bwp@ 36 - Juni 2019

Historiografische Berufsbildungsforschung

Hrsg.: Karin Büchter, Anna Lambert, Mathias Götzl & Franz Gramlinger

Editorial bwp@36

Beitrag von Karin Büchter, Anna Lambert, Mathias Götzl & Franz Gramlinger

EDITORIAL zur Ausgabe 36:
Historiografische Berufsbildungsforschung

In der Berufs- und Wirtschaftspädagogik scheint es einerseits einen Konsens darüber zu geben, dass historiografische Berufsbildungsforschung wichtig ist, nicht nur, um die Themen und Gegenstände ihrer gegenwärtigen Forschung in ihrem Gewordensein, ihrer historischen Kontextuiertheit und ihren Funktionen zu verstehen, sondern auch um Selbstvergewisserungsprozesse anzustoßen und damit die disziplinäre Identitätsbildung voranzutreiben. Andererseits ist das „Geschichtsverlangen“ (Kölbl 2004, 16) nach wie vor nicht derart ausgeprägt, dass Historiografien gefordert und besonders unterstützt werden.

Diese Widersprüchlichkeit hat selber eine historische Kontinuität und begleitet die Disziplin seit ihrer Konsolidierung in den 1960er/70er Jahren. Die Anfänge der heutigen Berufs- und Wirtschaftspädagogik als erziehungswissenschaftliche Disziplin liegen in einer Zeit der „realistischen Wendung in der Pädagogischen Forschung“ (Roth 1962), deren offizielles Ziel es war, eine empirisch fundierte Erziehungswissenschaft einzuleiten, die aber gleichzeitig auch als Versuch verstanden werden kann, die ideologischen Hypotheken in allen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen und damit in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik abzulegen. Mit der „Realistischen Wendung“ war so gesehen eine Legitimation geschaffen, „alle Forschungskapazität auf die Lösung [der] aktuellen Fragen zu konzentrieren“ (Stratmann 1970, 825), mit dem Effekt, dass sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogik spätestens Anfang der 2000er Jahre „auf dem Wege zu einer geschichtslosen Disziplin“ (Bruchhäuser 2002, 301) befand.

Dennoch sind in all den Jahren vereinzelt Forschungsarbeiten und Sammelbände zur historiografischen Berufsbildungsforschung publiziert und einschlägige Tagungen durchgeführt worden. Zudem haben immer wieder Einzelpersonen oder kleinere Zusammenschlüsse von Berufs- und Wirtschaftspädagog(inn)en zumindest punktuell die historiographische Forschung gefordert. In diesen Kontexten ist auch die Relevanz „historischer Kompetenz“ (Negt 2010, 232) vor allem in der Lehrerbildung dargelegt worden.

Mit dieser Ausgabe von bwp@ wollten wir ursprünglich Aufsätze versammeln, die einen Einblick in die aktuelle historiografische Berufsbildungsforschung geben. Die geringe Zahl an Beiträgen, die eingereicht worden ist, könnte als Hinweis gedeutet werden, dass dieser Forschungsbereich im Vergleich zu anderen Schwerpunktthemen von bwp@ nach wie vor einen marginalen Stellenwert in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik einnimmt.

Abgesehen davon verdeutlichen die Beiträge einen dringenden Verständigungsbedarf über methodologische und wissenschaftstheoretische Prämissen, methodische und theoretische Zugänge in der historiografischen Berufsbildungsforschung sowie über Recherchen, Systematiken von Analysen und Interpretation von historischen Quellen.

In inhaltlicher Hinsicht belegen alle Beiträge die historische Verflochtenheit der Berufsbildung mit sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen der jeweiligen Zeit, ihre Eingebundenheit in macht- und interessenpolitische Diskurse sowie eine Gleichzeitigkeit von normativer und struktureller Beharrung und Modernisierung. Aus dieser Perspektive bieten alle Beiträge wichtige Impulse für gegenwärtige Auseinandersetzungen mit der Gestaltung künftiger Berufsbildung.

Die uns eingereichten Beiträge haben wir unterschiedlichen Rubriken zugeordnet:

Teil 1: Ausdifferenzierung und Integration

Dietrich Pukas liefert ein umfassendes sozialhistoriografisches Strukturmodell für die makrodidaktische Analyse pädagogischer Institutionen, unter besonderer Berücksichtigung der Berufsschule in der dualen Ausbildung. Auf der Grundlage dieses Modells skizziert er die historische Entwicklung der Berufsschule mit ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionen. Deutlich wird, wie die Berufsschule über unterschiedliche historische Etappen hinweg in politische Interessen- und Machtkonstellationen, gesellschaftliche Problemlagen und Professionalisierungsinteressen eingebunden war.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Philipp Gonon und Lea Hägi steht die Frage, wie sich die Integration der Berufsbildung in der Schweiz in das Bildungssystem vollzogen hat. Anhand der Darstellung von Sichtweisen, Konflikten und Sinnstrukturen einzelner Akteure zeigen sie an zwei Phasen – eine Expansionsphase in den 1960er Jahren und eine Differenzierungsphase in den 1990er Jahren – wie sich anstelle der „gegenseitigen Nichtbeachtung“ und „indifferenten Koexistenz beruflicher und allgemeiner Bildung“ ein Bildungssystem durchgesetzt hat, das beide Bildungswege integriert.

Teil 2: Beharrung und Modernisierung

Aus sozialhistorischer, berufsbildungswissenschaftlicher und intersektioneller Perspektive analysiert Marianne Friese die wechselseitige Verschränkung verschiedener Ungleichheitsstrukturen. Es geht um die Frage, welchen Beitrag weibliche Arbeit zur Transformation des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts geleistet hat. Gezeigt wird die Ambivalenz des Transformationsprozesses, die sich einerseits in einer Modernisierungsfalle (Verberuflichung in Kombination mit Geschlechterhabitus), andererseits in der Ermöglichung von Modernisierung durch weibliche Arbeit niederschlägt.

Christine Betting und Ariane Neu fokussieren die Wirkmacht historischer Hypotheken im aktuellen Modernisierungsprozess von Gesundheitsfachberufen. Sie weisen darauf hin, dass diese Berufe, eingebunden in die historische Entwicklung ihrer Berufsstrukturen, in die Hierarchisierung der Berufswelt infolge professionspolitischer Machtkämpfe auf dem Arbeits- und Berufsmarkt, in die Ausdifferenzierung institutionalisierter Berufsbildung und geschlechtsspezifischer Berufsbildungswege, seit jeher eine Sonderstellung im Berufsbildungssystem eingenommen haben. Ein Merkmal mit historischer Kontinuität sind die begrenzten Aufstiegsmöglichkeiten bzw. die Tatsache, dass es sich bei diesen Berufen um Sackgassenberufe handelt.

Teil 3: Programmatik versus Politik

Angesichts der über 40-jährigen Berufsbildungsberichterstattung geht es im Beitrag von Friedel Schier um die Frage nach den Reaktionen von berufsbildungspolitischen Akteuren, insbesondere der Bundesregierung, auf wechselnde Daten zur Ausbildungssituation. Gezeigt wird, dass trotz der vielen Berufsbildungsberichte über die Jahrzehnte die berufsbildungspolitischen Forderungen der Bundesregierung sich an drei Mustern entlang orientieren, Expansion, Fortsetzung oder Einhaltung von Ausbildungsangeboten. Der Beitrag macht deutlich, wie die Bundesregierung mit vorhandenen Daten Berufsbildungspolitik betreibt, die – so wird angenommen – sich nicht logisch aus den Statistiken ableiten lässt.

Davon ausgehend, dass es an systematischen Untersuchungen über die Entwicklung der beruflichen Bildung im Transformationsprozess der DDR mangelt, die nicht nur Einzelaspekte behandeln, sondern Berufsbildung im ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhang analysieren, zeigen Dieter Hölterhoff und Volkmar Herkner in ihrem Rückblick auf die „Transformation des Berufsbildungssystems in Ostdeutschland, wie die berufliche Bildung in die wirtschaftlichen Umstrukturierungen und sozialen Entwicklungen im Zuge der Transformation der ostdeutschen Länder involviert war. Anhand ausgewählter Einzelaspekte wird die Situation ostdeutscher Berufsbildung Anfang der 1990er Jahre neu bewertet.

Teil 4: Eingeladene Beiträge

Mit dem Lern-und Lebensweg eines Handwerkers im 19. Jahrhunderts stellt Martin Kipp ein Beispiel für in dieser Zeit typische biographische Entwicklungsverläufe im Handwerk vor. Deutlich wird, dass der Weg von der „Wanderschaft“ zur „Meisterschaft“ nicht nur eine fachliche Professionalisierung für das Handwerk bedeutete, sondern gleichzeitig auch eine Vorbereitung für die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Der Beitrag weist darauf hin, dass das Konzept des lebenslangen Lernens bereits gelebt wurde, bevor es als solches für eine demokratische Lerngesellschaft ausformuliert wurde.

Die Liberalisierung des Gewerbes und die Krise der traditionellen Berufserziehung intensivierten seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung für die Sozialisation der Jugend. Vor diesem Hintergrund hat sich zeitlich und regional versetzt das Fortbildungsschulwesen ausdifferenziert, in Großstädten weitaus früher als in ländlichen Regionen. Am Beispiel einer Bezirks-Fortbildungsschule im Fürstentum Waldeck rekonstruiert Martin Kipp die Frühgeschichte einer Fortbildungsschule in einer ländlichen Region zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Weitere Beiträge zu den drei Themenkomplexen werden, wie üblich, in den Updates bis zum Erscheinen der nächsten Nummer im Dezember 2019 diese Ausgabe vervollständigen.

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, beim Redaktionsteam und der Webmasterin für die gute Zusammenarbeit und wünschen unseren Leserinnen und Lesern viel Spaß beim Lesen.

Karin Büchter, Anna Lambert, Mathias Götzl & Franz Gramlinger
im Juni 2019

Literatur

Bruchhäuser, H.-P. (2002): Zur Einführung: Wirtschaftspädagogische Historiographie. In: Eckert, M. et al. (Hrsg.): Bilanzierungen. Schulentwicklung, Lehrerbildung und Wissenschaftsgeschichte im Feld der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Frankfurt a.M., 23-28.

Kölbl, C. (2004): Geschichtsbewusstsein im Jugendalter. Bielefeld.

Negt, O. (2010): Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen.

Roth, H. (1962): Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung. In: ders. (Hrsg.) (1967): Erziehungswissenschaft, Erziehungsfeld und Lehrerbildung (Wiederabdruck). Hannover u.a., 113-125.

Stratmann, K. (1970): Probleme berufspädagogisch-historischer Forschung. In: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, 66. Bd., H. 11, 824-839.

Zitieren des Beitrags

Büchter, K./Lambert, A./Götzl, M./Gramlinger, F. (2019): EDITORIAL zur Ausgabe 36: Historiografische Berufsbildungsforschung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 36, 1-4. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe36/editorial_bwpat36.pdf (24.06.2019).