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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS26 - Berufslaufbahnkonzepte
Herausgeber: Matthias Becker, Reiner Krebs & Georg Spöttl


Titel:
Berufslaufbahnkonzepte im Handwerk – Abschlüsse, Anschlüsse, Übergänge und Qualifikationsrahmen


Wirkungen der europäischen Berufsbildungspolitik auf das Handwerk und welche Chancen liegen darin?

Beitrag von Georg SPÖTTL (Institut Technik und Bildung an der Universität Bremen)

Abstract

Die berufliche Aus- und Weiterbildung im Handwerk geschieht innerhalb ausdifferenzierter Strukturen und hat in erster Linie zum Ziel, den Fachkräftebedarf kontinuierlich auf qualitativ hohem Niveau sicher zu stellen. Ob gemessen daran die zunehmende Europäisierung der Berufsbildung und vor allem die Initiativen zur Verbesserung vertikaler Durchlässigkeit für das Handwerk Vorteile bringen, wird dort sehr unterschiedlich bewertet. Es ist nicht davon auszugehen, dass in großen Schritten Strukturen verändert werden, sondern eher auf ein inkrementales Vorgehen gesetzt wird. Der Beitrag soll eine Perspektive aufzeigen, die auch für das Handwerk gangbar ist und mit dem beruflich-betrieblichen Bildungstyp Durchlässigkeit und handwerkliches Interesse zu vereinen sucht.

1 Einleitung

In Deutschland wird die Qualität der beruflichen Bildung sehr widersprüchlich beurteilt. Einerseits gibt es gerade von offizieller Seite eine sehr positive Einschätzung wie bspw.: „Deutschland bringt in die europäische Entwicklung ein wirksames und bewährtes, weil an der beruflichen Praxis orientiertes Berufsbildungssystem ein.“ (FORTSCHRITTSBERICHT 2005, 21) Andererseits sind auch sehr kritische Stimmen zu vernehmen, die darauf verweisen, dass es nicht gelingt, „die Nachfrage nach Ausbildungsstellen im Dualen System … zu decken. Zwischen den allgemein bildenden Schulen und der Berufsbildung hat sich ein ´Übergangssystem´ gebildet, in dem mehr als 400.000 Jugendliche  … untergebracht sind.“ (EULER 2009; vergleiche dazu auch ROTHE 2011).

Vor allem die negativen Bewertungen werden im Rahmen der Europäisierungsdiskussion aufgegriffen, um das Berufsbildungssystem nicht nur als reformbedürftig zu erklären, sondern gleich in Frage zu stellen. Die Argumente sind vielfältig. Meist wird es als mangelhaft konkurrenzfähig gegenüber einem Schulberufssystem bewertet, als zu sehr im handwerklichen „Erfahrungslernen“ verhaftet und deshalb nicht mehr tragfähig für eine Wissensgesellschaft und zu fixiert auf einen engen beruflichen Fokus, der die heute viel weitergehenden gesellschaftlichen Forderungen negiert. Überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden an vielen Stellen die entscheidenden Vorteile der beruflichen Bildung wie bspw. die gut entwickelten Ansätze arbeitsbasierten Lernens, Konzepte für das Arbeiten mit Projekten, die Entwicklung von Handlungskompetenz, das forschende Lernen oder etablierte Qualitätssicherungskonzepte.

Trotz vieler positiver Argumente ist es jedoch erforderlich, dass sich die Berufsbildung der europäischen Diskussion nicht nur stellt – das tut sie bereits! – sondern daraus innovative Rückschlüsse für eigene Reformen zieht. Das gilt in besonderem Maße für die handwerkliche Berufsausbildung, weil sie einen vergleichbar hohen Stellenwert im Gesamtsystem besitzt. Weder Handwerk noch Industrie dürfte Interesse haben, „dass das Berufsbildungssystem zu einem Auslaufmodell“ erklärt wird oder dahin degeneriert.

2 Beruflich-betriebliche Bildung – Auslaufmodell oder Vorreiter?

Eine Auseinandersetzung mit der Frage zur Zukunft der beruflichen Bildung ist aus mehreren Gründen von hoher Relevanz:

Nach wie vor verändern sich Arbeits- und Produktionsstrukturen mit hoher Dynamik und es gibt derzeit kein klares Bild, wie damit aus Sicht der beruflichen Bildung umgangen werden soll.

Zahlreiche Entwicklungsinitiativen sind von dem zwischenzeitlich ausufernden Übergangssystem überschattet. Aktuell gibt es von einer Hochschullehrergruppe Vorschläge zum weiteren Umgang mit dem Übergangssystem, was nach meiner Einschätzung ein Parallelsystem zur Berufsbildung zur Konsequenz hätte (vgl. MEMORANDUM 2009).

Es gibt mehrere Vorschläge, das akademisch ausgerichtete, allgemeinbildende Schulwesen als Antwort auf die Wissensgesellschaft weiter auszubauen, weil vermeintlich die „erfahrungsbasierte“ Orientierung der Berufsbildung in der Wissensgesellschaft nicht bestehen kann.

Für eine weitere Entwicklung des Berufsbildungssystems gibt es keine Vorschläge, die von allen Beteiligten, von allen Akteuren und Interessensvertretungen ohne Einschränkung akzeptiert werden. Allein deshalb besteht eine hohe Notwendigkeit, über überzeugende Zukunftsszenarien nachzudenken, um dann auf der Grundlage von „Leitbildern“ weitere Initiativen ergreifen zu können. Die Diskussion lässt sich polarisieren in eine, die als „Auslaufmodell“ und eine andere die als „Vorreitermodell“ charakterisiert werden kann.


Auslaufmodell

Argumente, die für das Auslaufmodell genutzt werden:

  1. Vom Dualen System wird eine große Gruppe lernschwächerer Jugendlicher und Jugendlicher mit Migrationshintergrund aufgrund hoher Zugangsbarrieren ausgeschlossen. Das Duale System ist verkommen zu einem „Goldenen Weg“ für die Guten. Eine Diskussion mit alleinigem Fokus auf die Berufsbildung wird deshalb als Luxusproblem bewertet.

  2. Die Berufsbildung wird künftig nicht mehr als konkurrenzfähig gegenüber der Hochschulbildung betrachtet, weil Bachelor-Absolventen qualitativ besser qualifiziert sein werden und auf die Arbeitsplätze von Facharbeitern, Technikern und Meistern wandern.

  3. Die Ausrichtung der Berufsbildung auf die „Fachlichkeit“ wird als zu eng gesehen und es wird festgestellt, dass dadurch die notwendige berufliche Mobilität behindert wird.

  4. Das Verhaftetsein im Modell der „vollständigen Handlung“ ist nach Meinung der Kritiker nicht mehr aufrecht zu erhalten, weil dieses die Taylorisierung der Arbeitswelt nicht mehr zulässt.


Vorreitermodell

Argumente, die untermauern, dass berufliche Bildung in mehreren Feldern eine Vorreiterrolle einnimmt:

  1. Die berufliche Bildung weist sich nicht durch Wissenschaftsbezug im wissenschaftlichen Sinne aus, beherrscht jedoch die Anwendung von Wissen und macht dieses auf der Werkstattebene praktisch nutzbar. Daraus resultieren zahlreiche Qualitätsverbesserungen in der konkreten Aufgabenbewältigung in Industrie und Handwerk.

  2. Lernen im Arbeitsprozess und mit Projekten ist in der beruflichen Bildung weit verbreitet. Es ist in Verbindung mit einer gründlichen Reflexion geeignet, Fachkräfte exzellent auf den Einsatz in Unternehmen vorzubereiten. Diese Ansätze, die eine ganzheitliche Kompetenzentwicklung durch eine ausdifferenzierte Lernprozessgestaltung fördern, sind sehr gut für eine weite Verbreitung geeignet.

  3. Alle Entscheidungen zu Fragen der Berufsbildung sind gesellschaftlich rückgebunden, weil daran immer die Sozialpartner und politischen Vertreter beteiligt sind. Das stellt sicher, dass nicht für enge Tätigkeitsprofile qualifiziert wird, sondern für herausfordernde Aufgaben, die bei hoher Qualität bewältigt werden müssen
    (vgl. SENNER 1998).

  4. Absolventen einer qualifizieren Berufsausbildung sind kooperativ und innovativ, beherrschen praktische Aufgaben und verstehen die theoretischen Zusammenhänge. Sie leisten einen erheblichen Beitrag zur Herstellung hochwertiger Güter.

3 Der beruflich-betriebliche Bildungstyp – ein Zukunftsmodell

Im Gutachten der Hans-Böckler-Stiftung (vgl. SPÖTTL et al. 2009) wird neben dem akademischen Bildungstyp ein beruflich-betrieblicher Bildungstyp charakterisiert.

Mit der Benennung „beruflich-betrieblicher Bildungstyp“ soll deutlich gemacht werden, dass hinter einer Berufsbildung und einem auf einen Beruf zentriertes Lernen mehr steht als nur Fertigkeitstraining. Es geht darum, auf berufliche und gesellschaftliche Aufgaben vorzubereiten und es geht letztendlich um die emanzipierte Auseinandersetzung mit

  • Gegenständen und Organisationsformen von Facharbeit sowie deren Gestaltung,
  • dem Beherrschen von einfachen und multifunktionalen Werkzeugen,
  • besonders schwierige Aufgaben, und
  • großen Datenvolumen und Wissensbeständen im Zusammenhang mit komplexer Technologie.

Ein beruflich-betrieblicher Bildungstyp ist geeignet, das europäische Flexibilitätsparadigma zu erfüllen und beherrscht die Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Er steht in den betrieblichen Praxisgemeinschaften neben dem akademischen Bildungstyp. Der beruflich-betriebliche Bildungstyp zeichnet sich durch eine Facharbeiterqualifikation aus, die in engen Bezügen mit Arbeitsprozessen von statten ging. Arbeitsprozessbezogenes Lernen war das Fundament des Qualifizierungsprozesses, weshalb der beruflich-betriebliche Bildungstyp seine Domäne in der er ausgebildet wurde „beherrscht“. Was ihm fehlt, ist das Lernen und Arbeiten in wissenschaftlichen Disziplinen und wissenschaftlichen Denkstrukturen. Es ist deshalb naheliegend, bei einer Weiterqualifizierung auf akademischem Niveau auf Studiengänge zu setzten, die auf eine berufliche Ausbildung aufbauen oder dual organisiert  sind (vgl. Bild 1). Diese Überlegungen sind zwar als vorläufig charakterisiert, zeigen aber, dass intensiv nach Lösungen gesucht werden muss, die sowohl die horizontale (Personen mit beruflichem Profil in traditionellen akademischen Studiengängen) als auch die vertikale Durchlässigkeit (Personen mit beruflichem Profil wandern vertikal in Studiengänge, die an eine Berufsbildung anschließen oder verzahnt mit dieser verlaufen) verfolgen.

Zusammenfassend betrachtet wird der beruflich-betriebliche Bildungstyp spätestens dann relevant, wenn es um die Fragen von

  • Gleichwertig- und Gleichartigkeit im Rahmen der Diskussion von Durchlässigkeit geht (welche Akzeptanz erfährt dabei der beruflich-betriebliche Bildungstyp?),
  • wenn es um Zuordnungsfragen zum DQR geht,
  • wenn es um die Bewertung von Erfahrungsbezug, Arbeitsprozessbezug, Kommunikation in betrieblichen Praxisgemeinschaften, Stellenwert der Bewältigung betrieblicher Aufgaben, Gestaltungskompetenz usw. geht,
  • Qualitätsproduktion und aktiver Qualitätssicherung geht,
  • horizontaler Mobilität geht,
  • vertikaler Flexibilität geht, z. B. im Rahmen dualer Studiengänge, wissenschaftlicher Berufsausbildung u s w.

Der beruflich-betriebliche Bildungstyp ist deutlich mehr als ein abgerichteter Erfüllungsgehilfe. Er gestaltet die betrieblichen- und gesellschaftlichen Aufgaben mit, weshalb die Einbettung in berufliche Karrieren vertikaler und horizontaler Art mit bedacht werden muss.

 

Abb. 1:   Bildungstypen als Leitmodell für Bildungskarrieren aus dem Handwerk

4 Zusammenfassung und Ausblick

Die Diskussion um die Europäisierung der beruflichen Bildung hat bereits heute erhebliche Wirkungen auf die Systemstrukturen. Unter dem Gesichtspunkt der inzwischen eröffneten Chancen erhöhter Durchlässigkeit werden das Berufsbildungssystem und dessen Akteure nicht daran vorbeikommen, die vorherrschenden Strukturen zu überdenken. Besonders dem Handwerk bietet sich die Chance, die hohe Ausdifferenzierung der vorhandenen Angebote zu überdenken und zu prüfen, wie Berufslaufbahnkonzept gestaltbar sind, die Karrierechancen bis hin zur Weiterqualifizierung in Hochschulen beinhalten. Übergänge innerhalb des beruflichen Bildungssystems, Übergänge aus einer Berufstätigkeit in die berufliche Weiterbildung, Übergänge aus der Berufsbildung oder beruflichen Tätigkeit in eine Hochschule oder Universität sind genauer zu prüfen und unter dem Aspekt der Durchlässigkeit zu konsolidieren (vg. BLBS-aktuell 2011, 75). Das in diesem Band vorgestellte Karrieremodell des Handwerks genauso wie die Idee im Gutachten der Hans-Böckler-Stiftung, einen beruflich-betrieblichen Bildungstyp (vgl. SPÖTTL et al. 2009) neben dem bereits bekannten akademischen Bildungstyp zu etablieren,  sind Überlegungen, die ernsthaft aufzugreifen wären, um daraus gangbare Wege zur Unterstützung von Bildungskarrieren zu machen, die im auch im Handwerk Akzeptanz finden. Das erfordert eine gründliche Diskussion zukünftiger Entwicklungen des Handwerks und darauf abgestimmter Personalressourcen. In einer Studie zu den Bildungszentren in Hessen konnten vier Gestaltungsfelder identifiziert werden, an welche das Handwerk bei weitergehenden Überlegungen zu Bildungskarrieren anknüpfen kann (vgl. AHRENS/ AROLD/ GERDS/ SPÖTTL 2009):

  1. Gestaltungsfeld I: Binnengestaltung adressaten- und nachfrageorientierter sowie die berufsbiografische Kompetenzentwicklung  fördernde Bildungsangebote, Didaktisierung der Bildungsangebote (didaktische Profilierung) zur Stärkung des Geschäftsfeldes berufliche Fort- und Weiterbildung.

  2. Gestaltungsfeld II: Sicherstellung des qualifizierten Nachwuchses für das Handwerk im Zeichen des demografischen Wandels und Fachkräftemangels durch  Gestaltung der Übergangswege von der allgemeinen Bildung in die berufliche Erstausbildung durch gezielte Vernetzungen und Kooperationen

  3. Gestaltungsfeld III: Gestaltung durchlässiger Übergange zwischen Berufsausbildung, Fort-/Weiterbildung und wissenschaftlicher Bildung, insbesondere Ausgestaltung des beruflichen Bildungsweges durch Anschluss an den tertiären Sektor/ die Hochschulbildung durch Kooperationen.

  4. Gestaltungsfeld IV: Ausbau und Intensivierung der Nähe zur betrieblichen Arbeitswelt bei der Profilierung als gleichwertiger Lernort, insbes. Transfer von technologischem Know-how.

Diese Gestaltungsfelder lassen sich mit Blick auf die dominierenden Strukturen im Handwerk operationalisieren, so dass wichtige und lukrative Entwicklungen eingeleitet werden können.

Literatur

AHRENS, D./ AROLD, H./ GERDS, P./ SPÖTTL, G. (2009): Studie zur Ausgangslage und zu den Herausforderungen der Weiterentwicklung der Bildungszentren des Handwerks in Hessen. Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Landesentwicklung und der ARGE. Wiesbaden, Bremen.

BLBS-aktuell (2011): Wann und wo beginnt studieren? Die berufsbildende Schule (Bbsch) 63, H. 3, 75-76.

EULER, D. (2009): Übergangssystem – Chancenverbesserung oder Vorbereitung auf Prekariat? Vortrag auf der Fachtagung der Hans-Böckler-Stiftung „Zukunft Berufsbildung“ am 12.02.2009, Düsseldorf. Online: http://www.boeckler.de/pdf/v_2009_02_12_euler_vortrag.pdf  (20-07-2011).

FORTSCHRITTSBERICHT (2005): Zur Umsetzung des Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“. EU, Brüssel.

MEMORANDUM (2009): Zur Professionalisierung des pädagogischen Personals in der Integrationsförderung aus berufsbildungswissenschaftlicher Sicht. Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik in der DGFE. Bonn.

ROTHE, G. (2011): Zur Zukunftsfähigkeit der Berufsbildung in Deutschland. Die berufsbildende Schule (Bbsch) 63, H. 5, 157-164

SENNET, R. (1998): Der flexible Mensch. Berlin.

SPÖTTL, G./ BREMER, R./ GROLLMANN, P./ MUSEKAMP, F. (2009): Gestaltungsoptionen für die duale Organisation der Berufsbildung. Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 168. Düsseldorf.


Zitieren dieses Beitrages

SPÖTTL, G. (2011): Wirkungen der europäischen Berufsbildungspolitik auf das Handwerk und welche Chancen liegen darin?. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 26, hrsg. v. BECKER, M./ KREBS, R./ SPÖTTL, G., 1-7. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws26/spoettl_ws26-ht2011.pdf (26-09-2011).



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