Partner von bwp@: 
  SAP University Alliances Community (UAC)   giz - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit    Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.    Österr. Konferenz für Berufsbildungsforschung       

bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS23 - ECVET/DECVET
Herausgeber: Dietmar Frommberger, Andreas Diettrich & Holger Reinisch


Titel:
ECVET und DECVET: Zu den Potenzialen von Leistungspunktsystemen zur Förderung von Übergängen in der beruflichen Bildung.


Instrumente zur Erfassung von individuellen Kompetenzen zur Entscheidungsfindung bei Übergängen in der Berufsbildung (Systemspiel)

Beitrag von Thorvald DEGNER, Petra BINZ & Franz J. HEEG (Universität Bremen, Arbeitswissenschaftliches Institut Bremen)

Abstract

Im Rahmen der Pilotinitiative "DECVET – Entwicklung eines Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung", die durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, wurde im Projekt LeisGIM ein Leistungspunktesystem für die Schnittstelle von der dualen Ausbildung zur beruflichen Fortbildung entwickelt. Dieses soll als Rahmenkonstrukt zur Erfassung, Übertragung und Anrechnung von Lernergebnissen bzw. Kompetenzen von einem Teilbereich des beruflichen Bildungssystems in einen anderen dienen. Insbesondere sollen in dem folgenden Beitrag Möglichkeiten und Grenzen von Anrechnung und Anerkennung an genannter Schnittstelle beleuchtet werden. Ausgehend von schnittstellenspezifischen Besonderheiten, wie der nicht-verpflichtenden Teilnahme an Fortbildungsgängen und den entsprechenden Zulassungsvoraussetzungen – die unter anderem durch den Nachweis einer ausreichenden Dauer der Berufspraxis erfüllt werden kann – wird ein Instrument vorgestellt, welches dazu dienen soll, die Entscheidungsfindung an der Schnittstelle zu verbessern und eine Alternative zur Erfassung von beruflicher Handlungsfähigkeit bietet (Systemspiel). Dieses Instrument zur Kompetenzerfassung verfolgt einen systemdynamischen Ansatz und versteht Kompetenz als Disposition zur Performanz, die sich ausschließlich in konkreten Handlungssituationen zeigt.

 1 Stellenwert von Regelungen in der beruflichen Bildung zur Erhöhung von Durchlässigkeit und Sicherstellung der beruflichen Handlungsfähigkeit

In der Empfehlung des Europäischen Parlamentes und des Rates vom Jahre 2009 werden als Gründe zur Einrichtung eines Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET) unter anderem genannt, dass Arbeitnehmern und Lernenden in der beruflichen Bildung lebenslanges Lernen ermöglicht und die Anrechnung, Anerkennung und Akkumulierung von Lernergebnissen gefördert werden soll. Diese können sowohl in formalen als auch in informellen Zusammenhängen erworben werden. Nach ECVET soll dieses dazu beitragen die Beschäftigungsfähigkeit, die Bereitschaft zur Mobilität und die soziale Integration von Arbeitnehmern und Lernenden zu erhöhen. Außerdem soll es den Lernenden ermöglicht werden, flexible und auf die Einzelperson zugeschnittene Bildungswege zu nutzen (vgl. EUROPÄISCHES PARLAMENT, Absatz 1, Absatz 8).

Die Erfassung von Kompetenzen nimmt hierbei einen hohen Stellenwert ein, da diese wiedergeben, was ein Lernender weiß, versteht und in der Lage ist zu tun, nachdem ein Lernprozess abgeschlossen wurde (vgl. KOMMISION DER EUROPÄISCHEN UNION 2008, 21). Es ist somit auch zu beschreiben, welche Kompetenzen zum beruflichen Handeln befähigen sollen, denn diese Handlungsfähigkeit ist es, die im Rahmen der beruflichen Fortbildungen erhalten, angepasst oder auch erweitert werden soll (vgl. BMBF 2005a, BBIG, §1, Absatz 4).

Damit die erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen (Einheiten von Lernergebnissen) bewertet, validiert, akkumuliert und anerkannt werden können, sind Verfahren und Anleitungen erforderlich, die von den jeweils zuständigen Einrichtungen und den am Bildungsprozess beteiligten Partnern gestaltet werden (vgl. EUROPÄISCHES PARLAMENT, Anhang II). Darüber hinaus wird/ist in Regelungen festgelegt, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen eine Weiterqualifizierung und der Nachweis erworbener Kompetenzen möglich ist.

Die Übergangsmöglichkeiten an den Schnittstellen der beruflichen Bildung geben somit einen Hinweis darauf, in welchem Ausmaß die Forderungen nach Anrechnung, Anerkennung und Akkumulierung (somit auch der Durchlässigkeit und Transparenz) erfüllt sind und bringen zum Ausdruck, welche Kompetenzen zur beruflichen Handlungsfähigkeit – über die Lehr-, Lerninhalte und Prüfungsformen – gefordert sind. Gleichzeitig stellen sie einen Ausgangspunkt für Gestaltungen dar, um die Beschäftigungsfähigkeit der Lernenden zu sichern.

2 Rahmenbedingungen und Potenziale bei Übergängen in der beruflichen Fortbildung (Industriemeister Mechatronik)

Um der Frage nachzugehen, welche Möglichkeiten der Anrechnung und Anerkennung die Schnittstelle im Anwendungsfall der Fortbildung „Geprüfter Industriemeister Mechatronik“ bietet und welche möglichen Potenziale zur Erhöhung der Durchlässigkeit vorhanden sind, ist es sinnvoll, sich zunächst die bereits vorhandenen Übergangsmöglichkeiten und die dazugehörigen Regelungen anzusehen.

Die Schnittstelle zum Industriemeister Mechatronik ist dadurch gekennzeichnet, dass

  1. die Teilnahme an dem Lehrgang zum Meister nicht verpflichtend ist.
  2. eine Anrechnung anderer Prüfungsleistungen möglich ist, sofern diese vor einer zuständigen Stelle abgelegt wurden und sie den Anforderungen der Prüfungsinhalte nach Verordnung entsprechen (vgl. BMBF 2005b, § 6).
  3. eine Zulassung zur Prüfung dann möglich ist, wenn Berufspraxis oder berufliche Handlungsfähigkeit nachgewiesen wird (vgl. BMBF 2005b, §3).

Für die Anrechnungsmöglichkeiten an dieser Schnittstelle würde dies bedeuten, dass durch die nicht-verpflichtende Teilnahme an einem Lehrgang eine faktische Anrechnung hinsichtlich der Teilnahme und somit einer Verkürzung der Lehrgangsdauer formal nicht gegeben ist (vgl. Punkt 1). Eine Möglichkeit der informellen Anrechnung könnte in Abstimmung mit den Bildungseinrichtungen erfolgen. So könnten anhand eines Eingangsassessments Stärken und Schwächen von Teilnehmern ermittelt werden (Potenzialanalyse - Kompetenzprofil). Auf Basis einer solchen Bewertung kann eine Empfehlung ausgesprochen werden, welche Lehrgangsteile zu belegen sind. Ein individueller Lernvertrag könnte abgeschlossen werden. In der Umsetzung gilt es zu bedenken, dass  hierzu die Definition abgeschlossener Lerneinheiten erforderlich ist, um Teile des Lehrganges in Form separater Lerneinheiten anbieten zu können.

Für die Anrechnung anderer Prüfungsleistungen muss berücksichtigt werden, dass diese vor einer zuständigen Stelle abgelegt werden müssen (vgl. Punkt 2). Das bedeutet für die Anrechnung, dass es unumgänglich ist, eine Prüfung abzulegen. Der Freiheitsgrad dieses Paragraphen besteht darin, dass es unwesentlich ist, wann die Prüfung abgelegt wurde (Bedingung: innerhalb der letzten 5 Jahre). Die Prüfungsverordnung zum Industriemeister sieht  u. a. das Ablegen schriftliche Situationsaufgaben vor. Die bestehenden Prüfungsformen erfassen hierüber in integrierter Form Kompetenzen, die einer beruflichen Handlungsfähigkeit bereits sehr nahe kommen.

Wenn der beschriebene individuelle Lernvertrag (vgl. Punkt 1) und die  dargelegte gestaffelte Form des Kompetenznachweises realisiert werden soll, wäre eine Aufteilung der Lerninhalte erforderlich (vgl. Punkt 2). Eine derartige Aufteilung würde allerdings der Anforderung an ganzheitliches berufliches Handeln widersprechen. Ein Nachweis tatsächlicher beruflicher  Handlungskompetenz wäre in der bisherigen Güte nicht mehr erbracht.

Demnach ist die bestehende Form der integrierten Kompetenzerfassung im Sinne der ganzheitlichen Beruflichkeit durchaus sinnvoll und eine Aufteilung der Prüfungsteile in kleinere Teileinheiten – zumindest in der Prüfungssituation – weniger erstrebenswert. Eine Erfassung über ein Eingangsassessment zur Orientierung der Teilnehmer und zum Feststellen vorhandener Stärken und Schwächen bietet hingegen eine attraktive Möglichkeit, den Teilnehmern eine Einschätzung vorhandener Kompetenzen zu geben und die Dauer des Lehrganges zu verkürzen. Allerdings muss bei dieser Überlegung das Aufwand-Nutzen-Verhältnis berücksichtigt werden, sowohl für die Teilnehmer als auch für den Bildungsträger. 

Die Zulassung zur Prüfung kann dann erfolgen (vgl. Punkt 3), wenn eine bestimmte Dauer der Berufspraxis nachgewiesen wird (was den Normalfall darstellt) oder über den Nachweis der beruflichen Handlungsfähigkeit. Ein derartiger Nachweis ist bislang nicht etabliert. Um professionell in beruflichen Kontexten zu agieren, ist die Handlungsfähigkeit allerdings von zentraler Bedeutung. Daher ist es das Ziel dieses Beitrages, diese genauer zu beschreiben und eine Möglichkeit der Erfassung vorzustellen.

3 Die Anforderungen an berufliche Handlungsfähigkeit eines Industriemeisters

Zunächst muss geklärt werden, was unter beruflicher Handlungsfähigkeit im Allgemeinen zu verstehen ist und insbesondere, was diese im Rahmen von Industriemeistertätigkeiten bedeutet.

Die KMK definiert Handlungskompetenz als die „(…) Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell sozial verantwortlich zu verhalten“ (SEKRETARIAT DER STÄNDIGEN KONFERENZ DER KULTUSMINISTER DER LÄNDER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND 2000). Die Situationen sollten nach dieser Definition sachgerecht durchdacht bewältigt werden, was im beruflichen Zusammenhang bedeutet, dass berufsspezifische Anforderungen und Ziele zu erfüllen sind. Ziele und Anforderungen manifestieren sich in der Praxis über Aufgaben. Die von der KMK formulierte individuelle und soziale Verantwortlichkeit findet sich, durch Beziehungskonstellationen, in jeglichen beruflichen als auch privaten Situationen wieder. Durch die Situationen wird ein komplex-dynamisches Umfeld erzeugt, in dem die Handlungen vollzogen werden.

Gleichzeitig gilt, dass Kompetenz die Voraussetzung für Performanz als Handeln in Situationen darstellt. Es besteht demnach ein Zusammenhang zwischen Situation und Kompetenz, da anhand der Situation bestimmt wird, welche Kompetenz sichtbar und somit erfassbar wird (vgl. KAUFHOLD 2006). 

Situationen in beruflichen Kontexten lassen sich durch Aufgaben und Beziehungskonstellationen beschreiben und deren Erledigung bzw. Gestaltung bedarf der Disposition von Kompetenzen. Diese zeigen sich wiederum im Handeln der beteiligten Personen, in der Performanz. Die berufliche Handlungsfähigkeit von Industriemeistern bedeutet das konkrete Ausführen und Verhalten unter derartigen Bedingungen, wobei für Industriemeister das berufliche Handeln schwerpunktmäßig in der Bearbeitung von Führungs-, Kommunikations- und Problemlöseaufgaben besteht.

Wenn nun entsprechend die berufliche Handlungsfähigkeit über die Dauer der Berufspraxis von Bewerbern dargelegt werden kann, diese Erfahrungen jedoch nicht in jedem Fall Führungs- bzw. Leitungsaufgaben umfassen müssen, stellt sich die Frage, ob die erworbenen Kompetenzen der Berufspraxis die zum beruflichen Handeln erforderlichen Kompetenzen eines Industriemeisters hinreichend abbilden.

Nachfolgend wird ein Instrument vorgestellt, welches unter Berücksichtigung der beschriebenen Anforderungen und Bedingungen Kompetenzen erfasst und somit eine Alternative zur bestehenden Form des Nachweises beruflicher Handlungsfähigkeit bietet.

4 Das Systemspiel als ein Instrument zur Erfassung von beruflicher Handlungsfähigkeit

SCHIEPEK/ MANTEUFEL (1998) verstehen ein Systemspiel als „ein Instrument, um soziale Realitäten zu simulieren“.  Für die Anwendung eines solchen Instrumentes zur Erfassung von Kompetenzen muss der Kontext an die betriebliche Realität adaptiert werden, da nur in solchen Szenarien auch berufsbezogene Performance gezeigt wird. Weiterhin ist es erforderlich, die Anforderungen und Bedingungen des Handelns der Akteure – zumindest in Teilen – vorzugeben, um hierüber einen abgegrenzten Raum zur Erfassung zu erzeugen. Somit lässt sich in diesem Zusammenhang ein Systemspiel definieren als ein Instrument, um soziale und betriebliche Realitäten zu simulieren, sowie einem Raum, um unter kontrollierten Bedingungen Kompetenzen zu zeigen und so erfassen und bewerten zu können.

In einem Systemspiel kommen die vier Grundmerkmale von Kompetenz, wie von KAUFHOLD (2006) aufgeführt, zum Tragen: Kompetenz äußert sich in der Bewältigung von Handlungssituationen, hat einen Situations- und Kontextbezug, ist an das Subjekt gebunden und ist veränderbar.

4.1 Konstruktion von Systemspielen

Bei der Konstruktion von Systemspielen sind folgende Grundelemente zu berücksichtigen:

  • Es werden Rollen, Beziehungs- und Aufgabenkonstellationen formuliert.
  • Arbeitsaufträge sind im Szenario angelegt.
  • In den Rollenbeschreibungen sind teilweise Diskrepanzen zwischen der Selbstbeschreibung und der Fremdwahrnehmung durch andere Personen angelegt.
  • Das Szenario enthält Elemente, um Dynamiken der Konkurrenz und der Kooperation, sowie Konflikte und Koalitionen anzustoßen. 
  • Im Zuge der Durchführung werden die Handlungen und erzielten Ergebnisse der Teilnehmer anhand definierter Merkmale erfasst und bewertet. Darüber hinaus können die Unterlagen erledigter und unerledigter Arbeitsaufgaben zur Bewertung herangezogen werden.

Wie in Abbildung 1 dargestellt ist, wird unter Einbeziehung dieser Elemente in einem Systemspiel ein betriebliches Szenario erstellt, in dem unterschiedliche Rollen angelegt sind, die zueinander in Beziehung stehen. Die Rollen haben verschiedene Funktionen und Aufgabenbereiche, was sich neben einer hierarchischen Einordnung in Abteilungen auch in den grundlegenden Sachaufgaben zeigt, die den Rollen zugeschrieben sind. Zwischen den Akteuren sind sach- und beziehungsbezogene Probleme und Aufgaben angelegt, die in Kooperation gelöst werden können. Aus dieser Konstruktion erwachsen bei der Durchführung schließlich Handlungen der Akteure, welche die Grundlage zur Erfassung von Kompetenzen sind.

 

Abb. 1:   Elemente zur Konstruktion von Systemspielen

4.2 Durchführung von Systemspielen

Zur Durchführung von Systemspielen werden zum einen Teilnehmer (Prüflinge) benötigt, die eine Rolle aus dem Systemspiel übernehmen und somit aktiv an der Durchführung beteiligt sind. Zum anderen sind Beobachter (Prüfer) erforderlich, die die Handlungen der Teilnehmer beobachten und anhand von Merkmalen die Durchführung und die Ergebnisse bewerten.

Die Teilnehmer erhalten ein Ausgangsszenario, ein Organigramm des fiktiven Unternehmens, ihre Rollenbeschreibung, einen Raumplan, eine Telefon- und Namensliste, einen Terminkalender und Dokumentationsbögen. Die Beobachter erhalten einen Beobachtungskalender, ein Aufgabendiagramm der zu beobachtenden Rolle, Aussagen über wesentliche Schritte zur Bearbeitung der Probleme und Aufgaben und Beobachtungsbögen.

Außerdem wird ein räumlicher und zeitlicher Rahmen für die Simulation gesetzt. Erfahrungsgemäß ist die Dauer zur Durchführung zwischen 1 bis 1,5 Tagen anzusetzen, abhängig von der Komplexität der Aufgaben, dem Vernetzungsgrad der Aufgaben und Beziehungen sowie der Anzahl der Teilnehmer. 

Zur Veranschaulichung der zugrundeliegenden Systematik der Durchführung und der eingesetzten Unterlagen wird im Nachfolgenden das Beispiel des Systemspiels „Maestro GmbH“ vorgestellt.

Ausgangsszenario

Sowohl Teilnehmer als auch Beobachter erhalten Informationen über das Ausgangsszenario, welches Eckdaten des simulierten Unternehmens enthält. Des Weiteren ist die Organisationsstruktur enthalten (Abbildung 3). Diese veranschaulicht, in welchen formalen Beziehungen die Rollen zueinander stehen und welcher Abteilung sie zugehören. Probleme, die einen unternehmensumfassenden Charakter haben, werden in der Ausgangssituation im Groben erläutert.

In der Ausgangsituation der „Maestro GmbH“ sind unter anderem die Informationen und Probleme angelegt, die in Abbildung 2 vorgestellt werden.

 

Ausgangssituation

Die Maestro GmbH wurde 1928 in Münster gegründet und ist ein mittelständisches, inhabergeführtes Unternehmen. Sie beschäftigt 200 Mitarbeiter/innen. Geführt wird das Unternehmen von dem Inhaber,
Dr.-Ing. Ferdinand Reinzle und dem teilhabenden Geschäftsführer, Dipl.-Ing. Bernd Stolte. Die Maestro GmbH ist im Maschinen- und Anlagenbau tätig und fertigt Bearbeitungszentren unterschiedlichster Art für die Industrie.

… Durch die in den letzten Jahren gestiegene Nachfrage der Kunden nach kundenindividuellen Sonderlösungen ist die Variantenvielfalt der Maestro GmbH zuletzt stark gestiegen.  Die bestehenden Strukturen und Abläufe in der Produktion sind diesen neuen Anforderungen nicht zufriedenstellend angepasst worden und so ist die Fehlerhäufigkeit im letzten Jahr um 10 % gestiegen.

… Die Kunden bemängeln vor allem die Nicht-Einhaltung von Terminen, dass Nacharbeiten nach der Inbetriebnahme der Anlagen notwendig seien, dass die Anlagen in Ihrer Funktionsweise, Abmaßen und Leistungsfähigkeit nicht den Vorstellungen der Kunden entsprechen und dass es immer wieder zu Arbeitsunfällen an den Maschinen komme.

Abb. 2:   Ausgangssituation der "Maestro GmbH" (Auszug)

 

 Initiates file download

Abb. 3:   Organigramm der „Maestro GmbH“

 

Rollenbeschreibungen

Die Rollenbeschreibungen enthalten eine allgemeine Beschreibung der Rolle und der sach- und beziehungsbezogenen Aufgaben und Probleme. Es gibt zwei Arten von Aufgaben:

  • Aufgaben, die bis zu einem festgelegten Zeitpunkt zu erledigen sind und als Auftrag von einer Rolle an eine andere delegiert werden (oder noch delegiert werden müssen).
  • Die zweite Aufgaben-Art umfasst Aufgaben, die nicht in Auftrag gegeben wurden. Diese sind als Probleme und Konflikte in den Rollenbeschreibungen angelegt und erfordern die Eigeninitiative der Teilnehmer zur Bearbeitung.

Für den sinnhaften Zusammenhang im Systemspiel müssen die in den Rollenbeschreibungen enthaltenen Informationen bezüglich Aufgaben, Problemen und Terminen unbedingt kongruent und konkret gestaltet sein.

Anhand der Rolle des Abteilungsleiters der Produktion, Herrn Schulze, soll exemplarisch der Aufbau einer Rollenbeschreibung und die darin enthaltenen Aufgaben, Probleme und Verknüpfungen zu anderen Rollen gezeigt werden (siehe hierzu Abbildung 4).

 

Rollenbeschreibung: Herr Halil Schulze, Abteilungsleiter Produktion

Sie sind 53 Jahre alt und haben vor kurzem Ihr 25-Jähriges Dienstjubiläum gefeiert. Seit nahezu 10 Jahren sind Sie Produktionsleiter. Sie sind gelernter Maschinenschlosser, waren danach CNC-Maschinenbediener und haben anschließend eine Meisterausbildung gemacht.

In einer Besprechung mit Herrn Dr. Reinzle und Herrn Prinski wurden Sie beauftragt, sich Gedanken zu machen, wie die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen verbessert und die Kundenbeschwerden reduziert werden können. Bis t39 erwartet Herr Dr. Reinzle ein erstes Konzept mit konkreten Maßnahmen.  Hierzu wollen Sie mit Herrn Prinski für t5 ein Treffen vereinbaren, in dem Sie besprechen wollen, welche Schritte durchzuführen sind, um die Abstimmung und den Informationsfluss zwischen Produktion und Kundenservice zu verbessern. …

Ihrer Meinung nach gibt es unterschiedliche Ursachen für Verzögerungen, Fehlteile und Kundenbeschwerden. Ein großes Problem sehen Sie darin, dass der Maschinenpark veraltet ist. Herr Dertl hat Sie bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass der Schweißroboter defekt sei und dass bei der Schweißverbindung zwischen Führungsschienen und Maschinenverkleidung immer wieder Probleme auftreten. Er berichtete von Aussetzern der Maschine, welche wohl dazu führen, dass sich die angeschweißte Führungsschiene verzieht und es zu Problemen beim Öffnen und Schließen der automatischen Schiebetüren komme. Sie hatten bereits seit längerem die Idee einen neuen Schweißroboter anzuschaffen, welcher auch in der Lage wäre, größere Bauteile zu verschweißen. Da Sie noch Budget zur Verfügung haben, haben Sie einen bestellt. Dieser wurde jedoch bislang noch nicht geliefert. Als Sie beim Lieferanten nachgefragt haben, wann Sie mit der Lieferung rechnen können, wurde Ihnen mitgeteilt, dass die 20.000 Euro für den Schweißroboter nicht abgebucht werden konnten. Sie wollen in Erfahrung bringen woran das liegt und wollen diesbezüglich an t2 Frau Finke ansprechen, die die Kostenstellen verwaltet. (…) Intensiviert wird dieses Problem dadurch, dass Herr Prinski – meistens telefonisch – Frau Finke über ständig neue Kunden-/Änderungswünsche bezüglich Komponenteneinsatz, Abmaße etc. informiert. Herr Körner erhält diese Änderungswünsche dann in der laufenden Planung, was eine ständige Anpassung erforderlich macht. Es ist nahezu unmöglich alle Änderungswünsche in der laufenden Planung und Fertigung termingerecht zu berücksichtigen.

Abb. 4:   Beschreibung der Rolle von Herrn Schulze (Auszug)

Wie in dem Auszug der Rollenbeschreibung (Abb. 4) ersichtlich wird, gibt es eine Reihe von Aufgaben und Problemen, die im Spiel bereits angelegt sind, von denen einige terminiert sind. Sofern die Aufgaben und Probleme mehrere Rollen betreffen, sind diese in den anderen Rollenbeschreibungen entsprechend aufgeführt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Rollen jeweils einen unterschiedlichen Informationsstand zu bestehenden Aufgaben und Problemen haben. Es entstehen hierüber Dynamiken der Konkurrenz und der Kooperation. Zusätzlich zu den Informationen aus den Rollenbeschreibungen erhalten die Teilnehmer zu einigen Aufgaben Materialien, die zur Bearbeitung der Aufgaben herangezogen werden können. Solche Materialen sind beispielsweise: Layout-Pläne von Fertigungshallen, Fehlerberichte von Maschinen und Anlagen, modellhafte Abbildungen der Wertströme und Prozesse der Fertigungsabläufe.

Terminkalender

Damit die Teilnehmer ihre bereits terminierten Aufgaben, aber auch neu hinzukommende Termine planen können, erhalten sie einen Terminkalender. Die in den Rollenbeschreibungen bereits angegeben Termine sind hierin enthalten. Zusätzliche Termine, die im Systemspiel entstehen, können entsprechend nachgetragen werden. Tabelle 1 zeigt den Terminkalender der Rolle von Herrn Schulze.

Tabelle 1:  Terminkalender von Herrn Schulze (Auszug)

t

Uhrzeit

Schulze

t1

9:00

 

t2

9:15

Klärung: Nicht-Abbuchung des Schweißroboter-Zahlungsbetrages

t3

9:30

 

t4

9:45

 

t5

10:00

Besprechung: Ggf. für  Vorgehen zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Abteilungen

t6

10:15

 

t13

12:00

 

t14

12:15

Beauftragung TL: Verbesserung der Arbeit in der Produktion (Problemanalyse)

… 

t32

16:45

 

t33

17:00

Verbesserungsvorschläge der Arbeit in der Produktion (Problemanalyse)

 …

t38

18:15

 

t39

18:30

Ergebnisvorstellung: Verbesserung der Zusammenarbeit

t40

18:45

 


Fasst man die Durchführung eines Systemspiels aus Teilnehmersicht zusammen, werden in einem derartigen Szenario Probleme und Aufgaben unterschiedlicher Art von mehreren Beteiligten bearbeitet. Die Probleme und Aufgaben sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich überlappen und als Problemkreise darstellen lassen. Abbildung 5 zeigt zwei der insgesamt fünf Problemkreise des Systemspiels „Maestro GmbH“. Diese Übersicht wird den Teilnehmern selbstverständlich nicht zur Verfügung gestellt.

Problemkreis A

Probleme in der Geschäftsführung

Aufgaben in der Geschäftsführung

 

(A1) Rückläufige Auftragszahlen

 

 

*  Vorgehen zur Akquise von Aufträgen fehlt

*  Konzept zur Neukunden-Akquise entwickeln

 

*  Produktspektrum ist nicht attraktiv

*  Konzept zur Erweiterung des Produktportfolios entwickeln

 

(A2) Verringerte Liquidität

 

 

*  Lohnkosten sind zu hoch

*  Mitarbeiter für mögliche Entlassungen bestimmen

 

*  Mitarbeiter sind nicht ausgelastet

*  Aufgaben neu zuordnen

 

(A3) Unzufriedenheit von Frau Finke

 

 

*  Aufgabeninhalte sind monoton und Verantwortung zu gering

*  Aufgaben analysieren und Stellenbeschreibung neu erarbeiten

 

*  Arbeitsumfang ist zu hoch

 

 b

Problemkreis B

Probleme in der Abteilung Produktion

Aufgaben in der Abteilung Produktion

 

(B1) Veralteter Maschinenpark

 

 

*  Schweißroboter wurde nicht geliefert

*  Verbleib des Schweißroboters abklären und Maßnahmen zur Beschaffung einleiten

 

*  Fertigungsverfahren sind veraltet 

*  Fertigungskonzept entwickeln

 

(B2) Ineffiziente Produktionsabläufe 

 

 

*  Arbeitsumfeld ist schlecht geplant und organisiert

*  Maßnahmen zur Optimierung des  Produktionsablauf erarbeiten

 

*  Aufträge werden nicht wirksam eingesteuert und kontrolliert

*  Vorschläge zur Planung und Steuerung von Aufträgen erarbeiten

 

*  Produktqualität ist schlecht

*  Qualitätskontrollen einführen

Abb. 5:   Problemkreise der "Maestro GmbH" (Auszug)

4.3 Kompetenzerfassung in Systemspielen

Auf Basis einer derartigen Konstruktion kann ein Systemspiel durchgeführt werden. Zur Kompetenzerfassung in einem solchen Kontext erhalten die Teilnehmer noch zusätzlich Dokumentationsbögen. Diese dienen der Dokumentation der durchgeführten Handlungen und der erreichten Ergebnisse aus der Sicht der Teilnehmer und können im Nachgang ausgewertet (z. B. in einem Fachgespräch) und zur Bewertung herangezogen werden. Ergebnisse erledigter und nicht-erledigter Aufgaben werden ebenfalls „gesammelt“ und herangezogen.

Kompetenzerfassung durch Beobachtung in einem Systemspiel kann in der konkreten Handlungssituation erfolgen, aber auch im Nachgang anhand von Videoaufzeichnungen. Zur Überprüfung der Validität und der Reliabilität ist es sinnvoll, das Videomaterial heranzuziehen und die Bewertungen hinsichtlich der genannten Kriterien zu überprüfen.

Damit eine Beobachtung erfolgen kann, ist es erforderlich, die hohe Komplexität, die in einem solchen System erzeugt wird, für den Beobachter sinnvoll zu reduzieren. Hierzu dienen die Unterlagen der Beobachter. Die Beobachter erhalten analog zu den Teilnehmern Ausgangsszenario und Rollenbeschreibung der zu beobachtenden Rolle.

Darüber hinaus erhalten Sie ein Aufgabendiagramm, welches dazu dient, die Aufgaben der zu beobachtenden Rollen in Übersichtsform darzustellen, sowie eine Zusammenfassung der im Systemspiel angelegten Problemkreise (siehe Abb. 5) und die wesentlichsten Schritte zur Bearbeitung dieser. Zudem erhalten die Beobachter einen Beobachtungskalender.

Beobachtungskalender

Ein Beobachtungskalender enthält alle Termine der zu beobachtenden Rolle, auch diejenigen, von denen die Rolleninhaber noch nichts wissen (in Tabelle 2 mit * gekennzeichnet). Wie in Tabelle 2 ersichtlich ist, sind die einzelnen Termine unterschiedlichen Problemkreisen zugeordnet. Die Beobachter erhalten somit eine Art Ablaufplan der zu beobachtenden Situation, inklusive einer Zuordnung zu betreffenden Problemkreisen.

Tabelle 2: Beobachtungskalender der Rolle Schulze

 t

Uhrzeit

Schulze

Problemkreise

t2

9:15

Klärung: Nicht-Abbuchung des Schweißroboter-Zahlungsbetrages

B1

t3

9:30

Besprechung: Möglichkeiten zur Erweiterung des Produktportfolios*

A1

t5

10:00

Besprechung: Vorgehen zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Abteilungen

D

t7

10:30

Entwicklung von Kriterien*

A2

t11

11:30

Problematik Schweißnaht und defekter Schweißroboter ansprechen*

B1

t12

11:45

Auswahl Mitarbeiter*

A2

t14

12:15

Beauftragung TL: Verbesserung der Arbeit in der Produktion (Problemanalyse)

B2

t26

15:15

Vorstellung: Produktionsszenario und technische Umsetzbarkeit*

A1

t33

17:00

Verbesserungsvorschläge der Arbeit in der Produktion (Problemanalyse)

B2

t39

18:30

Ergebnisvorstellung: Verbesserung der Zusammenarbeit

D


Schritte zur Bearbeitung der Problemkreise

Die terminierten und nicht-terminierten Zeitpunkte für Besprechungen, Gruppenarbeiten oder Präsentationen bieten die Möglichkeit, die Performance von Teilnehmern zu beobachten und somit Kompetenzen zu erfassen. Performance im beruflichen Kontext ist dabei nur dann als zielführend zu bewerten, wenn auch das „Richtige“ in der „richtigen“ Art und Weise getan wird – das „Richtige“ verstanden als beruflich-professionelles Handeln. Damit diese Anforderungen an die Art der Durchführung und die Art der Ergebnisse bei der Bewertung Berücksichtigung finden können, wurde für die Beobachtung ein zweigliedriges Verfahren entwickelt, bestehend aus den Schritten zur Bearbeitung der Problemkreise und einem Merkmals- bzw. Beobachtungsbogen. Ersteres beschreibt in konkreter Weise die einzuhaltenden Schritte der Problemlösung sowie erforderliche Lösungsbestandteile. Unter Berücksichtigung dieser Bestandteile professioneller Aufgabenerledigung werden Bewertungen über Beobachtungsbögen vorgenommen. Abbildung 6 zeigt einen Auszug der möglichst bzw. optimalerweise durchzuführenden Schritte zur Bearbeitung des Problemkreises A1.

Problemkreis A

Merkmale, die bei der Bearbeitung des Problemkreises A zu berücksichtigen sind.

A 1 Rückläufige Auftragszahlen

-->  Konzept zur Neukunden-Akquise entwickeln

-->  Konzept zur Erweiterung des Produktportfolios entwickeln

  • Ideen sammeln
  • Ziele, z. B. finanzielle Ziele: Erhöhung des Umsatzes, Erhöhung des Marktanteils. Funktionale Ziele: Besseres Produktportfoliomanagement, Entwicklung neuer Produkte festlegen
  • Produkte z. B. anhand der Perspektiven Markt/Kunde, Finanzen, Technologie, Prozesse und Risiken in tabellarischer oder grafischer Form analysieren
  • Technische Realisierbarkeiten prüfen
  • Nachfrage des Marktes prüfen
  • Maßnahmenkatalog zur technischen Umsetzung erstellen
  • Produktszenario entwickeln
  • Erweiterungskonzept des Produktportfolios den Mitarbeitern vorstellen und Feedback einholen
  • technisch machbares Produktionsszenario für ausgewählte Produkte abstimmen und beschließen

Abb. 6:   Schritte zur Bearbeitung des Problemkreises A1

Beobachtungsbogen

Als Grundlage für die Entwicklung der Merkmale des Beobachtungsbogens dient ein Kompetenzmodell, welches eng angelehnt ist an das gängige Kompetenzverständnis und die berufliche Handlungskompetenz. Es ist dementsprechend unterteilt in Fachkompetenz, methodische, personale und sozial-kommunikative Kompetenz. Die Merkmale selbst orientieren sich an den Kriterien zur Codierung von verbalen Äußerungen des Kassler-Kompetenz-Rasters (KAUFFELD 2009), den eher kognitiv orientierten Operationalisierungen der Problemlösekompetenzen nach DÖRNER (1989, 1993) und den von MANTEUFEL und SCHIEPEK (1998) formulierten Indikatoren der individuellen Kompetenz zum erfolgreichen Umgang mit komplexen Systemen.

Dabei sind die Merkmale situationstypisch und beziehen sich auf Interaktionssituationen, wie bspw. Besprechungen, Gruppenarbeitstreffen, Präsentationen o. ä. Sie erfassen das Verhalten und Handeln der zu beobachtenden Person in Bezug auf Aktionen wie Informationsbeschaffung und -vermittlung, Entscheiden und Problemlösen, Gesprächsführung, Konfliktbewältigung usw.. Die Merkmalsausprägungen lassen Rückschlüsse über das Vorhandensein von Kompetenzen bei der beobachteten Person zu (siehe Abb. 7).

 

Abb. 7:   Von Handlungen zu Kompetenzen

Der Beobachter (Prüfer) beurteilt das zu beobachtende Verhalten im bisherigen Systemspiel-Ansatz anhand der definierten Merkmale auf einer dreistufigen Skala (gar nicht – etwas – vollständig/sehr). Die dreistufige Skalierung wurde einer stärkeren Skalenunterteilung vorgezogen, um auch während der Beobachtungssituation eine möglichst intuitive Bewertung vornehmen zu können.

 Initiates file download

Abb. 8:   Auszug aus dem Beobachtungsbogen

Im Vorfeld des Systemspiels werden die Beobachter geschult, um sie für systematische Fehler und Verzerrungen bei der Urteilsbildung zu sensibilisieren, das Spiel und die zu erfassenden Kompetenzen kennenzulernen und den Umgang mit den Beobachtungsmaterialien einzuüben.

Im Rahmen dieser Schulung erhalten die Beobachter eine Einführung in die Nutzung des Beobachtungsbogens, indem ihnen die Merkmale und die dahinterstehenden Kompetenzen erläutert werden. Darüber hinaus erfolgt anhand der Beschreibung der jeweils zu beobachtenden Rolle, dem Ausgangsszenario inklusive Organigramm und den Erläuterungen der im Spiel angelegten Problemkreise eine Einführung in die Inhalte des Systemspiels. Eventuell ergeben sich im Spielgeschehen andere bzw. zusätzliche Termine als die in den Terminkalendern der Rollen vorgesehenen. Hier sollten die Beobachter in der Lage sein, diese den vorhandenen Problemkreisen zuzuordnen bzw. zu erkennen, dass sich daraus neue Problemkreise ergeben und die Handlungen der Teilnehmer entsprechend zu bewerten.

5 Zusammenfassung und Ausblick

Die Anwendung der Systemspielmethode zur Erfassung von Kompetenzen bietet eine Alternative zu herkömmlichen Instrumenten bzw. Vorgehensweisen. Die Vorteile einer solchen Methode sind darin zu sehen, dass der Versuch angestellt wird, tatsächliche Performance in Situationen zu beobachten und hierüber Rückschlüsse auf die Kompetenzen der Teilnehmer zu ziehen. Anhand der Schritte zur Bearbeitung der Problemkreise wird eine ergebnis- und zielbezogene Bewertung ermöglicht. Merkmale und Merkmalsausprägungen werden entlang bestimmter Situationstypen formuliert, so dass eine Übertragung auf weitere Szenarien möglich ist. Die aus Systemspielen entstehenden Unterlagen der Teilnehmer können ebenfalls zur Bewertung herangezogen werden, z. B. in einem anschließenden Fachgespräch bzw. Interview, worüber sich eine weitere Möglichkeit der Kompetenzerfassung bietet.

Nachteile von Systemspielen sind vor allen darin zu sehen, dass sie mit einem relativ hohen Aufwand verbunden sind. Insbesondere ist die Entwicklung von Systemspielen keine triviale Aufgabe. Auch der personelle Aufwand, um Beobachtungen durchzuführen, ist relativ hoch. Hinsichtlich des Entwicklungsaufwandes ist es sinnvoll, bestimmte Entwicklungsschritte einzuhalten, wie bspw. Modellierung der Aufgaben- und Beziehungskonstellationen und der Erstellung von Problem-Mindmaps. Darüber hinaus kann bereits bei der Konstruktion darauf geachtet werden, dass einige der Problemkreise nur an wenigen zentralen Stellen miteinander vernetzt sind, so dass eine Austauschbarkeit gegeben ist.

Der Aufwand der Beobachtung kann reduziert werden, wenn der Schwerpunkt der Kompetenzerfassung auf ein Fachgespräch im Anschluss an das Systemspiel gelegt wird.

6 Ausblick zu weiteren Einsatzmöglichkeiten von Systemspielen

Abbildung 9 veranschaulicht den Weg eines Menschen von einer für ihn als bedeutsam empfundenen (äußeren oder inneren) Situation bzw. Aufgabe, Problem o. ä. bis zur Bewältigung/Klärung/Lösung durch entsprechende Handlungen und deren Reflexion als wichtiges Lernelement.

 Initiates file download

Abb. 9:   Modell des Weges des Menschen von der Wahrnehmung zur Handlung (HEEG 2011)

Auf diesem gesamten Weg existieren vielerlei „Fallgruben“ (HEEG 2011). Bereits im ersten Schritt wird im Allgemeinen nicht oder kaum zwischen Wahrnehmung und Deutung bzw. Interpretation und hierin enthaltenen Bewertungen unterschieden – meist erfolgt keine genaue Betrachtung dessen, was tatsächlich wahrgenommen oder beauftragt wurde, sondern es wird eine direkte Bewertung vorgenommen. Auch in den weiteren Schritten existieren Probleme, die zum Teil aus der evolutionär bedingten linearen schnellen Lösungsfindungsstrategie des Menschen resultieren (auf der unbewussten wie auf der bewussten Ebene). Handeln und dessen Reflexion sowie Reflexion der erzielten Ergebnisse führen dann zu „verinnerlichtem“ Lernen. Von besonderer Bedeutung sind auf diesem Gesamtweg neben den bewussten kognitiven Prozessen die häufig unbewusst emotional-assoziativen Prozesse (z. B. Haltungen, Bedürfnisse, Glaubenssätze). Sie zeigen sich u. a. in den unterschiedlichen Handlungsweisen (unterschiedliches „Wie“ der Handlung) und den erreichten unterschiedlichen Ergebnissen (qualitativ und quantitativ). Diese Modellvorstellung eines Wahrnehmungs-/Lern-/Handlungszyklus von Menschen findet sich selbstverständlich auch in einem Systemspiel. Da das Modell allen derartigen Zyklen zu Grunde liegt, kann auch das Systemspiel vielfältigen Einsatz finden – in jeweils angepasster sinnvoller und nützlicher Ausgestaltung. Hierbei handelt es sich neben dem Einsatz des Systemspiels zur Kompetenzermittlung und -bewertung (wie vorstehend beschrieben) der beteiligten Personen, um den Systemspiel-Einsatz zur:

  • Entwicklung und Erweiterung von Kompetenzen (Handlungskompetenzen generell (je nach Ausgestaltung) oder spezifisch, System-, Methoden-, Sozialkompetenz usw.)
  • Reflexion von bislang üblicherweise durchgeführten Handlungen und den hierbei erzielten Ergebnissen (individuell und gruppenbezogene (kollektive) Handlungen bzw. Handlungsmuster)
  • Ermittlung der bestgeeigneten Handlungsmöglichkeiten zur Aufgabendurchführung (Ableiten von Regeln und Standards)
  • kontinuierlichen (permanenten) Optimierung von Handlungen und Ergebnissen in definierten Arbeitskontexten (individuum- und/oder gruppenbezogen).

Das generelle Schema des Vorgehens ist bei allen Alternativen das in Abbildung 10 dargestellte.

 

Abb. 10:  Von Aufgaben zu konkreten Maßnahmen der Durchführung und der Ergebniserreichung (HEEG/ SCHNEIDER-HEEG 2011)

Die Vermittlung und Erweiterung von Kompetenzen kann über ein entsprechend gestaltetes Systemspiel erfolgen, bei dem die Tätigkeitsbereiche der im Spiel handelnden Personen den jeweils interessierenden Kompetenz- und Personenbereichen entsprechen. Besonders schwierige, bedeutsame oder psychisch belastende Aufgaben und Ereignisse können dann in einem mehrstufigen Prozess im Verlaufe des Systemspiels geleitet reflektiert werden.

Abbildung 11 zeigt das Vorgehen dazu im Überblick – während der Durchführung erfolgen Reflexionstreffen mit Folgewirkung für die weiteren Aktivitäten der Beteiligten. Aufgabe der Leiter/innen der Reflexion ist einerseits das Bewusstmachen von Handlungen (unterschieden in Handlungen, alternativen Möglichkeiten dazu u. ä. sowie die Vorbereitung des Handelns in den weiteren anstehenden Situationen im Spiel) und andererseits das Einbringen von weiteren Methoden und Techniken zur Problem- und Aufgabenbearbeitung, Beziehungsoptimierung usw..

 Initiates file download

Abb. 11:  Geleiteter Reflexionsprozess zur Kompetenzvermittlung und –erweiterung über ein Systemspiel (HEEG/ SCHNEIDER-HEEG 2011)

Die Reflexion bisheriger individueller oder gruppenbezogener (kollektiver) Handlungsmuster kann in sehr ähnlicher Art und Weise wie vorstehend skizziert erfolgen, indem das Systemspiel die realen erhobenen Aufgaben bzw. Situationen aufgreift und in ähnlicher oder bewusst verfremdeter Form zum Gegenstand der Aktivitäten hat. Im gemeinsamen Abgleich (Akteure und Reflexionsleitung) können auch bestgeeignete Handlungsalternativen nach der Systemspiel-Durchführung erarbeitet werden, die dann zu quasi oder tatsächlichen Regeln und Standards ausformuliert im beruflich-betrieblichen Kontext der Akteure Einsatz finden. Hierüber lassen sich in der Weiterentwicklung auch Instrumente der Personalentwicklung ausgestalten (Kompetenzentwicklungsinstrument für definierte Rollen, Anforderungsraster für Fortbildungsmaßnahmen etc.). Die kontinuierliche Optimierung kann über wiederholtes Anwenden von Systemspielen und Abgleich mit der betrieblichen Realität (Handlungsmuster zur Problemlösung, zur Aufgabenerledigung usw.) erfolgen. Wobei letztlich organisationsweit der Abgleich über die Information aller betrieblich relevanten Akteure mit anonymisierten individuellen Erfahrungen erfolgt (siehe hierzu Abb. 12).

 

Abb. 12:  Kontinuierliche Optimierung von Kompetenzen über Systemspiele in organisationsweiter Anwendung (HEEG/ SCHNEIDER-HEEG 2011)

Das Ergebnis des Reflexionsprozesses führt dazu, dass jede/-r seine/ihre Arbeit und die Ergebnisse reflektiert und das optimal Mögliche anstrebt. Über die individuellen und kollektiven Verbesserungsschritte findet eine systematische Verankerung in der Organisation (kulturelle Aufnahme und Weiterentwicklung) statt (HEEG 2009).

Die bereits erwähnten Ebenen der geleiteten Reflexion sind die Folgenden:

  • unbewusste (vorbewusste) und bewusste Ebene
  • Bedürfnis- und emotionale Ebene
  • motivationale Ebene
  • Ziel- /Ergebnis-(Lösungs-)-Ebene
  • Planungs-Ebene (assoziativ-emotional, bewusst)
  • Beziehungsebene
  • Sachebene/Fachebene
  • Handlungsebene
  • Ergebnisebene sowie gegebenenfalls
  • Unternehmensebene.

Das Erfahrungswissen wird dabei erweitert, neue Erkenntnisse und neue kreative Lösungen entstehen, die Reflexions- und Wahrnehmungsfähigkeit steigt und es entstehen bis dahin für die Beteiligten nicht vorstellbare Entwicklungsmöglichkeiten.

Literatur

BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (2005a): Berufsbildungsgesetz (BBIG), (23.03.2005).

BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (2005b): Verordnung über die Prüfung zum anerkannten Abschluss Geprüfter Industriemeister / Geprüfte Industriemeisterin - Fachrichtung Mechatronik, (19.10.2005).

DÖRNER, D. (1989): Expertise beim Lösen komplexer Probleme oder die Bedeutung von Großmutterregeln. In: DÖRNER, D./ MICHAELIS, W. (Hrsg.): Idola fori et idola theatri. Göttingen, 121-143.

DÖRNER, D. (1993): Denken und Handeln in Unbestimmtheit und Komplexität. GAIA 2: 128-138.

EUROPÄISCHES PARLAMENT/ EUROPÄISCHER RAT (2009): Empfehlung zur Einrichtung eines Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET). In: Amtsblatt der Europäischen Union (08.07.2009), C155/11. 

HEEG, F. J. (2009). Modellierung von Führung in Organisationen - bedürfnisausgleichende und emotionenbasierte Führung zur Erzielung von nachhaltigem betrieblichen Erfolg. AVrecord (Hrsg.): Dokumentation DVNLP Kongress 2009. Hamburg. DVD V.NLP09_35.

HEEG, F. J. (im Druck): Geleitete Reflexion als Coaching-Methodik für erfolgreiche betriebliche Innovationsprozesse. In: GIESEN, R. (Hrsg.): Band 2 der Schriftenreihe TRANSFER des DVNLP.

HEEG, F. J./ SCHNEIDER-HEEG, B. (im Druck): Personale und organisationale Aspekte der Dienstleistungsproduktivität - Steigerung von Effektivität und Effizienz der Dienstleistung und ihrer Erbringungsprozesse unter gleichzeitiger Optimierung von Handlungen und Haltungen der Beteiligten und Ausgleich derer Bedürfnisse. In: BRUHN, M./ GEORGI, D./ HADWICH, K. (Hrsg.):Dienstleistungsproduktivität. Band 2: Innovationsentwicklung, Internationalität, Mitarbeiterperspektive – Forum Dienstleistungsmanagement. Wiesbaden.

KAUFFELD, S. (2009): Strukturierte Beobachtung. In: KÜHL, S./ STRODTHOLZ, P./ TAFFERTSHOFER, A. (Hrsg.): Handbuch der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden. Teil II. Wiesbaden, 580-599.

KAUFHOLD, M. (2006): Kompetenz und Kompetenzerfassung. Analyse und Beurteilung von Verfahren der Kompetenzerfassung. Wiesbaden.

KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (2008): Empfehlung zur Einrichtung des Europäischen Leistungspunktesystems für die Berufsbildung (ECVET). Brüssel.

SCHIEPEK, G./ MANTEUFEL, A. (1998): Systeme spielen. Selbstorganisation und Kompetenzentwicklung in sozialen Systemen. Göttingen.

SEKRETARIAT DER STÄNDIGEN KONFERENZ DER KULTUSMINISTER DER LÄNDER IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND (2000): Handreichungen für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz (KMK) für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Stand: 15. September 2000.


Zitieren dieses Beitrages

DEGNER, T. et al. (2011): Instrumente zur Erfassung von individuellen Kompetenzen zur Entscheidungsfindung bei Übergängen in der Berufsbildung (Systemspiel). In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 23, hrsg. v. FROMMBERGER, D./ DIETTRICH, A./ REINISCH, H., 1-20. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws23/degner_etal_ws23-ht2011.pdf (26-09-2011).



Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

http://www.hochschultage-2011.de/