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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS03 - Konzept Hauptschuloberstufe
Herausgeber: Wiebke Petersen & Gerald Heidegger


Titel:
Vom Übergangslabyrinth zur arbeits- und kulturorientierten Alternativen Oberstufe – Editorial zur Workshopdokumentation


Dialektische Perspektiven der „Alternativen Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung“

Beitrag von Wiebke PETERSEN & Gerald HEIDEGGER (HLA – Die Flensburger Wirtschaftsschule und biat/ Universität Flensburg & biat/ Universität Flensburg )

Abstract

In diesem Text, der als zweiter Teil des Editorials zusammen mit dem ersten die Klammer um die hier publizierten Aufsätze bildet, geben wir eine Zusammenfassung der Diskussion im Workshop. Sie warf wichtige Fragen auf, die bei weiteren Planungen für eine Alternative Oberstufe und deren Verwirklichung zu berücksichtigen sind.

1 Einleitung

Die Diskussion im Workshop zeigte, dass es – bei aller grundsätzlichen Unterstützung des Konzepts – erhebliche Unterschiede in den Auffassungen über die Organisationsform, die Inhalte, die Verbindlichkeiten und die Rolle des pädagogischen Personals in der „Alternativen Oberstufe“ gibt. Da sich darin nicht nur „professionstypische Einstellungen“ (BOJANOWSKI 2008) wiederfinden, sondern auch grundlegende Widersprüche im Bildungs- und Erziehungsgeschehen spiegeln, wollen wir – als Workshopleiter – diese Diskussion zusammenfassend darstellen. In erster Linie geht es um die schon von KANT (1982, 20) einflussreich formulierte Frage: "Eines der größesten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen kann. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich Freiheit bei dem Zwange?"

Im Einzelnen wurden die folgenden zu Gegensatzpaaren verdichteten Themen angesprochen.

2 Bedürfnis nach strengen Strukturen und Regeln versus libertäre Freigabe der Aktivitäten und der Lebensgestaltung

Dieses Gegensatzpaar kennzeichnet insbesondere – aber natürlich keinesfalls nur – die Jugendphase, in der einerseits die prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten der Wahl für die individuelle Gestaltung des Lebens bewusst werden. Andererseits bildet sich gerade dadurch ein starker Wunsch nach strengen Strukturen heraus, um der damit verbundenen Unsicherheit zu entgehen. Umgekehrt wiederum nährt dies den Wunsch nach der libertären Freigabe, also einer Gegenerfahrung zur bisherigen Erziehung, die gerade in dieser Lebensphase rückblickend zum Teil als kontinuierliche Umklammerung wahrgenommen werden kann. Die libertäre Freigabe in der modernen Gesellschaft wurde allerdings von Marcuse – in seinem „Versuch über die Befreiung“ – als „Entsublimierung“ gedeutet, in dem sie eher unmittelbaren Lebensgenuss verspricht. Soweit sie einer Sinnstiftung im Zusammenhang mit einem Wertekanon (etwa nach SPRANGER 1922) entgegenarbeitet, sah er darin ein Instrument der Repression: „Repressive Entsublimierung“. Sie ist ein wesentliches Element der „repressiven Toleranz“ (MARCUSE 1970), die Freiheiten vorgaukelt, die letztlich doch durch die starren Randbedingungen konterkariert werden. Dieser Gefahr sollte man sich immer bewusst bleiben, da in der Regel für die „Weniger-Bevorzugten“ die späteren Entfaltungsmöglichkeiten im Beruf doch begrenzt bleiben. Die Eröffnung von nahezu unbegrenzt vielen Optionen wird in der Diskussion über die Postmoderne als Signum der Gegenwart bezeichnet. Dieser Auffassung wird entgegengehalten, dass  sie eine Beliebigkeit der Maßstäbe befürworte. Literarisch wurde der Gewinn an Freiheit, der damit verbunden ist, von MILAN KUNDERA (1987) in seinem Buch „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ kritisch hinterfragt.

Um zwischen diesen Polaritäten aktiv eine Balance herzustellen, ist es den Jugendlichen ein Anliegen, einen eigenen, selbst gewählten Interessenschwerpunkt zu finden, wie es insbesondere SPRANGER (1924) in seiner geisteswissenschaftlichen Psychologie des Jugendalters formuliert hat.

Dieser Interessenschwerpunkt gibt dann auch Gelegenheit zur Bewährung im Sinne der Erfahrung, für sich und andere im Rahmen einer strukturierten Gemeinschaft nützlich zu sein (HENTIG 2007). SPRANGER (1923,162) hat daraus berufspädagogisch einflussreiche Konsequenzen gezogen: „Der Weg zu der höheren Allgemeinbildung führt über den Beruf und nur über den Beruf.“ Erst daran schließt sich also die Phase der „höheren Allgemeinbildung“ an. Erneut wird dadurch die Frage aufgeworfen: Wird den Gymnasiasten aus den „bildungsstarken familialen Milieus“ (KRÜGER,  REISSIG 2011) denn damit  nicht etwas vorenthalten?

3 Förderung durch frühe Verantwortungsübernahme (für sich und  andere) versus Reifung durch freie Entwicklung in Kreativität und Phantasie

In diesem Gegensatz äußert sich die beschriebene Dialektik unter dem Gesichtspunkt, wie mit Jugendlichen in diesem Alter umzugehen ist, wie man auf sie zugehen soll oder ob und wie man sie frei lassen soll. Die frühe Übernahme von Verantwortung kann sich darin äußern, dass der Einzelne intensiv nach Betriebspraktika sucht, dass er/sie schnell die Aufnahme einer Ausbildung anstrebt, durch einen relativ baldigen  Eintritt ins Berufsleben finanzielle Absicherung erzielt und sich somit recht früh darauf vorbereitet, eine Familie zu gründen. Auf diese Weise stützen viele ihr Bedürfnis nach sicheren Strukturen und stärken das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Zugleich verbaut man sich damit aber die Chance der Entfaltung in vielfältigen Aktivitäten und Erfahrungsbereichen. Diese kann gerade im Gegensatz zu dem Vorhergesagten ebenfalls zu Schritten der Reifung führen.

Für den Übergang Schule – Beruf  für die Weniger-Bevorzugten spitzt sich dieser Gegensatz in der Frage zu, die zum Konzept der „Alternativen Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung“ geführt hat: Ist für Jugendliche, die nicht den Weg in die gymnasiale Oberstufe wählen (können), ein möglichst schneller Übergang in eine (duale) Ausbildung sinnvoll?  Oder ist auch für sie (wie für die Gymnasiasten) eine besonders auch kulturorientierte Reifungsphase – und ein Hinausschieben der Berufsentscheidung – förderlich?

Dieses Thema hat in jüngster Zeit eine neue Wendung genommen, da recht plötzlich davon die Rede ist, dass der Lehrstellenmangel in Kürze der Vergangenheit angehören wird. Es wird der Eindruck erweckt, dass das Übergangssystem bald drastisch schrumpfen könnte oder sollte. Dazu gilt es dann, aus der Sicht einer gerade auch kulturorientierten Reifungsphase für die Weniger-Bevorzugten intensiv nachzudenken.

Ist es bildungspolitisch sinnvoll und durchsetzbar, unter diesen – für die Ausbildungsplatzsuche günstigen – Bedingungen gerade jetzt zu versuchen, eine solche Phase in die Normalbiographie der Weniger-Bevorzugten einzubauen?

Wie lässt sich unter der Perspektive, dass sich die Jugendlichen in Zukunft einen Ausbildungsplatz aus einer Vielzahl von Angeboten auswählen können, für die Einführung und das Wahrnehmen einer solchen kulturorientierten Reifungsphase werben? Wie kann ein solches Angebot gerade für Jugendliche, die aus eher bildungsfernen Elternhäusern stammen und traditionell auf einen zügigen Übergang in den Beruf ausgerichtet sind – die „Bildungsbiographiebeschleuniger“ (KRÜGER/ REISSIG 2011) –, attraktiv und zugänglich werden?

Die Benachteiligten unter den Weniger-Bevorzugten müssen betreut werden, um ihre Chancen für eine günstige Weiterentwicklung zu fördern. Im Sinne der Dialektik von Strukturierung versus Freigabe muss im Anschluss an das erwähnte Kant-Zitat jedoch gesehen werden, dass Betreuung (und auch Nachbetreuung) ein Moment des Zwangs enthält. Dies hat FOUCAULT in „Die Geburt der Klinik“ (1973) und  „Überwachen und Strafen“ (1994) einflussreich dargestellt und begründet. Mit ihm muss jedoch auch betont werden, dass eine Freigabe im Sinne einer Entlassung aus Betreuungsverhältnissen einen Verlust von „Disziplin“ mit sich bringt, der einer persönlichen Weiterentwicklung im Wege stehen kann.

Auch hier geht es darum, eine aktive Balance zu suchen, deren Ausgestaltung sich an den individuellen Umständen orientiert und von diesen abhängig ist.  Dabei sollte man lernen, damit umgehen zu können, dass die Jugendlichen gegen die Unterwerfung, die damit verbunden ist, rebellieren; dies ist hier eine Möglichkeit für ihre Wahrnehmung der Selbstgestaltungschancen.

Für die stark Benachteiligten äußert sich dieses Gegensatzpaar in der Frage, ob niedrigschwellige Eingangsangebote gemacht werden sollen: also relativ offene, hauptsächlich auf Freiwilligkeit basierende Situationen geboten werden sollen, wo die Jugendlichen in Bezug auf Inhalte und Zeitvorgaben wenig gebunden sind. Beispielsweise kann – wie wir aus einem belgischen Modellversuch (HEIDEGGER/ NIEMEYER/ PETERSEN 2010) lernen konnten – die Verpflichtung anfangs darin bestehen, drei Stunden pro Woche – dies aber regelmäßig – in einer (gemeinnützigen) Fahrradwerkstatt zu arbeiten.

Umgekehrt bieten aber auch streng reglementierte Maßnahmen mit rigidem Zeitmanagement gerade den Benachteiligten die Chance, ihren Tag besser zu strukturieren.

4 Strukturierung oder Vielfalt in der Organisation

4.1 Eigenständige Institution oder Clearingstelle?

Auch organisatorisch stellt sich die Frage nach strenger Strukturierung oder eher lockerer Vielfalt. Für das Erstgenannte wurde vorgeschlagen, eine eigenständige Einrichtung zu gründen, die die Aktivitäten der beteiligten Institutionen koordiniert. Dies hat den Vorteil, dass eine verantwortliche Stelle für den reibungslosen Ablauf sorgt, aber den Nachteil der Zentralisierung der Initiative und Verantwortlichkeit. Außerdem ist es wohl überhaupt unklug, noch eine weitere Einrichtung den bestehenden in diesem Feld hinzuzufügen.

Deshalb haben wir eine „Clearingstelle“ vorgeschlagen, die gegenüber den verschiedenen Lern- und Erfahrungsorten keine eigenständige Institution bilden, sondern nur die Kommunikation und Kooperation fördern soll. Es wurde auch diskutiert, ob das Netzwerk der Institutionen nicht wie eine Genossenschaft als freiwilliger Zusammenschluss organisiert werden könne, die die Clearingstelle trägt.

4.2 Clearingstelle in der Beruflichen Schule oder als außerschulische Einrichtung?

Um nicht eine neue Einrichtung gründen zu müssen und – gerade auch für die Phase der Einführung der „Alternativen Oberstufe“ – die Verbindung zur Beruflichen Schule zu halten, favorisieren wir, die Clearingstelle dort einzurichten. Denn hier liegt gegenwärtig die Hauptverantwortung für das Übergangssystem. Diesem Vorschlag, der doch ein starkes Moment der konventionellen Institutionalisierung enthält, wurde entgegengehalten, dass die vielfältigen Partner sich dadurch in ihrem Engagement eingeengt und in die Abhängigkeit von einer mächtigen staatlichen Institution gebracht sehen würden. Dann wäre es besser, die Clearingstelle als Organ des Netzwerks zu etablieren.

Gegen das Modell der Clearingstelle in der Beruflichen Schule wurde außerdem vorgebracht, dass besonders – aber natürlich keinesfalls nur – die Benachteiligten aufgrund ihrer Schulmüdigkeit Aversionen gegen jede Form von Schule entwickelt hätten, was den Erfolg der Clearingstelle beeinträchtigen könnte. Gerade dieser Schulmüdigkeit sollten doch die freien Aktivitäten zur Arbeits- und Kulturorientierung in der „Alternativen Oberstufe“ entgegenwirken.

4.3 Bedeutung einer Internatsorganisation (Beispiel "efterskole“) versus räumlich freies Flotieren zwischen verschiedenen Institutionen

Hier wird die Bedeutung stabiler sozialer Beziehungen für die Förderung sozialer Kompetenz hervorgehoben. Das Zusammenleben im Internat stellt ein Element neuen sozialen Kompetenzerlebens dar. Die dänischen Erfahrungen in der „efterskole“ sind sehr ermutigend. Allerdings ist es fraglich, ob ein solches Angebot wirklich für sehr viele Jugendliche finanzierbar ist. Freilich bedeutet die Freiheit der Jugendlichen, die Tätigkeits- und Erlebnismöglichkeiten selbst organisieren zu können – wie wir es vorgeschlagen haben – , zugleich ein hohes, vielleicht manchmal ein zu hohes Maß an Verantwortung für den Fortschritt der eigenen Persönlichkeitsentwicklung.  Deshalb ist es vorstellbar, dass jenen Jugendlichen, für die sie besonders geeignet ist, ein Aufenthalt in der „efterskole“ angeboten wird.

5 Eine Alternative?

Kritisch diskutiert wurde im Rahmen des Workshops auch über einen gegenüber der Ankündigung „Hauptschuloberstufe“ neuen Namen, da jener immer noch an Schule und speziell an eine bloße Verlängerung der Hauptschule denken lässt. Da wir es ja doch völlig anders meinen, führen wir jetzt den Arbeitsbegriff „Alternative Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung“ ein.

Abschließend sei festgehalten: Die vorne zitierte Frage von Kant kennzeichnet – in über den gesetzlichen Zwang hinausgehender Interpretation – die dialektische Struktur des Bildungs- und Erziehungsgeschehens. Man muss daraus folgern, dass die diskutierten Gegensätze letztlich nicht auflösbar sind und man deshalb immer wieder nach einer – je den Umständen angepassten – verbesserten Balance suchen muss.

Literatur

BOJANOWSKI, A. (2005): Umriss einer beruflichen Förderpädagogik. Systematisierungsvorschlag zu einer Pädagogik für benachteiligte Jugendliche. In: BOJANOWSKI, A/ RATSCHINSKI, G./ STRASSER, P. (Hrsg.): Diesseits vom Abseits – Studien zur beruflichen Benachteiligtenförderung. Bielefeld, 330-362.

FOUCAULT, M. (1973) : Die Geburt der Klinik. München.

FOUCAULT, M. (1994) (ursprl. 1975): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main.

HEIDEGGER, G./ NIEMEYER, B./ PETERSEN, W. (Hrsg.) (2010): Re-Integration – Transnational evaluation of social and professional re-integration schemes for young people. Final report. München.

HENTIG, H. v. (2007): Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung nützlich zu sein. Weinheim.

KANT, I.(1982): Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung. Besorgt von Hans-Hermann Groothoff, 2. Aufl., Paderborn.

KRÜGER, H.-H./ REISSIG, B. (2011): Von schnellen und langsamen Wegen in den Beruf. In: DJI Impulse, 92/93, 19-21.

MARCUSE, H. (1970): Repressive Toleranz. In: WOLFF, R. P./ MOORE, B./ MARCUSE, H. (Hrsg.): Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt a. M.

KUNDERA, M. (1987): Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Frankfurt a. M.

SPRANGER, E. (1922): Berufsbildung und Allgemeinbildung. In: KÜHNE, A. (Hrsg.): Handbuch für Berufs- und Fachschulwesen. Leipzig, 24-38.

SPRANGER, E. (1923): Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung. In: Kultur und Erziehung, 159-177.

SPRANGER, E. (1924): Psychologie des Jugendalters. Leipzig.


Zitieren dieses Beitrages

PETERSEN, W./ HEIDEGGER, G. (2011): Dialektische Perspektiven der „Alternativen Oberstufe zur Arbeits- und Kulturorientierung“. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 03, hrsg. v. PETERSEN, W./ HEIDEGGER, G., 1-6. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws03/petersen_heidegger_ws03-ht2011.pdf (26-09-2011).



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