bwp@ 33 - Dezember 2017

Entwicklungsbezogene (Praxis-)Forschung

Hrsg.: Tade Tramm, H.-Hugo Kremer & Gabi Reinmann

Editorial bwp@33: Entwicklungsbezogene (Praxis-)Forschung

Beitrag von Tade Tramm, H.-Hugo Kremer & Gabi Reinmann

EDITORIAL zur Ausgabe 33:
Entwicklungsbezogene (Praxis-)Forschung

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik steht in gesellschaftlicher Verantwortung. Sie ist in diesem Sinne gleichermaßen der Aufklärung vorfindlicher Verhältnisse wie der Unterstützung pragmatischer Gestaltungsbemühungen auf allen Ebenen und in allen Bereichen beruflicher Bildung verpflichtet. Dies kann unmittelbar oder mittelbar erfolgen, in unterschiedlicher Distanz zu den gestaltenden und verantwortlichen Akteuren der Praxis. In jedem Fall aber muss sich berufs- und wirtschaftspädagogische Forschung (und übrigens natürlich auch Lehre) der Frage nach der Relevanz ihrer Arbeit für die Praxis stellen, und sie muss jenseits bloßer Deklamation darlegen und nachweisen können, in welcher Weise ihre Befunde zu einer Verbesserung dieser Praxis beitragen können.

Zumindest in analytischer Hinsicht hilft die Dichotomie von Grundlagenforschung und ange­wand­ter For­schung dabei, unterschiedliche Strategien zu identifizieren, sich in diesem Theorie-Praxis-Feld wissen­schaftlich zu positionieren. Gleichermaßen werden auch immer wieder die Grenzen und Probleme einer derartigen Dichotomisierung aufgedeckt. Offensichtlich wird an den Universitäten derzeit vor dem Hintergrund wissenschafts- und hochschulpolitischer Kriterien eine empirisch-analytisch angelegte, zunehmend spezialisierte und international vernetzte Berufsbildungsforschung favorisiert, die einem naturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaftsverständnis folgt. Dies erfolgt weitgehend parallel zu den Entwicklungen in der Forschung zum schulischen und hochschulischen Lehren und Lernen. Dabei scheint die Frage nach der Einbindung und Einlassung dieser Forschung auf die Herausforderungen der Praxis zunehmend in den Hintergrund zu treten oder im Sinne der Rede vom „Entdeckungs- und Verwertungszusammenhang“ aus dem Begründungskontext der Wissenschaft ausgegrenzt zu werden.   

In dieser Situation ist es uns wichtig, mit dieser Ausgabe von bwp@ berufs- und wirtschaftspädagogische Forschung zusammenzuführen und zu reflexiver Standortbestimmung anzuregen, die in bewusster und betonter Nähe zur Berufsbildungspraxis forscht, sich der Komplexität und Dynamik dieser Praxis stellt und auf konkrete Entwicklungs- oder Gestaltungsprobleme der Praxis einlässt. Es geht um Forschung, die sich in der Bearbeitung solcher Problemstellungen auf wissenschaftliche Erkenntnisse, wissenschaftliche Methoden und wissenschaftliche Rationalitätsstandards bezieht und aus der Analyse und Reflexion von Entwicklungs- oder Gestaltungsprozessen zur Erarbeitung von neuartigen Problemlösungen beiträgt und transferfähige wissenschaftliche Erkenntnisse generiert. Die Reflexion über die Rolle des Wissenschaftlers in diesem Prozess, insbesondere über Nähe und Distanz zum Feld, über das Verhältnis von wissenschaftlichem Wissen und dem Wissen praktisch tätiger Personen und schließlich über die Transferierbarkeit der Forschungsergebnisse und damit über deren gesellschaftlichen Nutzen über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus, ist konstitutiv für diese Forschung. Die An- und Einbindung in Entwicklungsprozesse der Praxis bietet Potenziale für  Erkenntnisse, die einen theoretischen und praktischen Nutzen stiften. Zugleich aber stößt diese Forschung im Schein klassischer Gütekriterien offenbar an ihre Grenzen – oder kann als Herausforderung begriffen werden, solche Gütekriterien kritisch zu überprüfen und ggf. neu zu fassen.

Dieserart entwicklungsbezogene Forschung hat vielfältige Traditionen und Entwicklungslinien in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik: Aktions- und Handlungsforschung im Kontext von Pragmatismus und Kritischer Theorie, Schulversuchs- und Modellversuchsforschung, etwa in Form des Kollegschulversuchs in NRW oder großer BLK-Modellversuchsprogramme in den 1990er und frühen 2000er Jahren, Technologische Forschung oder „Modus-2-Forschung“ und in jüngerer Zeit im methodologischen Rahmen des Design-Based Research.

Mit dieser Ausgabe von bwp@ nehmen wir den Diskurs um eine entwicklungsbezogene (Praxis-)Forschung auf und versuchen, ihn zu strukturieren. Das Heft umfasst sowohl methodologisch orientierte Beiträge zur Begründung und konzeptuellen Klärung des Gegenstandsbereichs im systematischen und historischen Kontext als auch für Beiträge, die systematische Reflexionen im Kontext konkreter Projekte entfalten.

In einer ersten Kategorie finden sich Texte mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen zur Begründung einer entwicklungs- oder gestaltungsorientierten Berufsbildungsforschung in Abgrenzung aber auch in synergetischer Bezugnahme auf andere Paradigmen. 

Die Präzisierung einer technologisch-rekonstruktiven Forschung steht im Mittelpunkt des Beitrages von Frank Krille. Es werden drei Kategorien grundlegend betrachtet: als Ausgangspunkte die Probleme im praktischen Handeln, die Kategorie der Forschungsziele und deren pragmatischer Nutzen und theoretischer Erkenntnisgewinn sowie die Kategorie der Forschungsmethoden.  

Andrea Burda-Zoyke setzt sich in ihrem Forschungsbeitrag mit der Frage auseinander, wie das Konzept des DBR aus dem internationalen Diskurs von Vertretern „traditioneller gestaltungsorientierter Forschungsansätze“ in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik rezipiert und weiterentwickelt und dann in konkreten wissenschaftlichen Studien umgesetzt wurde und wird. Aus der Analyse einer Reihe von Beiträgen zur gestaltungsorientierten Forschung in der BWP entwickelt sie auf induktivem Wege eine „Reflexionsfolie“, die „Forscherinnen und Forschern als Orientierungsrahmen zur Begründung und kritischen Reflexion im Rahmen der Planung, Durchführung und Evaluation eigener DBR-Studien dienen“ kann.

Bernd Gössling geht in seinem Diskussionsbeitrag von der Feststellung aus, dass durch die Kooperation von Forschern und Praktikern in entwicklungsorientierten Forschungsprojekten „eine Art kreativer Gewinn“ entsteht, über dessen Zustandekommen bisher jedoch kaum etwas bekannt sei. Auch „welche Rolle die Beiträge der Forscher und Praktiker dabei spielen, welcher Art das so entstandene Wissen ist“, sei noch weitgehend unklar. Gössling geht auf der Grundlage diskurstheoretischer Konzepte der Frage nach, wie durch „gemeinsame Diskurspraxis in forschungs- und Entwicklungsarenen neues Wissen unter Beteiligung von Akteuren aus unterschiedlichen Lebenswelten und Sprachformen“ entsteht.

Peter Jablonka, Klaus Jenewein und Gabriele March richten den Blick auf die Anlage der Begleitforschung. Ein interessanter Ertrag des Beitrags ist die Fokussierung auf die Pragrammebene bzw. die Vermittlung und Zusammenführung zwischen Bildungspolitik, Modellversuchsprogramm und Modellversuchsprojekt. Dabei wird der Rahmen einer partizipativen Modellversuchsforschung herausgearbeitet.

Der Beitrag von Barbara Hemkes, Christian Srbeny, Christian Vogel und Claudia Zaviska berichtet aus Erfahrungen mit (Wirtschafts-)Modellversuchen. Hierbei werden. Vor dem Hintergrund ausgewählter Erörterungen zur Modellversuchsforschung wird der Blick u. a. auf die Lernprozesse der beteiligten Akteure gerichtet und das Verhältnis von Wissenschaft und Praxis besonders betrachten. Die Gestaltung und Veränderung von Praxis wird in Bezug auf konkrete Modellversuchsprogramme betrachtet. 

Beiträge zur Methodik, zu den Standards und Gütekriterien einer entwicklungs- oder gestaltungsorientierten Berufsbildungsforschung finden sich in der zweiten Kategorie. Hier ist die individuelle Perspektive von besonderem Interesse sein, also die Frage nach der Rolle und dem Selbstverständnis des Forschers im Spannungsfeld von Engagement und distanzierter Objektivität. Daneben werden aber auch institutionelle Fragen zur Verankerung einer entwicklungsbezogenen Berufsbildungsforschung und den damit verbundenen Implikationen thematisiert.

Dass, in welcher Form mit welchen Erträgen designbasierte Forschungsprojekte in umfassendere Entwicklungs- und Gestaltungsvorhaben eingebunden werden können, wird im Beitrag von H.-Hugo Kremer, Petra Frehe, Marie-Ann Kückmann und Heike Kundisch deutlich. Es werden drei Formate einer gestaltungsorientierten Berufsbildungsforschung exemplarisch vorgestellt, verglichen und unter der Frage reflektiert, was die Eckpunkte, Potenziale und Herausforderungen einer Forschung in Innovationsarenen sind.

Andreas Slopinski, Florian Berding, Regina Gebhardt, Susanne Heubischl, Karin Rebmann und Tobias Schlömer stellen in ihrem Forschungsbeitrag die „Rolle der Forschenden in der transdisziplinären Modellversuchsforschung“ in den Mittelpunkt, zeigen am Beispiel eines Innovationprojekts zur nachhaltigen Entwicklung im Einzelhandel das Rollenspektrum der Forscher-/innen im Spannungsfeld von Engagement und distanznehmender Reflexion auf und diskutieren anhand des konkreten Forschungsdesigns das Potenzial des Design-Based-Research-Ansatzes. Die Autoren sehen dies als Ausdruck einer in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu stärkenden „Transdisziplinarität“.

Mit der Frage „Wer bin ich?“ nehmen Bettina Dimai, Regine Mathies und Heike Welte die Rollenambiguität und das Selbstverständnis von Forscher/innen in den Blick. Im Beitrag werden unter Bezug auf zwei Forschungsprojekte grundlegende Spannungsfelder analysiert und Instrumente eines reflexiven Handelns in der gestaltungsorientierten Berufsbildungsforschung aufgezeigt.

Der Beitrag von Burkhard Vollmers zur „Entwicklung eines Messinstruments sozialer Kompetenzen in der kaufmännischen Ausbildung als Integration divergenter Denkstile und Denkformen im Sinne Ludwik Flecks – Eine Rekonstruktion der Erfahrungen in einem berufspädagogischen Praxisprojekt“ zeigt unterschiedliche Bezüge auf das Konstrukt sozialer Kompetenzen auf und veranschaulicht so auch gut die Herausforderungen der Zusammenarbeit in gestaltungsorientierten Forschungszusammenhängen.

In der dritten Kategorie finden sich schließlich Beiträge zu Erträgen, Erfolgen (und Misserfolgen) gestaltungs- und entwicklungsorientierter Berufsbildungsforschung aus unterschiedlichen Kontexten (Schulen, Betriebe, Hochschulen, andere außerschulische Kontexte; Mikro-, Meso-, Makroebene).

Die Frage „Warum habt ihr eigentlich die Unis mit ins Boot geholt“ stellt den Ausgangspunkt des Forschungsbeitrags von Sebastian Zick und Lukas Dehmel dar. Sie gehen am Beispiel eines Handlungsforschungsprojekts zur Zusammenarbeit von Produktionsschulen in der deutsch-dänischen Grenzregion explorativ der Frage nach, wie das Verhältnis von Praxis und Wissenschaft von beteiligten Praktikern gesehen wird. Damit verbindet sich zugleich die Frage danach, welche Nutzenerwartung mit wissenschaftlichem Mitwirken verbunden wird.

Alberto Cattaneo und Antje Barabasch stellen mit ihrem Beitrag „Technologien in der Berufsbildung zur Verknüpfung des Lernens zwischen Schule und Arbeitsplatz: Das Erfahrraum Modell“ ein Projekt des Schweizer Leadinghouse Technologien vor, in dem der Frage nachgegangen wurde, wie digitale Medien dazu beitragen können, die Lücke zwischen dem schulischen Lernen und dem Lernen am Arbeitsplatz zu überbrücken.

Der Beitrag von Helmut Ittner und Annikka Zurwehme verschränkt methodisch Formate der Schulentwicklungsberatung und der Forschung zur Schulentwicklung. Dabei geht es insbesondere darum, gemeinsame Sinnkonzepte zur verbesserten Wirksamkeit von Schulentwicklungsmaßnahmen zu erschließen und aufzuarbeiten. 

Joel Krapf und Sabine Seufert berichten an einem konkreten Beispiel zum Format einer Gestaltungsforschung. Das Projekt zielt auf die Steigerung der Agilität von Teams. Es wird versucht über die Durchführung der Meso-Zyklen ein tieferes Verständnis für die Kontextbedingungen zu erlangen und so kontextsensitive Gestaltungsprinzipien zu erarbeiten.

Markus Schäfer und Eckart Diezemann dokumentieren ein Design-Based Research-Projekt im Kontext der dualen KFZ-Erstausbildung, das sich der Entwicklung und Erforschung eines designbasierten didaktischen Konzepts widmet. Auch dieser Beitrag macht anschaulich, wie entwicklungsorientierte Forschung die Ansprüche von Theorie und Praxis in einem komplexen Ausbildungsumfeld gleichberechtigt berücksichtigen kann.

Eine wissenschaftlich fundierte und dennoch praxisorientierte Gestaltung einer App-basierten Lern- und Assessmentumgebung steht im Zentrum des Beitrags von Christine Kreuzer, Susanne Ritter von Marx, Sandra Bley, Sophia Reh und Susanne Weber. Die Entwicklung erfolgt im Kontext der Berufsbildung zum/r Kaufmann/-frau im Einzelhandel; Förderziel ist die Kompetenz für nachhaltiges Wirtschaften. Der Text gibt einen umfassenden Einblick in die forschungsbasierte Entwicklung einer App-basierten Lern- und Assessmentumgebung.

Dominique Dauser fokussiert in Ihrem Beitrag auf die methodologische Begründung des Forschungsansatzes, mit dem im Projekt „Pro-up“ versucht wird, Weiterbildungsangebote für nicht formal Qualifizierte zu entwickeln und zu evaluieren. Das For­schungsdesign, das sich theoretisch auf Ansätze und Erkenntnisse der Innovationsforschung bezieht und auf die Partizipation der einschlägig relevanten Akteurs­grup­pen aus Wissenschaft und Praxis zielt, versteht sich als konzeptionelle Weiterentwicklung der Modellversuchsforschung.

Eva Anslinger, Christine Barp und Marc Patetzke stellen ein designbasiertes Forschungsprojekt zur sozialwissenschaftlich verankerten Berufsorientierung in der gymnasialen Oberstufe vor. Forscher*innenteams aus Studierenden und Schüler*innen greifen hierbei auf die Methode des forschenden Lernens zurück und erproben das Konzept in zwei Zyklen. Die Verschränkung von Gestaltung und Erkenntnisgewinnung erhält damit gewissermaßen eine doppelte Bedeutung.

Wir haben uns sehr über die hohe Resonanz auf den Call zu dieser Ausgabe gefreut. Ebenso erscheint uns diese Ausgabe sehr facettenreich und kann so zum Diskurs um entwicklungsbezogene Forschung beitragen. Wir möchten uns sehr herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für die Beiträge für die Ausgabe 33 von bwp@ bedanken. Ein besonderer Dank gilt der Redaktion und unserem Websupport.

Tade Tramm, H.-Hugo Kremer und Gabi Reinmann
im Dezember 2017

Zitieren des Beitrags

Tramm, T./Kremer, H.-H./Reinmann, G. (2017): Editorial zur Ausgabe 33: Entwicklungsbezogene (Praxis-)Forschung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 33, 1-5. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe33/editorial_bwpat33.pdf (14-12-2017).