Titel:
Ziel- und Risikogruppen im Übergangssystem
Beitrag von Christian SCHMIDT (Universität Duisburg-Essen)
Jugendlichen mit Migrationshintergrund als Risikogruppe, die beim Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die berufliche Ausbildung benachteiligt ist, kommt gerade im Zusammenhang mit der Problematik des demografischen Wandels verstärkte Aufmerksamkeit in der berufspädagogischen Fachdebatte zu (vgl. EULER 2010, 22; STORM 2011, 270; SEEBER 2011, 55; ULRICH 2011, 12ff.). Es wird in diesem Beitrag auf der Grundlage der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Migration und beruflicher Bildung untersucht, inwieweit der demografische Wandel tatsächlich bessere Integrationschancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund eröffnen könnte. Dabei wird deutlich, dass die Ursachen der Benachteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund nicht allein in einem unausgeglichenen Ausbildungsstellenmarkt zu suchen sind. Vielmehr ist davor auszugehen, dass Integrationschancen nur dann vorhanden sind, wenn der Ausbildungsstellemarkt die Diversität der Jugendlichen ohne Hochschulzugang nicht negativ bewertet und das Berufsbildungssystem „migrierte“ berufliche Kompetenzen anerkennt.
Jugendliche mit Migrationshintergrund sind beim Eintritt in die berufliche Bildung im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund mit höheren Risiken konfrontiert. Ihre Übergangsprozesse in Ausbildung verlaufen häufiger ungünstig und dauern länger als die der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (vgl. AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2008, 162; ULRICH 2011, 12ff). Der Abstand in der Ausbildungsbeteiligung zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund wuchs in den vergangenen Jahren kontinuierlich an (vgl. BETHSCHNEIDER et. al. 2002, 4). Auch wenn der Übergang in Ausbildung gelingt, sind die Jugendlichen mit Migrationshintergrund benachteiligt. Sie verbleiben in einem eingeschränkten Feld von Ausbildungsberufen, sind bei erfolgreich absolvierter Ausbildung häufiger arbeitslos und/oder verbleiben häufiger in unterwertiger Beschäftigung (vgl. TROLTSCH 2003, 60). In neueren Publikationen wird folgerichtig von den Jugendlichen mit Migrationshintergrund als Risikogruppe gesprochen (vgl. SCHELTEN 2009; KRÜGER-CHARLÈ 2010, 1). Gleichzeitig stellen sie die Zielgruppe einer gezielten Förderung im Übergangssystem dar. Im Zuge des demografischen Wandels erkennt zum Beispiel der Zentralverband des Deutschen Handwerks die Gruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund als zukünftiges Nachwuchsreservoir und deutet an, dass aus der Risikogruppe eine Zielgruppe zur Bewältigung des mit dem demografischen Wandel assoziierten Fachkräftemangel werden könnte (vgl. RASS-TURGUT 2009). Im folgenden wird auf der Grundlage der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Migration und beruflicher Bildung untersucht, inwieweit der demografische Wandel Integrationschancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund eröffnen könnte. Dabei interessiert zunächst, welche Probleme mit dem Begriff der Risikogruppe in der beruflichen Bildung benannt werden.
In der beruflichen Bildung werden Jugendliche, die nicht direkt in Ausbildung übergehen und in berufsvorbereitenden Bildungsgängen und Maßnahmen des Übergangssystems verbleiben mit Begriffen bezeichnet, die ihre prekäre Lage verdeutlichen sollen. Die historische Abfolge der unterschiedlichen Begriffe zeigt auf, dass die Prekarität dieser Jugendlichen unterschiedlichen Ursachen zugeschrieben wurde. Auch verweist die Konjunktur dieser unterschiedlichen Begriffe auf das Dilemma, dass zum einen die Probleme einer vom Zugang zu Bildung und Arbeitsmarktintegration deprivierten Gruppe von Jugendlichen klar benannt werden müssen, das aber auf der anderen Seite mit der Benennung solcher Gruppen von Jugendlichen ein Stigmatisierungsrisiko verbunden ist (vgl. ENGRUBER 2011).
In den Jahren, in denen das deutsche Berufsbildungssystem bereits rechtlich im BBiG kodifiziert war und der Arbeitsmarkt noch umfangreich Beschäftigungsmöglichkeiten für Ungelernte bot, wurden Jugendliche, die ohne Ausbildung im Anschluss an die allgemeinbildenden Schulen in die Erwerbstätigkeit übergingen und in Schulformen der berufsbildenden Schulen verblieben als Jungarbeitern bezeichnet. Der Begriff bezog sich also auf eine Gruppe, die als junge Arbeiter einen Zugang zum Arbeitsmarkt haben sollten. Das Selbstverständnis der sogenannten „Jungarbeiterklassen“ war nicht zuletzt davon geprägt, einer gesellschaftlichen Gruppe, die zwar Zugang zu Arbeit hatte, aber wenig Bildung genießen konnte, ein Bildungsangebot unterbreiten zu können, das aufgrund des Arguments des Abbaus von Bildungsungleichheiten legitimiert war (vgl. RÜTZEL 1995: 112 ff.).
Mit dem Einsetzen der Ausbildungsstellenkrise, dem Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in das berufliche Bildungssystem und dem Rückgang unqualifizierter Arbeit wurden junge Menschen an der Schwelle zwischen Bildungs- und Erwerbssystem nicht mehr als Jungarbeiter bezeichnet sondern als Benachteiligte (vgl. BIERMANN/RÜTZEL 1991: 414). Damit wird eine Benachteiligung am Ausbildungsstellenmarkt beschrieben, da geringer qualifizierten Jugendlichen die Integration in Ausbildung nicht mehr gelingt oder mit großen Risiken verbunden ist (vgl. BIERMANN/RÜTZEL 1991: 414). Es werden jene Jugendlichen benannt, die nicht in eine berufliche Ausbildung übergehen können und in einer berufsvorbereitenden Schulform oder Maßnahme verbleiben. Der Begriff drückt zum einen ein verändertes Verständnis von Jugendlichen mit einem Qualifikationsniveau unterhalb der abgeschlossenen beruflichen Ausbildung aus. In dem Maß, in dem das durchschnittliche Bildungsniveau insgesamt steigt, werden die Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Sinne SOLGAs zur normabweichenden Minderheit (vgl. SOLGA 2002: 12). Waren einst die Un- und Angelernten eine große Gruppe, sind im Zuge ihrer zahlenmäßigen Abnahme Stigmatisierungstendenzen ausgesetzt. Zum anderen bezieht sich der Begriff auf einen veränderten Arbeitsmarkt, an dem gering Qualifizierte kaum noch nachgefragt werden und das Problem, auf einem unausgeglichenen Ausbildungsstellenmarkt einen Ausbildungsplatz zu bekommen mit dem Problem einhergeht, einen existenzsichernden Arbeitsplatz erreichen zu können.
Aufgrund dieser umfangreichen Benachteiligung wurde der Anspruch formuliert, vollschulische Bildungsangebote an berufsbildenden Schulen zu schaffen, welche die Benachteiligten an jedem Schultag beschulen können und nicht nur analog zu den dualen Berufsschulklassen an zwei Schultagen. Obwohl sich der Benachteiligtenbegriff durchgesetzt hatte, um Stigmatisierungstendenzen bei der Benennung Jugendlicher ohne Zugang zu Ausbildung abzumildern, verfügt auch er über ein großes Stigmatisierungspotential (vgl. BIERMANN/RÜTZEL 1991: 414). Mit dem Ausbau der vollschulischen Angebote für Benachteiligte wurden gesellschaftliche Gruppen, welche in diesen Angeboten überdurchschnittlich häufig anzutreffen waren bzw. die am Ausbildungstellenmarkt geringeren Chancen hatten, herangezogen, um gesellschaftliche Bedingungen und Ursachen der Benachteiligung zu identifizieren und kategorisieren. Hierzu zählten und zählen u. a. Jugendliche mit Migrationshintergrund, junge Frauen und Personen mit Suchtproblemen bzw. aus Krisenregionen (vgl. BIERMANN/RÜTZEL 1991: 414/ RÜTZEL 1995: 113). Problematisch ist hinsichtlich der Stigmatisierungsgefahr, dass die sozialen und individuellen Faktoren, die diese Gruppenzugehörigkeiten konstituieren, zu Benachteiligungen führen und sogar kumulativ bzw. additiv wirken können, andererseits nicht alle Mitglieder der benannten sozialen Gruppen per se benachteiligt sind (vgl. BOHLINGER 2004: 230 ff.).
Im Nachklang der Diskussion der Ergebnisse der PISA-Studie findet der Begriff „Risikogruppe“ große Verbreitung. Ursprünglich bezeichnet er jene 15-jährigen Jugendlichen, die im PISA-Test die Niveaustufe I nicht überschreiten (vgl. PRENZEL/BAUMERT/KLIEME 2008). Diesem Kompetenzniveau in den Domänen Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften wird eine hohe Prognosefähigkeit zugesprochen. Man geht davon aus, dass jene 15-jährigen im gesamten Lebensverlauf nicht nur Probleme am Arbeitsmarkt haben werden, sondern in vielen gesellschaftlichen Bereichen in den Teilhabechancen eingeschränkt sein werden (vgl. QUANTE-BRANDT/ANSLINGER/GRABOW 2008). Im Unterschied zu anderen Begriffen prekärer Bildung wird hier also auf ein empirisch evidentes Kompetenzniveau rekuriert.
In der berufliche Bildung ist zu beobachten, dass Jugendliche, die in den berufsvorbereitenden Schulformen und Maßnahmen der berufsbildenden Schulen und der Bundesagentur für Arbeit verbleiben, ebenfalls als Risikogruppe bezeichnet werden, auch wenn hier keine mit dem PISA-Test vergleichbare empirische Kompetenzmessung vorliegt (vgl. SCHELTEN 2009; KRÜGER-CHARLÈ 2010, 1). Der Verbleib im Übergangssystems selbst konstituiert hier die Zugehörigkeit zur Risikogruppe, da die Übergänge in reguläre Ausbildung gering sind.
Letztendlich vollzog sich mit dem Wandel der Begriffe vom Jungarbeiter hin zur Risikogruppe auch eine Verschiebung der Interpretation der Ursache von Problemen an der ersten Schwelle des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in die Erwerbsarbeit. War zunächst primär der sich ändernde Arbeits- und Ausbildungsmarkt das Problem, welches Jungarbeiter zu Benachteiligten werden ließ, wird heute das Problem auch in der Kompetenzausstattung der Jungendlichen gesehen. Das unterstellte Unvermögen aufgrund von persönlichen Defiziten oder Problemen im familiären Umfeld die Kompetenzen zu erwerben, die unter dem Begriff „Ausbildungsreife“ als Mindestausstattung für den Übergang in Ausbildung begriffen werden, wird als Ursache einer gescheiterten Integration in den Ausbildungsstellenmarkt herausgestellt (vgl. für den europäischen Kontext BOHLINGER 2006).
Letztendlich werden die Benachteiligten- bzw. Risikogruppen im Übergangssystem konstituiert aufgrund einer veränderten Arbeitsmarktsituation (Rückgang an Einfacharbeitsplätzen), demografischen Entwicklungen (Eintritt geburtenstarker Jahrgänge in das berufliche Bildungssystem ab 1980), Entwicklungen des beruflichen Bildungssystems (Rückgang an Ausbildungsplätzen, Entstehung des Übergangssystems), gesellschaftliche Entwicklungen (Migration, verstärkte Erwerb- und Ausbildungsorientierung junger Frauen) sowie Selektionsmechanismen (Ausbildungsreife). Sie entstehen also nicht direkt aus veränderten Angebots- und Nachfragerelationen am Ausbildungsstellenmarkt sondern auch daraus, welchen Status das Berufsbildungssystem den Jugendlichen zuweist und wie es pädagogisch auf externe Entwicklungen wie Migration reagiert. Stark im Fokus der berufspädagogischen Fachdiskussion um Ausbildungsreife und Integrationschancen liegt vor allem die Risikogruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund.
Um die Situation der Risikogruppe „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ und die möglichen positiven Auswirkungen des demografischen Wandels bewerten zu können soll zunächst das Verhältnis von Migration, Arbeitsmarkt und beruflicher Bildung nachgezeichnet werden.
Für die Risikogruppe „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ ist bedeutsam, dass der derzeitige Stand der Arbeitsmarktintegration und Integration in berufliche Bildung von Zuwanderern und Jugendlichen der zweiten und dritten Generation stark durch die Einwanderungsgeschichte der BRD geprägt ist (vgl. OECD 2005: 10ff.). So wurden die Arbeitsmigranten, die zwischen 1955 und 1975 einwanderten als „Gastarbeiter“ bezeichnet, womit signalisiert wurde, dass diese Immigration ein vorübergehendes Phänomen darstellen sollte. Die Zuwanderer überwiegend türkischer, jugoslawischer, italienischer und griechischer Staatsangehörigkeit wurden gezielt als ungelernte Arbeitskräfte in der Industrie angeworben (vgl. OECD 2005: 42). Eine systematische Anerkennung bereits vorhandener beruflicher Qualifikationen war ebenso wenig Teil der Gastarbeiteranwerbung wie eine nachträgliche Qualifizierung zum Facharbeiter bzw. zur Facharbeiterin. „Welche Qualifikationen die einzelnen Angeworbenen auch immer mitgebracht haben, als ‚Gastarbeiter’ galten sie immer als ‚nicht oder nur gering qualifiziert’“ (KRÜGER-POTRATZ 2011: 39). Die Phase der Anwerbung ungelernter Arbeitskräfte endete mit der Ölkrise Mitte der 70er Jahre. Die wirtschaftliche „Stagflation“ läutete das Ende des Bedarfs an ungelernter Arbeit ein und es begann der bis heute nicht abgeschlossenen Abbau von Arbeitsplätzen für gering Qualifizierte (vgl. OECD 2005, 12). Es wurde offenbar, dass der Großteil der Arbeitsmigranten ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden hatten und nicht wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden.
Somit endete auch die Phase, in der sich das pädagogische Interesse des Bildungssystems an den Migranten in erster Linie auf den muttersprachlichen Unterricht als Vorraussetzung für die Rückkehr der „Gastarbeiter“ fokussierte und die Frage der beruflichen Qualifikationen kaum thematisiert wurden. Dies war auch deshalb der Fall, weil die erste Generation der Arbeitsmigranten kaum über die mangelhafte Teilhabe an der Kultur der Aufnahmegesellschaft, sondern als Mitglieder ihrer Herkunftsgesellschaft definiert wurden, die in letztere wieder zurückkehren würden (vgl. MESSERSCHMIDT 2011, 7). Vor allem die zweite und dritte Generation, also die Kinder der Arbeitsmigranten wurden dann als Benachteiligten- bzw. Risikogruppe bezüglich des Übergangs in Ausbildung wahrgenommen. „Man kann zunächst einmal resümieren, dass ein Grund dafür, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – und speziell diejenigen mit ausländischem Pass – in so hohem Maße zu den Bildungsbenachteiligten gehören, durchaus auch eine Folge der spezifischen Anwerbe- und Ausländerpolitik der Bundesrepublik sowie der integrationspolitischen Versäumnisse ist“ (KRÜGER-POTRATZ 2011: 40).
Die Phase der Krise ungelernter Arbeit war ab den 90er Jahren gekennzeichnet durch den verstärkten Zuzug weiterer Migrantengruppen. Zum einen wuchs die Zahl der humanitären Migranten, die Asyl suchten ab Beginn der 90er Jahre sprunghaft an, bis der Asylanspruch 1993 durch Änderungen stark eingeschränkt wurde (vgl. OECD 2005: 18). Auch Aussiedler mit deutscher Staatsangehörigkeit, die bereits in der Nachkriegszeit einen Großteil der Zuwanderung ausmachten, migrierten nach dem Fall der Mauer verstärkt nach Deutschland, bis auch hier ab 1993 Beschränkungen eingeführt wurden (vgl. OECD 2005: 17).
Die kontinuierliche Abnahme von Beschäftigungsmöglichkeiten für gering qualifizierte junge Erwachsene vor dem Hintergrund eines unausgeglichenen Ausbildungsstellenmarktes erzeugte einen bildungspolitischen Druck, Möglichkeiten der Berufsvorbereitung zu schaffen. Es entstand das Konglomerat aus Schulformen und Maßnahmen, welches heute als Übergangssystem bezeichnet wird. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind überproportional häufig im Übergangssystem vertreten und nehmen seltener eine duale Ausbildung auf als Jugendliche mit Migrationshintergrund (vgl. AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2011, 99/BIBB 2011, 88). Jugendliche mit Migrationshintergrund haben jedoch nicht nur Probleme an der Schwelle zwischen allgemeinbildender Schulzeit und beruflicher Ausbildung zu gewärtigen. Auch wenn Sie einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen haben, sind ihre Bedingungen ungünstiger als die der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. So finden sich Jugendliche mit Migrationshintergrund häufiger in Ausbildungsberufen in denen die Abbruchrate höher und die Übernahmechancen niedriger sind. Außerdem sind die Ausbildungsgänge, in die sie bevorzugt einmünden häufiger nichtbetrieblich organisiert als bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. BEICHT/GRANATO/ULRICH 2011, 197). Auch sind Jugendliche mit Migrationshintergrund in Ausbildung vor dem Hintergrund ihres allgemeinbildenden Schulabschlusses häufiger für ihre Ausbildungsberufe überqualifiziert als Jugendliche ohne Migrationshintergrund (vgl. ebd.).
Als Risikogruppe innerhalb des Übergangssystems und des Berufsbildungssystems insgesamt kommt heute den Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht zuletzt deshalb besondere Aufmerksamkeit zu, da mit einem veränderten Verständnis Deutschlands als Migrationsgesellschaft deutlich wird, dass Integration eine pädagogische Aufgabe darstellt, zu der das Bildungssystem insgesamt und auch dezidiert das Berufsbildungssystem beizutragen hat (vgl. KRÜGER-POTRATZ 2011). Zum anderen birgt Integration auch einen Aufforderungscharakter an die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, sich dem von der deutschen Gesellschaft als Normalbildungsniveau definierten Standart der abgeschlossenen Berufsausbildung anzupassen. Letztendlich stehen heute die Kinder derer, die als ungelernte Arbeitskräfte angeworben wurden und die kaum Chancen auf den Erwerb anerkannter beruflicher Bildung hatten unter dem Druck, geringe Bildung rechtfertigen zu müssen.
Als ursächlich für die größeren Schwierigkeiten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund am Ausbildungsstellemarkt werden angesehen:
In diesem Kontext wird die Bedeutung der ersten Schwelle zwischen allgemeinbildender Schulzeit und Aufnahmen einer anerkannten beruflichen Ausbildung für die Integration der Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich.
Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf das Bildungssystem drücken sich unmittelbar in einer Abnahme der schulrelevanten Alterskohorten aus (vgl. AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2010, 154; HETMEIER/ SCHRÄPLER/ SCHULZ 2010). Während diese Tatsache bezogen auf das allgemeinbildende Schulsystem mit Problemen des Rückbaus von Schulstandorten und der Aufrechterhaltung der Schulversorgung in strukturschwachen Gebieten assoziiert wird (vgl. KUKLINSKI 2006), findet man in der berufspädagogischen Fachöffentlichkeit kaum Diskussionen um die Entwicklung der berufsbildenden Schulen in Zeiten rückläufiger Jahrgangsstärken obwohl auch die für die berufsbildenden Schulen einschlägigen Alterskohorten bis 2025 um 15,4% zurückgehen sollten (vgl. EULER 2010, 11). Vielmehr wird der mögliche Beitrag beruflicher Bildung und Weiterbildung zur Linderung des prognostizierten Fachkräftemangels diskutiert (vgl. ESSER 2011). Darüber hinaus wird die Hoffnung formuliert, dass die rückläufige Arbeitslosigkeit und ein ausgeglichener Ausbildungsstellenmarkt zu einem Abschmelzen bzw. Verschwinden des Übergangssystems führen könnten (vgl. EULER 2010). Risikogruppen werden als Zielgruppen zur Bekämpfung des Facharbeitermangels angesehen (vgl. RASS-TURGUT 2009).
Dabei stehen den relativ sicheren Prognosen über geringe Bildungsteilnehmer solche über den zu erwartenden Fachkräftemangel gegenüber, die uneinheitlicher ausfallen. So sieht eine Prognose der PROGNOS AG einen Fachkräftemangel auf allen Qualifikationsebenen, also auch in dem für die berufliche Bildung einschlägigen „mittleren Qualifikationssegment“ herannahen, mit gewichtigen gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen (vgl. dies. 2010). Skeptischer und differenzierter beurteilen BAETHGE et. al. die Zukunft des Verhältnisses von Fachkräfteangebot und –nachfrage. Sie stützen sich auf die Projektionen des nationalen Bildungsberichts „Bildung in Deutschland“ und der Arbeitsgruppe von BIBB und IAB und rechnen ab 2025 lediglich mit einem Gleichstand zwischen Angebot und Nachfrage unterhalb der Hochschulebene. Arbeitkraftengpässe sehen sie hier lediglich in den Gesundheits- und Sozialberufen, den Rechts- und Managementberufen, den künstlerischen und Medienberufen, den geistes- und sozialwissenschaftlichen Berufen sowie den Gastronomie- und Reinigungsberufen (vgl. BAETHGE et. al. 2010).
Der demografische Wandel rückt die Risikogruppen des Übergangssystems in den Vordergrund, da neben der optimistischen Prognose eines Abschmelzens des Übergangssystems auch die Position vertreten wird, dass in naher Zukunft eine „Mismatch-Situation“ entstehen könne, in der eine weiterhin große Anzahl von Jugendlichen im Übergangssystem mit einem Fachkräftemangel auf der anderen Seite einhergehen könne, da diesen Jugendlichen die nötigen Qualifikationen fehlten. Im Zuge dieser Argumentation, werden die Risikogruppen im Übergangssystem von einer Gruppe der „Überzähligen“ die auch bei ausreichenden Qualifikationen nicht vollständig dual ausgebildet werden können zu einem deutlichen Signal eines nicht nur hinsichtlich der Bedürfnisse der Jugendlichen sondern auch hinsichtlich jener der Wirtschaft dysfunktionalen Ausbildungssystems (vgl. HILGER/SEVERING 2008). Gleichzeitig bringt es das Verständnis Deutschlands als Einwanderungsland mit einem entsprechendem Selbstverständnis hinsichtlich der Integration der Migranten mit sich, dass das Übergangssystem in dieser Hinsicht problematisiert wird (vgl. BEAUFTRAGTE DER BUNDESREGIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION 2010).
Zuletzt formulierte EULER die Gegenthese zu Prognosen eines Verschwindens des Übergangssystems aufgrund des demografischen Wandels (vgl. EULER 2010). Zum einen würden Unternehmen nicht wesentlich ihre Ausbildungsanstrengungen ausbauen. Vor allem sei es unwahrscheinlich, dass sie aufgrund des nachlassenden Angebots an potentiellen Auszubildenden beginnen würden, verstärkt Jugendliche in die Ausbildung zu übernehmen, welche die allgemein bildenden Schulen mit kognitiven Lücken und/oder sozialen Schwierigkeiten verlassen (vgl. EULER 2010, 25). Vielmehr hätten Betriebe auch die Möglichkeit ihren Fachkräftebedarf alternativ zu decken (vgl. ebd.). SEVERING und HILGER sehen in diesem Zusammenhang eine doppelt problematische Situation in der beruflichen Bildung heraufziehen mit einem Fachkräftemangel auf der einen und mit Bildungschancen unversorgten gering qualifizierten Jugendlichen auf der anderen Seite (vgl. HILGER/SEVERING 2008, 93 f.).
Viele der genannten Ursachen, welche die Benachteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund konstituieren sind in der mangelnden Ausstattung dieser Gruppe mir sozialem Kapital und schlechteren Bildungsabschlüssen begründet und sollten allein durch den erwarteten Fachkräftemangel und geringere Abgangskohorten nicht behoben werden können. So ändert der demografische Wandel nichts an den schlechteren Schulabschlüssen und Abgangsnoten der Jugendlichen mit Migrationshintergrund und lässt auch das angenommene ungünstigere Anregungs- und Vorbildungspotential der Eltern unberührt. Auch verändert sich das ausbildungsplatzrelevante soziale Kapital dieser Gruppe ebenso wenig wie die Anzahl der Ausbildungsbetriebe mit Akteuren in der Leitungsebene, die ebenfalls über einen Migrationshintergrund verfügen. Zuletzt erscheint es unwahrscheinlich, dass es am Ausbildungsstellenmarkt lediglich aufgrund eines prognostizierten Fachkräftemangels zu einer Anerkennung von aus dem familiären Aufwachsen und dem Leben in einer Subkultur resultierendem ethnischen Kapital wie Mehrsprachigkeit und interkulturellen Kompetenzen kommt.
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Fragen, ob der Fachkräftemangel dazu führen könnte, dass benachteiligenden Selektionsprozesse durch Ausbildungsbetriebe, die darin resultieren das Jugendliche mit Migrationshintergrund über bessere Leistungsnachweise und Bildungspatente verfügen, um sich in den Bewerberketten gegen Jugendliche ohne Migrationshintergrund durchzusetzen, abnehmen. Allerdings bescheinigt die neuste Auswertung des Übergangsgeschehens an der ersten Schwelle von Ulrich eine persistente Benachteiligung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei gleichen Leistungsvoraussetzungen (vgl. ULRICH 2011).
Zuletzt kann davon ausgegangen werden, dass sich der Ausbildungsstellenmarkt uneinheitlich entwickelt. So kann in innerstädtischen Sozialräumen in den Großstädten, in denen überproportional viele Jugendliche mit Migrationshintergrund leben, durchaus ein Ausbildungsstellenmarkt vorgefunden werden, der auf Schulabgänger mit höheren Schulabschlüssen zurückgreifen kann und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und niedrigen Schulabschlüssen kaum Chancen bietet. Gleichzeitig zeigt sich bereits jetzt im ländlichen Raum ein Ausbildungsstellenmarkt, der durch ein sehr starken Unterangebot an Nachfragern gekennzeichnet ist.
Es wird deutlich, dass Integrationsprobleme in der beruflichen Bildung im allgemeinen und die Problematik der Risikogruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund ein Problemzusammenhang darstellen, der über Angebots- Nachfragerelationen am Ausbildungsstellenmarkt hinausgeht. Es steht vielmehr die Frage im Raum, wie sich das berufliche Bildungssystem gegenüber dem Phänomen Migration als pädagogische Herausforderung verhält. Die ersten Wellen der Arbeitsmigration fanden „am beruflichen Bildungssystem vorbei“ statt, da unqualifizierte Arbeit nachgefragt wurde und das berufliche Bildungssystem sowie die Berufsvorbereitung einen vergleichbaren Institutionalisierungsgrad wie heute aufwiesen. Im Anschluss war der pädagogische Blickwinkel innerhalb der Berufs- und Weiterbildung in erster Linie von einer Defizitorientierung geprägt (vgl. MESSERSCHMIDT 2011; BOOS-NÜNNING 2011, 250) Aktuell stellt sich die Frage, inwieweit berufliche Bildung die pädagogische Herausforderung meistern kann, einer Risikogruppe, die Resultat einer spezifischen Anwerbe- und Ausländerpolitik der Bundesrepublik sowie von integrationspolitischen Versäumnissen und eines selektiven Schulsystems ist, Qualifizierungschancen zu eröffnen. Dabei erscheint es problematisch, dass es in einem durch eine Abgangsselektion geprägten Ausbildungsstellenmarkt kaum möglich ist, mit dem Migrationshintergrund verbundene Potentiale, die eher vage mit dem Begriff „interkulturelle Kompetenz“ umschrieben werden, in dem Sinne Anerkennung zukommen zu lassen, dass sie die Übergangschancen in Ausbildung verbessern (vgl. BOOS-NÜNNING 2011, 249). Auch die Professionalisierung des Bildungspersonals an Betrieben und Berufsschulen hinsichtlich der Arbeit mit multiethnischen Gruppen ist kaum gegeben (vgl. ebd.).
Es bleibt somit offen, ob es unter der Voraussetzunge eines ausgeglichenen Ausbildungsstellenmarktes und des erwarteten Fachkräftemangels gelingt, ein zielgruppenspezifisch und defizitorientiert verengtes Problemverständnis zu überwinden. Wenn die Auszubildenden von morgen eine in vielerlei Hinsicht heterogene Gruppe darstellen werden, sollte interkulturelles Lernen mit dem Ziel einer aktiven Steuerung der eigenen Bildungsbiografie in der beruflichen Ausbildung forciert werden.
Aktuell kann von einem diversitätssensiblen Ausbildungsstellenmarkt nicht ausgegangen werden. Obschon in bestimmten Ausbildungsberufen bereits jetzt kaum Auszubildende rekrutiert werden können bleibt der Ausländeranteil innerhalb der Auszubildenden auf dem äußerst niedrigen Niveau von ca. 5%, auf dem er seit sechs Jahren verharrt (vgl. BIBB 2011, 120). Es ist also nicht ersichtlich, dass demografischer Wandel und Fachkräftemangel automatisch ein verändertes Verhältnis von beruflicher Bildung und Migration konstituieren.
Innerhalb des Berufsbildungssystems fällt es außerdem bisher schwer, Ansprüche auf die Anerkennung von Kompetenzen zu realisieren, die jenseits der Konzepte der Ausbildungsreife und der berufliche Handlungskompetenzen liegen. Sollte auf den prognostizierten Fachkräftemangel jedoch eine Phase der Anwerbung qualifizierter Arbeitsmigranten folgen, so wird jedoch genau dies nötig sein. Bereits jetzt wird unter dem Stichwort „Brain Waste“ problematisiert, dass außerhalb des deutschen Bildungssystems erworbene Schulabschlüsse und berufliche Kompetenzen im Zuge einer Arbeitmigration nach Deutschland nur unter restriktiven Voraussetzunge anerkannt werden (vgl. ENGLMANN/MÜLLER o.J.). Aktuell wird der Deutsche Qualifikationsrahmen implementiert, der die Anerkennung solcher Kompetenzen ermöglichen soll, allerdings drehen sich die Diskussionen im Implementierungsprozess unter anderem darum, eine Vergleichbarkeit „migrierter“ bzw. in vollschulischen Kontexten oder in der Erwerbsarbeit implizit erworbener Kompetenzen mit den Outcomes des dualen Systems abzulehnen und lediglich eine formale Anerkennung anzustreben (vgl. SCHMIDT/WALTER 2010).
In Zeiten einer absehbaren Verknappung des Arbeitskräfteangebots plädiert KRÜGER- POTRATZ für eine transparent gesteuerte Einwanderungspolitik anhand von klaren, öffentlich vermittelten Kriterien für Zuwanderung und eine Integrationspolitik, die Potentiale der Zugewanderten anerkennt (vgl. dies. 2011: 41). In diesem Kontext bedürfte es einer klaren Anerkennungspolitik von beruflichen Qualifikationen und Abschlüssen, die nicht innerhalb des deutschen dualen Systems vermittelt wurden um die Risikogruppen von morgen nicht erst entstehen zu lassen. Der intergenerationale Weg vom Gastarbeiter zur Risikogruppe und die Rolle beruflicher Bildung dabei kann als Beispiel dafür verstanden werden, wie ein konstruktives Verhältnis von beruflicher Bildung, Migration und Fachkräftemangel misslingt.
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