literalität, Bildung und Biographie: Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung. Opladen, Farmington Hills, 7-16.

ECARIUS, J. (2006): Biographieforschung und Lernen. In: KRÜGER, H.-H./ MAROTZKI W. (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden, 92-108.

ECARIUS, J. (2008): Elementares Lernen und Erfahrungslernen. Handlungsproblematiken und Lernprozesse in biographischen Erzählungen. In: MITGUTSCH, K./ SATTLER, E./ WESTPHAL, K./ BREINBAUER, I. M. (Hrsg.): Dem Lernen auf der Spur. Die pädagogische Perspektive. Stuttgart, 97-110.

ECARIUS, J. (2009): Sozial benachteiligte Jugendliche in pädagogischen Maßnahmen am Übergang Schule-Beruf. Antrag auf Förderung eines Forschungsprojekts, eingereicht bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

HELSPER, W. (2008): Schülerbiographie und Schulkarriere. In: HELSPER, W./ BÖHME, J. (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden, 927-944.

HKM – HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM (Hrsg.) (2005): Neue SchuBkraft für abschlussgefährdete Schülerinnen und Schüler. Die Fördermaßnahme SchuB („Lernen und Arbeiten in Schule und Betrieb“). Wiesbaden.

HSM – HESSISCHES SOZIALMINISTERIUM (2008): Staatsanzeiger für das Land Hessen – 7. April 2008, Nr. 15. Online: http://www.esf-hessen.de/upload/FG_FAuB_2008_Staatsanzeiger_07.04.2008_1622.pdf  (12-05-2011).

KRÜGER, H.-H./ MAROTZKI, W. (Hrsg.) (2006): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden.

NOHL, A.-M. (2007): Interview und dokumentarische Methode. Anleitung für die Forschungspraxis. Wiesbaden.

SCHULZE, T. (2006): Biographieforschung in der Erziehungswissenschaft – Gegenstandsbereich und Bedeutung. In: KRÜGER, H.-H./ MAROTZKI, W. (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden, 35-57.

SCHÜTZE, F. (1981): Prozeßstrukturen des Lebenslaufs. In: MATTHES, J./ PFEIFENBERGER, A./ STOSBERG, M. (Hrsg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg, 67-157.

SCHÜTZE, F. (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, 13, H. 3, 283-293.

SCHÜTZE, F. (1984): Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: KOHLI, M./ ROBERT, G. (Hrsg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart, 78-117.



[1] Als solche verstehen wir Fähigkeiten, die sich auf die Alltags- und Lebensbewältigung sowie den sozialen Umgang mit Anderen, mit Sachen und mit Unbekanntem beziehen. Dazu gehören konkret: die Organisation des Alltags, soziale Umgangsformen, Konfliktbewältigungsstrategien und Muster der Lebensführung (vgl. ECARIUS 2009, 14).

 

[2] Die Ziffern beziehen sich auf die Zeilennummern des vollständig anonymisierten Interviewtranskripts. Aus Gründen der Lesbarkeit werden nur direkte Zitate belegt. Im Transkript wurde auf die Interpunktion verzichtet.

 

[3] Diese Aussage und das enthaltene „immer“ verweisen darauf, dass sich Davide scheinbar während seiner gesamten schulischen Laufbahn nicht besonders lernwillig zeigte. Die anfängliche Nicht-Thematisierung scheint der Überbetonung seiner sozialen Probleme geschuldet, die andere – und eben nicht er selbst – verursachten.

 


Zitieren dieses Beitrages

ECARIUS, J. et al. (2011): Die biographische Relevanz (schul-) pädagogischer Fördermaßnahmen am Übergang Schule-Beruf. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 01, hrsg. v. BRÄNDLE, T., 1-16. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws01/ecarius_etal_ws01-ht2011.pdf (26-09-2011).



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http://www.hochschultage-2011.de/