Ausgabe 33
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bwp@ 33 - Dezember 2017
Entwicklungsbezogene (Praxis-)Forschung
Hrsg.:
, &Zum Selbstverständnis gestaltungsorientierter Forschung in der Berufsbildung – Eine methodologische und methodische Reflexion
Digitalisierung, demographischer Wandel, nachhaltige Entwicklung – derartige Schlagworte stehen für Veränderungen in der Arbeitswelt, die als große Transformation (WBGU 2011) oder große Herausforderungen (Wissenschaftsrat 2011) neue Anforderungen an berufliche Aus- und Weiterbildung sowie die Berufsbildungsforschung stellen. Mehr denn je ist gefragt, Forschung und Praxis zu koppeln, um notwendige Veränderungen wissenschaftlich fundiert in der Praxis zu initiieren und daraus wiederum wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen.
Vor diesem Hintergrund werden Möglichkeiten und Grenzen gestaltungsorientierter Forschung erörtert, die darauf abzielen, Forschung, Praxis und Innovation zu integrieren. Dies umfasst Fragen nach Begründungen wie nach theoretischen und methodischen Grundlagen oder der Verwandtschaft von sich überschneidenden Forschungsansätzen (z. B. Handlungs-/Praxisforschung, Modus 2, transformative Forschung, Design-based-Research, u. a.). Auch die Kooperation von Wissenschaft und Praxis als Erfolgsfaktor sowie die Rolle der Wissenschaftler/-innen werden diskutiert. Zudem wird gestaltungsorientiertes Forschen als innovative Lernstrategie in Hochschulen und beruflicher Bildung erörtert.
Ausgangspunkt der dargestellten Reflexionen sind Erfahrungen mit Modellversuchen und laufenden F&E-Programmen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die auf einem vom BIBB veranstalteten Experten-Workshop am 22. Juni 2017 hinsichtlich der Potenziale gestaltungsorientierter Forschung diskutiert wurden. Damit verbunden werden Beispiele der praktischen Umsetzung gestaltungsorientierter Forschung, u. a. aus aktuellen BMBF- und BIBB-geförderten Programmen zur Gestaltung innovativer beruflicher Weiterbildung (InnovatWB) sowie Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung (BBnE).
On the Self-Concept of Design-Based Research in Vocational Education – A Methodological and Methodical Reflection
Keywords such as digitalisation, demographic change and sustainable development stand for changes in the world of work which, as major transformation (German Advisory Council on Global Change 2011 – WBGU 2011) or major challenges (German Council of Science and Humanities 2011 – Wissenschaftsrat 2011), place new requirements on initial and further vocational training and on vocational training research. More than ever, there is a need to link research and practice in order to initiate necessary changes in practice on a scientifically sound basis and, in turn, to gain scientific knowledge from this.
Against this background, this paper discusses the potentialities and limits of design-based research, which aims at integrating research, practice, and innovation. This includes questions about reasons and about theoretical and methodological foundations or the relationship between overlapping research approaches (e. g. activity-based/practice research, Mode 2, transformative research, design-based research, etc.). The paper also discusses cooperation between theory and practice as a success factor and the role of academics. In addition, it discusses design-based research as an innovative learning strategy in higher education institutions and in vocational education.
Forming the basis for these reflections are experiences with pilot projects and ongoing R&D programmes in initial and further vocational training. These were discussed in terms of the potentials of design-based research during an expert workshop held by the Federal Institute for Vocational Education and Training (BIBB) on 22. June 2017. In connection with this, examples are given of design-based research in practice, partly from current programmes sponsored by the German Ministry of Education and Research (BMBF) and the Federal Institute for Vocational Education and Training (BIBB) on the design of innovative vocational further training (InnovatWB) and vocational training for sustainable development (BBnE).
1 Ausgangspunkt: Wer, wenn nicht gemeinsam?
Die Wirtschafts- und Arbeitswelt befindet sich bereits im Umbruch: Digitalisierung, demographischer Wandel oder nachhaltige Entwicklung sind nur einige der Schlagworte, die als „große Transformation“ (vgl. WBGU 2011) oder „große Herausforderungen“ (vgl. Wissenschaftsrat 2015) neue Anforderungen an Bildung und Ausbildung stellen und damit auch Themen der Berufsbildungsforschung sind. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zum Verständnis der Herausforderungen und zur Suche nach Veränderungspfaden finden auch in der beruflichen Bildung an der Schnittstelle von Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum ihren Niederschlag. Wie sehen Arbeit und Arbeitsmärkte der Zukunft aus? Welche Qualifikationen vor dem Hintergrund der Digitalisierung werden gebraucht? Wie ändert sich betriebliches Lernen, wenn Nachhaltigkeit zum Faktor beruflichen Handelns werden soll? Damit stehen neben inhaltlichen und didaktischen Implikationen auch grundlegende Fragen zum Verständnis von Bildung im Lebensprozess (lebensbegleitendes Lernen) und deren institutioneller Gestaltung und Gewährleistung (Durchlässigkeit, Inklusion) auf der Tagesordnung. Innovationen in der beruflichen Bildung sind also gefragt, die auf allen Ebenen des Bereichs der beruflichen Bildung, also curricular, strukturell und systemisch nach Innovationen verlangen, die der Komplexität, Dynamik sowie Kontingenz der Veränderungen Rechnung tragen. Auf der Handlungsebene sinkt die Bedeutung klassischer Steuerungsmodelle, während partizipativen, ganzheitlichen und koordinierten Strategien in diversifizierten Akteurssettings der Beteiligten größere Wirkungsmacht zugeschrieben wird (vgl. Zapf 1991, Altrichter et al. 2007; Bormann 2011).
Wenn also der soziale und technologische Wandel so beschaffen ist, dass weder in der Praxis erprobte Konzepte vorhanden sind, noch in der Wissenschaft Theorien, Modelle oder gar empirisch gestützte Befunde existieren, die eine Orientierung bieten könnten, erscheint es sinnvoll, den Herausforderungen gemeinsam zu begegnen. Grundlage derartiger Innovationspartnerschaften von Praxis und Wissenschaft ist, dass ein von den Beteiligten geteiltes Verständnis der Herausforderungen entwickelt und hierauf aufbauend kooperativ Maßnahmen entwickelt werden, deren Bedeutung und Wirkung gemeinsam reflektiert werden. Jeder bringt dabei sein Wissen, seine Perspektiven und seine Kompetenzen ein, wobei die unterschiedlichen Interessen sowie die jeweiligen institutionellen Grenzen gegenseitig respektiert werden. Durch das – wie auch immer – wissenschaftlich angereicherte Handeln in der Praxis entstünde neues Wissen, dass sowohl der Praxis hilft, innovative Lösungen zu finden und zu transferieren, als auch in der Wissenschaft zur Theoriebildung bezogen auf die Herausforderungen beiträgt.
So oder ähnlich könnte idealerweise die Geschichte gestaltungsorientierter Forschung erzählt werden. Doch so einfach ist es nicht. In der wissenschaftlichen Community bildet der Ansatz keineswegs den Mainstream. Zudem wird die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis nicht selten von beiden Seiten als schwierig wahrgenommen. Deshalb sollen im Folgenden Konzepte und Praxis für Innovationspartnerschaften im Kontext gestaltungsorientierte Forschung näher beleuchtet und vor dem Hintergrund der kritischen wissenschaftlichen Debatte das Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis diskutiert werden. Gefragt wird nach dem Selbstverständnis der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und den Gelingensbedingungen der Kooperation von Praxis und Wissenschaft. Ferner werden die pädagogischen Voraussetzungen innerhalb der beruflichen und akademischen Ausbildung betrachtet, um zukünftige Fach- und Führungskräfte bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die Arbeit in gestaltungsorientierten Forschungs- und Entwicklungssettings vorzubereiten.
2 Ansätze und Diskurse gestaltungsorientierter Forschung
2.1 Innovationen und Partnerschaften
Innovationspartnerschaften zwischen Praxis und Wissenschaft sind die Grundidee von Modellversuchen, die im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) seit mittlerweile über 40 Jahren als gesetzlicher Auftrag gefördert und wissenschaftlich begleitet werden (Berufsbildungsgesetz 2005, § 90 Abs. 3 Nr. 1d). Modellversuche haben die Veränderung von Praxis, also Innovationen in der Wirklichkeit beruflicher Ausbildung, zum Ziel. Hieran wird die Wissenschaft beteiligt, in dem die Veränderungen und die damit einhergehenden Prozesse wissenschaftlich begründet, entwickelt, reflektiert und in ihrer praktischen Erprobung ausgewertet werden. So sollen theoriegeleitet reflektierte Veränderungsprozesse mit hohem Wirkungspotenzial (zeitlich und räumlich) ermöglicht werden. Gleichzeitig werden durch die Gestaltung und Umsetzung von Innovationen in der Praxis neue Erkenntnisse gewonnen, die theoriebildend wirken. Dieses spezifische Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis macht die besondere Qualität von Modellversuchen aus (vgl. Hemkes/Schemme 2014, 3).
In der pädagogischen Forschung ist Design Based Research ein vor allem international anerkannter Ansatz, um durch gezielte Interventionen in der Praxis und deren wissenschaftlicher Reflexionen Erkenntnisse über individuelles oder organisationales Lernen zu gewinnen (vgl. Weber et al. 2014 oder in Abwandlung: Educational Design Research, Fiedler 2017). Auch in anderen Bereichen gewinnt die gezielte Kopplung von Wissenschaft und Praxis (wieder) an Relevanz. Vor allem im Kontext der Transformationsforschung werden in sogenannten Praxislaboren innovative Formen der Gestaltung städtischer Mobilität, beispielsweise zur Stärkung des interkulturellen Austauschs in den Quartieren oder bei der Betreuung älterer Mitbürger/-innen erprobt. Mit diesen Ansätzen wird zugleich auch ein gesellschaftlich emanzipatorischer und demokratischer Anspruch verbunden (vgl. Schneidewind/von Wissel 2015, 4f.). Doch im wissenschaftstheoretischen Diskurs ist die tätige Mitwirkung von Forscher/-innen in der Praxis ein höchst brisantes Thema, bei dem sich die Auseinandersetzungen um die Legitimation ihrer Arbeit als Forschung, deren Qualität sowie ihre methodologische und methodische Gestaltung drehen.
Das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Handeln ist seit jeher Gegenstand wissenschaftstheoretischer Diskussion, und damit auch die Frage, wie (wissenschaftliche) Erkenntnisse überhaupt generiert werden können. Die Auseinandersetzungen über die wissenschaftliche Qualität von qualitativen und/oder gestaltungsorientierten Forschungsansätzen sind Legende. Von der Aktionsforschung (Moser 1975) über Practitioner Research (Fox/Martin/Green 2007) bis hin zur Evaluationsforschung (Stockmann/Meyer 2010) wird das ‚ideale‘ Verhältnis von Identifikation und ‚objektivierender‘ Abgrenzung – entsprechend ihrer jeweiligen Ansätze – austariert. Streitpunkte dabei sind wissenschaftliche Tugenden wie Objektivität und Neutralität der Forschung und der Forschenden, ebenso Wiederholbarkeit und Kontextbindung der Ergebnisse, mithin auch deren Potenzial zur Theoriebildung generell. Auf einer Metaebene wird das grundlegende Verständnis von Wissenschaft im Verhältnis zur Praxis, genauer zur Gesellschaft, berührt. Es wird die Frage aufgeworfen, ob sich Wissenschaft in den „Dienst der Gesellschaft“ stellen darf (vgl. Schneidewind/Singer-Brodowski 2013; Strohschneider 2014).
Bei den Modellversuchen (in der Wirtschaft; sog. Wirtschaftsmodellversuche), die vom BIBB aus Mitteln des BMBF gefördert und wissenschaftlich betreut werden, stehen vor allem drei Aspekte in der kritischen Auseinandersetzung: die Qualität der Innovationen (vgl. Schemme/Groß 2011), der Forschungsbezug und die -methodologie (vgl. Euler 2003) sowie die Kontextgebundenheit der Ergebnisse und die damit verbundenen reduzierten Möglichkeiten des Transfers (vgl. Mertineit et al. 2001; Bormann 2011, Diettrich 2013). Insgesamt sahen und sehen sich Modellversuche einem hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, der den Blick auf den eigentlichen Kern der Modellversuche – die Koproduktion von Innovationen im Dialog von Praxis, Wissenschaft und Politik – zu verstellen droht(e). Für die Bildungswissenschaft schlägt Euler (2003, 40) daher eine „konstruktive Komplementarität“ gestaltungsorientierter und empirischer Ansätze vor.
2.2 Modellversuche als Instrumente ko-produktiver Forschungs- und Entwicklungsarbeit
Modellversuche können charakterisiert werden als „Vorgänge einer Konstruktion sozialer Wirklichkeit, an denen Wissenschaft beteiligt ist“ (Sloane 1995, 19). Diese Vorgänge sind aber keinesfalls beliebig, sondern haben (politisch) vorgegebene Ziele: Modellversuche sind dabei zu verstehen als „Instrument zur exemplarischen Entwicklung und Erprobung neuer, innovativer Lösungsansätze, die zur inhaltlichen und strukturellen Verbesserung der beruflichen Bildung beitragen“ (BIBB 2010, 2). So etwa verpflichtet sich der Modellversuchsförderschwerpunkt „Berufliche Bildung für nachhaltige Entwicklung“ „der Umsetzung des anlässlich der nationalen Abschlusskonferenz zur UN-Dekade sowie im Positionspapier des Deutschen Nationalkomitees „Zukunftsstrategie BNE 2015+“ formulierten Leitgedankens für das Weltaktionsprogramm ‚Vom Projekt zur Struktur‘“ (BIBB 2015, 1). Modellversuche sind somit auch ein Instrument indirekter politischer Steuerung: formuliert wird ein übergeordnetes politisches Ziel, von dem angenommen wird, dass es mit den intrinsischen Zielen der Akteure und damit deren Bedarfen übereinstimmt bzw. diese aktivieren soll, wobei durch die Förderung des Modellversuchs die hierfür erforderlichen (monetären, strukturellen, wissensbasierten) Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Es sollen Suchprozesse initiiert und gestaltet werden, an denen Akteure aus der Praxis, der Wissenschaft und dem (politischen) Kontext zusammenwirken, um innovative Wege zu erkunden, beispielsweise die Integration von Nachhaltigkeit in die berufliche Bildung oder die qualitätsgesicherte Gestaltung von betrieblichen Ausbildungsprozessen.
Tatsächlich zeigen die Erfahrungen der zurückliegenden Förderphasen, dass dies eines der größten Probleme bei der Realisierung von Modellversuchen ist: Das, was politisch oder wissenschaftlich als Problem oder wünschenswertes Ziel formuliert wird, trifft unter Umständen auf nur wenig spontane Resonanz in der betrieblichen Realität. Infolge werden erhebliche zeitliche und personelle Ressourcen aufgewendet, um aus der Wissenschaft heraus Bedarfe bei den Praxispartnern zu entwickeln, als Voraussetzung, dass sie sich auf den gemeinsamen Suchprozess, also den Modellversuch einlassen. Damit gestaltet sich häufig schon der erste Schritt, ein von den Akteuren geteiltes Verständnis der Herausforderungen, als schwierige Hürde. Die Diskrepanz zwischen den Intentionen der Mittelgeber, Projektnehmer und (betrieblichen) Kooperationspartnern hat durchaus konstruktives Potenzial, wenn sie als Teil des Modellversuchs reflektiert wird. Sie bringt aber auch mit sich, dass es sehr aufwendig sein kann, die Projektverbünde und Netzwerke zu stabilisieren und zu etablieren, da Entwicklungsprozesse asymmetrisch verlaufen und die Ergebnisse durchaus von den angestrebten Zielen der Förderung abweichen können.
Die Gestaltung der Suchprozesse in den Modellversuchen ist offen, so dass unterschiedliche Ansätze gestaltungsorientierter Forschung als Formen der Kooperation realisiert werden, bei denen die Akteure aus der Wissenschaft sich als Impulsgeber, Beobachter, critical friend, Ko-Produzent oder Innovationsentwickler verstehen und entsprechend mit variierender Distanz und Interventionsqualität zum Geschehen in der Praxis agieren. Erwartet wird allerdings, dass in einer vorgegebenen Zeit ein Ergebnis (i. S. von Verfahren, Instrumenten, Didaktik oder Curricula) erreicht wird und Transferleistungen in die Praxis und die Strukturen der beruflichen Bildung erzielt werden. Der erforderliche offene Suchprozess wird damit neben der ohnehin schon herausfordernden Verständigung nach innen durch Erwartungen von außen überlagert, Ergebnisse orientieren sich an dem Erwart- und Machbaren, so dass Innovationspotenziale nicht ausgeschöpft werden. Auch die Forderung nach frühzeitiger Integration von Transfermaßnahmen kann zu erheblichen Störungen führen und den geschützten Raum für den Suchprozess der Innovationspartner gefährden. Konflikte und das Ringen um Verständigung sollten jedoch nicht ausgeblendet, sondern deren Erkenntnis- und Veränderungspotenzial einbezogen werden.
Aus den Erfahrungen der Modellversuche und ähnlichen Ansätzen lässt sich schließen, dass die Bedingungen und Ausformungen der Partnerschaft zwischen den Akteuren aus Wissenschaft und Praxis und deren Selbstverständnis ein kritischer Faktor gestaltungsorientierter Forschung sind. Modellversuche sind dabei selbst ein Entwicklungs- und Anwendungsraum gestaltungsorientierter Forschung, bei denen immer wieder neu geklärt werden muss, welche Paradigmen und Methoden unter welchen theoretischen Annahmen besonders wirksam sind und wie diese weiterentwickelt werden können, ohne die kreative Vielfalt der Ansätze abzuwürgen.
Die Frage nach den Rollen, Selbstverständnissen und Interaktionen zwischen Wissenschaft und Praxis – im Sinne einer ‚Subjekt-Subjekt-Beziehung‘ – erhält insbesondere im Kontext von gestaltungsorientierter Forschung an Relevanz. Mit dem Bedeutungszuwachs sozialwissenschaftlichen Wissens und dem steigenden Legitimationsdruck von Wissenschaft gehen „erhöhte Anforderungen an die Nützlichkeit und Verwertbarkeit des Wissens“ einher (Howaldt 2008, 29f.).
Vor allem auf Grundlage zahlreicher Forschungen zu Innovationsprozessen werden mit dem Begriff „Modus 2 Forschung“ die vielfältigen Ansätze charakterisiert und abgegrenzt, die qualitativ Veränderungen jenseits linearer Steuerungs- und Implementationserwartungen untersuchen. Dabei sind die Forschungsansätze und theoretischen Grundlagen so heterogen wie der Begriff Innovation selbst schillernd und definitorisch (noch) nicht eindeutig geklärt ist (vgl. Springer Gabler Verlag 2017). Gemeinsam ist den Ansätzen, dass sie von verteiltem Wissen in den unterschiedlichen Kontexten der Praxis und Wissenschaft ausgehen, dass (sozial wünschenswerte) Veränderungen Ziel und Ergebnis von partizipativen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen sind und in diesen Prozessen neues Wissen erzeugt wird, das wissenschaftlich relevant ist (vgl. Bormann 2011; Howaldt 2008). Diese transdisziplinäre Forschung, d. h. Forschung mit Akteuren außerhalb der wissenschaftlichen Community, wird inzwischen von einigen zentralen Akteuren des Wissenschaftssystems in Betracht gezogen, wenn auch unter Beibehaltung der strikten Kriterien objektiver und distanzierter Wissenschaft.
Wissenschaftliche Wissensproduktion erfolgt somit nicht mehr ausschließlich in den ‚heiligen Hallen‘ der akademischen Forschungsinstitutionen, gar unter Laborbedingungen, sondern zunehmend ko-produktiv in realen Praxiskontexten. Forscher/-innen werden zu aktiv Beteiligten und beeinflussen bewusst oder unbewusst den Forschungsprozess (vgl. Cendon/Basner 2016, 31). Howaldt (2008, 29) konstatiert, dass Praktiker/-innen zunehmend selbstbewusst und reflexiv mit wissenschaftlichen Ergebnissen umgehen und die „traditionelle Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft als Produzent von Wissen und der Praxis als deren Anwender“ zunehmend verschwimmt. Auch in Hinblick auf die Transferproblematik in der Arbeitsforschung werden subjektorientierte Forschungsansätze gefordert: „Im Zuge der Entzauberung von Wissenschaft wird die Subjekt- und Situationsbezogenheit wissenschaftlichen Wissens relevant“ (Ludwig 2014, 201).
Modellversuche (und ähnliche Ansätze) sind die „organisatorische Konstruktion der Praxis“ (Sloane 2007, 28), keine Wissenschaftskonzepte, und „eher als Lernprozesse denn als wissenschaftliche Versuchsanordnung zu fassen und zu verstehen“ (Brater/Maurus/Dahlem 2005, 107). Nach Sloane (2007, 28) lassen sich dabei drei Forschungslogiken unterscheiden:
(1) das Programm rationaler Forschung im Sinne einer deduktiven falsifizierenden Hypothesen- und Theorieprüfung,
(2) das Programm rationaler Praxis, das auf eine Verbesserung der Rationalität der Praxis abzielt und eine aufklärerisch-gestaltende, intervenierende Funktion hat und
(3) das Programm reflexiver Praxis, das als „epistemologisches Subjektmodell“ von der Selbstreflexionsfähigkeit von Praxis ausgeht.
Sloane differenziert weiterhin bei der wissenschaftlichen Begleitforschung zwischen den drei Forschungstypen „distanzierte“, „intervenierende“ und „responsive“ Forschung, die jeweils über einen eigenen Habitus verfügen (vgl. ebd., 29). Obwohl die wissenschaftliche Begleitforschung aufgrund ihrer eigenen Regeln, Ziele und Forschungsinhalte nicht im Fokus des vorliegenden Beitrags steht, gilt sie doch als akzeptierte methodische Bezugsgröße gestaltungsorientierter Forschung (vgl. Schemme/Novak 2017, 15ff.). Daraus ergeben sich sieben Zugänge, die durchaus unterschiedliche Rationalitätspostulate aufgreifen:
Tabelle 1: Rationalität der Forschung vs. Rationalitätsgewinn der Praxis (nach Sloane, 2007, 30)
Distanzierte Forschung |
(1) Empirisch-analytische Begleitforschung (2) Phänomenologisch-textwissenschaftliche Begleitforschung |
Intervenierende Forschung |
(3) Handlungsforschung (4) Organisationsentwicklung |
Responsive Forschung |
(5) Responsive Evaluation (6) Wissenschafts-Praxis-Kommunikation (7) Design-based-Research |
Insbesondere im Programm der responsiven Forschung wird das Gegensatzpaar von Grundlagenforschung auf der einen und Modellversuchsforschung auf der anderen Seite zugunsten eines „erweiterten Arbeitszusammenhang(s) von Wissenschaft“ (Sloane 2007, 34) aufgehoben. Innovationspartnerschaften sind in diesem Sinne auf Lernen und Veränderung angelegte Kooperationen, die methodologisch im Forschungsinteresse begründet sind und methodisch durchaus divers realisiert werden können. Entscheidend ist hierbei der Dialog zwischen (Begleit-)Forschung und den Akteuren der Praxis hinsichtlich der jeweiligen Erwartungen, Gestaltungsinteressen und Deutungshorizonte.
3 Zwischen Identifikation und Abgrenzung: Selbstverständnis und Rolle von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
Am Bespiel der wissenschaftlichen Begleitung des BMBF-Programms „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschule“ wird die Rolle der Forschenden deutlich: „Die Forschenden sind Experten und Expertinnen für ihre Praxis, ebenso wie die beteiligten Praktikerinnen und Praktiker“ (vgl. Cendon/Basner 2016, 33). Wissenschaftler/-innen nehmen nicht mehr die Funktion eines kritischen, oftmals distanzierten Wissensproduzenten ein, sondern gestalten und intervenieren als „unbefangener Dialogpartner“ (vgl. Brater/Maurus/Dahlem 2005, 108) den Forschungsprozess. Dabei nehmen sie eine zugleich wohlwollend-interessierte und distanzierte Haltung ein. Dies bedeutet nicht, dass es keine wissenschaftliche Distanz gibt oder gar die strukturelle Differenz zwischen Wissenschaftssystem und Praxis aufgehoben werden sollte (vgl. Howaldt 2008, 38), vielmehr findet eine Rollenverschiebung hin zur Moderation und Steuerung des Forschungs- bzw. Gruppenprozesses statt: „So werden die [Sozialwissenschaftler/-innen] zu Gestaltern eines gemeinsamen Lernprozesses, dessen Ergebnis weder die Praktiker noch die sie beratenden Wissenschaftler vorwegnehmen können“ (ebd., 37).
Cendon und Basner (2016, 40) werfen die Frage auf, um welche Art der Expertengemeinschaft es sich denn eigentlich handle („gemeinsame Praxisreflexion oder um Praxisforschung?“) und wie nachhaltig diese über die Projektförderung ist? Entscheidend sei der Kontext von Wissenschaft und Praxis, da beide Seiten sich mit derselben Thematik auseinandersetzen, jedoch auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen und mit verschiedenen Wirkungskreisen. Forschende generieren auf Metaebene Anschlüsse ins Wissenschaftssystem, Praktiker/-innen transferieren Erkenntnisse in neue (Praxis-)Kontexte.
Im Forschungsprozess wird die Definition der eigenen Rolle als Forscher/-in als wesentlich erachtet und sollte möglichst zu Beginn des Forschungsvorhabens im Planungsprozess erfolgen (vgl. Cendon/Basner 2016, 31; Ludwig 2014, 201). Grundvoraussetzungen sind hierbei der Nutzen für alle Beteiligten, Offenheit und eine gemeinsame Vertrauensbasis, gegenseitige Wertschätzung für die unterschiedlichen Expertisen und Schwerpunkte, sowie eine gemeinsame veränderungsflexible Zielsetzung für den Aufbau einer tragfähigen Praxisforschungsgemeinschaft. Ebenfalls für wichtig wird die Abwechslung zwischen Aktion und (prospektiver) Reflexion in einem zyklischen Prozess erachtet. Entscheidungen über das weitere Vorgehen werden idealerweise immer gemeinsam getroffen (vgl. Cendon/Basner 2016, 33). Wichtiger als der Einsatz von standardisierten Erhebungsinstrumenten sind „laufende Beobachtungen, informelle Gespräche und spontane Eindrücke“ (vgl. Brater/Maurus/Dahlem 2005, 109ff.). Wissenschaftler/-innen sollten sich sowohl hinsichtlich ihrer Sichtweisen und Begrifflichkeiten von der Praxis unterscheiden als auch in der Lage sein, die Sorgen und Sichtweisen der Praxis zu verstehen. Wissenschaftliche (Begleit-)Forschung bietet demnach Reflexionshilfen und beteiligt Praktiker/-innen direkt am Prozess der Erkenntnisgewinnung. Die Praktiker/-innen werden somit zu experimentierenden Mitforschenden, die gemeinsam mit den Forschern/-innen eine „übertragbare Lösung für ein allgemeines Problem“ suchen (vgl. ebd.).
Trotz aller Vorteile partizipativer, gestaltungsorientierter Forschungsansätze gehen damit auch Herausforderungen einher. So weist Ludwig (2014, 203) darauf hin, dass „Wissenschaftsberatung als Kooperationsform von Wissenschaft und Praxis Gefahr läuft, wissenschaftliche Qualitätskriterien zu verlieren und auf die Seite der Beratungspraxis zu rutschen“. Die unterschiedlichen Relevanzsysteme zwischen Praktikern/-innen und Wissenschaftler/-innen erfordern Kommunikation und Kooperation, um den gewünschten Theorie-Praxis-Transfer und wissenschaftliche Modellbildung zu gewährleisten. Außerdem kann die Komplexität der Praxis nicht mit einer eindimensionalen disziplinären Perspektive bewältigt werden, was interdisziplinäre Forschungspraxiskooperation nahelegt (vgl. ebd.).
Wie gestalten sich nun die Interaktionen in der gestaltungsorientierten Forschungspraxis und wie können diese Forschungsprozesse reflektiert werden? Im praxisfeldintegrierten Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Übergangszeiten“ aus der BMBF-Förderlinie „Innovative Ansätze zukunftsorientierter beruflicher Weiterbildung“ (InnovatWB) (BIBB 2017) wird zur Erprobung eines Verfahrens zur dialogischen Zielgruppengewinnung für die berufliche Weiterbildung ein paradigmatischer Perspektivwechsel vollzogen: Für die Praxis bietet das Forschungsprojekt eine Unterbrechung linearer Planungsroutinen hin zu einem zielgenerierenden Steuerungsmodell – als Erweiterung eines ergebnisoffenen Modells. Im Forschungsdesign wird zwischen (1) „Wissenschaftssystem“ und (2) „Organisationssystem“ (mit Praxispartnern) unterschieden, die durch (3) „Settings für ko-produktive Wissensgenerierung“ in einem „intersubjektiven Forschungssystem“ verbunden werden. In Letzteres fließen sowohl implizite Deutungen der Praxis als auch reflexionsfähiges transdisziplinäres, theoriegeleitetes Wissen ein. Erst durch die Verschränkung beider Perspektiven und Deutungshorizonte entstehen „verallgemeinerungsfähiges Wissen“ und „Anwendungswissen“, das in die jeweiligen Praxis- und Wissenschaftskontexte transferiert bzw. übersetzt werden kann (vgl. Schäffter 2014; Schicke 2014). Im Rahmen eines weiteren Projekts aus InnovatWB (WB-PRO), welches die realen Arbeits-/Handlungskontexte und das Professionsverständnis pädagogischen Fachpersonals in der beruflichen Weiterbildung untersucht, werden felderschließende Regionalmeetings durchgeführt. In Regionalstudien von Bildungsdienstleistern (Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Schleswig-Holstein) werden in einem modularisierten Fallstudiendesign regionale Disparitäten aufgezeigt und die Auswirkungen von Fallstudien (Wissenschaft) auf die Praxis („Feld und Rollen verändern sich“, Harm 2017) reflektiert. Wie an diesem Beispiel ersichtlich wird, eignet sich responsive Begleitforschung zur gemeinsamen Professionalisierung von Forscher/innen und Praktikern/innen (vgl. French/Diettrich 2017).
Weiterhin lassen sich anhand transformativer, trans- und interdisziplinärer Forschungsansätze (Schneidewind/Singer-Brodowski 2014) Hinweise zum Umgang mit Identifikation und Abgrenzung ableiten. Zum einen ist es erforderlich Forschungsprozesse und deren Interventionswirkungen, bspw. in Form von Real-Experimenten, permanent zu reflektieren. Forschung ist demnach ein beständiger Reflexions- und Lernprozess hinsichtlich der eigenen Forschungspraxis einerseits und der gesellschaftlichen Wirkung andererseits.
Zusammenfassend lässt sich anhand der unterschiedlichen Ansätze konstatieren, dass das Engagement von Forschenden und eine Identifikation mit der Praxis – im Sinne von wechselseitiger Perspektivübernahme – eine Grundvoraussetzung für gestaltungsorientierte Forschung darstellt. Sowohl bei partizipativen Forschungsprojekten als auch in transformativen Forschungsprozessen scheint es unabdingbar, zu Beginn gemeinsam (ggf. mit dem Auftraggeber) die Rollen und Erwartungen aller Beteiligter zu klären und ggf. im weiteren Verlauf mit einer konsequenten (wissenschaftlichen) Prozessbegleitung nachzujustieren, um mögliche Ziel- und Interessenskonflikte proaktiv zu bewältigen. Außerdem ist es ratsam, verlässliche Personen aus der Praxis in die Forschungsgruppe einzubinden, um eine verlässliche Kooperationsstrukturen zu gewährleisten. Die Einnahme unterschiedlicher Rollen im Forschungsteam, eine Offenheit der Fragestellung(en) und ein Fokus auf ko-produktive Gestaltungsprozesse anstelle eindimensionaler Problemdiagnosen haben sich ebenfalls bewährt. Phasen der Unsicherheit und des Nicht-Wissens sind ein elementarer Bestandteil gestaltungsorientierter bzw. transformativer Forschung in inter- und transdisziplinären Kontexten. Häufig ist damit auch eine Ablösung von ‚tradierten‘ Fachdisziplinen, Wissensstrukturen und ggf. konventioneller methodischer Fachstandards verbunden. Die Frage nach dem richtigen Maß zwischen Identifikation und Abgrenzung lässt sich nicht einfach mit Grenzwerten oder Kennzahlen messen. Im Forschungsprozess verschieben sich die Grenzen sicherlich mal mehr in die eine oder andere Richtung, entscheidend ist hier die kontinuierliche Reflexion der Rollen und Erwartungen aller Beteiligten.
Tabelle 2: Chancen und Herausforderungen (eigene Darstellung in Anlehnung an Harm, 2017)
|
Identifikation |
Abgrenzung |
Potenziale |
Feldzugang, gemeinsamer Forschungsraum, Vertrauensvolle Kooperations-strukturen etc. |
Akzeptanz/Anerkennung in wissenschaftlicher Community, Orientierung an ‚bewährten‘ disziplinären Standdarts etc. |
Herausforderungen |
Eingeschränkte Objektivität, Rollenvermischung, Ziel-/ Interessenskonflikte etc. |
Praxisferne, unzureichender Ergebnistransfer, Akzeptanzprobleme in der Praxis etc. |
4 Wissenschaft und Praxis – (fast) beste Freunde?
In gestaltungsorientierter Forschung werden Innovationen nicht nur theoretisch entwickelt, sondern bewähren sich bereits in der praktischen Umsetzung. Forschung versteht sich dabei nicht nur als Instrument der Beschreibung oder Erklärung von Praxis, sondern hat die Gestaltung und Entwicklung von Praxis in sinnstiftender Kooperation mit dieser zum Ziel. Das Vorgehen erfolgt partizipativ, praxisnah und anwendungsorientiert unter Einbezug aller Beteiligten und Betroffen (Schemme 2016, 6). Am Beispiel der Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung (BBnE; vgl. BIBB 2016) wird dies im Folgenden erörtert.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen konstatiert, dass unsere gegenwärtige Art zu wirtschaften nicht zukunftsfähig ist (WBGU 2011, 10). Ein Umsteuern auf z. B. erneuerbare Energien oder nachwachsende Rohstoffe ist daher unausweichlich, ebenso eine gerechtere Verteilung der Lebenschancen der gesamten Weltbevölkerung. In diesem Zusammenhang kommt der Berufsarbeit und damit der Berufsbildung eine wesentliche Bedeutung zu (Kuhlmeier et al. 2017, 7). Die Arbeitswelt wird als kritischer Ort identifiziert, in dem sich entscheidende Innovationen eines Transformationsprozesses vollziehen. So wird z. B. die Energiewende maßgeblich durch berufliche Facharbeit realisiert (Hemkes/Kuhlmeier/Vollmer 2013, 29), aber auch Handelsunternehmen können u. a. durch Sortimentsgestaltung oder Kundenberatung Einfluss auf die Gewohnheiten der Verbraucher nehmen. Ziel der beruflichen Bildung muss daher sein, „Kompetenzen zu fördern, mit denen die Arbeits- und Lebenswelt im Sinne der Nachhaltigkeit gestaltet werden können“ (Hemkes 2014, 225). An dieser Stelle können Wissenschaft und Praxis nur gemeinsam nach Lösungen suchen: Nachhaltigkeitsorientierte Kompetenzentwicklung muss sich auf fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse der Nachhaltigkeitsforschung, Kompetenzmodellierung oder Didaktik stützen, um nachweisbare Effekte für die Praxis zu ermöglichen. Gleichwohl würden noch so valide, aber ausschließlich am „grünen Tisch“ entworfene Curricula oder Lehr-Lern-Materialen wohl in den Schubladen liegen bleiben, wenn sie nicht mit der Praxis zusammen entwickelt und erprobt würden. Diesem Vorgehen folgen u. a. die Modellversuche zur BBnE, die vom BIBB aus Mitteln des BMBF gefördert werden (Srbeny/Hemkes 2017, 44f). Die folgende Abbildung 1 verdeutlicht beispielhaft, wie darin die Wissenschafts-Praxis-Kooperation strukturiert ist:
Um eine möglichst ertragreiche Wissenschafts-Praxis-Kooperation zu initiieren, sollten von Anfang an alle Ebenen des „vertikalen Transfers“ (vgl. Kastrup/Kuhlmeier/Reichwein 2014, 176) eingebunden werden: Auf der Mikroebene sind Praxispartner zu finden, mit denen die Forscher/-innen im Modellversuch direkt zusammenarbeiten, also z. B. Betriebe, Berufsschulen oder ÜBS (Beispiel: gemeinsame Entwicklung von Lernsituationen), diese bilden den Kern der Innovationspartnerschaften. Auf der Mesoebene werden zuständige Stellen oder Branchenverbände als strategische Partner in die Projekte integriert, um v. a. den Transfer zu fördern (Beispiel: Entwicklung einer Fortbildung mit IHK-Zertifizierung). Auf der Makroebene wären z. B. DIHK, ZDH oder die KMK einzubinden, um die Verankerung der Ergebnisse in übergeordnete Strukturen zu ermöglichen, was im BBnE-Programm z. B. im Programmbeirat erörtert wird (Beispiel: Ausbildungsordnungen, Rahmenlehrpläne).
Wie bisherige Unternehmungen zeigen, gestaltet sich dies in der Realität jedoch nicht immer einfach: Eine erste Hürde kann schon in der unterschiedlichen „Sprache“ liegen, die für beide Seiten durchaus abschreckend wirken kann. Auch wird, wie oben beschrieben, der jeweilige Handlungsbedarf je nach Thema u. U. unterschiedlich eingeschätzt. Nachhaltigkeit oder Digitalisierung sind noch lange nicht in jedem Betrieb angekommen und werden von manchen Mitarbeitenden keinesfalls als notwendige Anpassung an bereits stattfindende wirtschaftliche oder gesellschaftliche Entwicklungen verstanden, sondern lediglich als Modewörter. Es soll an dieser Stelle der Eindruck vermieden werden, dass Forschung stets mit Innovationen bereitstünde und die Praxis immer mühsam überredet werdet müsste – manche Unternehmen sind mit ihren technischen oder sozialen Errungenschaften schon deutlich weiter als die Forschung und formulieren klare Erwartungen und Bedarfe, die so schnell (und ohne dafür zur Verfügung stehende Drittmittel) nicht immer abgedeckt werden können. Auch Kosten-Nutzen-Abwägungen spielen eine Rolle: Qualitativ hochwertige Forschung erfordert Zeit und Aufwand, während gerade betriebliche Partner nicht unbegrenzt Ressourcen dafür aufbringen können. Die Projektarbeit ist Alltag und „Pflicht“ für Wissenschaftler, für Betriebe stellt sie neben dem Kerngeschäft jedoch die „Kür“ dar (Florschütz/Müller/Reißland 2017, 10). Somit werden auch sehr engagierte Praxispartner gelegentlich ihre Prioritäten anders setzen (müssen), was auf wissenschaftlicher Seite zu Verzögerungen und Verdruss führen kann. Manchen Forscher/-innen fällt es zudem schwer, nicht nur forschen, sondern auch gestalten zu wollen (Ganz 2017, 15). Sie müssen dafür ihre gewohnte universitäre Wirkungsstätte verlassen und sich auf „wirkliche“ Gestaltungsforschung einlassen, bei der Betriebe nicht nur ein „Feld“ sind, in dem man Fragebögen ausfüllen lässt, sondern mit denen man gemeinsam an konkreten und nachhaltigen Entwicklungen arbeitet und diese Veränderung wiederum erforscht. Die Tatsache, dass dies konträr zu den Prinzipien wissenschaftlicher (Karriere-)Systeme oder den Vorgaben mancher Hochschulleitung sein kann, erschwert es Wissenschaftler/-innen zusätzlich. Solche Stolpersteine führen im schlimmsten Fall dazu, dass die Forschung im Alleingang realitätsfremde „Elfenbeinturm-Konzepte“ entwickelt, während die Praxis auf eigene „quick-and-dirty“-Lösungen setzt. Dies gilt es, im Interesse aller zu vermeiden. Im Folgenden sollen daher exemplarisch Möglichkeiten und Voraussetzungen für ein produktives Miteinander von Wissenschaft und Praxis herausgestellt werden:
- Als Idealvorstellung gilt, dass Forschung und Praxis „ein gemeinsames soziales System“ begründen. Das „System Forschung“ verschmilzt mit dem „System Praxis“ zu einem „Forschungs- und Praxisfeld“ (Schlömer 2017, 5). Dabei beziehen Forschung und Praxis ihre Handlungen und Kommunikation aufeinander, beide bringen ihre jeweiligen Eigenschaften ein, machen sie einander verständlich und füreinander nutzbar, so dass sich Handlungsmuster wiederholen und stabilisieren können (z. B. durch mehrmalige Erprobungen wissenschaftlich begleiteter Interventionen in der Praxis). Der BBnE-Modellversuch „GEKONAWI“ (BIBB 2016, 8f.) setzt dieses Vorgehen gezielt um.
- Im BBnE-Modellversuch „KoProNa“ erwies es sich als hilfreich, zwischen Forschung (hier: Universitäten) und Praxis (hier: Betriebe unterschiedlicher Branchen) eine „Schnittstelle“ einzurichten. Diese kann für beide Seiten Übersetzungsarbeit leisten, Bedarfe, Ideen oder Probleme sammeln und aufgreifen, Kontakte vermitteln oder Kooperationen initiieren (Florschütz/Müller/Reißland 2017, 5ff.). Im Erfurter Teilprojekt übernimmt diese Funktion der „Kupplerin“ die Referentin für Aus- und Weiterbildung des Allgemeinen Arbeitgeberverband Thüringen (AGVT) und des Verbands der Metall- und Elektro-Industrie Thüringen (VMET). Damit ist neben einem ohnehin sehr breiten Unternehmensnetzwerk und dem Agieren „am Puls der Wirtschaft“ (ebd., 7) auch ein tiefes Verständnis und Interesse für die Themen der Berufsbildung(sforschung) gegeben. Im Teilprojekt Ostwestfalen-Lippe übernimmt die GILDE-Wirtschaftsförderung eine ähnliche Funktion im Modellversuch.
- Ein weiterer Ansatz könnte sein, wissenschaftliche Projektmitarbeiter/-innen an Forschungseinrichtungen regelrecht für die Belange der Praxis zu „schulen“, wie dies stellenweise vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) praktiziert wird (Ganz 2017, 13). Dabei soll es nicht darum gehen, Wissenschaftler zu reinen Dienstleistern für die Praxis zu „erziehen“, sondern ihnen die Anforderungen in der Arbeit mit Betrieben oder anderen Akteuren aus deren Perspektive zu vermitteln. Wenn sich Wissenschaftler/-innen besser in die Praxis hineinversetzen könnten und dadurch eine größere Balance zwischen den Interessenlagen hergestellt würde, könnten zukünftig wechselseitige Lernprozesse noch produktiver angestoßen werden (Ganz 2017, 15). Dies erfordert insbesondere von Nachwuchswissenschaftlern/-innen Mut, sich auf zielgenerierende Forschungsprozesse in flexiblen Praxiskontexten einzulassen.
Die aufgezeigten Ansätze zum Verhältnis von Wissenschaft und Praxis machen deutlich, dass für Innovationspartnerschaften die Rolle und das Selbstverständnis von Forschenden geklärt werden muss. Daher soll im Folgenden sowohl näher auf das damit einhergehende Rollenverständnis von Forschenden als auch Möglichkeiten der Entwicklung eines solchen Verständnisses im Rahmen der Ausbildung eingegangen werden.
5 Gestaltungsorientierung als Lernstrategie in Hochschule und beruflicher Bildung
Wie bereits beschrieben, verbirgt sich hinter gestaltungsorientierter Forschung nicht nur ein forschungsmethodischer Designansatz, sondern vielmehr ein erweitertes Wissenschaftsverständnis, dessen Kern darin besteht, den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu stärken und so ko-produktive Erkenntnis- und Innovationsprozesse zu entfalten (vgl. Weber 2005, 126). Diese Haltung und die Fähigkeit, in Innovationspartnerschaften die eigene Rolle zu definieren, mit Praxis zu interagieren und sich kritisch-konstruktiv einbringen zu können, ergibt sich allerdings nicht zwangsläufig von selbst. Sie muss gelernt und erlebt werden. Vor diesem Hintergrund gilt es, gestaltungsorientiertes Forschen bereits im Rahmen der Ausbildung zu praktizieren, wobei dies grundsätzlich gleichermaßen für die berufliche wie die akademische Ausbildung gilt. Ziel ist es, dass sich die Lernenden bereits frühzeitig mit der Rückwirkung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Praxis sowie mit der Einbettung und der Rolle von Wissenschaft in gesellschaftlichen Prozessen auseinandersetzen.
Das bereits dargestellte Beispiel der Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung kann auch hier zur Verdeutlichung herangezogen werden. Abseits der bildungstheoretischen Frage, inwieweit nachhaltigkeitsrelevante Lerninhalte (als Querschnittsthemen) zu Bestandteilen beruflicher und akademischer Curricula werden sollten, wird im engeren lerntheoretischen Sinne der Aspekt einer nachhaltigkeitsorientierten Gestaltung von Lernarrangements adressiert. Hierbei stehen vor allem didaktische Gestaltungsprinzipien im Zentrum. Es gilt zu überlegen, wie Lernprozesse so gestaltet werden können, dass sie den Prozess des dauerhaften Erwerbs und der Festigung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten ermöglichen und wirksam unterstützen, was mit Blick auf das Lernverhalten die nachhaltige – hier im Sinne von langanhaltende – Wirkung des Gelernten umfasst (vgl. Schüssler 2001, 2; Wildt 2004, 23). Konsequenterweise wird Lernen dementsprechend als selbstgesteuerte Aneignungsbewegung der Lernenden verstanden. Im Zuge dessen werden handlungsorientierte Lernsettings favorisiert, die dem Zusammenwirken von Motivation, Selbstorganisation und Erkenntnistätigkeit Beachtung schenken (Erpenbeck/Heyse 2007, 53).
Die beiden beschriebenen Dimensionen implizieren beinahe zwangsläufig eine dritte Betrachtungsebene. Sowohl die authentische Umsetzung des Leitbildes von (B)BnE als bildungspolitisches Prinzip als auch die Gestaltung langfristig wirksamer Lernarrangements erfordern innovative Bildungsstrukturen. Dabei werden einerseits innerorganisationale Rahmenbedingungen in Bildungseinrichtungen notwendig, die einen höheren Grad an didaktisch-curricularer Selbstbestimmung der Lehrenden zulassen. Damit geht gleichzeitig ein neues Rollenverständnis der Lehrenden als lernbegleitende Impulsgeber/-innen, Kurator/-innen adäquater Lernressourcen und -umgebungen sowie Lernberatende einher (vgl. Vogel 2017, 230). Andererseits gewinnt die inhaltliche und didaktische Verzahnung unterschiedlicher Lernorte (Lernortkooperation) an Bedeutung, um Lernprozesse so zu organisieren, dass sie tatsächlich einen Beitrag zur Gestaltung beruflicher, privater und gesellschaftlicher Handlungssituationen leisten (vgl. Hansis 2004, 452).
Die beschriebenen Anforderungsdimensionen an Gestaltungsorientierung als Lernstrategie lassen sich aus pädagogischer Perspektive zu Leitprinzipien eines konstruktivistischen Lernparadigmas verdichten (vgl. Müller 2011, 149). Lernprozesse sollten demnach so gestaltet sein, dass sie die Selbstwirksamkeit der Lernenden fördern und stärken, Selbsterschließung im Sinne einer selbstregulierten Aneignung von Kompetenzen zulassen sowie auf eine Selbstevaluation der Lernergebnisse durch die Lernenden ausgerichtet sind (vgl. ebd., 149ff.). Dieses didaktische Design lässt sich prinzipiell auf alle Lerninhalte und Bildungsbereiche übertragen. Erst durch die Auswahl nachhaltigkeitsrelevanter inhaltlicher Gegenstandsbereiche wiederum kann – explizit oder implizit – eine Verbindung zu Nachhaltigkeitsthemen hergestellt werden. Anhand der folgenden Beispiele sollen konkrete Umsetzungsmöglichkeiten dargestellt werden. Dabei wird exemplarisch auf Konzepte in der beruflichen und akademischen Bildung eingegangen, obgleich für den schulischen sowie den non-formalen Bereich (Stichwort „Globales Lernen“) eine Reihe von Lernkonzepten und -materialen zur Umsetzung von Bildung für nachhaltige Entwicklung vorliegen.
5.1 Entdeckendes Lernen in der beruflichen Bildung
Entdeckendes Lernen kann zunächst nicht als eindeutig abgrenzbares didaktisches Konzept eingeordnet werden, welches in besonderer Weise den Leitprinzipien des beschriebenen konstruktivistischen Lernparadigmas entspricht. Es steht vielmehr in der Tradition einer Reihe von didaktischen Ansätzen zur Förderung beruflicher Handlungskompetenzen, die aus lerntheoretischer Perspektive einem sozial-konstruktivistischen Paradigma folgen. Beispielsweise stehen forschungs- oder projektorientiertes Lernen für eine sehr ähnliche Auffassung der didaktischen Gestaltung von Lernprozessen. Allen gleich ist, dass sie sich an den Leitlinien für das Design kompetenzorientierter Lernumgebungen in Anlehnung an Reinmann/Mandl (2006, 638) orientieren, nach denen Lehr-Lern-Settings (1) das Zulassen von Eigeninitiative (Lernen als aktiver, selbstgesteuerter, emotionaler Prozess), (2) eine Orientierung an konkreten und realistischen Problemstellungen (Lernen als situativer Prozess), (3) die Berücksichtigung von Vorerfahrungen (Lernen als konstruktiver Prozess) sowie (4) das Vorsehen von Interaktionsmöglichkeiten (Lernen als sozialer Prozess) berücksichtigen sollten. Damit werden im didaktischen Sinne drei wesentliche Dimensionen – Offenheit, Reflexivität, Zukunftsfähigkeit – aus dem Diskurs von Bildung für nachhaltige Entwicklung aufgegriffen, welche die Anforderungen an einen modernen Bildungsbegriff symbolisieren und sich letztlich im Erwerb von Gestaltungskompetenz widerspiegeln sollen (vgl. de Haan 2002, 14). Abgeleitet aus dem bildungstheoretischen Objektivismus, verbirgt sich für de Haan hinter zeitgemäßer Bildung die Offenheit eines Individuums gegenüber neuen Erfahrungen und Wissen (vgl. ebd.). Ferner wird moderne Bildung durch Reflexivität gekennzeichnet, d.h. die Fähigkeit des Einzelnen, Wandlungsprozesse wahrzunehmen und die eigenen Handlungen entsprechend modifizieren zu können.
Ein inhaltlicher Bezug zur Gestaltung nachhaltiger Entwicklungen kann durch die thematische Verbindung von zentralen Ausbildungsinhalten und Nachhaltigkeitsthemen geschaffen werden. Für die berufliche Bildung bieten sich vor diesem Hintergrund Betriebe als Entdeckungsraum für die Sensibilisierung und Bearbeitung von Nachhaltigkeitsfragen an, die im Rahmen der schulischen Ausbildung aufgegriffen und reflektiert werden können. Durch die gegebene Dualität beruflicher Ausbildung ist damit zudem die Forderung nach lernortübergreifenden Kooperationen gegeben. Diesen Ansatz verfolgt beispielsweise der BBnE-Modellversuch NAUZUBI (BIBB 2016, 26). Im Rahmen des explizit auf entdeckendes Lernen ausgerichteten Konzeptes sollen die beteiligten Auszubildenden nachhaltigkeitsrelevante Problemstellungen in ihren Betrieben identifizieren und bewerten sowie daraufhin entsprechende Lösungsmaßnahmen entwickeln, deren Umsetzung begleiten und letztlich evaluieren. Auf Basis der dort entstehenden Konzepte erfolgen eine schul- und betriebsintegrierte Qualifizierung der Auszubildenden sowie die Umsetzung erster Nachhaltigkeits-Audits in den Betrieben (vgl. Pittich 2017, 12ff.). Damit wird der verfolgte Ansatz den Anforderungen an Gestaltungsorientierung als Lernstrategie in der beruflichen Bildung insofern gerecht, als dass er (1) inhaltlich zentrale Nachhaltigkeitsaspekte aufgreift, (2) didaktischen Prinzipien nachhaltigen Lernens Beachtung schenkt und (3) lernortkooperativ angelegt ist.
5.2 Service Learning als hochschuldidaktisches Format
Unter Service Learning wird eine Lehr-Lernform verstanden, bei der Studierende Wissen und Kompetenzen in der Hochschule erwerben und dieses Wissen in der Praxis zum Nutzen sozialer Belange einsetzen (vgl. Reinders 2010, 532). Aus didaktischer Perspektive wird dabei der Gedanke der Kompetenzorientierung insofern aufgegriffen, als dass i.d.R. reale Herausforderungen der Zivilgesellschaft als Lernanlass dienen, deren Bearbeitung in projekt- bzw. forschungsorientierten Lernsettings erfolgt (vgl. Gerholz 2017, 14). Dementsprechend basiert Service Learning im Kern auf den Ideen des problemorientierten und sozial-konstruktiven Lernens. Aus inhaltlicher Perspektive ist der Bezug zu nachhaltigkeitsrelevanten Themenstellungen immanent, da Service Learning Querschnittsthemen adressiert, die sich nicht nur auf den sozialen Sektor, sondern auch den kulturellen, ökologischen oder einen anderen gesellschaftlichen Bereich beziehen können (vgl. Sliwka 2004, 2). Ferner sieht Service Learning eine enge Verzahnung zwischen dem Curriculum des Studienfachs bzw. seiner Teilbereiche einerseits und der praktischen Tätigkeit in der Gemeinde (Community) andererseits vor (vgl. Hofer 2007, 38). Entscheidend ist dabei die iterative Reflexion von wissenschaftlich-theoretischem Wissen und praktischen Erfahrungen, um tatsächlich dem ko-produktiven Gestaltungsanspruch gerecht zu werden. Eine intensiv gelebte Lernortkooperation gilt dafür als Voraussetzung.
Service Learning wird inzwischen an einigen deutschen Hochschulen umgesetzt. Allerdings ist der Grad der Durchdringung des Ansatzes in die Hochschulstrukturen bis dato sehr unterschiedlich ausgeprägt. Häufig engagieren sich lediglich einzelne Lehrende bzw. einzelne Fakultäten in diesem Bereich. Mit dem Zentrum für gesellschaftliches Lernen und soziale Verantwortung (UNIAKTIV) ist es der Universität Duisburg-Essen (UDE) als bisher einzigen deutschen Hochschule gelungen, eine zentrale Einrichtung zur hochschulweiten Verankerung von Service Learning aufzubauen, um Forschung und Lehre mit Gemeinwohlorientierung bzw. gesellschaftlichem Engagement zu verbinden (vgl. Altenschmidt 2017, 2). Dadurch werden nicht nur unterschiedliche Fakultäten der UDE für die Umsetzung von Service Learning als Erweiterung des hochschuldidaktischen Instrumentenspektrums sensibilisiert und erreicht. Vielmehr ist damit der Grundstein dafür gelegt, den Erwerb von fachlichem Wissen und die Übernahme gesellschaftlicher Gestaltungsaufgaben zu verknüpfen und gleichzeitig den Blick der Studierenden für inter- und transdisziplinäre Lösungsansätze zu schärfen.
6 Fazit und Ausblick
Im Vergleich zur empirischen oder verhaltensorientierten Forschung will gestaltungsorientierte Forschung die Welt nicht nur verstehen, sondern auch verändern (vgl. Yetim 2016). Vor dem Hintergrund der „großen Herausforderungen“ (vgl. Wissenschaftsrat 2015) im Zuge von Digitalisierung, demographischem Wandel und einer ernsthaften Umsetzung der Prinzipien nachhaltiger Entwicklung muss es deshalb besser als bisher gelingen, Systeme oder Prototypen zu entwickeln, mit deren Hilfe sich gesellschaftliche Praxis verändern lässt. Diese methodologische Grundidee der Modellversuche, die im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) seit über 40 Jahren gefördert und wissenschaftlich begleitet werden, ist demnach aktueller denn je. Ungeachtet dessen stellt gestaltungsorientierte Forschung bis auf weiteres alles andere als den Mainstream im Wissenschaftssystem dar. Eine vertiefte Debatte darüber, ob und inwieweit sich die Wissenschaft in den „Dienst der Gesellschaft“ stellen darf bzw. sollte, ist vielmehr über alle Disziplinen hinweg ein eher seltenes Phänomen methodologischer Auseinandersetzungen. Der vorliegende Beitrag will deshalb die aus Sicht der Autorinnen und Autoren notwendige Diskussion um diesen Forschungsansatz durch eine (selbst-)kritische Reflexion erneut anstoßen. Gerade die politischen Entwicklungen der letzten Monate, in deren Kern häufig die zwar populistisch aufgeheizte aber deshalb nicht zu missachtende Distanz zwischen den akademischen Eliten und den Gesellschaften thematisiert wurde, erfordert dringend – so unsere Überzeugung – mehr Engagement, den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu stärken.
Aus der reflexiven Betrachtung von Gestaltungsorientierung als Forschungs- und Entwicklungsansatz lassen sich letztlich drei wesentliche Herausforderungen ableiten, denen im Zuge der zukünftigen Ausgestaltung Beachtung geschenkt werden sollte. (1) Gestaltungsorientierung ist nicht nur ein forschungsmethodischer Ansatz, sondern erfordert ein anderes Wissenschaftsverständnis der Forschenden. Diese Haltung ergibt sich nicht zwangsläufig von selbst. Sie muss gelernt und erlebt werden. Dementsprechend bedarf es bereits in der (akademischen) Ausbildung didaktischer Ansätze, die es den Lernenden ermöglicht, die Rückwirkung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die gesellschaftliche Praxis sowie die Einbettung und die Rolle von Wissenschaft in gesellschaftlichen Prozessen zu erfahren. Vor diesem Hintergrund stellen adäquate (hochschul-)didaktische Formate (z. B. forschendes Lernen) eine wesentliche Grundlage dafür dar, zukünftige Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sowie den wissenschaftlichen Nachwuchs für gestaltungsorientierte Forschung zu sensibilisieren und vorzubereiten. (2) Responsive Forschungsdesigns ziehen ein verändertes Rollen- und Selbstverständnis der Forschenden nach sich. Dabei nehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht mehr die Funktion eines kritischen, oftmals distanzierten Wissensproduzenten ein, sondern gestalten und intervenieren als „unbefangener Dialogpartner“ (vgl. Brater/Maurus/Dahlem 2005, 108). Daraus ergeben sich für Forscher/-innen allerdings in zweifacher Hinsicht Spannungsfelder. Einerseits besteht die Gefahr, den „kritischen Blick“ eines auf wissenschaftlichen Qualitätskriterien basierenden methodischen Vorgehens aufzuweichen. Gleichzeitig stellt die aktuelle Konstitution des Wissenschaftssystems die Forschenden vor die Herausforderung, den zentralen Leistungsanforderungen (z. B. Anzahl der Publikationen) nicht mehr in entsprechendem Maß Beachtung schenken zu können. Euler (2003, 40) schlägt daher zurecht eine „konstruktive Komplementarität“ gestaltungsorientierter und empirischer Ansätze vor, um unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze füreinander zu öffnen und produktiv miteinander zu verbinden. (3) Es zeigt sich, dass Wissenschafts-Praxis-Kooperationen keinesfalls Selbstläufer sind, sondern den langfristigen Aufbau von Vertrauensbeziehungen zwischen den beteiligten Akteuren voraussetzen. Dafür bedarf es vor allem Zeit. Dementsprechend wird mit Blick auf die zukünftige Ausgestaltung von Modellversuchs- bzw. Forschungs- und Entwicklungsprogrammen für eine Förderung in zwei aufeinander folgenden Phasen plädiert. Die erste Phase soll dabei der kooperativen Bedarfserschließung (Forschung) und pilothaften Erprobung von Lösungsansätzen (Entwicklung) dienen. Die zweite Phase gilt der kritischen Reflexion und Dokumentation der Interventionsstrategien sowie des nachhaltigen Transfers in die Breite. Insbesondere diesem zweiten Schritt – so der Befund der Auseinandersetzung – wird i.d.R. (systembedingt) zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dies kann einerseits die langfristige Wirksamkeit in der Praxis (und damit das Vertrauen in den Wissenschafts-Praxis- Dialog) konterkarieren und wird andererseits als zentraler Kritikpunkt aus wissenschaftlicher Perspektive herangezogen.
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Zitieren des Beitrags
Hemkes, B./Srbeny, C./Vogel, C./Zaviska, C. (2017): Zum Selbstverständnis gestaltungsorientierter Forschung in der Berufsbildung – Eine methodologische und methodische Reflexion. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 33, 1-23. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe33/hemkes_etal_bwpat33.pdf (14-12-2017).