bwp@ 26 - Juni 2014

Berufliche Bildung aus der Perspektive des lernenden Subjekts

Hrsg.: Tade Tramm, Martin Fischer & Nicole Naeve-Stoß

Das Scheitern des beruflichen Bildungsprozesses aus der Perspektive der Betroffenen. Ergebnisse einer biographieanalytischen Studie über die vorzeitige Vertragslösung

Beitrag von Sebastian Klaus
bwp@-Format: Forschungsbeiträge

Neben der Qualifizierung des Nachwuchses obliegt es den Ausbildenden und Lehrenden, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ihrer (beruflichen) Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und zu fördern. Innerhalb der Berufsausbildung kommt es jedoch regelmäßig zu Störungen des Prozesses. Eine vorzeitige Vertragslösung markiert ein Extrem der gescheiterten (beruflichen) Sozialisation und damit auch des Bildungs- und Begleitungsauftrags der Repräsentanten der Berufsausbildung.

In der zugrunde liegenden Untersuchung wurde das Phänomen der vorzeitigen Vertragslösung erstmals aus biographieanalytischer Perspektive betrachtet. Lokal begrenzt, wurden 30 autobiographisch-narrative Interviews geführt und analysiert. Unter Ablösung von der singulären Betrachtung der Berufsausbildung gelang es, die gesamtbiographischen Prozesse, Wechselwirkungen und Mechanismen aus der Perspektive der Betroffenen zu rekonstruieren und in generalisierungsfähige Aussagen zu transformieren.

Der vorliegende Beitrag stellt die Ergebnisse der Untersuchung vor und eröffnet darüber einen Blick auf die Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen eines gescheiterten beruflichen Bildungsprozesses aus der Perspektive der Betroffenen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Nachvollziehbarkeit der beruflichen und biographischen Entwicklungsgeschichte in einem fallübergreifenden Prozessmodell. Darüber wird es dem Ausbildungs- und Lehrpersonal möglich, den Auszubildenden passgenaue Unterstützungsangebote, insbesondere bezüglich des adäquaten Zeitpunkts, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zukommen zu lassen.

The failure of the vocational educational process from the perspective of those affected. Findings from a biographical analytical study on early termination of contracts

English Abstract

Alongside qualifying younger people, one of the tasks of trainers and teachers is to support and encourage young people and young adults in their (vocational) socialisation and personality development. Within initial vocational education, however, there are regular disruptions to this process. The early termination of a contract marks one extreme of failed (vocational) socialisation and with that of the educational and mentoring task of the representatives of vocational education.

In the underlying investigation the phenomenon of early termination of contracts was examined, for the first time, from a biographical analytical perspective. In a defined local area, 30 autobiographical and narrative interviews were conducted and analysed. By isolating the singular perception of vocational education it is possible to reconstruct the biographical processes, interactions and mechanisms from the perspective of those affected, and to transform them into generalisable statements.

This paper presents the findings of the investigation and offers a view on the causes, side effects and consequences of a failed vocational educational process from the perspective of those affected. A particular focus is placed upon the traceability of the vocational and biographical development history in a process model which includes all cases. In so doing it becomes possible for the training and teaching staff to make tailored support opportunities available, particularly with reference to the salient point in time in their personality development.

1 Einleitung

Bildung ist weit mehr als der Erwerb und die Anwendung von Wissen. Sie ist ein lebenslanger Prozess der Kommunikation, Interaktion und Reflexion, in dem sich die BiographieträgerInnen in der sozialen Wirklichkeit verorten, ihre Persönlichkeit (weiter-)entwickeln sowie Lebens- und Handlungsorientierungen gewinnen (vgl. Kössler 1989, 56; Vonken 2011, 22). Bildung hat somit einen direkten Bezug zur Identitätsentwicklung und -entfaltung, da sie im Kontext von Sozialisation als Prozess des Lernens und Lebens verstanden werden kann (vgl. Reetz 2002, 46).

Die Berufsausbildung steht diesbezüglich vor einer problematischen Dualität. Sie soll - beschränkt auf eine festgelegte Zeitspanne - einerseits die Identitätsentwicklung und -entfaltung der Auszubildenden unterstützen und somit dem Grundprinzip der Bildung folgen, welches nach Rebmann, Tenfelde und Uhe auf die langfristige Förderung der Persönlichkeitsentwicklung über kurzfristige Qualifikationsergebnisse hinaus angelegt ist (1998, 76f.). Mit Bezug auf den gängigen Diskurs der Berufspädagogik obliegt es der Berufsausbildung demnach, Kompetenzen zu vermitteln, die auf die (berufliche) Identitätsentwicklung und -entfaltung abzielen und unmittelbar an daraus entstehende Handlungspotentiale gebunden sind (vgl. Straka 2001, 225; Kaufhold 2006, 100f.; Hensge/Lorig/Schreiber 2011, 137). Andererseits übernimmt die Berufsausbildung die Aufgabe, der Volkswirtschaft „verwertbare Bildung“ bereitzustellen, wodurch die berufliche Bildung nach wie vor dem Ansatz der Investition in das Humankapital (vgl. Arnold/Müller 2002, 8) folgt. Der darin enthaltene Qualifizierungsauftrag ist auf den Prozess der Statuszuweisung hin ausgerichtet und implementiert die zertifizierte und direkt verwertbare bzw. transformierbare Bildung (vgl. Arnold/Gondon 2006, 95; Büchter 2010, 17; Vonken 2011, 21). Die berufliche Bildung hat somit für die Identitätsentwicklung der Auszubildenden zu sorgen und muss gleichzeitig die Zertifizierung der erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten gewährleisten, denn nur die Summe beider Aspekte kann der Aufgabe der kulturellen Sozialisation in den Kapitalismus (vgl. Friebel 1985, 18) gerecht werden.

Wenn Qualifikation und Kompetenzentwicklung Ziele der beruflichen Bildung sind, ist das Gelingen bzw. Misslingen eines beruflichen Bildungsprozesses auch daran zu messen. In der vorzeitigen Vertragslösung offenbart sich ein Extrem eines gestörten und unvollendeten beruflichen Bildungsprozesses. Insbesondere bezüglich der Qualifikation zeigt sich die Unvollkommenheit, da eine vorzeitige Vertragslösung die Vergabe von Titeln und Zertifikaten verhindert. Ebenso ist der in der Berufsausbildung intendierte Prozess der Kompetenzentwicklung in seiner langfristigen Wirkung fragwürdig. Daraus ergibt sich folglich die Frage danach, ob eine unvollendete Berufsausbildung überhaupt die Funktion der Qualifizierung und Kompetenzentwicklung erfüllen kann? Ist das Scheitern der Betroffenen in der beruflichen Ausbildung mit dem Scheitern des Bildungsauftrags der Berufsausbildung gleichzusetzen?

Die zugrunde liegende Untersuchung kann dazu Anhaltspunkte aus Akteursperspektive liefern. Das aus autobiographisch-narrativen Interviews eruierte Prozessmodell offenbart mit besonderem Fokus auf die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen die fallübergreifende Entwicklungsgeschichte der BiographieträgerInnen, die (mindestens) eine vorzeitige Vertragslösung erfahren haben. Die einzelnen Teilprozesse beinhalten nicht nur die vorherrschenden Mechanismen und Wechselwirkungen, sondern verweisen ebenfalls auf Schlüsselsituationen im Prozess der (beruflichen) Sozialisation, die die Qualifikation und Kompetenzentwicklung fördern bzw. hemmen. Darüber hinaus offenbart das Prozessmodell die Situation der betroffenen Personen nach der vorzeitigen Vertragslösung und die anfolgende biographische und berufliche Neuorientierung. Insbesondere letztes gibt Aufschluss über die Relevanz der in der unvollendeten Berufsausbildung erworbenen Qualifikationen und Kompetenzen für die weitere Entwicklungsgeschichte.

2 Die vorzeitige Vertragslösung in der Berufsausbildung - Forschungsgegenstand

Die vorzeitige Vertragslösung in der Berufsausbildung ist seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ein regulärer Bestandteil des öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses. Die Basis dafür ist neben der dauerhaft hohen Quote von etwa 25%, der daraus resultierende volkswirtschaftliche Schaden und die Präsenz des Phänomens in allen gesellschaftlichen Milieus. Problematisch ist jedoch die Zuordnung der vorangegangenen Forschungsergebnisse, da sie häufig einen „Ausbildungsabbruch“ thematisieren, der different definiert wird, oder sie setzen einen spezifischen Fokus bzw. konzentrieren sich auf eine singuläre Personengruppe, wie sozial Benachteiligte oder Hauptschüler (vgl. Reiser 1992; Fassmann 2000; Fischer 2002; Dornmayr et al. 2006). Die Darstellung des Forschungsstandes umfasst jedwede Richtungen und Perspektiven bezüglich des Phänomens, da die vorzeitige Vertragslösung auf alle Auflösungen von Ausbildungsverhältnissen ohne Titelerwerb in außerakademischen Ausbildungsformen Bezug nimmt.

Das Gros der vorangegangenen Untersuchungen widmet sich der Sammlung von Gründen und Motiven für die vorzeitige Vertragslösung (vgl. Grieger 1981, 10; Weiss 1982, 237, 275; Glöß/Kühne 1984, 165f.; Hensge 1987, 69; Reiser 1992, 10; Seus 1993, 233; Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, 66; Dietz et al. 1997, 165; Huth 2000, 44; Hunger/Jenewein/Sanftleber 2002, 38; Stadler/Schmid 2006, 51, 60). Unterteilt in berufliche, schulische, persönliche und berufswahlbezogene Gründe sollen sie auf statische Weise die Ursachen für die vorzeitige Vertragslösung verdeutlichen. Es herrscht diesbezüglich Konsens, dass die Gründe überwiegend den Ausbildungsbetrieb betreffen und stets in einer Kombination mit weiteren auftreten. Die den Gründen immanenten Problemlagen häufen sich in einem (fallspezifischen) Prozess an und werden nicht bearbeitet (vgl. Brüggemann 1975, 5; Glöß/Kühne 1984, 171; Hensge 1987, 65f.; Seus 1993, 253; Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, 108-116; Vock 2000, 38f.; Stadler/Schmid 2006, 19, 63). Eine tiefere Analyse und genaue Beschreibung dieses Prozesses liegt bislang aber nicht vor. Lediglich einzelne spezifische Aspekte, wie die unzureichende Konfliktbewältigungskompetenz bei den Auszubildenden (vgl. Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, 112; Kohlmeyer 1997, 68; Bohlinger 2003, 232; Stadler/Schmid 2006, 7; Deuer 2006, 130) oder die Relevanz von Identifikation und Integration für das erfolgreiche Absolvieren der Berufsausbildung (vgl. Weiss 1982, 274; Friebel 1985, 40; Bendig/Toth 1985, 70f.; Hensge 1987, 105; Seus 1993, 233; Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, 110; Dietz et al. 1997, 183; Deuer 2006, 116) sind als signifikante Faktoren des Prozesses hin zur vorzeitigen Vertragslösung dokumentiert. Die Problemlagen der Integration und Identifikation stehen dabei stets im Kontext anderer Lebenszusammenhänge, die sich mit der Berufsausbildung in Wechselwirkung befinden (vgl. Graf 1958, 69; Brüggemann 1975, 54; Grieger 1981, 3; Weiss 1982, 78, 247; Friebel/Piontek 1985, 110; Hensge 1987, 88; Seus 1993, 262; Quante-Brandt 1997, 14; Gronwald/Quante‑Brandt/Schröder 1997, 35; Kohlmeyer 1997, 69; Wieser/Schlögl 2006, 101) oder werden über Probleme der Alltagsorganisation hergeleitet (vgl. Glöß/Kühne 1984, 176; Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, 117).

Den Abschluss dieses Prozesses markiert die vorzeitige Vertragslösung selbst. Dazu ist bekannt, dass die Auflösung des Ausbildungsvertrages ohne Titelerwerb zu einer Identitätskrise führt, die von gefühltem und ausgeübtem Stigma begleitet wird (vgl. Grieger 1981, 6; Hensge 1987, 87; Wieser/Schlögl 2006, 98; Deuer 2006, 9; Stadler/Schmid 2006, 79), herausgefordert durch die Deutung der Situation als Missmanagement des Lebenslaufs (vgl. Dietz et al. 1997, 39).

Die vorberufliche Sozialisation ist im Kontext der vorzeitigen Vertragslösung wenig erforscht. Es gibt zwar Verweise darauf, dass ein immenser Zusammenhang mit der vorzeitigen Vertragslösung besteht (vgl. Weiss 1982, 69f.), doch die Untersuchungen, die die Sozialisation im Elternhaus aufgreifen, gehen nur selten über das Erkennen von Problemen in der Kindheit und Jugend hinaus (vgl. Quante-Brandt 1997, 17, 21; Fassmann 2000, 118; Wieser/Schlögl 2006, 92, 97) und verweisen eher auf statische Faktoren wie erworbene Kompetenzen, Art der Zuneigung, Größe und Zusammensetzung der (Kern-)Familie (vgl. Graf 1958, 75f.; Grieger 1981, 3, 17f., 27f.; Dornmayr 2006, 44).

Von weit größerem Interesse zeigt sich die Ausbildungsberufswahl in den vorangegangenen Untersuchungen. Ein direkter Zusammenhang zwischen der vorzeitigen Vertragslösung und der mangelnden Berufswahlreife der Betroffenen bzw. der unzureichenden Beratung ist ebenso dokumentiert (vgl. Bending/Toth 1985, 87; Dietz et al. 1997, 128), wie das Problem der wenig fundierten und sehr spät ausgeprägten beruflichen Pläne bzw. Entwürfe (vgl. Graf 1958, 55; Weiss 1982, 99; Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, 109; Hunger/Jenewein/Sanftleber 2002, 32). Des Weiteren wird auf die Notwendigkeit der Anpassung an die Möglichkeitsstrukturen verwiesen (vgl. Dietz et al. 1997, 121; Deuer 2006, 52; Stadler/Schmid 2006, 95).

Zur Zeit nach der vorzeitigen Vertragslösung liegen nur wenige Erkenntnisse vor. Zumeist schließen die Untersuchungen mit dem Ereignis der vorzeitigen Vertragslösung ab oder beziehen nur wenige Folgemonate ein. Neben der Differenzierung der weiterführenden beruflichen Entwicklung, unterteilt in einen Abbruch nach unten, nach oben und einen horizontalen Abbruch (vgl. Weiss 1982, 284; Hensge 1987, 82; Gellhard/Kohlmeyer/Theisen 1995, S. 12; Feß 1995, 29; Fassmann 1997, 29f.; Hunger/Jenewein/Sanftleber 2002, 101; Deuer 2006, 12f.), steht bislang nur der Prozess des Abkühlen Lassens nach Goffman (Goffman 1962) zur Diskussion, der die Einnahme eines niedrigeren Ersatzstatus bei der Aufnahme einer erneuten Berufsausbildung beschreibt (vgl. Seus 1993, 234; Dietz et al. 1997, 23; Mariak/Kluge 1998, 266). Die Gültigkeit dieses Prozesses für alle Betroffenen ist aber anzuzweifeln, da er nicht die Gruppe der Abbrüche nach oben erklären kann.

Deutlich tritt bei der Betrachtung der Forschungslandschaft zutage, dass es erhebliche Defizite – vor allem bezüglich der prozessualen Entwicklungsgeschichte – gibt. Die Erkenntnisse beziehen sich stets auf einzelne Aspekte und spezifische Ausschnitte des Phänomens, wodurch sie singulär nebeneinander stehen. Grundlage dafür ist neben dem gesetzten Fokus insbesondere der jeweils gewählte methodische Zugang. Ein prozessorientiertes und theoriegenerierendes Forschungsvorgehen ermöglicht nicht nur die Integration vorhandener Erkenntnisse in ein aus Daten erhobenes Prozessmodell, sondern fokussiert zudem die Akteursperspektive.

3 Die Erzählanalyse als Zugang zur Akteursperspektive - Forschungsvorgehen

Die Erzählanalyse folgt in ihren Grundzügen der Tradition der Grounded Theory und somit ebenso der abduktiven Forschungslogik (vgl. Kelle 1994, 166) und dem interpretativen Paradigma (vgl. Jakob 1997, 445). Von besonderer Bedeutung ist daher der Stellenwert der erhobenen Akteursperspektiven (vgl. Strauß 1994, 50; Glaser/Strauß 1998, 11), die als alleinige Primärdaten gelten. Jedwedes Vorwissen, ob nun anekdotisches, methodisches oder theoretisches Wissen aus bibliothekarischem Material, wird der Gruppe der Sekundärdaten zugeordnet und „darf [...] keinesfalls Leitlinie für die zu entwickelnde Theorie werden“ (Krotz 2005, 169). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Theorie lediglich eine Wiedergabe der Daten selbst ist. Sie bilden vielmehr den Grundstock der Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit hin zu einer prozessualen Theorie (vgl. Glaser/Strauß 1998, 120; Strübing 2007, 52), die nichts Anderes ist, als ein Ausdruck der in den Daten verborgenen Ordnung (vgl. Glaser/Strauß 1998, 50). Darüber hinaus kommt sie der sozialen Wirklichkeit am Nächsten, da diese ebenfalls prozessualen Veränderungen unterliegt (vgl. ebenda, 41).

Das größte Passungsverhältnis zur Erzählanalyse offenbart das autobiographisch-narrative Interview. Es gilt als Prototyp qualitativer Interviews und damit qualitativ orientierter Datenerhebungsmethoden (vgl. Lamnek 1989, 70; Froschauer/Lueger 2003, 34). Es ist ein nicht reaktives Verfahren, bei dem nach größter Möglichkeit der Einfluss der Forschenden auf den Datenerhebungsprozess zurückgenommen wird (vgl. Glinka 1998, 35; Lucius‑Hoene/Deppmann 2004, 77; Küsters 2006, 39). Dadurch wird es möglich, Datensätze mit sehr starker Nähe zu den vergangenen Geschehnissen zu erzeugen (vgl. Schütze 1983, 285; Lamnek 1989, 71; Jakob 1997, 449; Lucius‑Hoene/Deppmann 2004, 77) und der Analyse zugänglich zu machen. Das Kommunizieren innerhalb eines autobiographisch-narrativen Interviews lehnt sich dabei - bis auf die Einseitigkeit des Erzählens - an alltagsweltliche Kommunikation an und bezieht daraus seine Wirksamkeit zur Stegreiferzählung. „Das Handlungsschema »Erzählen« ist eine elementare, institutionalisierte Form menschlicher Kommunikation“ (Glinka 1998, 36) und ist ein Akt der Konstruktion, basierend auf den alltagsweltlichen sprachlich-symbolischen Interaktionen und deren Basisregeln (vgl. ebenda, 42; Goblirsch 2007, 56). Es sind letztlich die im Interview erbrachten Rekonstruktionen, die über die Perspektive der Handelnden auf die soziale Wirklichkeit und die über die Stegreiferzählungen hervorgelockte intensive Darstellung dieser Perspektive in linearisierter Form neue Erkenntnispotentiale erwirken (vgl. Jakob 1997, 445, 447; Glinka 1998, 35; Lucius‑Hoene/Deppmann 2004, 23; Flick 2006, 156).

Von höchstem Interesse ist bei der Erzählanalyse nicht die Wiedergabe der individuellen Sichtweise. Vielmehr ist gerade die Art der Hervorbringung der Perspektive auf die soziale Wirklichkeit mithilfe biographischer und narrativer Ressourcen und die Einbindung der Handelnden von zentraler Bedeutung (vgl. Schütze 1984, 78; Jakob 1997, 447f.; Glinka 1998, 111, 114f.; Lucius‑Hoene/Deppmann 2004, 91; Goblirsch 2007, 59). „Nicht das Individuum ist Thema soziologischer Biographieforschung, sondern das soziale Konstrukt »Biographie«“ (Fischer/Kohli 1987, 26). Vor allem die Narrationen ermöglichen einen direkten Zugriff auf den prozessualen Charakter der (vergangenen) sozialen Wirklichkeit, kontextualisiert mit den Deutungen und Bewertungen unterschiedlicher Zeitpunkte (vgl. Schütze 1994, 201; Rosenthal 1995, 85; Lucius‑Hoene/Deppmann 2004, 24). Neben der Relevanz der Akteursperspektive liegt der Kern der Erzählanalyse folglich auf der Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeit in ihrem prozessualen Verlauf und der Herstellung dieser durch die Handelnden. Die analytischen Abstraktionen aus den Daten fokussieren somit die Prozessualität, die dazugehörigen Rahmenbedingungen, Deutungen und Personen (vgl. Schütze 1983, 286; Schütze 1984, 104; Jakob 1997, 453; Lucius‑Hoene/Deppmann 2004, 318; Flick 2006, 296; Küsters 2006, 81f.), welche durch den stetigen Vergleich der Datensätze und der daraus resultierenden Erkenntnisse vom Einzelfall abgelöst sind und den Kern der Theorie bilden.

4 Forschungsdesign

Beschränkt auf Magdeburg als Stadt und Region wurden in drei Erhebungswellen zwischen September 2008 und November 2010 30 autobiographisch-narrative Interviews mit unterschiedlichsten Personen, die eine vorzeitige Vertragslösung erfuhren, geführt. Die Datenerhebung und -auswertung waren im Forschungsverlauf stets in einem spiralförmigen Prozess (vgl. Krotz 2005, 167) miteinander verwoben. Während der jeweiligen Erhebungsphasen wurden die Interviews über die Transkription vorerst der Einzelfallanalyse zugeführt. Die kontrastive Analyse inklusive der Bildung der Kernaussagen und der Verdichtung der analytischen Abstrakte zu einer prozessual ausgelegten Theorie erfolgte im Anschluss der jeweiligen Erhebungswellen.

Tabelle 1: Übersicht der InformantInnen

Beruflicher Status während des Interviews

Anzahl vorzeitige Vertragslösungen

 

Interviewzeitpunkt

   

Geburtsjahr

     

Name (maskiert)

       

Martin

1984

10.09.08

3

arbeitslos

Mandy

1983

19.09.08

1

arbeitslos

Alexander

1977

17.10.08

1

Ausbildung

Nicole

1985

28.11.08

2

Beruf

Arne

1985

24.07.09

2

arbeitslos

Zoe

1984

16.09.09

1

Beruf

Lavinia

1983

09.11.09

2

Ausbildung

André

1984

09.12.09

1

Ausbildung

Arnold

1984

22.12.09

1

Ausbildung

Franziska

1984

15.01.10

1

Studium

Peggy

1985

18.01.10

2

Ausbildung

Tom

1984

20.01.10

2

Ausbildung+Nebenjob

Arielle

1985

20.01.10

1

Nebenjob

Jeniffer

1990

22.01.10

1

Abitur

Anja

1989

26.01.10

1

Ausbildung

Jörg

1986

03.02.10

3

arbeitslos

Paula

1986

05.02.10

1

Ausbildung+Studium

Britta

1985

09.02.10

1

Beruf

Susan

1984

18.02.10

1

Ausbildung

Diana

1989

19.02.10

2

arbeitslos

Roxana

1987

15.03.10

1

Ausbildung

Rebekka

1986

16.03.10

2

Fachoberschule

Denny

1981

19.03.10

2

Studium

Ulrike

1980

22.03.10

2

Beruf

Mario

1988

15.09.10

2

Nebenjob

Anna

1986

17.09.10

2

Fachoberschule

Nancy

1987

21.09.10

2

arbeitslos

Olaf

1986

21.09.10

1

Abitur

Robert

1989

23.09.10

2

Ausbildung

Jan

1984

25.11.10

1

Studium

Im Kontrast zu vorhergehenden Studien war das Überwinden eines eingeschränkten Fokus auf sozial Benachteiligte, HauptschülerInnen etc. handlungsleitend. Das Ziel war vielmehr, so viel als möglich differente Biographien zu erheben, da erst ein großes Spektrum das Entdecken von Parallelen in den Verläufen von Personen mit vorzeitiger Vertragslösung aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Milieus zulässt. Der dadurch notwendige offene Feldzugang gestaltete sich dementsprechend arbeits- und zeitintensiv, da nicht auf die Kontaktherstellung über entsprechende Institutionen der Berufsausbildung zurückgegriffen werden konnte. Er erbrachte jedoch 30 autobiographisch-narrative Interviews mit verschiedenen Personen, die sehr variationsreich in Bezug zu Milieuzugehörigkeit, Alter, erworbenen schulischen Titeln, Ausbildungsberufe, Anzahl und Ursachen der vorzeitigen Vertragslösung(en) oder auch Lebensplanung und beruflicher Weiterentwicklung waren.

Lediglich zwei Einschränkungen bestimmten die Auswahl der InformantInnen: Einerseits sollte eine zeitliche Distanz von mindestens vier Jahren zwischen dem Interviewtermin und der (letzten) vorzeitigen Vertragslösung bestehen. Grundlage dafür war, dass ein besonderes Interesse an der biographischen und beruflichen Weiterentwicklung nach dem Ereignis die Forschung bestimmte, da dieser Aspekt bislang nur geringfügig betrachtet wurde. Andererseits mussten die InformantInnen zum Forschungsfeld gehören. Die Gültigkeit und Anwendbarkeit der entstandenen Theorie, auf dem das Prozessmodell fußt, wird dadurch zwar auf das Forschungsfeld begrenzt, sie ist aber ebenso darüber hinaus wahrscheinlich. Darauf verweist die bereits nach der zweiten Erhebungswelle eingetretene theoretische Sättigung (vgl. Krotz 2005, 193; Glaser/Strauß 1998, 229) im Zuge der kontrastiven Analyse.

5 Das Prozessmodell

Das hier vorgestellte Prozessmodell basiert ausschließlich auf den theoretischen Extrakten der Datenbasis. Folgend der Grounded Theory beruht es auf den Rekonstruktionen der Akteursperspektive und entspricht einer materialen Theorie (vgl. Glaser/Strauß 1998, 52; Krotz 2005, 190) über den Gegenstandsbereich der (berufs-)biographischen Entwicklungsgeschichte von Personen mit vorzeitiger Vertragslösung (im Forschungsfeld).

Das Prozessmodell beinhaltet den gesamten Verlauf von der Kindheit bis zur Aufnahme einer neuerlichen akademischen oder außerakademischen Ausbildung bzw. einer ungelernten Berufstätigkeit nach der vorzeitigen Vertragslösung, wobei Letztes als Abschluss des Prozesses nur sehr selten anzutreffen ist. Selbst die Personen, die während des Interviews in einer nebenberuflichen Tätigkeit verharren oder arbeitslos gemeldet sind, befinden sich in einer Vorbereitungsphase auf eine neuerliche (Berufs-)Ausbildung.

Der fallübergreifende Prozess gliedert sich in fünf Teilphasen: 1. Die vorberufliche Sozialisation, 2. Die Ausbildungsberufswahl, 3. Die Zeit der Berufsausbildung mit vorzeitiger Vertragslösung, 4. Der Freisetzungsprozess und 5. Die biographische und berufliche Neuorientierung. Vorzufinden ist er bei allen BiographieträgerInnen der Stichprobe. Die (berufs-)biographischen Prozesse der Personen mit vorzeitiger Vertragslösung, so wird es hier deutlich, weisen unabhängig von Milieuzugehörigkeit, Alter, Geschlecht, Ausbildungsberuf etc. eine Gleichförmigkeit auf. Lediglich die zeitliche Expansion und die Kombination der Varianten der einzelnen (Teil-)Prozesse zeigen sich different. Hinzu kommt, dass es nicht allen Personen gelingt, den Prozess linear zu durchlaufen. Manche Personen geraten in eine Schleife und absolvieren einzelne Etappen mehrfach. Eine Veränderung des Prozesses ist dadurch aber nicht vorzufinden. Es erfolgt lediglich eine Dramatisierung der Situation, da sich die Möglichkeiten, ein passendes Berufsbild zu finden, zunehmend verringern.

5.1 Die vorberufliche Sozialisation

Die Personen mit vorzeitiger Vertragslösung stammen gleichermaßen aus prekären und intakten Familienverhältnissen. Die Problemlagen der Betroffenen unterscheiden sich diesbezüglich aber deutlich. In den prekären Familien dominieren innerfamiliäre Probleme, die häufig mit einer Verlaufskurve (vgl. Schütze 1981, 89; Schütze 1982, 580) eines Familienmitglieds oder in kollektiver Form einhergehen. „Ich bin ä h m die ersten sechzehn Lebensjahre die ich zuhause gewohnt habe (einatmen) körperlich und seelisch schwer misshandelt worden“ (Lavinia 2/16f.). Die dadurch notwendige Bearbeitung des familiären Alltags treibt die Betroffenen dazu, sich vornehmlich auf die Familie zu konzentrieren. Dementsprechend vernachlässigen sie andere Lebensbereiche, wie Schule oder Freundeskreis. Im Kontrast dazu, herrscht bei den intakten Familien eine Fokussierung der Schullaufbahn vor. Der Schule und später dem Beruf wird ein (zu) hoher Stellenwert eingeräumt und die Eltern vergeben vornehmlich Anerkennung bezüglich der schulischen Leistungen und der Einhaltung der an die Kinder gerichteten Erwartungsfahrpläne. Diesen Anforderungen gerecht zu werden, fällt den Betroffenen äußerst schwer und in der Regel enttäuschen sie die an sie gesetzten Erwartungen. „Das hatten die (tiefes Ausatmen) seit ich in Mathe das erste Mal mit ner vier nach Hause gekommen bin [...] da ist zum ersten Mal für die ne kleine Welt zusammenjebrochen“ (Franziska 36/21-36/24). Durch das Misslingen und die stetigen Bestrebungen der Einhaltung konzentrieren sie sich nahezu ausschließlich auf die Schullaufbahn und vernachlässigen ebenfalls andere Lebensbereiche, was auch hier als Bearbeitungsstrategie verstanden werden kann. „Ja mit diesem Schulwechsel war das halt auch so dass ich halt ähm (.) den Anschluss quasi an die Leute aus em Dorf verloren hab ganz blöd also mit Kindern in meinem Alter hatte ich gar nichts mehr zu tun war dann auch relativ isoliert“ (Franziska 2/25ff.).

Gemein ist den BiographieträgerInnen unabhängig vom Status der Herkunftsfamilie folglich eine frühe Krisenerfahrung, die durch die Vernachlässigung einzelner Lebensbereiche und die problematische Situation im zentrierten Lebensbereich von Marginalität (Stonequist 1961) und/oder Stigma (Goffmann 1990) geprägt ist. Zu Marginalitätsgefühlen, auf deren Basis Stigmaakte ausgeübt werden, kommt es im Zuge der Konzentration auf einen Lebensbereich beinahe zwangsläufig in den peripheren. „Schule war ein/ auch sehr schwer für mich weil ich bin auch gehänselt und (.) gemobbt worden (.) ganz dolle“ (Lavinia 10/30f.). Hinzu kommt jedoch, dass auch im zentrierten Lebensbereich Stigma und Marginalität vorzufinden sind. Das Scheitern in den Anforderungen bezüglich der Schule oder der Stabilisierung des Familienalltags bewirkt bei den BiographieträgerInnen, dass die Ausübung von Stigmaakten sogar als legitim gesehen wird, wodurch sie sich freiwillig randseitig positionieren. Die instabile Situation erzeugt dementsprechend Verlaufskurvenpotential (vgl. Schütze 1981, 98; Schütze 1995, 129), das wiederum zu neuen Bearbeitungsstrategien führt. Zum Teil kommt es dabei zu einer Orientierung an einer sozialen Welt (vgl. Schütze 2002, 70). Dies ist ebenso als Bearbeitungsstrategie zu verstehen, da es der Wiederherstellung von Stabilität, Zugehörigkeit und Anerkennung dient. „Kurz vor&n zeh n t e Klasse Abschluss von zuhause abjehaun“ (Alexander 2/28f.).

Gründend auf den frühen Erfahrungen von Marginalität und Stigma, der Wirkungsmächtigkeit des Verlaufskurvenpotentials und der dadurch entstehenden Instabilität bilden die Betroffenen eine biographische Verletzungsdisposition aus, die später in der unvollendeten Berufsausbildung reaktiviert wird. „Wie jesacht das hängt (.) alles damit zusammen was alles damals passiert is“ (Lavinia 101/8f.).

5.2 Der Berufswahlprozess

Im Prozess der Ausbildungsberufswahl zeigen sich drei Varianten. Einerseits haben die Jugendlichen bis zum Ende der Schulzeit keinerlei berufliche Pläne oder Entwürfe ausgeprägt. Sie orientieren sich bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz ausschließlich an den sich ihnen bietenden Möglichkeitsstrukturen und Vorgaben. „Ich wusste auch nicht was mich da so erwartet aber (.) ich hab mich da beworben [...] weil mein Bruder das/ mein älterer Bruder ähm das auch gemacht hat und bei einem Spaziergang hat er mir das so ein bisschen schmackhaft gemacht damals als ich noch suchte (.) und ähm (.) bevor ich gar nichts (.) äh gefunden hätte in dem Jahr hab ich mich dann daraufhin beworben“ (Arnold 3/8-3/13). Andererseits prägen die Betroffenen zum Ende der Schulzeit kurzfristig einen wenig fundierten beruflichen Entwurf aus, der auf ihren freizeitlichen oder schulischen Interessen basiert. „Ich hab eigentlich mich nur/ ich hab nur so gedacht »ach du fotografierst ja gerne (.) als Hobby«“ (Paula 34/32f.). Es gibt aber ebenso Personen, die bereits sehr früh einen Wunschberuf entwickeln und darauf gründend einen beruflichen Entwurf ausprägen. „Und ich wollte damals Krankenschwester werden (.) das war mein Traumberuf“ (Lavinia 20/12f.). Trotz aller Bemühungen kommt es regelmäßig dazu, dass ihnen die Umsetzung des Entwurfs verwehrt wird. Dementsprechend sehen sie sich kurzfristig genötigt, eine Alternativplanung vorzunehmen, wobei die Integration in das avisierte Berufsfeld handlungsleitend bleibt. „Krankenschwester konnt&ich nich werden“ (ebenda 33/22).

In allen drei Varianten zeigt sich, dass die Wahl des Ausbildungsplatzes nicht den Idealen entspricht bzw. nicht auf einem fundierten berufsbiographischen Entwurf beruht. Eine (neuerliche) Berufsorientierungsphase in Anspruch zu nehmen, kommt jedoch nicht infrage. Grundlage dafür ist das Phänomen der Orientierung an den Ablaufmustern des Familienzyklus (vgl. Schütze 1981, 67f.) bzw. der Ausbildung- und Berufskarriere (vgl. ebenda, 68f.). Sie wirken selbstevident sozialisiert oder fremdbestimmt bzw. -initiiert auf die Betroffenen und beinhalten die Erwartungen an eine berufliche „Normalbiographie“. „Es hieß dann ja du musst dir nen Beruf suchen und als ich die Schule verließ war ich überhaupt nicht drauf vorbereitet [...] und das war ne sehr kurze Zeitspanne und ich hatte überhaupt keine Ahnung von/ von der Schule wie das ist“ (Arnold 20/10-20/17). Eine ausgiebige Berufsorientierungsphase inklusive Wissensbereicherung, Probearbeiten und/oder Praktika, die in diesem Fall der Schulzeit nachgelagert sein müsste, widerspricht grundsätzlich diesen Erwartungen. Dadurch implementiert die Suche nach einem Ausbildungsplatz vielmehr den störungsfreien Verlauf als die Transformation der eigenen Interessen und Vorstellungen in den beruflichen Einstieg. Daher akzeptieren die BiographieträgerInnen die sich ihnen bietenden Angebote und hinterfragen auch nicht die Unterstützung ihrer Eltern, selbst wenn diese weit über die Beratung hinausgeht und zu einer Fremdinitiierung bzw. -bestimmung wird. Jaa und denn hat aber mein Papa gesagt/ das war eigentlich mein Papa die treibende Kraft [...] hab ich mir vielleicht auch nicht getraut »nein« zu sagen&wollte ich mein Papa wieder nicht enttäuschen“ (Paula 7/13-7/29).

Ist ein Ausbildungsplatz gefunden, wird eine Alternativplanung ausgeschlossen. Selbst wenn den BiographieträgerInnen bewusst ist, dass der Ausbildungsplatz keineswegs ihren Vorstellungen entspricht, nehmen sie das Angebot an, um den an sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Die Akzeptanz eines Ausbildungsplatzes entspricht dadurch eher einer Bearbeitungsstrategie der drohenden Leerlaufphase nach der Schulzeit als der Umsetzung beruflicher Pläne und Entwürfe.

5.3 Der Prozess der unvollendeten Berufsausbildung

Das Aufkeimen und die Zunahme der Neigung zur vorzeitigen Vertragslösung ist immer ein fließender Prozess, in dem sich mehrere Faktoren anhäufen, die, trotz aller Bemühungen, nicht bearbeitet werden (können). Er gliedert sich in vier Schlüsselsituationen: 1. Das Entdecken der fehlenden Passung, 2. Die Initiation des Abwägens, 3. Die Entscheidung zur vorzeitigen Vertragslösung und schlussendlich 4. Die Umsetzung dieser. Die ersten beiden Schlüsselsituationen können im Prozess mehrfach auftreten und sich abwechseln.

Nachdem die Betroffenen ihre Berufsausbildung begonnen haben, zeigt sich ihnen früher oder später die fehlende Passung. Sie offenbart sich ebenso in aufgekommenen finanziellen Problemlagen, in Unzulänglichkeiten im Ausbildungsalltag bzw. in der Alltagsorganisation oder in der Diskrepanz zwischen den Vorstellungen von der Ausbildung und der eingetretenen Realität.„War am Anfang auch alles ganz toll und denn musste ich aber immer wieder dieselben Arbeiten machen also jeden Tag immer wieder dasselbe“ (Rebekka 3/32-4/1).

Einher gehen mit dem Entdecken der fehlenden Passung die nachlassende Identifikation mit der Berufsausbildung bzw. mit dortigen Personen(-gruppen) und die abnehmende Zugehörigkeit, insofern diese überhaupt bestand, da den BiographieträgerInnen häufig die Integration aktiv verwehrt und durch Stigmaakte demonstriert wird. „Dann war das noch schlimmer also das lief dann echt schon auf Mobbing hinaus [...] und die haben (.) mich nicht registriert mich nicht angeguckt mit mir überhaupt gar nicht mehr gesprochen und ich wusst halt überhaupt gar nicht was das Problem ist“ (Franziska 5/14-5/18). Im Zuge der ausbleibenden oder nachlassenden Identifikation und Integration bzw. Zugehörigkeit begeben sich die Betroffenen in eine randseitige und stigmafähige Position, was gleichzeitig zur Reaktivierung der biographischen Verletzungsdisposition führt. „Neue Schüler (.) andere Leute und Angst wieder gehänselt und gemobbt zu werden (einatmen) ganz dolle“ (Lavinia 35/7f.). Gründend darauf verringert sich in einem eigendynamischen Prozess deren Handlungssicherheit und -fähigkeit und die Fehler im Ausbildungsalltag werden vielfältiger, was wiederum neues Stigmapotential schafft. „Dann hat man natürlich Fehler gemacht&weil man&s einfach nicht besser wusste und weil man sich och nich jetraut hat irgendwie nachzufragen“ (Paula 10/32ff.).

Die Initiation des Abwägens vollzieht sich auf Basis der Erkenntnis des zunehmenden Verlustes der Handlungsfähigkeit, hergeleitet über einen Abgleich zu anderen Mitauszubildenden. „Die Leute in der Berufsschule mir erzählt haben was die alles so machen wenn die arbeiten und (.) ja bei mir war&n halt so viele Sachen die ich als Schikane empfunden habe“ (Franziska 4/10ff.). Im Zuge von Krankschreibungen oder Urlaub kommt es zu einer Reflexion aus der Distanz, in der die Betroffenen das Für und Wider einer weiteren Partizipation abwägen. „Nach zwei drei Wochen waren dann Weihnachtsferien Ende Dezember und dann (.) hab ich mir in Ruhe überlegt“ (Arnold 4/37-5/1). Die Bestrebungen der Weiterführung der Berufsausbildung verschieben den Prozess hin zu einer Suche nach möglichen Verbesserungen der Situation. Die BiographieträgerInnen sondieren Bearbeitungsmöglichkeiten, wobei sie insbesondere die individuellen Schwächen in Augenschein nehmen. Grundlage dafür ist, dass sie aus Angst vor Stigmaakten Unterstützungsangebote nicht nutzen (können). Unfreiwillig wird eine Isolation eingeleitet, was die Bearbeitung sowie den Alltag in und außerhalb der Berufsausbildung weiter strapaziert. Zudem greifen die gewählten Bearbeitungsstrategien nur situativ und entwickeln keine längerfristige Wirkung. „Dann kam noch die Unzufriedenheit dazu [und] das es eigentlich auch nicht der Beruf is den man wirklich machen möchte&dann hat man aber auch gedacht »ich kann den schlecht abbrechen (.) was denken denn die Anderen (.) die denken ich bin doof&oder ich bin asozial«“ (Paula 11/7-11/10).

Durch die Isolation, die rückkehrenden bzw. ansteigenden Problemlagen in der Berufsausbildung und der Alltagsorganisation verschärft sich der Prozess zunehmend und dehnt sich auf andere Bereiche der Berufsausbildung und Lebenszusammenhänge aus. Die Handlungsfähigkeit in und außerhalb der Berufsausbildung nimmt stetig ab, führt allmählich zu einer Überforderung und häuft Verlaufskurvenpotential an. „Ja und mir gings dann irgendwie immer schlechter ähm ich hab mich dann streckenweise weil ich überhaupt nicht mehr/ ich wollt überhaupt mehr hingehen ich hatte Angst ähm hab mich krankschreiben lassen (.) och ich fang an zu heulen is schlimm (schluchzt) hab mich krankschreiben lassen weil ich nicht mehr hingehen wollte (weinerliche Stimme) (.) hab das meinen Eltern erzählt und hatte übelst Druck (2) und (.) also ich bin dann von zu Hause raus geflogen die ham mich weggeschickt“ (Franziska 8/6-8/11).

Die Entscheidung zur vorzeitigen Vertragslösung wird ausgelöst durch den Verlust der letzten positiven Assoziation bezüglich der Berufsausbildung. Die Betroffenen sehen keine Möglichkeit mehr, die eingefahrene und im Prozess so weit fortgeschrittene Situation zu bearbeiten. Dementsprechend sind sie weder dazu in der Lage noch daran interessiert, auf Unterstützungsangebote von außen zurückzugreifen. Die vorzeitige Vertragslösung stellt für sie vielmehr selbst eine Bearbeitungsstrategie des zunehmenden Verlaufskurvenpotentials, der abnehmenden Handlungsfähigkeit und der Ausdehnung der Problemlagen dar. „Ich (einatmen) hätte das wirklich auch wenn&s jetzt/ (*)ich hätte das wirklich auch zu Ende gemacht wenn ich nicht irgendwann gesagt hätte »das greift mich jetzt auch gesundheitlich an«“ (Paula 27/19ff.).

Im Zuge der Entscheidung zur vorzeitigen Vertragslösung leitet sich die Zeit des Ausharrens ein. Die BiographieträgerInnen verweilen noch in der Berufsausbildung, ohne dieser irgendeinen Stellenwert im Leben beizumessen. Sie begeben sich stattdessen auf die Suche nach einer beruflichen Alternative oder konzentrieren sich ausschließlich auf andere Lebensbereiche, um die dort eingetretenen Problemlagen zu bearbeiten und/oder Stabilität in ihrem Leben zurückzugewinnen.„Bei mir in der Berufsschulklasse hab ich gedacht so das kann&s nicht sein dann hab ich mit der einen gesprochen die meinte sie hätte mit ihrem Ausbilder gesprochen dass ich/ es bestünde auch die Möglichkeit dass ich das Unternehmen wechsle [...] da hab ich mich aber nicht mehr getraut weil ich nichts konnte“ (Franziska 6/24-6/29).

Zur Umsetzung der vorzeitigen Vertragslösung warten die BiographieträgerInnen aus strategischen Gründen auf eine Eskalation. Diese ermöglicht es den Betroffenen, sowohl ihren Interaktionspartnern in der Berufsausbildung als auch in der Familie und im Freundeskreis die Unausweichlichkeit der vorzeitigen Vertragslösung zu demonstrieren. „Fix und fertich durch den janzen Käse da durch die Fahrerei un/ un/ und was das für lange Tage warn und sind (.) und und dann haut der mir da noch so&n Spruch rin um äh rein um mich zu schickaniern oder so also da da jing&s denn wirklich los [...] dann hat sich die Sache eigentlich och erledicht jehabt“ (Olaf 23/34-24/3).

Im Anschluss an die Umsetzung erfolgt ein weiteres Ausharren in der Berufsausbildung, bis die Kündigungsfrist bzw. das Ausbildungsjahr abgelaufen ist. Grundlage dafür ist erneut die Vermeidung bzw. Verkürzung einer Leerlaufphase. Unter Nutzung von Krankschreibungen und Resturlaub versuchen die Betroffenen, den Kontakt zu RepräsentantInnen der Berufsausbildung bestmöglich zu vermeiden.

5.4 Der Freisetzungsprozess

Auf Basis dessen, dass der Beruf konstitutiv für den Alltag und die Biographie ist, handelt es sich bei einer vorzeitigen Vertragslösung nicht nur um eine Identitätskrise, sondern markiert einen Zerfall des Identitätskonzepts. Einher geht damit auch die Zerstörung der Identitätskonstellation in ihrer Stabilität und Sicherheit, des Alltags, der geleisteten biographischen Arbeit sowie aller erarbeiteten Pläne und Entwürfe. „S war schon schlimm&s war keine schöne Zeit&also das war schon geprägt von(*) Selbstzweifeln (einatmen) von natürlich auch (einatmen) Zukunftsängsten (.) ganz extrem [...] aber&s war schon (einatmen) n gravierender Einschnitt und des/ (einatmen) s hat mich aber och irgendwo&n bisschen stärker gemacht“ (Paula 45/14-45/19). Der Zerfall des Identitätskonzepts führt die Betroffenen in einen Freisetzungsprozess aus allen Vorstellungen von sich selbst und bis dato selbstevidenten Handlungs-, Orientierung- und Deutungsmustern, der sie in eine Fallensituation der Entwurzelung manövriert. Der Zerfall des Identitätskonzepts offenbart sich unabhängig vom Grund für die vorzeitige Vertragslösung, der ausführenden Partei oder weiteren Variablen. Dieses Phänomen beruht darauf, dass selbst bei einer positiven Einschätzung der Situation bzw. anfolgenden Weiterentwicklung das vorab gültige Identitätskonzept nicht mehr lebbar ist. Lediglich die Wirkungsmächtigkeit zeigt sich different. Vor allem Personen, die eine stabile Zugehörigkeit zu einer sozialen Welt aufweisen oder ohne längere Unterbrechung eine Folgeausbildung aufnehmen, erfahren den Zerfall eher schleichend auf der Hinterbühne. Vorzufinden ist er dennoch und führt ebenfalls zu den anfolgenden Teiletappen bzw. -phänomenen des Freisetzungsprozesses.

Das Gefühl des Scheiterns wird vor allem hergeleitet über den Entzug der Anerkennung. Insbesondere in der Familie zeigt sich dies. Die innerfamiliäre Anerkennung beruht vornehmlich auf der Einhaltung der Erwartungsfahrpläne im Kontext Ablaufmuster und Beruf. Das Versagen in der Einhaltung des Erwartungsfahrplans bringt den Entzug der Anerkennung mit sich und wird als Scheitern in der beruflichen und biographischen Stringenz gedeutet. „In meiner familiären Umgebung sag ich mal hatte niemand Verständnis für [...] weil das alles überhaupt nicht deren Lebensweg entsprach oder deren Vorstellung vom Leben“ (Franziska 10/29-10/32).

Zur Demonstration des Entzugs der Anerkennung greifen die Akteure auf das Stigma des Scheiterns zurück. „Wenn das meine Mutter wieder rauskricht denn (.) »ja siehste hab ich doch jewusst dass de nichts bist und dass de nichts kannst« (1) [...] damals (.) wo ich die Prüfung nich bestanden hatte (.) in&ne (.) Bürokauffrau Ausbildung (.) hat&se mir ja auch so&ne (.) schönen bösen Nachrichten jeschrieben (.) (*)»bist nichts&kannst nichts (.) ich wollt dich sowieso nie haben&bist nich meine Tochter«“ (Lavinia 100/17-100/23). Insofern die Betroffenen die Ablaufmuster und die darin inbegriffene Einhaltung der biographischen und beruflichen Stringenz als orientierungsstiftend und handlungsleitend sehen, empfinden sie die Nutzung des Stigmas als kanonisch untermauertes und legitimes Mittel. Dementsprechend gehen sie davon aus, dass die Nutzung des Stigmas sich nicht auf die Familie beschränken wird, sondern RepräsentantInnen relevanter Institutionen oder Personen aus dem Freundeskreis ebenfalls darauf zurückgreifen werden.

Einher geht mit der Fallensituation der Entwurzelung die Zerstörung oder zumindest Infragestellung der bis dato stabilen Beziehungsgeflechte. Das Ergebnis ist wiederum eine freiwillige Marginalität, die vornehmlich auf der Angst vor der Anwendung des Stigmas in verschiedenen Lebensbereichen basiert. Die Isolation bei der Bearbeitung in der Fallensituation steht somit in direkter Abhängigkeit zur (geglaubten) Präsenz des Entzugs der Anerkennung. „Von allen Seiten des Familienkreises habe ich dann ähm also Ablehnung erfahren die die wussten/ ich hab mit denen nicht darüber reden können [...] die haben mich also heftig kritisiert alle (2) dass ich n Faulpelz sei und n Drückeberger und dass ich ähm/ (3) dass ich leicht/ leichtsinnig alles hinschmeißen würde oder hingeschmissen hätte [...] in der Familie kein Rückhalt mehr war und meinen Freunden/ meinen besten Freunden und Kumpels musste ich vorlügen ich würde das noch weiter machen ja also auch denen konnte ich nicht anvertrauen aus Scham weil ich mich geschämt hätte“ (Arnold 5/13-5/24).

Durch den Zerfall des Identitätskonzepts, den Entzug der Anerkennung und die Instabilität der Beziehungsgefüge offenbart sich den Betroffenen die Notwendigkeit zur Neuordnung bzw. Modifikation ihrer Identitätskonstellation. Sie sind genötigt, eine Veränderung in der Gewichtung und Relevanzsetzung der Lebenszusammenhänge bzw. Bezugsgruppen vorzunehmen. Dafür begeben sie sich auf die Suche nach neuen signifikanten Anderen in bis dato sekundären Beziehungsgeflechten. „Das war aber och&n Punkt wo man (.) ja was ich halt selber mit mir ausmachen musste (.) wo man sich halt auch&n neues/ n/ so bisschen neuen Freundeskreis suchen musste“ (Alexander 14/24ff.).Diese sollen neben der orientierungstiftenden Funktion über ihren Lebensstil vor allem einen Kontrast zu bis dahin primären Bezugspersonen aufweisen, der sich in der Ablösung von der Orientierung an den Ablaufmustern widerspiegelt. Sie wirken dadurch bezüglich der Erwartungsfahrpläne befreiend und ermöglichen neue Kollektivierungen, in denen das Stigma des Scheiterns nicht thematisiert wird. „Weil man da halt mit (1) ja anderen (.) Menschen in Kontakt jekommen is die och andere Ansichten haben (.) die mir zur (.) damaligen Zeit halt mehr zujesprochen haben als dass was man (.) ja vielleicht auch von&ner Familie her kennt“ (ebenda 16/22-16/25).

Die neuen signifikanten Anderen bilden für die biographische und berufliche Neuorientierung das Zentrum der Identitätskonstellation. An ihnen ausgerichtet, müssen sich alle weiteren Lebenszusammenhänge abhängig von ihrer Passung zuordnen lassen, damit ihnen wieder Relevanz im Leben zugeschrieben werden kann. Der Freisetzungsprozess wird durch die Veränderung der Bezugspersonen und -guppen aber auch zu einer Bereicherung. Die Betroffenen erfahren und üben sich in neuen Handlungs-, Deutungs- und Orientierungsmustern. „Und dann hab ich en/ (einatmen) en jetzt guten Kumpel kennen gelernt [...] ja also durch den ist das eigentlich so/ so gekommen“ (Franziska 10/18-10/29).

5.5 Die biographische und berufliche Neuorientierung

Der Prozess der biographischen und beruflichen Neuorientierung ist ausgerichtet auf die Restrukturierung der Biographie, die Korrektur des Scheiterns, die Erarbeitung einer beruflichen und biographischen Stringenz, die Wiedererlangung von Anerkennung, die Abwendung des Stigmas sowie den Aufbau einer selbständigen und unabhängigen Lebensführung. Die berufliche Neuorientierung ist dabei der biographischen nachgelagert, da beides parallel die Betroffenen überlasten würde. Der Neuorientierungsprozess gliedert sich in drei Etappen: 1. Die Erarbeitung einer neuen biographischen Basisposition und -disposition, 2. Die Kreierung eines neuen Identitätskonzepts und 3. Die Etablierung des Identitätskonzepts anhand von Idealen und pragmatischen Plänen.

Die Ausprägung einer neuen biographischen Basisposition und -disposition vollzieht sich in der Regel in einer Phase eines beruflichen Leerlaufs. „Der Kontakt in jede Richtung abjebrochen (.) und [...] halt widder wen kennjelernt der gleich im Dorf um de Ecke jewohnt hat un denn jing das widder (.) vorwärts so langsam [...] durch die Maßnahmen bin ich denn halt och uff (.) Ideen jekomm dass ich ja mein/ ähm (.) die die äh (.) mein Abi nachholn könnte und so weiter (.) das mach ich jetz och“ (Olaf 5/2-5/7). Die Betroffenen begeben sich auf die Suche nach Identifikationspunkten, orientiert an den Lebensstilen der neuen signifikanten Anderen. Sie testen in diesem Zusammenhang neuartige Lebensentwürfe in Bezug zur Passung zu den eigenen bzw. kollektiven Interessen und Vorstellungen. Gleichzeitig emanzipieren sie sich vom Elternhaus, was als symbolischer Neubeginn und Befreiung aus den Zugzwängen der Erwartungsfahrpläne gesehen wird. „Und dieser Ausbildungsabbruch hat auf jeden Fall (.) geholfen das Maß/ also erst mal zu wissen was ist Freiheit in nem bestimmten Rahmen [...] und äh für meine Eltern war dieser Ausbildungsabbruch das Ende und für mich war das absolut der Start“ (Franziska 48/1-48/6). Um eine selbständige und unabhängige Lebensführung gewährleisten zu können, gehen sie nebenberuflichen Tätigkeiten nach. Neben der Erfüllung dieser Funktion erwirken die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse weitere positive Effekte. Sie erhalten die Struktur des Alltags aufrecht, unterminieren das Stigma des Scheiterns und bereichern den Erfahrungsschatz, wodurch das Setzen neuer positiver und negativer Identifikationspunkte bezüglich des Berufs vorangetrieben wird, auf deren Basis wieder erste latente berufliche Entwürfe und Pläne ausgebildet werden können.

Gründend darauf beginnen die Betroffenen, ein neues Identitätskonzept zu kreieren. Der vergangene Freisetzungsprozess verdeutlicht ihnen, dass ein vollständiges und tragfähiges Identitätskonzept nur möglich ist, wenn auch der Beruf als sinn- und identitätsstiftender Faktor enthalten ist. „Ich will mich ja da auch verwirklichen&ich will ja auch die Aufgaben die ich da habe(*) äh lösen (.) ich will ja auch nich irgendwas machen [...] ich will da auch&n Sinn drinne sehn“ (Paula 43/10-43/14). In dieser Etappe der Neuorientierung kommt es erstmals zu einer relevanten Hereinnahme des Berufs in die Neuordnung des Lebens, häufig begleitet von einem biographischen Handlungsschema (vgl. Schütze 1981, 70-88) oder Wandlungsprozess (vgl. Schütze 1984, 92). „Und dann ähm (.) kam denn dieser (.) ja dieser innere (.) Umschwung“ (Franziska 9/20f.). Die BiographieträgerInnen begeben sich auf die Suche nach einem passenden Berufsbild, in dem sie die Möglichkeit der Selbstverwirklichung und der Restabilisierung ihrer Biographie sehen. Orientierungsstiftend sind dabei alle vorherigen Erfahrungen im Beruf. Während die unvollendete Berufsausbildung zur negativen Abgleichsfolie wird, haben die nebenberuflichen Tätigkeiten vornehmlich positive Auswirkungen. Auch wenn sie zusätzlich auf Beratungsangebote zurückgreifen, achten sie im Kontrast zum ersten Berufsfindungsprozess stets auf ihre Selbstbestimmung. „Generell hat sich meine Instellung seit&der Schulzeit (.) drastisch verändert uff jeden Fall um hundertachtzich Grad jedreht&wahrscheinlich sojar mehrmals (.) das is (.) ja (2) kurios“ (Olaf 8/34ff.).

Im Zuge der Etablierung des neuen Identitätskonzepts entwickeln die BiographieträgerInnen Ideale und pragmatische Pläne der Lebensführung. Die Ideale gelten als Leitlinien und Orientierungs- bzw. Abgleichsfolien der Umsetzung des Identitätskonzepts. Sie sind bewusst langfristig angelegt, vage gehalten und beziehen sich vor allem auf eine angestrebte Position im Beruf sowie eine damit assoziierte Lebensführung. „Weeß wie&s in fünf Jahrn aussieht (.) aber so wär das erstma so&ne Art Perspektive die ich mir (.) jetzt vor Augen halte ja“ (Alexander 22/32ff.). Die pragmatischen Pläne fokussieren hingegen einzelne Etappen des angestrebten Entwicklungsprozesses und orientieren sich an den Möglichkeitsstrukturen und Rahmenbedingungen. Sie müssen nach dem Erreichen der einzelnen (Zwischen-)Qualifikationen stets neu formuliert werden. Ein besonderer Kernaspekt der pragmatischen Pläne findet sich im Stellenwert des Erwerbs von Titeln und Zertifikaten, hergeleitet über die Verwehrung in der unvollendeten Berufsausbildung. „Ich will die Chance nich ungenutzt lassen&trotzdem noch (einatmen) irgendwie (einatmen) n akademischen Weg einzuschlagen (.) dass ich da vielleicht doch noch irgendwie das zusätzlich (einatmen) als Abschluss haben kann (1) was mich natürlich auch noch auf&m Arbeitsmarkt interessanter macht“ (Paula 21/30-21/33).

6 Fazit

Eine vorzeitige Vertragslösung in der Berufsausbildung ist weit mehr als eine Störung der Berufslaufbahn. Durch den kulturinhärenten Stellenwert des Berufs für die Selbstdarstellung und das Identitätskonstrukt hat sie Einfluss auf die gesamte Biographie, wird von anderen relevanten Lebensbereichen und deren RepräsentantInnen determiniert und wirkt sich auf diese aus. Das hier skizzierte Prozessmodell konnte in der zugrunde liegenden Untersuchung fallübergreifend festgestellt und dokumentiert werden. Dementsprechend muss davon ausgegangen werden, dass die (berufs-)biographischen Entwicklungen keine individuellen Fallgeschichten darstellen, wie es in anderen Studien angedeutet wird (vgl. Brüggemann 1975, 47; Bohlinger 2003, 270; Stadler/Schmid 2006, 19). Nicht der Verlauf, sondern ausschließlich die Kombination der variablen Teilprozesse, deren zeitliche Expansion und die genannten Gründe, auf denen der Prozess ratifiziert wird, erwecken den Eindruck von Individualität.

Eine Grundvoraussetzung für die Entdeckung eines Prozessmodells ist die Anwendung einer adäquaten Methodologie bzw. entsprechender Datenerhebungs- und -auswertungsmethoden. Sie sollten sowohl auf die Akteursperspektive abzielen als auch prozessual ausgelegt sein, um die soziale Wirklichkeit in ihrem Verlauf bestmöglich rekonstruieren zu können. Die Akteursperspektive scheint hierbei unumgehbar zu sein, da nur die an der Herstellung der sozialen Wirklichkeit Beteiligten, Auskunft über die Geschehnisse erbringen können, auch wenn diese lediglich retrospektive Perspektiven wiedergeben. Die Rekonstruktion ist selbst ein weiterer relevanter Faktor. Zwar ist es stets möglich, vorab eine Prognose zu erstellen und anhand kulturinhärenter Normvorstellungen einen Verlauf vorauszusagen, doch erst die nachträgliche Rekonstruktion bereitet den Weg für die Analyse der intersubjektiv wahrgenommenen Geschehnisse und hält die Möglichkeit des Entdeckens von Neuem bereit, welches sich abseits der eingetretenen Wege bewegt. Unbekanntes über den prozessualen Verlauf der sozialen Wirklichkeit kann schlichtweg nicht abgefragt oder prognostiziert werden. Erst retrospektiv steht es der wissenschaftlichen Analyse zur Verfügung, muss interpretiert werden und kann zur Weiterentwicklung der Erkenntnisse bzw. Mitgestaltung der sozialen Wirklichkeit genutzt werden. Die Forschungslogik der Grounded Theory sowie die Methoden des autobiographisch-narrativen Interviews und der Erzählanalyse bieten mit Blick auf die Verläufe von Bildungsprozessen eine fundierte Grundlage zur Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, da sie den Kriterien der Perspektivität, Prozessualität und Retrospektivität gerecht werden.

Abschließend steht noch zur Diskussion, ob der berufliche Bildungsprozess in einem unvollendeten Ausbildungsverhältnis als gescheitert zu bewerten ist. Die Berufsausbildung selbst beurteilen die Betroffenen negativ. Der Prozess ist unvollendet und führt nicht zum avisierten Facharbeiterstatus. Verstärkt wird die Wirkung des Scheiterns über das nach der vorzeitigen Vertragslösung zum Tragen kommende Stigma und den Entzug der Anerkennung von relevanten Bezugspersonen. Das Scheitern wird darüber zum kanonischen, kulturinhärenten und legitimen Deutungsmuster bezüglich der vorzeitigen Vertragslösung.

Vor allem in puncto Qualifikation wirkt das Scheitern durch das Ausbleiben von Titeln und Zertifikaten begründet, da die vorzeitige Vertragslösung die Einnahme der angestrebten und erwarteten Position in der Gesellschaft verhindert. Wenn Qualifikation als Positionsbegriff definiert und nur im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit (vgl. Vonken 2011, 21) oder die Outputsteuerung von Bildungsprozessen (vgl. Hensge/Lorig/Schreiber 2011, 133) bewertet wird, dann ist die Qualifizierung in der Berufsausbildung im Zuge der vorzeitigen Vertragslösung als gescheitert zu bewerten.

Im Kontext Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung gestaltet sich die Einordnung etwas schwieriger. Zwar können die Betroffenen zu Beginn der Berufsausbildung einen deutlichen Zuwachs an (beruflicher) Handlungsfähigkeit verbuchen, doch im weiteren Prozess verringert sich der Stellenwert der Berufsausbildung und die Handlungsfähigkeit nimmt sowohl in der Ausbildung als auch in der Alltagsorganisation fortwährend ab. Insbesondere in Bezug zur intendierten Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung der BiographieträgerInnen muss der berufliche Bildungsprozess als gescheitert eingeordnet werden. Deutlich wird dies anhand der Auswirkungen einer vorzeitigen Vertragslösung, symbolisiert in dem Zerfall des Identitätskonzepts und dem darauf folgenden Freisetzungsprozess. Der Zerfall des Identitätskonzepts führt jedoch selbst zu einem Kompetenzzuwachs in der Fallensituation und treibt die Persönlichkeitsentwicklung voran. Vor allem die Kompetenzen der Berufsorientierung und Biographisierung (vgl. Preißer 2001, 225) sowie die Veränderungskompetenz (vgl. Wittwer 2011, 116) erfahren einen deutlichen Schub. Es handelt sich hierbei aber keineswegs um eine Kompetenzentwicklung, die durch den beruflichen Bildungsprozess intendiert wurde. Stattdessen ist der Aufbau eines neuen Identitätskonzepts im Prozess der biographischen und beruflichen Neuorientierung eher den außerberuflichen Bildungsprozessen zuzuordnen.

Am Ende bleibt es ein Problem der Bewertung, Anerkennung und Zertifizierung von Kompetenzen und Qualifikationen, die außerhalb institutionalisierter Bildungsprozesse erworben bzw. nicht zum Abschluss gebracht werden. Eine vorzeitige Vertragslösung markiert zwar einen unvollendeten und auch gescheiterten Bildungsprozess, doch eröffnet sie den betroffenen Personen ebenso einen (ungewollten) Erfahrungshorizont, der ungeahnte Handlungspotentiale und Identitätsentwicklungen bereitstellt. Diese zu nutzen, fällt ihnen jedoch schwer, da die erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen kaum verwertbar sind. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sich das Streben in der Neuorientierungsphase auf den Titelerwerb konzentriert, der zudem in unmittelbare Verbindung mit Anerkennung der Persönlichkeitsentwicklung durch relevante Bezugspersonen gebracht wird.

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Zitieren des Beitrags

Klaus, S. (2014): Das Scheitern des beruflichen Bildungsprozesses aus der Perspektive der Betroffenen. Ergebnisse einer biographieanalytischen Studie über die vorzeitige Vertragslösung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 26, 1-22. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe26/klaus_bwpat26.pdf (20-06-2014).