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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS03 - Konzept Hauptschuloberstufe
Herausgeber: Wiebke Petersen & Gerald Heidegger


Titel:
Vom Übergangslabyrinth zur arbeits- und kulturorientierten Alternativen Oberstufe – Editorial zur Workshopdokumentation


Jenseits des Übergangssystems: Alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung

Beitrag von Gerald HEIDEGGER & Wiebke PETERSEN (biat, Universität Flensburg & HLA – Die Flensburger Wirtschaftsschule, biat, Universität Flensburg)

Abstract

Der Aufsatz schließt an den vorhergehenden über die Bedeutung der Übergangsphase für ein (berufs-)biographisches Selbstkonzept für eher unterqualifizierte Jugendliche an. Er stellt das Gesamtkonzept der arbeits- und kulturorientierten „Alternativen Oberstufe“ als Ausweg aus dem Labyrinth des Übergangssystems vor. Dadurch bereitet er auf die anschließenden Aufsätze vor und bietet einen Rahmen für deren Zusammenhang. Das Gesamtkonzept ist im Editorial zur Einführung in die Thematik des Workshops schon etwas genauer skizziert.

1 Der Übergang Schule – Beruf: Zukunftsorientierte Überlegungen

Der Übergang Schule – Beruf stellte schon immer und stellt zumal heute eine besondere berufspädagogische Herausforderung dar. Sie ist zunächst durch zwei Umstände gekennzeichnet: die Expansion des Übergangssystems in den letzten Jahren einerseits und den drohenden Fachkräftemangel andererseits.

Bis vor kurzem expandierte das „Übergangssystem“ stark. Zeitweilig wurde von einer ähnlichen Teilnehmerzahl an Neuzugängen wie im dualen System gesprochen (vgl. SCHELTEN 2009; BAETHGE 2008), was allerdings  vor allem auf die Mehrfachzählungen im Falle des Übergangssystems zurückzuführen ist, dessen Angebote von vielen Teilnehmern  konsekutiv mehre Male durchlaufen werden. Erst der Berufsbildungsbericht 2011 meldet einen leichten Rückgang an Teilnehmenden im Übergangssystem (BMBF 2011, 58). Gegenwärtig hat das Übergangssystems jedoch keine klare pädagogische oder sozialpolitische Funktion, sondern wird als Notfalleinrichtung wahrgenommen, was niemals eine derartige quantitative Bedeutung rechtfertigen kann.

Der Fachkräftemangel wird schon seit längerem vorhergesagt, scheint sich aber erst jetzt auf dem Arbeitsmarkt real bemerkbar zu machen. Es wird prognostiziert, dass wir zurzeit noch die Ruhe vor dem Sturm genießen, der sich bald zu einem Orkan verdichten wird. Diesem Fachkräftemangel gilt es entgegenzuarbeiten, wobei insbesondere auch die häufigen Fehlallokationen vermieden werden müssen, die in der Ausbildung bis zum drop out und in der Arbeit bis zur inneren oder äußeren Kündigung führen können. Auch hier ist das Übergangssystem besonders betroffen. Deshalb fordert der BIBB-Hauptausschuss (2008) eine innere und äußere Strukturreform.

Zur Expansion des Übergangs-“Systems“ ist zu fragen, ob es – wegen des demographischen Wandels, also wegen des starken Rückgangs der Jahrgangsstärken der nächsten Generationen von Auszubildenden – bald von alleine schrumpfen wird.

Eine solche Entwicklung dürfte jedoch angesichts der zunehmenden Ansprüche an Fachkräfte, wie sie sich in den neuen Ausbildungsordnungen manifestieren, erhebliche Probleme aufwerfen. Denn es könnte schwierig werden, vielen Jugendlichen, denen beim Verlassen der Sekundarstufe I mangelnde „Berufsreife“ attestiert wird, einen Erfolg in der Ausbildung zu vermitteln. Auf diese Berufsreife bezieht sich auch der Begriff der Berufswahlreife, die man durch Assessments der Ausbildungsreife festzustellen versucht. (BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT 2006) Zwar gibt es bereits weitreichende Absichtserklärungen und eine ganze Reihe von Ansätzen, Jugendliche in den Betrieben selbst in Anlehnung an Konzepte der ausbildungsbegleitenden Hilfen (abH), aber weit darüber hinausgehend zu fördern. Es geht dabei also nicht nur um eine Einstiegsqualifizierung beispielsweise gemäß dem Modell der EQJ. Vielmehr soll – vor allem in theoretisch weniger anspruchsvollen Berufen – in der normalen Ausbildungszeit innerbetriebliche Förderung stattfinden, um die Entwicklung von  Ausbildungsreife zu unterstützen und Benachteiligten zu einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss zu verhelfen. In einer DIHK-Umfrage hat sich sogar die Mehrheit der Betriebe zu dieser Absicht bekannt. (vgl. DIHK 2011, 36.) Darüber hinaus hat dort eine erhebliche und zunehmende Minderheit von Betrieben angekündigt, dass sie auch Jugendliche mit Lernschwächen in die Ausbildung nehmen (a.a.O., 37), also die Eingangsvoraussetzungen für ihre jeweiligen Ausbildungsangebote faktisch herabsetzen wollen. Um dies mit den betrieblichen Gegebenheiten in Übereinstimmung zu bringen, sollen – wie zumindest für Einzelfälle berichtet wird (vgl. CHRISTIANSEN 2011) – die in letzter Zeit etwas abgeflachten betrieblichen Hierarchien wieder ausdifferenziert werden, wie es beispielsweise von der Lagerhaltung aus der Logistikbranche schon berichtet wird. Ob das allerdings einerseits die mangelnde Berufsreife generell – insbesondere für die anspruchsvolleren Berufe – kompensieren kann, bleibt abzuwarten. Denn es ist unklar, in welchem Umfang Benachteiligte tatsächlich in anspruchsvollere Berufsausbildungen integriert werden können. Wenn bisherige (Markt-)Benachteiligte jetzt durch das umfangreichere Ausbildungsplatzangebot leichter in (duale) Ausbildungen orientiert werden, könnte es sein, das Fehlallokationen auf jeden Fall nicht reduziert werden.

Andererseits ist besonders auch zu fragen, ob man damit den Entwicklungsbedürfnissen der Jugendlichen wirklich gerecht wird. Diese Frage wurde auch im Workshop intensiv diskutiert. (vgl. „Dialektische Perspektiven“ in dieser Workshop-Dokumentation.) Falls man diese Frage verneint, resultiert daraus die Forderung, dass das Übergangssystem ein „eigenes Recht“ erhalten muss und es nicht  länger nur  ein Not-“System“ bleiben darf.  Daraus ergibt sich die entschiedene Forderung nach einem klaren pädagogischen Konzept. Einen Anknüpfungspunkt dafür bietet das „Memorandum Benachteiligtenförderung“ (SEKTION BERUFS- UND WIRTSCHAFTSPÄDAGOGIK DER DGfE 2008), welches der Forderung Nachdruck verleiht, ein verändertes relativ unabhängiges Teilsystem zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem zu etablieren. Doch schlagen wir vor, dieses Vorhaben über den Bereich der Benachteiligtenförderung  hinaus zu erweitern. Dieses Angebot sollte dann allen interessierten jungen Menschen zugänglich sein, die nicht die gymnasiale Oberstufe besuchen (wollen).

2 Zwei weitere Herausforderungen

Ein verbessertes Übergangsmanagement, auch wenn es der individuellen Förderung dient, ist jedoch ohnehin nicht genug, denn man hat sich einer dritten zentralen Herausforderung zu stellen. Der Übergang von der Sekundarstufe I in den Beruf  (also zunächst in die Berufsausbildung) ist – und war auch schon immer – stark schichtenspezifisch, was einer demokratischen und sozialen Gesellschaft nicht angemessen ist, die – wenn schon nicht ähnliche Chancen für alle – so doch soziale (Einstiegs-)Mobilität fördern muss.  Der Übergang Schule – Beruf bedeutet hier also nicht: Abitur à Studium à akademischer Beruf, wie es in der oberen Mittelschicht üblich ist. Für die mittlere und untere Mittelschicht oder die – heute wieder so bezeichnete – „Unterschicht“ gilt vielmehr: Haupt-/Realschule (auch ohne Abschluss) à (hoffentlich) Ausbildung à Beruf auf mittlerer/unterer Hierarchieebene.

Diese Spaltung nimmt seit längerem erheblich zu, empirisch auch in Deutschland, wie zumal der internationaler Vergleich gezeigt hat, etwa bei den Begleituntersuchungen der OECD (2009) zu PISA. So kann man die Ergebnisse der Sinus-Milieu-Studie 2010 (SINUS MILIEU STUDIE  2010) derart deuten, dass sich nicht mehr (wie im halben Jahrhundert nach dem Krieg) der von SCHELSKY vorhergesagte Trend zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (BRAUN 1989) findet, sondern im Gegenteil ein Auseinanderdriften der Milieus. Bekannt wurden die Erhebungen zur Relation des Einkommens von Spitzenmanagern zu demjenigen von Facharbeitern: sie ist – auch in Deutschland – in den letzten zwei Jahrzehnten in extremem Maße gestiegen. 

Unserer Meinung nach muss sich gerade die berufliche Bildung – und damit die Berufspädagogik – dieser dritten zentralen „sozialen“ Herausforderung stellen. Sie sollte es als ihre Aufgabe ansehen, die Abspaltung der unteren Mittelschicht und auch der Unterschicht als „Unterklasse“ zumindest  abzufedern. Deren Angehörige müssen ähnliche Chancen bekommen wie die weiter „oben“. Dann stellt sich gerade auch in der heutigen Debattenlage die Frage: Würden  sie sie nutzen? Sie darin zu bestärken, dazu sollen unsere Vorschläge beitragen.

Der Übergang Schule – Beruf enthält außerdem eine vierte Herausforderung: er muss der Adoleszenz adäquat sein. Er muss eine strukturierte Ablösung vom Elternhaus mit einer allmählichen Hinwendung zum Erwachsenendasein verbinden. Dazu ist eine sinnvolle Balance zwischen Fördern (gibt Halt für den Übergang) und Fordern (Forderungen zu erfüllen gibt Gefühl der Stärke und Selbstachtung) zu ermöglichen. Diese strukturierte Neuorientierung ist für die „Bevorzugten“ aus der oberen Mittelschicht (= Gymnasiasten) selbstverständlich, auch wenn ihnen die Möglichkeit der Bewährung in realen Lebens- und Arbeitssituationen (HENTIG 1982) nicht so leicht offen steht, vielleicht sogar vorenthalten wird.

Weltweit wird diesen Bevorzugten, oft ca. 50% eines Altersjahrgangs, ein „Moratorium“ – eine Zeit des Reifens zwischen Kindheit und Erwachsenendasein – eingeräumt. Demgegenüber stellt die Forderung nach genereller Berufswahlreife und Ausbildungsreife  mit 16 Jahren – die bezeichnender Weise nur für die weniger Bevorzugten erhoben wird – eine Überforderung dar. Denn sie fordert von den „Weniger-Bevorzugten“ eine „Reife“, die sie in diesem Alter gar nicht haben können. Dafür verantwortlich sind vor allem die Wahrnehmungsveränderungen in der Pubertät, die mit einer seelisch-körperlichen Umorientierung verbunden sind. Deshalb ist es unangemessen, diese Berufs(wahl)reife von ihnen zu verlangen. Denn die Funktion des Suchens nach eigenständigen Lebensentwürfen, die für diese Lebensphase der Frühadoleszenz charakteristisch sein sollte, wird damit abgekappt. Dies bedeutet eine deutliche Kreativitätsverengung, junge Menschen werden damit in ein Korsett gepresst.

Unsere zukunftsorientierten Überlegungen führen zu dem Lösungsvorschlag der „Alternativen Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung in eigenem Recht“.

Für sie ist gemäß dem jüngeren Verständnis des Sozialmanagements (Rausch 2009) ein Leitbild zu entwerfen, das sich nach internationaler Tradition durch eine „Vision“ und eine „Mission“ auszeichnet. Die Vision: Alle Jugendlichen erfahren – nicht utopisch gemeint: unter den gegebenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen – eine optimale Förderung („no child left behind“). – Die Mission: Das dschungelartige Übergangs-“System“ wird durch eine (offen!) systematisierte Lern-, Arbeits- und Lebensstruktur für alle ersetzt, angepasst an soziales Umfeld,  Lernvorgeschichte, Motivationsstruktur.

3 Was ist neu an den Übergangsproblemen? – Zur Geschichte

Der Übergang Schule – Beruf brachte auch in Vergangenheit beachtliche Probleme mit sich. Bekannt ist die Preisschrift KERSCHENSTEINERs (1901 ff.) zur Frage „Wie ist unsere männliche Jugend von der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt in den Heeresdienst am zweckmäßigsten für die staatsbürgerliche Gesellschaft zu erziehen?“ Dabei wurde davon ausgegangen, dass sich an den Heeresdienst eine berufliche Ausbildung oder gleich eine berufliche Tätigkeit anschließt. Für diese Übergangsphase hatte Kerschensteiner die Idee der Berufsbildung vorgeschlagen. Jedoch existierte ein Übergangssystem im heutigen Sinne  für lange Zeit nicht. Noch bis in die 1960er Jahre blieben fast 20% eines Altersjahrgangs ohne Ausbildung und gingen zumeist in niedrig qualifizierte Arbeit. Insofern ist die „Ausbildungslücke“ nicht neu.

In jenen Wirtschaftswunderzeiten bedeutete Fachkräftemangel einen vor allem quantitativen Mangel an disziplinierten, verlässlichen Arbeitskräften. Ab den 1960er Jahren setzte sich jedoch ein sozialer und technisch-wirtschaftlicher Umbruch durch. Der soziale Umbruch bedeutete Tendenzen zu einer stärkeren Demokratisierung, zu der vor allem auch ein höheres Bildungsniveau beitragen sollte. Das daraus folgende Programm der Bildungsexpansion wurde aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert. Besonders einflussreich waren zum einen Georg PICHT (1964) mit seinem Schlagwort der deutschen Bildungskatastrophe, zum anderen das Buch von Ralf DAHRENDORF(1965) „Bildung ist Bürgerrecht“. Daraus ergab sich vor allem auch im Kontext der deutschen Kultur der Berufsbildung die Idee der Ausbildung für alle. Damit war es zwingend, für die

Zurückbleibenden ein Übergangssystem zu schaffen. Der technisch-wirtschaftliche Umbruch äußerte sich in einer beschleunigten Rationalisierung, die – im Gegensatz zu vielen verbreiteten Befürchtungen – im Durchschnitt auch die Arbeitsprozesse komplexer machte. Daraus folgte (und folgt) ein wachsender inhaltlicher Anspruch an Fachkräfte, wie er sich in den Neuordnungen der Berufe manifestiert. Damit wird es schwieriger, den Fachkräftebedarf zu decken.

Es ergibt sich das Problem, ob genügend Jugendliche diesem Anspruch genügen können und es stellt sich eben die Frage, in welchem Umfang Jugendliche, die sich jetzt noch im Übergangssystem befinden, künftig in relativ anspruchsvolle Berufe einmünden können.

Dies ist besonders virulent angesichts der These, die Expansion des Übergangssystems sei zurückzuführen auf eine Abnahme der Leistungsfähigkeit der Jugendlichen, also auf einen zunehmenden Mangel an Ausbildungsreife. Häufig wird – wie übrigens schon seit Jahrtausenden – sogar ein Abnehmen der geistigen Leistungsfähigkeit konstatiert. Dem widerspricht jedoch der „Flynn-Effekt“ (FLYNN 1984), nach dem der durchschnittliche IQ – also das wenn auch umstrittene Maß für kognitive Fähigkeit und Durchhaltevermögen – seit 1960 um mindestens 10 Punkte gestiegen ist. Wahrscheinlich ist in jedem Fall, dass das Leistungsvermögen nicht gesunken ist, sondern im Vergleich zu der Zeit zuvor andersartig geworden ist, nämlich: flexibler und weniger durch Fremdbestimmung zu disziplinieren.

Deshalb sind die Gründe für eine veränderte Wahrnehmung der Übergangsschwierigkeiten andere:  Zum einen ist es der eben schon genannte, aber weiter wachsender gesellschaftliche Anspruch und zum anderen auch ein zunehmender individueller Anspruch an die Ausbildungs- und Arbeitswelt (SHELL JUGENDSTUDIE 2010). Unter diesen Bedingungen besteht jedoch für die Benachteiligten unter den „Weniger-Bevorzugten“ die Gefahr, dass sie diesen Ansprüchen nicht genügen können, so dass sie  sich in die Unterklasse abgedrängt sehen. Daraus ergeben sich häufig psychologische Konsequenzen: Es verbreitet sich die Auffassung, Anstrengung lohne sich nicht; Apathie oder individuelle Rebellion sind die Folge. Daher sind Aufmerksamkeitsdefizite durch Medienkonsum, wie sie häufig von Lehrern beklagt werden, aber auch Disziplinlosigkeiten  vielleicht nicht so sehr eigenständige Gründe, sondern eher Symptome des Abgleitens in die Unterklasse. Ähnliches könnte für die häufig genannte mangelnde elterliche Fürsorge zutreffen.

4 Lösungsvorschlag: Alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung in eigenem Recht

Die alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung soll einerseits das bisherige Übergangssystem ersetzen. Andererseits soll die Vollausbildung für einen Teil der Ausbildungsverhältnisse – dual und auch schulisch – für weniger anspruchsvolle Berufe, die oft durch ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) unterstützt werden müssen, zugunsten einer Zeit für „Reifung“>nach hinten verschoben werden; jedoch sind für die Ausbildung anrechenbare Module erwünscht. Die alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung hält aber nicht nur arbeitsorientierte, sondern  besonders auch kulturorientierte Angebote bereit. Was heißt das, was macht man da? Bevor wir darauf eingehen, wollen wir – im Sinne unserer Vision und Mission – zunächst das allgemeine Ziel und die Zielgruppen beschreiben.

Die alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung hat zwei übergreifende Ziele, die dialektisch miteinander verbunden sind. Auf der einen Seite müssen die Jugendlichen in die Lage versetzt werden, längerfristig für sich selbst zu sorgen. Sie müssen „Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) entwickeln, die in einfacher Form auch mit „Anstelligkeit“ (BOLDER/ DOBISCHAT 2010) bezeichnet werden kann. Dies ist das Minimalziel der Arbeitsorientierung, die natürlich im Sinne des Modells der vollständigen Handlung (VOLPERT 1999, HÖPFNER 1991) weit darüber hinausgehen soll. Auf der anderen Seite soll es den Teilnehmenden ermöglicht werden, sich den Anforderungen der Arbeitswelt bewusst und überlegt zu stellen und die Zumutungen, die im ungünstigen Fall zu gewärtigen sind, kritisch zu reflektieren. Zu dieser emanzipatorischen Haltung soll die Kulturorientierung beitragen.

Es ist wichtig zu sehen, dass diese beiden Zielrichtungen einander bedingen: Ohne Fähigkeiten, die aus einem emanzipatorischen  Potenzial erwachsen, kann es letztlich keine Employability für anspruchsvollere Tätigkeiten geben, da diese eine Distanzierung von den unmittelbaren Aufgaben erfordern. Ohne Employability bleibt aber auch die Emanzipation leer, da man dann im realen Leben von Zuwendungen anderer abhängig ist und sich die Freiheit der Emanzipation nur in Träumen realisiert. Zugleich widersprechen diese Zielrichtungen aber auch einander. Denn Emanzipation kann – und muss manchmal sogar – zu einer Haltung führen, die zu wenig Anpassung an die betrieblichen Gegebenheiten verkörpert und somit die Beschäftigungsfähigkeit einschränkt. Eine zu starke Fokussierung auf  Employability, wie sie sich nicht nur bei „Weniger-Bevorzugten“ findet, sondern auch bei Menschen, die stark auf die Karriere fixiert sind, kann das freie Denken für eine emanzipierte Lebensführung einschränken. Also gilt es – wie immer bei auf Kant und Schleiermacher zurückzuführenden dialektischen Verhältnissen – die Balance zu halten!

Zu den Zielgruppen der>alternativen Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung:

Betrachten wir zunächst  die Angehörigen des bisherigen Übergangssystems:  Ausbildungsvorbereitendes Jahr, Jugendliche ohne Ausbildung, „Verschwundene“, Berufsfachschule I,  Berufsvorbereitungsjahr, Einstiegsqualifizierung für Jugendliche, Teilnehmer an Kursen freier Träger, u. ä.

Potentiell sollen auch alle Hauptschulabsolventen und interessierte Realschulabsolventen dazu zählen. Wir streben also keine Konzentration auf „echt“ Benachteiligte an, sondern  wollen Marktbenachteiligte und nach herkömmlicher Definition nicht Benachteiligte ansprechen. Potentiell richtet sich das Angebot auch an alle Realschulabsolventen sowie an Gymnasiasten, die müde an der konventionellen Schule sind und einen alternativen Weg probieren wollen. Insgesamt sollen möglichst viele von den „Weniger-Bevorzugten“ angesprochen werden.

5 Internationale Vorbilder

Die alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung richtet sich an internationalen Vorbildern aus. Besonders ist die dänische „efterskole“ ein Modell, dem wir sehr weitgehend folgen wollen (Efterskole 2011: www.efterskole.dk). Sie bietet vor allem freie Aktivitäten an, die man einzeln oder in Gruppen verfolgen kann. Das Themenspektrum ist weit gespannt und umfasst die Felder Soziales und Politik, Beruflich Orientiertes, Musisch-Kulturelles, aber auch „akademische“ Fächer. Sie dient vor allem der Selbstfindung und Emanzipation und der allgemeinen sowie beruflichen Orientierung, aber gegebenenfalls auch der Vervollständigung der schulischen Qualifikationen. Die efterskole ist gewöhnlich eine Internatsschule. Zur Übertragung dieser Eigenschaft gab es im Workshop (kritisch-konstruktive) Diskussionen. (vgl. „Dialektische Perspektiven“ in dieser Workshop-Dokumentation.) In dieser Hinsicht ist die efterskole selbst nach dem Modell der „folkehöjskole“ für Erwachsene gestaltet, die auf GRUNDTVIG zurückgeht, der jedoch ausdrücklich nicht systematisch-abschlussbezogenes Lernen im Auge hatte, weil es seiner Meinung nach das eigentliche Ziel des Lernens eher verhindere, nämlich Aufklärung für das Leben und die Entwicklung von Selbstbestimmung. Im Sinne der eben genannten Dialektik, also in entsprechend eingeschränkter Form,  wollen wir diesen Gedanken in Form der beschriebenen Polarität aufgreifen. Von großer Bedeutung ist die Tatsache, dass die efterskole im Laufe der Jugendzeit von nahezu einem Drittel der dänischen Jugendlichen besucht wird, obwohl sie ein beträchtliches Schulgeld erfordert. Sie ist also keine Eliteinstitution, was uns die Hoffnung vermittelt, ihren Grundgedanken für einen beachtlichen Teil der Weniger-Bevorzugten nutzbar machen zu können. Schließlich muss man sich vor Augen halten, dass Dänemark ein hochmodernes und international erfolgreiches Industrieland ist, in dem die Notwendigkeit einer effizienten Arbeitsgestaltung und damit einer effektiven Jugendbildung  nicht geringer ist als in Deutschland. Die Existenz der efterskole ist ein Beweis dafür, dass zwischen Persönlichkeitsentfaltung und effektiver sowie effizienter Bildung kein Widerspruch besteht.

Ein weiteres Vorbild aus dem Bereich der internationalen Diskussion ist ein

Modell aus dem Umkreis der Reformpädagogik, das von H. v. HENTIG (1982) auf einer Tagung des Europarats zum Thema „Jugendbildung – Preparation for life“ unter dem Titel

„A plea for less „preparation“ and more „life”” vorgestellt wurde.

Daraus leiten wir für die alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung ab, statt viel Unterricht mehr freie Aktivitäten und „apprenticeship“ („Lernen in tätiger Lehre“) zu ermöglichen. Insbesondere gilt es hier, kognitives, musisch-kulturelles, praktisches und erst dann auch berufsorientiertes Apprenticeship-Lernen miteinander zu verbinden.

Die Rolle und Funktion der Schule ändert sich dabei grundlegend, sie soll nicht als Wissenslieferant dienen, sondern in erster Linie als Clearingstelle für die Koordination der vielfältigen Aktivitäten an verschiedenen Tätigkeitsorten fungieren. Wir schlagen vor, dass die alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung keine eigene Schule ist, sondern eine Regenbogenkoalition von höchst vielfältigen Tätigkeitsangeboten in sehr unterschiedlichen, eigenständigen Institutionen;  darin würde sie sich also von der dänischen efterskole unterscheiden. Weitere Argumente – für  und wider – finden sich dazu im Beitrag „Dialektische Perspektiven“ in dieser Workshopdokumentation.

6 Inhaltliche Orientierungen, Aktivitätsformen und Abschlüsse

Die alternative Oberstufe soll – wie es schon in ihrem Langtitel hervortritt –Arbeitsorientierung mit  Kulturorientierung verbinden. Auch im Sinne der dänischen efterskole wird eine Orientierung auf soziales Lernen starke Berücksichtigung finden. Im Sinne des Bildungsideals des klassischen Altertum soll aber auch eine (sportliche) Bewegungsorientierung, die Entfaltung körperlicher Aktivitäten nicht zu kurz kommen, die nicht nur im gegenwärtigen Bildungsdiskurs, sondern häufig auch von den Jugendlichen selbst „vergessen“ wird.  Diese vier Orientierungen für ganzheitliches Lernen werden in dieser Workshopdokumentation – zusammen mit den Aktivitätsformen und Abschlüssen –  von Wiebke Petersen näher beschrieben. In Kürze bedeuten sie Folgendes:

Arbeitsorientierung: Theorie und vor allem auch Praxis im Betrieb oder in der Werkstatt in der Schule oder beim Träger;

Kulturorientierung: Selbstorganisierte Populärkultur, ergänzt aber auch durch Inhalte der herkömmlichen allgemeinbildenden Unterrichtsfächer;

Soziale Orientierung: Praxis und Theorie für soziale Aktivitäten – vor allem auch außerhalb der Schule etwa in Form von Nachbarschaftshilfe u.ä.;

Bewegungsorientierung:>Körpererfahrungen, Erlebnispädagogik – viel Praxis kombiniert mit Ansätzen von Theorie.

Die Aktivitätsformen umfassen vor allem praktische, aber lernhaltige Tätigkeiten bei den verschiedenen Institutionen, also in der Regel außerhalb eine schulischen Umfeldes. Dazu zählen Langzeitpraktika und Kurzzeitpraktika in sozial- kulturellen Einrichtungen und Betrieben – ähnlich der Einstiegsqualifizierung für Jugendliche (EQJ) –, aber auch systematische Kurse, wie sie bisher in der Schule angeboten wurden. Im Zentrum sollen jedoch freie Aktivitäten sein.

Im Sinne GRUNDTVIGs sollen Abschlüsse nicht im Vordergrund stehen. In Anlehnung an die Transformation der dänischen efterskole, die in den letzten Jahrzehnten doch eine etwas größere Nähe zu eher herkömmlichen Formen der Förderung von (aber reflektierter!) Berufsorientierung bewirkt hat, sollen jedoch Modulzertifikate – mit oder ohne direkten Ausbildungsbezug – vergeben werden. Außerdem sollen Teilabschlüsse für den Haupt- und Realschulabschluss oder auch für Teile der Fachhochschulreife zu erreichen sein. In günstigen Fällen können natürlich auch neue Vollabschlüsse entwickelt und eingeführt werden.

7 Organisatorische Regelungen und Finanzierung

Nach unserem Vorschlag, die alternative Oberstufe als „Regenbogenkoalition“ zu verwirklichen, ist dann eine Clearingstelle für Jugendliche und Institutionen einzurichten, aus pragmatischen Gründen wohl am besten in der beruflichen Schule.

Sie ist die zentrale Anlaufstelle für die Jugendlichen und für die soziale Einbettung der individuellen Aktivitäten zuständig. Ferner hilft sie ihnen bei der inhaltlichen Klärung zur Ordnung der Vielfalt bei der Auswahl der Angebote.

Darüber hinaus soll sie organisatorisch den Dialog der Institutionen moderieren, damit diese ihr Angebot aufeinander abstimmen können. Das bisherige Netz des Übergangssystems aus freien Trägern, Betrieben (EQJ u. ä.) und beruflichen Schulen soll erhalten bleiben; es soll wesentlich ergänzt werden durch Sportvereine, Musikschulen, die Volkshochschule etc. Übergangsmodelle sind gut vorstellbar; sie werden von Wiebke Petersen in dieser Workshopdokumentation beschrieben.

Eine zentrale Frage richtet sich darauf, ob das vorgeschlagene Modell überhaupt finanzierbar ist. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die dänische efterskole für breite Kreise der Bevölkerung finanzierbar ist, obwohl die Kosten durch die Internatsform beträchtlich sind. Nach unserer Recherche werden gewöhnlich 50 % von den Jugendlichen und ihren Eltern getragen, 50 % vom Staat.

Unser Modell ist ohne Internat wesentlich günstiger. Langfristig sollten alle Finanzierungsströme für das bisherige Übergangssystem – von den Leistungen der Arbeitsagentur bis zu den entsprechenden Finanzierungsanteilen für die beruflichen Schulen – in die neue Organisationsform umgeleitet werden. Eventuelle verfassungsrechtliche Bedenken könnten vielleicht bald ausgeräumt sein, weil das strikte Verbot einer Mischfinanzierung im Bildungswesen ohnehin auf dem politischen Feld stark angegriffen wird. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass gegenwärtig viele Jugendliche zwei bis vier Mal durch das Übergangssystem – mit entsprechenden Kosten – geschleust werden. Die Alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung soll ein oder zwei Jahre, manchmal bis zu drei Jahren dauern, bedeutet also für die Benachteiligten (einschließlich der Marktbenachteiligten) keine zeitliche Ausdehnung. Für sie ist die Einführung kostenneutral. Sie wäre aber auch weitgehend kostenneutral, wenn außerdem Jugendliche, die gegenwärtig nicht im Übergangssystem betreut werden, mit einbezogen würden. Denn der Erfolg dieser Förderung von Persönlichkeitsentwicklung, Kreativität und Entschlusskraft für die Jugendlichen sollte erheblich zunehmen. Das würde dann der ganzen Gesellschaft und besonders auch der Wirtschaft zugute kommen, so dass letztlich ein beträchtlicher Gewinn für alle resultieren sollte.

Auch für die Finanzierung lassen sich im Übrigen Übergangsmodelle entwickeln.

8 Ausblick

Gemäß der Absicht, die sozialen Unterschiede für den Bildungs- und Berufsverlauf zu reduzieren, sollte die Alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung in eine integrierte Sekundarstufe II eingebunden werden. Dies sollte nicht in erster Linie verwaltungsmäßig realisiert werden, sondern durch Vernetzung mit gegenseitiger Unterstützung. Dennoch würde es so leichter, zwischen den verschiedenen Bildungswegen der Sekundarstufe II zu wechseln, also zwischen Berufsausbildung im dualen System oder in der Schule, der gymnasialen Oberstufe oder eben der Übergangsform der Alternativen Oberstufe. Das sollte, wie eingangs erwähnt, keine Einbahnstraße Richtung Gymnasium sein, auch nicht nur umgekehrt ein Überwechseln von Gymnasiasten nach dem Abitur, sondern es sollte die Möglichkeit eröffnen, während der Sekundarstufe II zu wechseln – und sei es nur vorübergehend –, wenn  es einen dazu drängt. 

Dies entspricht einer gemeinsamen „Vision“ für alle: optimale Förderung für alle (!).

Entsprechend der “Mission“ gälte es, alle Institutionen, die in der Sekundarstufe II aktiv sind, zu vernetzen, so dass sich ihre Angebote ergänzen. Gymnasium, Ausbildungsbetriebe, Berufliche Schulen und Bildungsträger würden mit einer bunten Vielfalt von Vereinen und freien Bildungseinrichtungen sowie mit Institutionen zusammenarbeiten, die Praktikantenstellen einrichten – zum Wohle aller, der Jugendlichen, der Wirtschaft und der Gesellschaft als ganzer.

Literatur

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Zitieren dieses Beitrages

HEIDEGGER, G./ PETERSEN, W. (2011): Jenseits des Übergangssystems: Alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 03, hrsg. v. PETERSEN, W./ HEIDEGGER, G., 1-12. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws03/heidegger_petersen_ws03-ht2011.pdf (26-09-2011).



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