Titel:
Durchlässigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bildung
Beitrag von Felix RAUNER (FG Berufsbildungsforschung I:BB, Universität Bremen)
Die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung gehört zu den zentralen Themen der Bildungsforschung und -politik – national sowie international. Durchgängig wird nach Lösungswegen gesucht, die von den Individuen einen Wechsel von einer beruflichen in einen akademischen Bildungsweg verlangen. Dagegen gibt es nur wenig gelungene Beispiele für durchgängige (duale) Bildungswege. Die sehr große Bandbreite höchst verschiedener Berufe erfordert zudem eine Differenzierung nach domänenspezifischen Kompetenzprofilen und parallelen Bildungswegen. Ein Potenzial, das die dualen Formen beruflicher Bildung in durchlässige Bildungssysteme einbringen, besteht in der Berufsfähigkeit, die in beruflichen Bildungsgängen erreicht werden kann. Begründet wird eine Architektur paralleler Bildungswege mit einem eigenständigen dualen beruflichen Bildungsgang.
Das gesellschaftliche, politische und ökonomische Interesse an der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung resultiert aus
In horizontal und vertikal stark gegliederten Bildungssystemen wie dem deutschen kommt der Gestaltung und Organisation der Durchlässigkeit zwischen den Bildungsstufen und Schulformen sowie vor allem zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung eine besonders große Bedeutung zu. Dies schon deshalb, da die vielfältigen Übergänge, die durch die Systemstruktur gegeben sind, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu führen, dass Barrieren und Abgrenzungen vor allem zwischen beruflicher und hochschulischer (wissenschaftlicher) Bildung entstehen.
In Deutschland liegt z. B. der Anteil für beruflich Qualifizierte ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung bei den Studierenden auf einem im internationalen Vergleich sehr niedrigen Niveau (NICKEL/ LEUSING 2009, 15). Die zahlreichen Verordnungen, die den Zugang für beruflich Qualifizierte zum Hochschulstudium regeln, haben nach einer Stellungnahme der HIS (Hochschulinformationssystem GmbH) vom 3. September 2009 (Freitag 2009) in den letzten Jahren nur unmerklich zur Anhebung der Übergangsquote beigetragen (Tab. 1).
Tabelle 1: Studierende an deutschen Hochschulen ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung im Wintersemester 2007/2008 nach Bundesländern
Rang | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 |
Bundes- durch- schnitt | Hamburg | Nieder- sachsen | Berlin | Hessen | Bremen | Schleswig- Holstein | Branden- burg | Sachsen- Anhalt |
0,97% | 2,1% | 1,9% | 1,8% | 1,4% | 1,3% | 1,24% | 1,20% | 1,16% |
N = 19.176 | 1.497 | 2.809 | 2.367 | 2.307 | 400 | 594 | 509 | 595 |
Rang | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 |
| Meckl.- Vorpom. | Rheinland- Pfalz | NRW | Thüringen | Sachsen | Bayern | Baden- Württ. | Saarland |
| 0,96% | 0,84% | 0,733% | 0,732% | 0,56% | 0,51% | 0,42% | 0,40% |
| 334 | 868 | 3.495 | 364 | 595 | 1.322 | 509 | 80 |
Quelle: Daten des Statistischen Bundesamtes „Studierende und Studienanfänger im 1. Hochschulsemester im Wintersemester 2007/2008 nach Art der HZB und Bundesland“
Eine grundlegende Änderung der Situation in der Folge der KMK-Vereinbarung vom 6.3.2009 prognostiziert die HIS-Analyse nicht: „Die Auswirkungen des KMK-Beschlusses können […] je nach Studienangebot für Universitäten und Fachhochschulen desselben Bundeslandes unterschiedlich sein“ (Freitag 2009, 3).
Faktisch ist ein Studium ohne Abitur in Deutschland immer noch die große Ausnahme. Ob die in diesem Zusammenhang gelegentlich geäußerte These zutrifft, dass Deutschland mit seiner föderalen Struktur im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern mit Abstand über die meisten Durchlässigkeits- und Übergangsregelungen verfügt, jedoch zugleich über eines der am wenigsten durchlässigen Bildungssysteme (vgl. OECD 2008), kann hier nicht untersucht werden. Sieht man von der deutschen Durchlässigkeitsdiskussion und -praxis ab und richtet den Blick auf die internationalen Trends der gesellschaftlichen Entwicklung‚ von der Industrie- zur Wissensgesellschaft‘, dann erscheint das Durchlässigkeitsproblem in einem anderen Licht.
Folgt man der These von DANIEL BELL, die er 1975 in seiner bekannten Schrift „The coming of post industrial society“ zur Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens mit Blick auf die postindustrielle Gesellschaft formuliert hat, dann verflüchtigt sich das Durchlässigkeitsproblem. Der Gedankengang ist etwa der Folgende: Der Wandel der Beschäftigungsstruktur hat sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts etwa so vollzogen, wie von FOURASTIÉ 1949 in seinem Buch „Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts“ vorhergesagt: Der tertiäre Sektor – die Dienstleistungen – werden zum dominierenden Sektor des Beschäftigungssystems. Der bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts dominierende Produktionssektor wird seine Bedeutung im Beschäftigungssystem weitgehend einbüßen, da, vergleichbar mit der Landwirtschaft, die Nutzung der Rationalisierungspotentiale der Technik zu einem geradezu dramatischen Abbau an Arbeitskräften geführt hat und zudem die verbleibenden Produktionstätigkeiten in weniger entwickelte Länder verlagert werden. Darüber hinaus wird die Informatisierung der Arbeit zu einer ganz neuen Qualität der Arbeitsinhalte führen. Als neuer Arbeitertypus gilt der ‚Wissensarbeiter‘ DANIEL BELL lässt sich angesichts dieses von der Arbeitsmarktforschung verbreiteten Szenarios zu der These verleiten, dass das theoretische (wissenschaftliche) Wissen die im Industrialismus dominierenden Entwicklungsprinzipien Arbeit und Kapital verdrängen werde. Alle gesellschaftlichen Sphären, vor allem Wirtschaft, Politik und Sozialstruktur, werden sich in der postindustriellen Gesellschaft um das neue axiale Prinzip: das theoretische Wissen, drehen. Dieses Wissen werde generiert in den Forschungsprozessen und vor allem in der hochschulischen Bildung vermittelt. Dabei seien, so fügt er mahnend hinzu, die Niederungen der Qualifikationsanforderungen aus der Erwerbsarbeit zu meiden, da diese der Entwertung des an der Systematik der Wissenschaften ausgerichteten Wissens entgegen stehen. Wie diese Abkopplung des Bildungssystems vom Beschäftigungssystem gelingen soll, lässt er offen. Trotz einer Fülle gegenteiliger Befunde aus höchst verschiedenen Forschungstraditionen haben BELLs Thesen ihre Wirkung in der bildungspolitischen Diskussion nicht verfehlt. Erst kürzlich erschien eine Schrift zur „Bildung im Umbruch“ (BAETHGE/ SOLGA/ WIECK 2007), in der BELL‘s zentrale These nahezu wortgleich wiederholt wird: „Die Entwicklung von der vor- zur nachindustriellen Erwerbsgesellschaft lässt sich – bezogen auf die Wissenstypen – als Wandel vom Erfahrungswissen zum systematischen (theoretischen) Wissen beschreiben. […] Die Zentralität des systematischen (theoretischen), wissenschaftlichen Wissens wird als das wesentliche Merkmal nachindustrieller Gesellschaften herausgestellt“ (74). Daraus folgern die Autoren: „Für die Gesellschaft, die sich zunehmend als eine Wissensgesellschaft versteht, bilden die Hochschulen die entscheidende Quelle für die kulturellen Orientierungen ökonomisch verwertbares Wissen und hochqualifizierte Arbeitskräfte“ (MAYER 2003, 581 zit. n. BAETHGE/ SOLGA/ WIECK 2007, 75). Geht man von dieser These aus, dann verflüchtigt sich die Frage der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung. Das Konzept der ‚College for all‘-Bildung rückt ins Zentrum der Betrachtung. Auf den ersten Blick sieht es ganz so aus, dass es in zahlreichen OECD-Ländern offenbar in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen ist, Bildungssysteme im Sinne Bells These zu entwickeln, in denen bis zu 80% aller Jugendlichen der Hochschulzugang bzw. ein Hochschulstudium ermöglicht werden kann (Abb. 1).
Abb. 1: Studienanfängerquote (Quelle: OECD 2008)
Die hohen Studienanfängerquoten zwischen 70 und über 80% in einer Reihe von OECD-Ländern sind ein eindeutiges und unübersehbares Indiz für eine Bildungspolitik, die auf die Realisierung eines Bildungssystems gerichtet ist, in dem sich die Schüler und Studierenden quasi nahtlos von der Grundschule bis zum Hochschulstudium bilden können. Dabei entfallen Übergangsregelungen weitgehend, da die Jugendlichen und ihre Eltern selbst darüber entscheiden können, ob sie nach ihrer Schulpflicht ihre (hoch)schulische Karriere fortsetzen wollen. Natürlich sind auch in diesem System Standards für den Hochschulzugang gegeben. Sie werden allerdings sehr häufig von den Hochschulen definiert. So haben z. B. die Spitzen-Universitäten in den USA sowie im Vereinigten Königreich Aufnahmestandards definiert, die es ihnen ermöglichen, die Gruppe der leistungsfähigsten Schulabsolventen auszuwählen.
Die Folgen einer ‚college-for-all‘-Politik lassen sich wie folgt zusammenfassen:
a) Die sich vergrößernde Kluft zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem
Die Akademisierung der Bildung und die damit einhergehende ‚college-for-all‘-Politik führt in einer zunehmenden Zahl von Ländern – nicht nur der OECD, sondern auch in den sich entwickelnden Ländern – zu einer Kluft zwischen der wachsenden Zahl von Hochschulabsolventen einerseits und dem Anteil der Beschäftigungsverhältnisse mit hohem Anforderungsprofil (ISCO 1–3) (Abb. 2).
Abb. 2: Hochschulabsolventen und Hochqualifizierte im Beschäftigungssystem in der OECD (2008)
Etwa 20 % der Beschäftigten werden in den Beschäftigungssystemen entwickelter Länder den Hochqualifizierten zugerechnet. Der Anteil der Hochschulabsolventen, die als Hochqualifizierte beschäftigt werden, liegt in den OECD-Ländern im Mittel bei 69%. In einigen OECD-Ländern liegt die Quote der unter ihrem Ausbildungsniveau Beschäftigten jedoch deutlich darunter, so z. B. in Dänemark (61%), Kanada (48%), Irland (50%) und Spanien bei lediglich 37%. In Ländern mit hochentwickelten dualen Berufsbildungssystemen liegt dieser Wert sehr viel höher, so z. B. in Deutschland bei 89 und in der Schweiz bei 90%. Das bedeutet, dass in diesen beiden Ländern nur 10 bis 11% der Hochschulabsolventen keine adäquate Beschäftigung finden bzw. der kleinen Gruppe der erwerbslosen Akademiker zugerechnet werden.
Ob und in welchem Maße der Anteil der Hochqualifizierten im Beschäftigungssystem ansteigen wird, ist strittig. Die Einführung flacherer Unternehmenshierarchien sowie die damit einhergehende Verlagerung von Kompetenzen und Verantwortung in den direkt wertschöpfenden Bereich der Unternehmen sprechen für einen Abbau von Führungsebenen und damit für eine geringere Nachfrage nach Führungskräften. Kompensiert wird diese Entwicklung durch eine stärkere Nachfrage für die Bereiche Forschung und Entwicklung. Wie die Bilanz beider gegenläufiger Entwicklungen ausfällt, ist Gegenstand der Forschung. Gesichert scheint zu sein, dass die Abnahme der gering Qualifizierten sich beschleunigt vollziehen wird, um sich auf einem Niveau von etwa 10 % einzupendeln. In der Summe bedeutet dies, dass der Anteil der Beschäftigten für den intermediären Beschäftigungssektor (Facharbeiter, Techniker, Meister, etc.) in der Tendenz stabil bleibt bzw. sogar leicht anwachsen wird (vgl. MÜLLER 2009). Diese Entwicklung stützt die These, dass der intermediäre Beschäftigungssektor das Rückgrat der ökonomischen Entwicklung und der Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften ist. Daraus resultieren die Schlüsselrolle der beruflichen Qualifizierung von Fachkräften sowie die vergleichende Forschung zur Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Berufsbildungssysteme. Wird der Zusammenhang zwischen Beschäftigungs- und Bildungssystem ignoriert, wie in den Ländern mit einer ‚College for all‘-Politik und entspringen daraus sehr hohe Studentenquoten, dann bilden sich formelle und informelle Qualifizierungsstrukturen in den Hochschulen sowie im Anschluss an das Hochschulstudium heraus, die sich an der Beschäftigungsfähigkeit (Employability) der Studierenden orientieren.
b) Verberuflichung hochschulischer Bildung
In zahlreichen Ländern mit einer ‚college-for-all‘-Politik bilden sich an den Hochschulen zunehmend Studiengänge und Studienprogramme unterhalb des Bachelorniveaus heraus. Neben zweijährigen Studiengängen werden z. B. in den US-amerikanischen Universitäten sogenannte ‚some college‘-Zertifikatskurse angeboten, die lediglich eine Zeitdauer von einem oder zwei Semestern bzw. auch nur einigen Wochen haben. Schon die Themen dieser Kurse zeigen, dass es sich dabei um Bildungsangebote etwa auf dem Niveau von Volkshochschulkursen handelt, die durchgängig nicht die Qualität beruflicher Bildungsgänge erreichen. So bietet z. B. die University of Utah ‚some college‘-Kurse an für home & gardening, Appletraining, marriage arrangement oder unter der Rubrik natural science den ‚Kurs‘ Colorado Excursion. Norton Grubb weist darauf hin, dass der Anteil der Beschäftigten im Subbaccalaureate Labor Market (SBLM) der Anteil der Beschäftigten, die lediglich über eine ‚some college‘-Qualifikation verfügen, stetig von zunächst 13,1% (1967) über 21% (1988) auf 28,3% (1992) anstieg. Der Anteil dürfte heute etwa bei 40% liegen. Norton Grubb schlussfolgert aus seiner Analyse: „The SBLM in the United States proves to be a good example of a relatively free-market approach to the transition between schooling and work. As others have stressed in comparing Germany with Great Britain […] this transition can be governed by relatively institutional mechanisms, in which government regulation, strong unions and employer associations, a carefully established wage structure, and a culture rewarding vocational education combine to create a well-defined path from schooling into employment” (GRUBB 1999, 174).
c) Das Beispiel Australien
Australien ist ein Beispiel für die wenigen Länder, die über eine sehr hohe Studierendenquote (Abb. 1 u. 2) und zugleich über ein entwickeltes System dualer Berufsbildung verfügen. Dies erscheint zunächst als ein Widerspruch, da sich normalerweise die Absolventen schulischer Allgemeinbildung entweder für eine hochschulische oder eine berufliche Bildung entscheiden. Dieses Muster scheint für Australien nicht zu gelten, da die Studierendenanfängerquote bei 82% (2009) und die Ausbildungsquote für die Australien Apprentices bei 4,1% lag. Dieser Wert ergibt sich aus dem Verhältnis der 420.000 Auszubildenden bei 10,5 Mio. Beschäftigten. Er erreicht etwa die Größenordnung in Ländern mit entwickelten dualen Berufsbildungssystemen. Dieser scheinbare Widerspruch ergibt sich daraus, dass ca. zwei Drittel der Auszubildenden über einen Hochschulabschluss verfügt bzw. nach dem Hochschulabbruch eine Lehre aufgenommen haben. Daher liegt das mittlere Ausbildungsalter der Auszubildenden in Australien deutlich über dem in anderen Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz.
Ob es in Australien so gelingt, akademische und berufliche Fähigkeiten zu verbinden oder es sich eher um teure Umschulungsmaßnahmen handelt, bedürfte weiterer Untersuchungen (NCVER 2010; BARABASCH 2009).
d) Der chinesische Weg: Higher vocational education
Die chinesische Bildungspolitik begegnet dem sehr ausgeprägten Wunsch der Ein-Kind-Familien, ihrem Kind eine akademische Bildung zu ermöglichen, dadurch, dass an Hochschulen zwei- bis dreijährige berufliche Bildungsgänge eingerichtet werden bzw. berufliche Hochschulen etabliert wurden, in der Hoffnung, so der ausgeprägten Stigmatisierung beruflicher Bildung wirksam entgegen zu wirken. Dadurch, dass die Berufsausbildung als „höhere“ (akademische) Bildung an Hochschulen stattfindet, ist es gelungen, das gesellschaftliche Ansehen der (höheren) beruflichen Bildung deutlich aufzuwerten. Dies verstärkt jedoch zugleich den Trend der Akademisierung der Bildung und schwächt die der Sekundarstufe II zugeordneten beruflichen Bildungsgänge an Berufsfachschulen. Ob es der chinesischen Bildungspolitik gelingt, den eingeschlagenen Weg der Steuerung der Bildungsströme über ein rigides Ausleseverfahren auf der Basis standardisierter Tests aufrecht zu erhalten, wird bezweifelt. Die Kultur der Vermeidung beruflicher Bildung in der Sekundarstufe II ist auch deshalb so stark ausgeprägt, da die Weichenstellung in Richtung beruflicher Bildung in der Sekundarstufe II den Charakter des Endgültigen hat. Der Weg zur akademischen Bildung bleibt, bis auf wenige Ausnahmen, verschlossen.
Die Definition höherer Bildung als wissenschaftliche (akademische) Bildung und beruflicher Bildung als niedere Bildung ist wissenschaftlich falsch und steht der Entwicklung einer modernen Bildungsarchitektur im Wege.
Berufliches Wissen ist die Voraussetzung zum Verstehen und Lösen der Aufgaben in der Arbeitswelt. Dabei gilt grundsätzlich das Paradigma der holistischen (vollständigen) Problem-/Aufgabenlösung. Plant und installiert z. B. ein Heizungsfachmann eine Heizungsanlage für ein Wohnhaus, dann muss er dabei auf die Kriterien der vollständigen Lösung beruflicher Aufgaben achten. Dies sind
Abb. 3: Die acht Kriterien der holistischen Lösung beruflicher Aufgaben
Vernachlässigt der Heizungsmonteur eines dieser Kriterien, dann birgt dies das Risiko, dass die Lösung, die er dem Kunden anbietet, nicht den gesetzlichen und technischen Regeln entspricht sowie möglicherweise Mängel im Bezug auf ihren wirtschaftlichen Betrieb und damit auch des Gebrauchswerts der Anlage aufweist.
Unter Marktbedingungen ist das Nicht-Beachten der Kriterien der holistischen Aufgabenlösungen mit folgenschweren Nachteilen verbunden. Die objektiven und subjektiven Anforderungen, die die Lösung beruflicher Aufgaben und Problemstellungen prägen, determinieren keine richtigen Lösungen, so wie man eine mathematische Aufgabe löst. Es geht vielmehr darum, sich die situativen Gegebenheiten beruflicher Aufgaben zu vergegenwärtigen und dabei alle wesentlichen Anforderungen und Bedingungen, die eine Aufgabenlösung bestimmen, zu bedenken. Dabei kommt es vor allem darauf an, widersprüchliche Anforderungen z. B. eines Auftraggebers: „Bitte eine hohe funktionale Qualität –, aber zu erschwinglichen Kosten, Normen und die Anforderungen, die sich aus den Interessen der Unternehmen an der professionellen Planung, Durchführung und Qualitätskontrolle der Aufträge ergeben, auf einen Nenner zu bringen. Darüber hinaus prägt das gestiegene gesellschaftliche Bewusstsein, über den Tellerrand der eigenen Wünsche und Interessen hinaus auch auf die Umwelt- und Sozialverträglichkeit in der Arbeits- und Technikwelt zu achten, explizit und implizit zunehmend das berufliche Handeln. Die Beratung eines Kunden beim Kauf eines Pkw, sich für einen Elektro-, Hybrid- oder einen konventionellen Dieselantrieb zu entscheiden, setzt neben dem technischen Know How vor allem die Fähigkeit bei den Fachkräften voraus, den Kunden beim Abwägen der relevanten Kriterien einen „klugen“ Kompromiss zu finden. Dieses Beispiel verweist auf ein grundlegendes Prinzip der beruflichen Problemlösungskompetenz. Das berufliche Arbeitsprozesswissen umfasst neben dem handlungsleitenden und dem handlungserklärenden Wissen eine dritte Wissensform: die berufliche Gestaltungskompetenz, d. h. die Fähigkeit der holistischen Problemlösung, begründet: das handlungsreflektierende Wissen (Know Why) (Abb. 4).
Abb. 4: Arbeitsprozesswissen, Zusammenhang von handlungsleitendem, handlungserklärendem und handlungsreflektierendem Wissen
Die Frage nach der Genese einer Arbeitssituation, eines Produktes oder eines Arbeits- und Geschäftsprozesses („Warum so und nicht anders?“) fordert zum Verstehen der historischen Gewordenheit einer Situation und der sich daraus ergebenden Aufgabenstellung heraus.
Die Frage („Geht es auch anders?“) schließt sich daran an und fordert dazu heraus, die Gestaltungsräume auszuloten und auszuschöpfen. Mit steigender Arbeitsproduktivität in der computer- und technologiebasierten Vernetzung der Arbeitswelt nimmt die Bedeutung der für die berufliche Bildung konstitutiven Leitidee der Befähigung zur holistischen Problem- und Aufgabenlösung zu. Unvollständige Aufgabenlösungen könnten Havarien mit dramatischen Folgen haben. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, in der beruflichen Bildung zur vollständigen (holistischen) Lösung beruflicher Aufgaben zu befähigen.
Die Tradition der Meisterlehre repräsentiert diesen Kompetenztypus. Schon ein flüchtiger Blick auf den beruflichen Bildungsweg vom Lehrling bis hin zur Zuerkennung der Meisterschaft nach einer abschließenden Prüfung zeigt, wie aus reflektierter Arbeitserfahrung domänenspezifische, holistische Problemlösungskompetenz erwächst (RAUNER 2011). Die gesetzliche Regelung, dass die Gründung eines Handwerksunternehmens in einer definierten Zahl von Gewerken eine Meisterprüfung voraussetzt, hat hier ihre Wurzeln. (HwO, Anlagen A und B).
Wissenschaftliches Wissen markiert den Gegenpol zum beruflichen Wissen. Wissenschaftliches Wissen erwächst aus den Forschungsprozessen des hoch arbeitsteiligen Wissenschaftssystems. Die Fähigkeit der Wissenschaften, in einem zunehmend ausdifferenzierten System disziplinärer Forschung, neues Wissen zu generieren, war und ist der Schlüssel der Wissensexplosion des letzten Jahrhunderts bzw. seit der Entstehung der modernen Universität. Die Philosophie als quasi über den Wissenschaften angesiedelte Metawissenschaft, die Einschätzung der Soziologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ (MAX WEBER) und die Pädagogik, die sich den zu Bildenden ungeteilt zuzuwenden versucht, sind Ausdruck des Versuchs, das holistische Verstehen und Handeln im Wissenschaftssystem zu bewahren. Aber auch diese „Fächer“ konnten und können sich den disziplinären und disziplinierenden Kräften des Wissenschaftssystems nicht entziehen, es sei denn um den Preis ihrer Marginalisierung. Nach einem in der Regel breit angelegten Grundstudium, in dem die grundlegenden Theorien eines wissenschaftlichen Fachgebietes vermittelt werden, schließen sich im Fortgang des Studiums Schritte zunehmender Spezialisierung zur vertiefenden Auseinandersetzung mit spezifischen disziplinären Fragestellungen ‚auf dem Stand der Forschung‘ an. Dazu gibt es in der wissenschaftlichen Ausbildung keine Alternative, da das Ziel, sich in einem Fachgebiet Wissen auf dem Stand der Forschung anzueignen, Spezialisierung voraussetzt. Die das wissenschaftliche Studium abschließende Diplom- oder Masterarbeit bzw. die Dissertation werden als Teil des Wissenschaftsprozesses betrachtet und sind der Nachweis der Fähigkeit, in weit verzweigten Systemen disziplinärer Forschung einen – wenn auch gelegentlich kaum sichtbaren – Beitrag zum Gewinnen neuer Erkenntnisse in der Wissenschaftsentwicklung zu leisten.
Diese Form der Aneignung wissenschaftlichen Wissens repräsentiert den Gegenpol zum ganzheitlichen (holistischen) Wissen der Meisterschaft.
Berufliches, auf holistische Aufgabenlösung zielendes, Wissen und das disziplinäre wissenschaftliche Wissen, das die wissenschaftliche Professionalität begründet, bildet ein dialektisches Spannungsverhältnis. Beide Wissensformen sind grundlegend verschieden und zugleich wechselseitig füreinander konstitutiv. Ohne die Assimilation wissenschaftlichen Wissens in das System der beruflichen Qualifizierung von Fachkräften würde das berufliche Wissen stagnieren. Es würde seine Bedeutung für die Befähigung zur holistischen Aufgabenlösung einbüßen. Umgekehrt bedarf das disziplinäre wissenschaftliche Wissen seiner Einbettung in die Praxis gesellschaftlicher Problemlösungen. Wissenschaftliche Disziplinarität begründet aus sich heraus keine Verantwortung. Sie definiert sich als zweckfrei. Erst die Einbettung wissenschaftlicher Expertise in die gesellschaftlichen Gestaltungsprozesse, in die soziale Organisation von Innovation (the social organisation of innovation) ermöglicht es, ihr Potenzial zu erschließen.
Für die Gestaltung einer Architektur moderner Bildung hat dies Konsequenzen.
In der Entwicklung internationaler und nationaler Klassifizierungssysteme zur Einordnung des Bildungs-/Qualifikationsniveaus bzw. entsprechender Berufe, sind eindimensionale hierarchische Systeme wie ISCO (International Standard Classification of Occupation), das britische System der National Vocational Qualifications (NVQ) oder der davon abgeleitete Europäische Qualifikationsrahmen (EQF) verbreitet. Mit diesen Systemen wird durchgängig der dialektische Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher und beruflicher Qualifikation ignoriert. Die Fähigkeiten, der ganzheitlichen (holistischen) beruflichen Aufgabenlösung wird den ‚niederen Berufen‘ zugeordnet, das wissenschaftliche Wissen und die damit korrespondierenden Qualifikationsniveaus werden den oberen Stufen dieser Klassifizierungssysteme zugeordnet. Hier liegt eine der Wurzeln für den internationalen Trend der Akademisierung der Bildung und die damit einhergehende – gegenläufige – Entwicklung der Verberuflichung höherer Bildung. Im Kontext des amerikanischen Pragmatismus haben sich frühzeitig Formen hochschulischer Berufsbildung heraus gebildet. Die Verlagerung beruflicher Bildung in die Hochschulen und eine damit korrespondierende Abkehr von der Universität als Ort wissenschaftlicher Bildung ist ein Reflex auf die Stigmatisierung beruflicher Bildung als niedere Bildung, die nicht selten nur noch sozialen Randgruppen vorbehalten ist.
Die Umsetzung und das Festhalten an eindimensionalen hierarchischen Strukturen im Bildungssystem stehen im Widerspruch zur Bedeutung des beruflichen Wissens. Dies schwächt die Entfaltung sowohl wissenschaftlicher als auch beruflicher Qualifikationen.
Eine in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Korrektur an einem eindimensionalen hierarchischen nationalen Qualifikationsrahmen wurde in Südafrika 2004 vollzogen. Das am britischen NVQ-System ausgerichtete Bildungssystem hatte sich zunehmend als konfliktträchtig sowie vor allem für die ökonomische Entwicklung als kontraproduktiv erwiesen. Da es sich dabei um einen Schritt in Richtung eines Systems paralleler Bildungswege handelt, wie es in diesem Beitrag begründet werden soll, sollen im Folgenden einige Merkmale dieses Systemwechsels skizziert werden.
Im ‘National Skill Development Handbooks 2010/2011’ ist ein ganzer Abschnitt der Frage gewidmet: Warum ist ein System beruflichen Lernens notwendig?
Einige der Antworten sind charakteristisch für die internationale Debatte.
“There is a fundamental rift between the actual practitioners of discipline based learning (primarily in the Department of Education), and work based learning (primarily in the Department of Labour), and that in fact this kind of rift is visible all over the world in approaches to learning and knowledge. […] It is in fact a feature of modern society that increasing levels of specialization across all fields is resulting in a fragmentation of knowledge from the perspective of knowledge ‘consumers’ […]. The need for integration and connections between these silos of specialized knowledge becomes very apparent when we try and apply knowledge to solve human problems” (Skills Development Handbook, 236-237).[1]
In ihrer Analyse gelangen die südafrikanischen Berufsbildungsexperten ebenfalls zur Gegenüberstellung von disziplinärem, wissenschaftlichen Wissen einerseits und der Notwendigkeit, das Konzept der holistischen Problemlösung im Bildungssystem zu verankern: „It is then that we realise that although we have reached an advanced level of specialisation in a particular field of knowledge, it is the ability to holistically combine and apply all the relevant fields of knowledge that really results in effective solutions” (237).[2] Daraus leiten sie eine grundlegende Kritik am NQF ab, mit dem Qualifikationsniveaus ab Level 5 (bis 10) der akademischen Bildung vorbehalten waren. Entwickelt wurde ab 2004 ein System paralleler Bildungswege – einer für die akademische und ein zweiter – gleichwertiger – für die berufliche Bildung (Organizing Framework for Occupations).
In beiden Bildungswegen kann das höchste (10.) Qualifikationsniveau erreicht werden. Charakteristisch für den beruflichen Bildungsweg sind die Qualifikationsniveaus sowie das Konzept der holistischen Aufgabenlösung. Mit diesem Ansatz verfügt Südafrika über eine der modernsten Bildungsarchitekturen, auch wenn der Grad an vertikaler und vor allem an horizontaler Differenzierung zwischen den Berufen nur ein erster Schritt bei der Abkehr von einer modularen Berufsbildungs¬struktur durch eine Berufsstruktur sein kann. Für die Einführung moderner breitbandiger Ausbildungsberufe ist die dem südafrikanischen Berufssystem zugrunde gelegte ISCO-Klassifikation ungeeignet, da ISCO nicht unterscheidet zwischen der statistischen Erfassung einer großen Zahl beruflicher Tätigkeiten einerseits und moderner Ausbildungsberufe andererseits.
Einen anderen Weg zur Entwicklung einer Architektur paralleler Bildungswege hat die Schweiz mit dem Ziel der Etablierung eines durchgängigen dualen Bildungsweges eingeschlagen. Grundlage für ein durchlässiges Bildungssystem sind vor allem zwei Merkmale.
Die Alternative zur Akademisierung der Bildung und zur Steuerung der Bildungsströme anhand rigider Auslesesysteme ist eine Bildungssystemarchitektur mit parallelen Bildungswegen. Die tragenden Säulen dieser Architektur sind
Die charakteristischen Merkmale des durchgängigen dualen Bildungsweges sind:
Die große Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens resultiert dagegen aus dem Prinzip der Disziplinarität. Bei einem Physiker, der sich z. B. mit den Verwirbelungseffekten an Flugzeugtragflächen auskennt, kommt es darauf an, dass er auf diesem Spezialgebiet forschend und studierend neue Erkenntnisse gewinnt, die dann in das Ingenieurwissen hinein diffundieren. Der Forschung und Lehre in einem immer stärker ausdifferenzierten Wissenschaftssystem verdanken wir den exponentiellen Zuwachs an neuem Wissen.
Zwischen diesen beiden Bildungswegen – dem akademischen und beruflichen – gibt es eine Vielzahl von Bildungsgängen, in denen beide ‚Wissenstraditionen’ angelegt sind. Dies gilt z.B. für Berufsakademien, betont berufsbezogene fachhochschulische Bildungsgänge und die Versuche, an Universitäten interdisziplinäre Forschung und Lehre zu etablieren. Die Grundlage der Interdisziplinarität bleibt jedoch das disziplinäre Wissen.
Das bildungspolitische Dilemma bei der Realisierung von Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung besteht darin,
Die Konsequenzen sind:
Die naheliegende Konsequenz ist eine Architektur paralleler Bildungswege, die unter Berücksichtigung der multiplen Kompetenzen beruflich Qualifizierter angemessene Weiterbildungswege bis auf das Niveau höchster Professionalität sicherstellt.
Untersucht man die Durchlässigkeit der nicht-akademischen Berufsausbildung zu hochschulischen Bildungsgängen, dann bieten sich zwei Differenzierungen an (Abb. 5):
Abb. 5: Struktur beruflicher Bildungsgänge (S II) – veranschaulicht durch ausgewählte Berufe
In dieser Dimension wird unterschieden zwischen dem Pol der Berufe, die ein hohes Maß an handwerklicher Geschicklichkeit auszeichnen, und dem entgegengesetzten Pol der wissensbasierten Berufe, bei denen das berufliche Fachwissen auch die beruflichen Fähigkeiten begründet.
In der zweiten Dimension wird nach dem Grad der inhaltlichen Affinität zwischen akademischen und nicht-akademischen Berufen differenziert. So weist z. B. die Berufsausbildung zum Informatiker (Schweiz) zum Bachelor-Studium der Informatik eine sehr hohe inhaltliche Affinität auf. Bei Berufen wie Florist, Koch oder Versicherungskaufmann gibt es dagegen kein Äquivalent zu einem akademischen Beruf. Entsprechend unterschiedlich müssen unter diesem Aspekt Übergangsregelungen entwickelt werden.
Nach dieser Berufsstruktur (Abb. 5) lassen sich vier Berufsfelder unterscheiden:
Diese Matrix zeigt, dass bei einem großen Spektrum der Berufe (I und II) sowohl durch die Kompetenzprofile der Berufe als auch durch ihre Affinität zu akademischen Berufen bzw. hochschulischen Studiengängen die Realisierung von Übergangs- und Durchlässigkeitsregelungen (bei aller Verschiedenheit im Einzelfall) sehr viel einfacher zu realisieren ist als bei der großen Gruppe von Berufen, für die keine unmittelbare Affinität zu hochschulischen Bildungsgängen gegeben ist.
Geht man von dem Ziel aus, einen durchgängigen (dualen) beruflichen Bildungsweg von der Erstausbildung bis zum Abschluss eines Masterstudienganges zu entwickeln, dann legt dies – unter Berücksichtigung der Berufsstrukturen – die Regulierung von Übergangs- und Durchlässigkeitswegen nahe, die sich auf die Struktur der beruflichen und hochschulischen Bildungsgänge stützt.
Dieser berufliche Karriereweg bietet sich für alle Berufe an, für die keine Affinität zu einem akademischen Beruf gegeben ist (Abb. 5, III, IV). Hier liegt es außerdem nahe, bereits im Rahmen der Erstausbildung in der Form von Zusatzqualifikationen Inhalte für berufliche Weiterbildungsprüfungen wie die Meisterprüfung zu vermitteln. Das Charakteristische der Meisterprüfung ist, dass die Berufsfähigkeit auf Meisterniveau überprüft wird. Dies ist möglich, da die Dualität des beruflichen Lernens bei der Vorbereitung auf die Meisterprüfung gewahrt bleibt. Auch dann, wenn die Meisterqualifikation in einem dualen Studiengang erworben wird, wird die Berufsfähigkeit der ‚Meisterschaft‘ erreicht (WALTER/ BERWALD 2008).
Als nächster Schritt der beruflichen Weiterqualifizierung bieten sich Masterstudiengänge für Meister und entsprechend qualifizierte Fachkräfte an. Realistisch sind berufsbezogene Studiengänge, die ein nebenberufliches Studium ermöglichen. Um die Effizienz dieser Studiengänge zu erhöhen, sollte die berufliche Praxis als Lernpotential in ein duales Masterstudium einbezogen werden.
Für die semi-akademischen Berufe (Abbildung 5, II) ist der Weg zu einer hochschulischen Bildung in zweifacher Weise vorbereitet. Das berufliche Fachwissen hat eine hohe Affinität zum Fachwissen entsprechender akademischer Berufe. Beim Verhältnis von Wissen und Können determiniert vor allem das Fachwissen die beruflichen Fähigkeiten und damit auch das berufliche Können. Daraus ergibt sich eine didaktisch-methodische Nähe zu den akademischen Lehr- und Lernformen.
Der Übergang von der beruflichen zur hochschulischen Bildung ist für diese Berufsgruppe eine Frage der Anrechnung von Kompetenzen, die in der beruflichen Bildung erworben wurden. Verfügen z. B. die Auszubildenden für den Beruf des Mediengestalters über das Abitur, dann erreichen die Auszubildenden nach ihrer dreieinhalbjährigen Ausbildung mit einiger Wahrscheinlichkeit das Qualifikationsniveau, das eher über als unter dem Niveau eines Studienabschlusses in einem Bachelor-Studiengang Medieninformatik liegt, wenn man die Berufsfähigkeit bei der Definition des Vergleichsmaßstabes berücksichtigt. Für diesen Fall bietet sich die Einführung einer Äquivalenzregelung an, nach der die Kompetenz des Mediengestalters einschließlich seiner Berufsfähigkeit als Voraussetzung für die Zuerkennung eines Bachelor Degrees durch eine Hochschule, die über einschlägige Studiengänge verfügt. Praktikabel sind solche Äquivalenzregelungen nur dann, wenn sie sich auf Evaluationsstudien zu den verwandten Berufs- und Studienabschlüssen stützen können, die die Gleichwertigkeit der je erreichten bzw. zu erreichenden Kompetenzniveaus und -profilen überprüfen.
Angesichts des demographischen Wandels ist sowohl eine verstärkte Nachfrage nach Auszubildenden als auch nach Fachschul- und Hochschulstudenten zu erwarten. Da eine Steuerung der Bildungsströme durch eine Abschottung der Zugangsbedingungen für ein Hochschulstudium ebenso ausscheidet wie eine frühzeitige Weichenstellung in Richtung der dualen Berufsausbildung, bietet sich als ein nahe liegender Ausweg eine deutliche Erhöhung der Durchlässigkeit im Bildungssystem an. Dies betrifft vor allem die auf die Berufsausbildung aufbauenden Formen der Weiterbildung sowie geeignete Formen hochschulischer Bildung (Abb. 6).
Abb. 6: Durchgängiger dualer beruflicher Bildungsweg
Dies setzt voraus:
Die Realisierung einer modernen Bildungssystem-Architektur mit einem durchgängig dualen Bildungsweg gelingt umso besser, je eher sich europäische Länder miteinander abstimmen, die über entwickelte Formen dualer Berufsausbildung verfügen bzw. ein Interesse daran haben, solche Strukturen für den europäischen Wirtschafts- und Bildungsraum sowie den europäischen Arbeitsmarkt zu etablieren.
BAETHGE, M./ SOLGA, H./ WIECK, H. (2007): Berufsbildung im Umbruch – Signale eines überfälligen Aufbruchs. 1. Aufl. (Electronic Ed.) Berlin.
BARABASCH, A. (2009): Berufsausbildung in Australien. In: RAUNER, F. et al. (Hrsg.): Steuerung der beruflichen Bildung im internationalen Vergleich. Gütersloh, 289-326.
BELL, D. (1975): Die nachindustrielle Gesellschaft (The Coming of the Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting). Frankfurt a. Main.
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[1] „Es gibt eine fundamentale Kluft zwischen den Vertretern des fachbezogenen Lernens (vor allem im Bildungsministerium) und des arbeitsbezogenen Lernens (vor allem im Arbeitsministerium), und diese Kluft ist weltweit in der Herangehensweise an Lernen und Wissen zu beobachten. […] Tatsächlich ist es ein Merkmal der modernen Gesellschaft, dass eine wachsende Spezialisierung auf allen Gebieten zu einer Fragmentierung des Wissens aus der Sicht der ‚Verbraucher‘ führt. […] Die Notwendigkeit, diese spezialisierten Wissensbereiche zu verknüpfen und zu integrieren, wird sehr deutlich, wenn man versucht, Wissen anzuwenden, um menschliche Probleme zu lösen.“
[2] „An dieser Stelle sehen wir, dass trotz der fortgeschrittenen Spezialisierung, die wir in einem Wissensgebiet erreicht haben, allein die Fähigkeit zur holistischen Verbindung und Anwendung der einschlägigen Wissensgebiete zu wirksamen Lösungen führt.“
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