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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS28 - Hochschulzugang
Herausgeber: Antje Barabasch & Ernst A. Hartmann


Titel:
Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung


Editorial zu Workshop 15: Zielgruppen - Ziel- und Risikogruppen im Übergangssystem

Das Übergangssystem steht für eine Vielzahl von Schulformen und Maßnahmen, welche Jugendliche aufnehmen, denen der Übergang in eine anerkannte Form beruflicher Ausbildung oder auch in qualifizierte Erwerbsarbeit nicht gelingt. Im Gegensatz zu der einheitlichen Bezeichnung dieses Teilsegments im Bildungssystem ist die Gruppen von Jugendlichen, die sich darin bewegen, außerordentlich heterogen – bezogen auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung, auf das Leistungsniveau, auf die Bildungsaspirationen, insgesamt: auf jeweils sehr spezifischen Problemlagen sowie Herkunfts- und Kontextmilieus. Das Motto der 16. Hochschultage Berufliche Bildung „Übergänge in der Berufsbildung nachhaltig gestalten: Potentiale erkennen – Chancen nutzen“ stellt einen direkten Bezug zu den Ziel- und Risikogruppen im Übergangssystem her, da in diesen Gruppen die Potentiale und Chancen zu suchen sein sollten, die eine nachhaltige Entwicklung des Übergangssystems ermöglichen.

Der Begriff der Risikogruppe stammt ursprünglich aus den Veröffentlichungen zur PISA-Studie und bezeichnet dort die Gruppe der untersuchten 15-jährigen, welche in den Basiskompetenzen, vor allem in der Lesekompetenz, die Kompetenzstufe I nicht überschreiten (vgl. PRENZEL/ BAUMERT/ KLIEME 2008). Man geht davon aus, dass jene 15-jährigen im gesamten Lebensverlauf nicht nur Probleme am Arbeitsmarkt haben werden, sondern in vielen gesellschaftlichen Bereichen in ihren Teilhabechancen eingeschränkt sind (vgl. QUANTE-BRANDT/ ANSLINGER/ GRABOW 2008). In neueren Publikationen wird von Risikogruppen auch im Kontext der ersten Schwelle zwischen Allgemeinbildung und beruflicher Bildung (vgl. SCHELTEN 2009; KRÜGER-CHARLÈ 2010, 1) oder bezogen auf atypische Erwerbsbiografien gesprochen (vgl. FROSCH 2010, 4). Die Risikogruppen sind hier das Resultat einer veränderten Arbeitsmarktsituation (Rückgang an Einfacharbeitsplätzen), der demografischen Entwicklungen, der Entwicklungen des beruflichen Bildungssystems (Rückgang an Ausbildungsplätzen, Entstehung des Übergangssystems), gesellschaftlicher Entwicklungen (Migration) sowie von Selektionsmechanismen (Ausbildungsreife).

Der Workshop 15 „Ziel- und Risikogruppen im Übergangssystem“ ging der individuellen Diversität und Heterogenität, die sich in den unterschiedlichen Ziel- und Risikogruppen in einer nur scheinbar „homogenen“ Systemstruktur des Übergangssystems ausdrückt nach – und zwar sowohl bezogen auf die quantitativen und qualitativen Aspekte (JOACHIM-GERD ULRICH) als auch auf die erkennbaren Typologien von Risikogruppen (RUTH ENGGRUBER). Ergänzt wurde der Zugang durch Analysen ausgewählter spezifischer Risikogruppen (Gender-Aspekt durch MARIANNE FRIESE, Migrationsaspekt durch CHRISTIAN SCHMIDT) und den Blick auf etablierte europäische und internationale Problemlösungsansätze (SANDRA BOHLINGER) sowie durch einen Einblick in die Arbeit mit Risikogruppen in Beruflichen Bildungszentren (ALFONS WISNIESKI).  Die vielschichtigen Inputreferate wurden begleitet von angeregten und ergiebigen Diskussionen und der rundum positive Gesamteindruck des Workshops schlägt sich nieder in den zahlreichen veröffentlichten Beiträgen.

JOACHIM-GERD ULRICH verdeutlicht in seinem Beitrag anhand der Einmündungszahlen in das Übergangssystem des Jahres 2010 auf der Basis der BA/BIBB-Bewerberbefragung, dass trotz eines Rückgangs dieser Zahlen auch aktuell die Risiken des Scheiterns beim Übergang Schule-Berufsausbildung hoch sind und schulische Leistungsnachweise, regionale Unterschiede im Ausbildungsstellenangebot sowie der Migrationshintergrund Risikogruppen konstituieren. Für den Umgang mit erfolglosen Ausbildungsstellenbewerbern gibt es in Deutschland weiterhin kein klares und einheitliches Konzept.

CHRISTIAN SCHMIDT untersucht auf der Grundlage der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Migration und beruflicher Bildung, inwieweit der demografische Wandel tatsächlich bessere Integrationschancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund eröffnet. Dabei wird deutlich, dass die Ursachen der Benachteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund nicht allein in einem unausgeglichenen Ausbildungsstellenmarkt zu suchen sind. Vielmehr ist davor auszugehen, dass Integrationschancen nur dann vorhanden sind, wenn der Ausbildungsstellemarkt die Diversität der Jugendlichen ohne Hochschulzugang akzeptiert und das Berufsbildungssystem „migrierte“ Kompetenzen anerkennt.

Der Beitrag von MARIANNE FRIESE thematisiert junge Mütter als Risikogruppe des Übergangssystems. Dabei werden zum einen biografisch und strukturell bedingte Risiken und Ressourcen der Qualifizierung und Kompetenzentwicklung einer sehr heterogenen Zielgruppe dargestellt. Es werden zum anderen an der biografischen Statuspassage Übergang Schule-Beruf zielgruppenspezifische Förderansätze wie das Projekt MOSAIK „Kompetenzentwicklung für junge Mütter“  vorgestellt. Dabei wird das Leitbild „Work-Life-Balance“ und somit die Frage der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Ausbildung thematisiert und das bislang wenig beachtete Phänomen junge Mutterschaft bildungspolitisch aufgearbeitet und in seiner Relevanz für den berufsbildungswissenschaftlichen Fachdiskurs diskutiert.

Im Mittelpunkt des Beitrages von RUTH ENGGRUBER steht die Diskussion der sozialstrukturellen und individuellen Chancen und Gefahren, die mit der Unterscheidung von „Risikogruppen“ sowohl für die jungen Menschen als auch für gerechtigkeits- und bildungspolitische Ansprüche an das Berufsbildungs- und Übergangssystem verbunden sein können. Ausgangspunkt ist dabei die von DIETER EULER und RUTH ENGGRUBER im Jahr 2004 auf der Basis sekundärempirischer Analysen in Baden-Württemberg entwickelte „Benachteiligungstypologie“. Ferner werden berufspädagogische Positionen zur sozialen Selektivität des Berufsbildungs- und Übergangssystems zur kritischen Auseinandersetzung mit der Risikogruppen-Semantik herangezogen. Herausgearbeitet wird das für den gesamten Wokshop konstitutive Dilemma, dass einerseits aus gerechtigkeits- und bildungspolitischen Gründen die verschiedenen Interessen-, Bedürfnis- und Problemlagen der jungen Menschen im Übergangssystem ausdrücklich anerkannt und systematisch berücksichtigt werden sollen, um ihnen auch mittels entsprechender sozialpolitischer und -rechtlicher Vorgaben pädagogisch individualisierte Förderangebote eröffnen zu können, während andererseits mit diesen „Differenzpolitiken“ erhebliche Gefahren der Stereotypisierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung verbunden sind.

SANDRA BOHLINGER zeigt in ihrem Beitrag Unterschiede bei der Förderung der Arbeitsmarktintegration so genannter benachteiligter Jugendlicher zwischen europäischen Bildungs- und Arbeitsmarktsystemen auf. Sie verdeutlicht, dass die Arbeitsmarktteilhabe keine isolierte Größe ist, sondern die Maßnahmen und Kontexte eine Konsequenz des jeweiligen kulturellen Verständnisses von ‚Jugend‘ darstellen. SANDRA BOHLINGER stellt eine Typisierung unterschiedlicher Übergangssysteme in Europa vor und arbeitete heraus, dass unabhängig aller Unterschiede zwischen diesen Systemen der Trend zu „activation policies“ mit einer Entwicklung zu einem Verständnis von Benachteiligung einhergeht, welches individuelle Defizite hervorhebt und strukturelle Rahmenbedingungen bzw. Ursachen in den Hintergrund treten lässt.

Die inhaltliche Breite der Beiträge verdeutlicht die offensichtlichen und vielschichtigen Risiken, die mit den Statuspassagen in das Berufsbildungssystems verbunden sind. Sie verdeutlicht auch die Ambivalenz des Begriffs „Risikogruppe“, in dem sich die strukturellen Probleme des Berufsbildungssystems, negative Zuschreibungen und Stereotypisierungen seitens der Systemumwelt und die individuellen Bedürfnis- und Problemlagen junger Menschen treffen. Potentiale zur nachhaltigen Gestaltung der Übergänge in der Berufsbildung scheinen dort zu suchen zu sein, wo es gelingt, den individuellen Bedürfnis- und Problemlagen pädagogisch begegnen zu können und gleichzeitig Stigmatisierungen vermieden werden.

Literatur

FROSCH, U. (2010): Bastelbiographie, Patchwork-Identität und Co. – Atypische Erwerbsbiographien aus gegenwärtiger Forschungsperspektive. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 18, 1-14. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe18/frosch_bwpat18.pdf (28-06-2010).

PRENZEL, M./ BAUMERT, J./ KLIEME, E. (2008): PISA-Studie. Falscher Verdacht- Die deutsche PISA-Studie ist nicht verwirrend, wie KLAUS KLEMM behauptet, sondern klar und präzise. Unklarheit stiften andere. In: Die Zeit, 23, 73-76.

QUANTE-BRANDT, E./ ANSLINGER, U./ GRABOW, T. (2008): Erweiterung beruflicher Handlungskompetenzen durch förderdiagnostischer Bestimmung von Lese- und Schreibkompetenzen benachteiligter Jugendlicher und junger Erwachsener. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 14, 1-17. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe14/quante-brandt_etal_bwpat14.pdf (26.05.2011).

SCHELTEN, A. (2009): Ungleichheit im Bildungssystem – Bildungserfolg von Frauen und Männern. In: Die berufsbildende Schule, 61, 10/11, 279-280.


Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

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