Titel:
Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung
Die Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung ist seit Jahrzehnten ein Thema von hoher bildungspolitischer Relevanz. Dabei sind mehrere Zielkomplexe – in über die Zeit variierender Akzentuierung – für diese Debatte von Bedeutung:
Trotz dieser hohen Bedeutungszumessung waren wesentliche Fortschritte über lange Zeiträume kaum zu erkennen. In den letzten Jahren allerdings hat die Entwicklung im Gestaltungsfeld ‚Anrechnung‘ erheblich an Dynamik gewonnen:
Mit dieser Auflistung sind zugleich die drei zentralen Elemente der Durchlässigkeit – Hochschulzugang, Anrechnung und Studienmodelle – genannt.
Die hier zusammengestellten Beiträge beziehen sich einerseits auf Durchlässigkeit insgesamt aus einer breiteren Perspektive (RAUNER, BARABASCH/ DEITMER), andererseits konzentrieren sie sich auf die Frage der Anrechnung und hier insbesondere der Äquivalenzprüfung zwischen beruflichen und hochschulischen Lernergebnissen (HARTMANN, MÜSKENS/ TUTSCHNER, SAVA).
Felix RAUNER stellt sehr grundlegende Fragen hinsichtlich der Barrieren zwischen akademischer und beruflicher Bildung und Möglichkeiten ihrer Überwindung. Er beschreibt grundlegende Unterschiede zwischen beruflichem Wissen (Arbeitsprozesswissen) und wissenschaftlichem Wissen. Eine weitreichende Akademisierung der Bildung – ‚College-for-all-Politik‘ – wird aus dieser Perspektive abgelehnt, auch wegen der dadurch steigenden Friktionen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem.
RAUNERs Vorschlag zur Lösung des Durchlässigkeitsproblems läuft auf eine Forderung nach konsequent parallelisierten Bildungswegen hinaus. Dem traditionellen Hochschulsystem – das sich in dieser Sichtweise auf akademisches Wissen im engen Sinne konzentriert und auch konzentrieren sollte – wird konzeptionell ein durchgängiges duales Bildungssystem gegenübergestellt, das von der beruflichen Erstausbildung über die berufliche Fort- und Weiterbildung bis zu Bachelor- und Masterprogrammen reicht. Hinsichtlich der Durchlässigkeit zwischen diesen beiden Bildungszweigen wird nach Typen beruflicher Bildungsgänge differenziert. Während für handwerklich/gestaltende Berufe ein Verbleib innerhalb des zu schaffenden durchgängigen dualen Bildungswegs naheliegt, könnten Absolventen theoriegeleiteter, ‚semi-akademischer‘ Berufe wahlweise auch in den akademischen Bildungszweig wechseln, unter Anrechnung ihrer beruflich erworbenen Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge (bzw., so wird unterstellt, ganze hochschulische Abschlüsse).
BARABASCH und DEITMER vermitteln eine internationale Perspektive. Sie widmen sich verschiedenen Ansätzen zur Gestaltung und Verbesserung des Übergangs zwischen Berufs- und Hochschulbildung in den vier Ländern: USA, England, Finnland und der Schweiz. Der Vergleich zeigt, dass die Vielfalt an Übergangsmöglichkeiten tief in nationalen Bildungskulturen verwurzelt ist und die Institutionalisierung erhöhter Durchlässigkeit (Permeabilität), aber auch deren tatsächliche Nutzung, sehr unterschiedlich vorankommt. In allen vier Ländern wurden neue Übergangswege zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung geschaffen. Auf Grund zunehmender Heterogenität der Lernenden ist eine verstärkte Individualisierung der Übergänge erkennbar. Während am Beispiel USA aufgezeigt wird, dass die Rhetorik um die Übergangserleichterung mit dem Ziel mehr jungen Erwachsenen den Übergang an Colleges zu erleichtern aufgrund der Marktsteuerung auch negative Begleiterscheinungen, insbesondere in Form hoher Verschuldung, mit sich bringen kann, weist die Schweiz ein sehr positives Beispiel aus. Hier gewähren das Berufsmaturat und die Ergänzungsprüfung (Passerelle) den Zugang zur Hochschulbildung. In Finnland, wo der Übergang von der Berufsbildung an die Hochschulen formal geregelt ist und ermöglicht wird, ist nicht ausreichend bekannt inwiefern Individuen, die aus der Berufsbildung kommen, in der Lage sind die Eingangsprüfungen für den Zugang zu den Hochschulen erfolgreich zu bestehen. Eine im Vergleich zu den anderen drei Ländern große Bedeutung kommt in Finnland der Validierung informell erworbener Fähigkeiten und Kompetenzen zu. England hat gerade erst ein neues „Studienmodell“ entwickelt, welches 14-19 Jährigen möglichst sowohl den Weg in eine Berufsausbildung als auch den Weg zum Studium ermöglichen soll. Dieser Ansatz lehnt sich deutlich an die U.S. amerikanischen Programme, z.B. Tech Prep an.
Die verbleibenden drei Beiträge widmen sich Fragen der Anrechnung beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge und Verfahren zur Beurteilung der Äquivalenz zwischen beruflichen und hochschulischen Lernergebnissen in den Mittelpunkt.
Ernst HARTMANN stellt im Überblick Ergebnisse der BMBF-Initiative ANKOM dar. Diese Ergebnisse beziehen sich auf die Gestaltungsfelder Lernergebnisbeschreibung, Äquivalenzbeurteilung und Anrechnungsverfahren.
Bevor Lernergebnisse aus beruflicher und hochschulischer Bildung miteinander verglichen werden können, müssen diese Lernergebnisse in einem möglichst ‚neutralen‘ – also für beide Typen von Lernergebnissen gleichermaßen geeigneten- Format beschrieben werden. In den ANKOM-Projekten haben sich Qualifikationsrahmen, insbesondere der Europäische Qualifikationsrahmen (EQF), und kognitive Lernergebnistaxonomien als gangbare Wege herausgestellt.
Bei der Äquivalenzbeurteilung muss unterschieden werden zwischen solchen Verfahren, die sich auf eine pauschale, Individuen unabhängige Anrechnung beziehen, und solchen, die im Kontext einer individuellen Anrechnung zur Anwendung kommen. Die Beiträge von Wolfgang MÜSKENS und Roland TUTSCHNER (pauschales Verfahren) einerseits und Adriana Sava (individuelles Verfahren) andererseits stehen exemplarisch für diese beiden Typen von Äquivalenzbeurteilungsverfahren. Beide Verfahren wurden auch im Kontext von ANKOM entwickelt.
Wenn Hochschulen Anrechnungsverfahren einführen wollen, stehen sie vor der Entscheidung zwischen einem individuellen Verfahren, einem pauschalen Verfahren und einem kombinierten Verfahren mit individuellen und pauschalen Elementen. Eine sachgerechte Entscheidung sollte abhängen von Faktoren wie der Art der anzurechnenden Lernergebnisse (formell, nicht-formal oder informell erworbene Lernergebnisse; letztere können nur individuell angerechnet werden), der erwarteten Anzahl von Anrechnungskandidatinnen und -kandidaten, der Affinität der jeweiligen Studiengänge zu beruflichen Bildungsgängen und nicht zuletzt der strategischen Bedeutung, die die Zielgruppe beruflich qualifizierter Personen für die Hochschule hat. Ist in dieser letzten Hinsicht eine hohe strategische Bedeutung gegeben, kommt ein kombiniertes Verfahren in Betracht.
Wolfgang MÜSKENS und Roland TUTSCHNER beziehen sich, wie bereits angedeutet, auf ein Verfahren der Äquivalenzbeurteilung, das im Rahmen eines pauschalen Anrechnungsverfahrens zur Anwendung kommt. Dieses Verfahren – der Module Level Indicator (MLI) – ist derzeit das einzige Äquivalenzbeurteilungsverfahren, das nach testtheoretischen Standards entwickelt wurde und das daher als ‚Messverfahren‘ im engeren Sinne gelten kann. Der MLI wurde bereits auf viele unterschiedliche Studiengänge und berufliche Bildungsgänge angewandt. Im konkreten Beitrag hier steht exemplarisch eine Anwendung im Bereich Konstruktion/Maschinenbau im Vordergrund. Verglichen werden Lernergebnisse des Bildungsgangs zum/zur staatlich geprüften Techniker / staatlich geprüften Technikerin und eines Bachelor of Engineering Studiengangs einer Fachhochschule.
Besonders deutlich wird hier die methodische Unterscheidung zwischen Inhalts- und Niveaubestimmung im Rahmen der Äquivalenzprüfung. Bei der Inhaltsprüfung steht die Frage im Vordergrund, inwieweit sich beide Gruppen von Lernergebnissen (berufliche und hochschulische) auf vergleichbare Inhalte bzw. Gegenstände beziehen. Die Niveauprüfung beantwortet die Frage, ob diese Inhalte bzw. Gegenstände auf gleichwertigen Niveaus bearbeitet wurden. Für beide Verfahrensschritte stellen die Autoren spezifische Instrumente dar, eine Lernergebnismatrix für den Inhaltsvergleich und den MLI für den Niveauvergleich.
Adriana SAVA illustriert mit dem Portfolio-Verfahren der Alice Salomon Hochschule ein besonders gutes Beispiel eines Anrechnungsverfahrens im Rahmen der individuellen Anrechnung. Ihr Beitrag ist damit zugleich ein Pendant zu dem Text von Wolfgang MÜSKENS und Roland TUTSCHNER. Portfolio-Verfahren können als Standard der Äquivalenzbeurteilung im Rahmen individueller Anrechnung betrachtet werden. Das ASH-Verfahren zeichnet sich durch eine besonders systematische Aufbereitung und einen sehr klaren Bezug zu den Lernergebnissen des Studiengangs aus.
Das individuelle Anrechnungsverfahren besteht neben dem eigentlichen Portfolio noch aus einem Kolloquium, das der Validierung des Portfolios dient. Das Kolloquium führen zwei Hochschullehrende mit der Anrechnungskandidatin durch. Zum Portfolio-Verfahren der ASH gehören ein Lebenslauf, ein Lerntagebuch, eine Übersicht über anrechnungsfähige Module, ein Arbeitsbogen und ein Anhang. Das Lerntagebuch ist ein didaktisches Mittel, das die Anrechnungskandidatinnen darauf vorbereiten soll, ihre berufliche Praxis kritisch zu reflektieren und generalisierbare Wissenselemente zu identifizieren. Die Arbeitsbögen dienen dazu, beruflich erworbene Kenntnisse systematisch den Lernergebnissen der Studienmodule zuzuordnen. Auch hier wurde großer Wert auf eine methodische Unterstützung der Anrechnungskandidatinnen gelegt. Der Beitrag von Adriana Sava zeigt auch die ganz praktische Seite des ‚Anrechnungsmanagements‘ im Alltag einer Hochschule sehr plastisch.
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, das sowohl an der Universität Oldenburg, wo der MLI entwickelt wurde, wie auch an der Alice Salomon Hochschule in Berlin kombinierte Anrechnungsverfahren eingeführt wurden; an beiden Standorten stehen den Interessierten also sowohl individuelle wie pauschale Verfahren zu Verfügung.
Aus den Beiträgen ergeben sich einige weiterführende Überlegungen für die Förderung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung in Deutschland.
So verweisen etwa Wolfgang MÜSKENS und Roland TUTSCHNER auf die Möglichkeit allgemeiner Anrechnungsempfehlungen. Diese beziehen sich nicht nur auf einen bestimmten Zielstudiengang, sondern stellen – basierend auf einer MLI-Analyse – allgemein fest, dass bestimmte Lernergebnisse eines beruflichen Bildungsgangs ein bestimmtes Niveau und einen bestimmten Workload (in Kreditpunkten) aufweisen. Diese Anrechnungsempfehlung kann dann von anderen Hochschulen aufgegriffen werden, die entweder in einem Studiengang über ein inhaltlich vergleichbares Modul verfügen, oder die diese Lernergebnisse auf Wahlmodule bzw. Wahlbereiche anrechnen möchten. Zumindest für die bundeseinheitlich geregelten Fortbildungen ließe sich eine Art ‚Anrechnungskataster‘ auf diesem Wege aufbauen, was die Verbreitung von Anrechnungsmodellen sicherlich noch weiter befördern würde.
Inwieweit die von Felix RAUNER vorgeschlagene parallele Bildungsstruktur mit einem durchlässigen dualen Ast realisierbar ist, kann heute kaum abgeschätzt werden. Was sich bereits abzeichnet, ist eine zunehmend ‚bunter‘ werdende Hochschullandschaft, in der sich vielfältige Möglichkeiten des berufsbegleitenden lebenslangen Lernens auch für beruflich qualifizierte Personen ohne ersten Hochschulabschluss entwickeln. Der noch bis Ende der Dekade laufende Bund-Länder-Wettbewerb ‚Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen‘ wird gemeinsam mit affinen Initiativen der Länder und individuellen Anstrengungen engagierter Hochschulen diese positive Entwicklung weiter verstärken.
GEMEINSAME WISSENSCHAFTSKONFERENZ (2010): Bund-Länder-Vereinbarung gemäß Artikel 91b Absatz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes über den Wettbewerb „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen. Online: http://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Papers/wettbewerb-aufstieg_durch_bildung.pdf (15-05-2011).
KULTUSMINISTERKONFERENZ (2009): Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung’. Online: http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Hochschulzugang-erful-qualifizierte-Bewerber.pdf (15-05-2011).
* Antje BARABASCH arbeitet als Expertin beim European Centre for the Development of Vocational Training (CEDEFOP) in Thessaloniki, Griechenland. Ihre Standpunkte, die in diesem Artikel vertreten werden, repräsentieren nicht unbedingt die offiziellen Standpunkte oder die offizielle Position von CEDEFOP.