bwp@ 39 - Dezember 2020

Berufliche Bildung in Europa – 20 Jahre nach Lissabon und am Ende von ET 2020. Entwicklungen und Herausforderungen zwischen supranationalen Strategien und nationalen Traditionen

Hrsg.: Karin Büchter, Karl Wilbers, Hubert Ertl, Dietmar Frommberger & Franz Gramlinger

Auslandsaufenthalte in der Ausbildung – deutsche und französische Perspektiven auf einen transnationalen Forschungsgegenstand

Beitrag von Léna Krichewsky-Wegener
bwp@-Format: Forschungsbeiträge
Schlüsselwörter: Internationale Mobilität – Auslandsaufenthalte – Literature review – Frankreich

Der Anteil der Jugendlichen, die im Rahmen ihrer Berufsausbildung einen Auslandsaufenthalt absolvieren, steigt sowohl in Deutschland als auch in Frankreich in den letzten Jahren kontinuierlich. Als Forschungsgegenstand erfährt dieses Phänomen der internationalen Mobilität ebenfalls einen Bedeutungszuwachs in beiden Ländern. Die hier dargestellte vergleichende Analyse des deutsch- und französischsprachigen Forschungsstandes offenbart einerseits starke Ähnlichkeiten bei den verfolgten Erkenntnisinteressen. Andererseits deckt sie auch Unterschiede bei der Bewältigung methodischer und konzeptioneller Herausforderungen für die empirische Erkundung des Phänomens auf. Im Ergebnis können so Anknüpfungspunkte für eine grenzüberschreitende Rezeption berufspädagogischer Forschungen zu einem Thema identifiziert werden, dessen gesellschaftliche Relevanz bereits an sich den nationalen Kontext übersteigt.

International Mobility in VET - German and French perspectives on a transnational research topic

English Abstract

The proportion of young people who spend time abroad as part of their vocational education and training (VET) has been rising steadily in both Germany and France in recent years. As a research topic, this phenomenon of international mobility is also becoming increasingly important in both countries. The comparative analysis of the German- and French-language current state of research presented here reveals, on the one hand, strong similarities regarding the study objectives and research questions. On the other hand, it also reveals differences in dealing with methodological and conceptual challenges for the empirical investigation of the phenomenon. Based on the results of this bilingual literature review, we discuss the potential for transnational cooperation and mutual enrichment in the field of VET research applied to an object which, itself, has a transnational dimension.

1 Problembeschreibung und Forschungsfragen

1.1 Auslandsaufenthalte in der Berufsbildung – ein Forschungsgegenstand mit zunehmender Relevanz

Auslandsaufenthalte sind in der Berufsbildung kein neues Phänomen. Die Wanderschaft führte schon im Spätmittelalter junge Handwerker und Kaufmannsgesellen zur Vervollkommnung ihrer Künste und zur persönlichen Reifung in die Fremde. Diese Tradition lebt in der Walz und in der Tour de France des Compagnons du Devoir, die auch ein Auslandsaufenthalt außerhalb Frankreichs vorsieht, fort (vgl. Waldauer 2005 und Bertrand u.a. 2017, 62). Darüber hinaus nimmt eine neue Form der internationalen Mobilität in der Berufsbildung in Europa seit den 1990er Jahre kontinuierlich an Bedeutung zu. Dabei handelt es sich um zeitlich begrenzte und in der beruflichen Ausbildung integrierte Lernaufenthalte, die wahlweise in einer Bildungseinrichtung oder einem Praktikumsbetrieb im Ausland stattfinden können. Diese Auslandsaufenthalte, die von einer gänzlich im Ausland absolvierten Ausbildung zu unterscheiden sind, können im Rahmen eines Förderprogramms wie Erasmus+ stattfinden oder von den Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben sowie dem Lernenden selbst organisiert und finanziert sein. Sie unterscheiden sich von touristischen Reisen hauptsächlich durch ihre bildungsbezogene Zielsetzung und den institutionellen Rahmen, in dem sie eingebettet sind und der beispielsweise in Deutschland durch das Berufsbildungsgesetz (BBiG) vorgegeben wird (vgl. Breton 2017 und Krichewsky 2016). Der Bedeutungszuwachs dieser Mobilitätsform äußert sich in steigenden Mobilitätsraten unter Auszubildenden und Berufsschüler/innen, beispielsweise von 3,0% in 2009 zu 5,3% in 2017 für Deutschland (Friedrich und Körbel 2011 und Köll 2018). Für das Jahr 2025 wird im Rahmen der „European Skills Agenda“ eine Mobilitätsrate in der Berufsbildung von 8% angestrebt, nachdem die Strategie „Education and Training 2020“ zuvor die Zielmarke auf 6% gesetzt hatte (Europäische Kommission, 2020). Darüber hinaus äußert sich das politische Gestaltungsinteresse zu diesem Thema ebenfalls in Reformbemühungen zur Förderung der europäischen Mobilität in der Berufsbildung, insbesondere zur besseren Anerkennung der im Ausland erzielten Lernergebnisse (vgl. Scheel 2010 und Frommberger 2011).   

Als Forschungsgegenstand erfährt das Phänomen der internationalen Mobilität in der Berufsbildung ebenfalls eine wachsende Aufmerksamkeit. 1974 stellte Breitenbach auf Grundlage einer Literaturrecherche in den USA und Europa zur „Auslandsausbildung“ fest: „Die meisten Untersuchungen beziehen sich auf Universitätsstudenten“ (Breitenbach 1974, 21). Zehn Jahre später konnte Danckwortt (1984) in seiner Literaturübersicht nur zwei Werke im deutschsprachigen Raum zu berufsbildenden Auslandsaufenthalten identifizieren. 2010 präsentierte hingegen Wordelmann in seiner Darstellung zum Stand der Forschung zur internationalen Mobilität bereits eine Reihe Evaluationsberichte und wissenschaftliche Untersuchungen, insbesondere zu den institutionellen Rahmenbedingungen und der pädagogischen Gestaltung von Auslandsaufenthalte. Nichtsdestotrotz konstatierte er noch: „Insgesamt fehlt es aber an aussagekräftigem Datenmaterial zur Mobilität in der Berufsbildung“ (Wordelmann 2010, 6). Dementsprechend mahnte er: „Vor dem Hintergrund der bildungspolitischen und berufspraktischen Entwicklungen muss sich auch die berufs- und wirtschaftspädagogische Forschung weiter internationalisieren.“ (ebd., 23). Wieder zehn Jahre später ist ein Korpus von unterschiedlichen Forschungsarbeiten vorhanden, die sich vier Aspekten der internationalen Mobilität in der Berufsbildung widmen (vgl. Krichewsky-Wegener 2020):

  • dem Umfang und den Determinanten der internationalen Mobilität in der Berufsbildung,
  • den Ziele und Funktionen der internationalen Mobilität in der Berufsbildung,
  • den institutionellen und ordnungspolitischen Rahmenbedingungen und
  • den Wirkungen internationaler Mobilität in der Berufsbildung.

Die Relevanz des Forschungsgegenstandes ist gemäß der transnationalen Natur des Phänomens nicht auf Deutschland begrenzt. Vielmehr zeigen die Literaturübersichten von Wordelmann (2010) und Krichewsky-Wegener (2020) deutlich, dass auch jenseits der deutschen Grenzen in den letzten Jahren verschiedene Arbeiten zum Thema publiziert wurden. Insbesondere zu den Fragen der Wirkung internationaler Berufsbildung, beispielsweise auf die Kompetenzen und Berufspläne der Lernenden, liegen verschiedene Dissertationen und öffentlich beauftragte Studien in französischer Sprache vor.

Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, den deutschsprachigen und den französischsprachigen Forschungsstand zu den Wirkungen von Auslandsaufenthalten in der Berufsbildung systematisch zu erheben und anhand folgender Fragen vergleichend zu analysieren:

  1. Welche markanten deutsch- und französischsprachigen Publikationen gab es zur Untersuchung der Wirkungen internationaler Mobilität in der Berufsbildung in den vergangenen zwanzig Jahren?
  2. Welche Erkenntnisinteressen, Fragestellungen, fachwissenschaftlichen sowie theoretischen und methodischen Bezüge bestehen in den jeweiligen Arbeiten?
  3. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten lassen sich in der deutsch- und französischsprachigen Literatur zu den Wirkungen internationaler Mobilität Auszubildender identifizieren?

Der Fokus auf die Wirkungsebene der Mobilitätsforschung ist zum einen in pragmatischen Abwägungen zwischen wünschenswerter Breite und angestrebter Tiefe der Untersuchung für die vorliegende Publikation begründet. Zum anderen können aufgrund vorangegangener Arbeiten auf dieser Ebene einerseits die größten Unterschiede in der Herangehensweise und andererseits die größten Überschneidungen in den Erkenntnisinteressen erwartet werden (vgl. Krichewsky-Wegener 2020).

1.2 Forschungsstand zur Mobilität in Deutschland und Frankreich: Sinn und Wege des Vergleichs

Systematische Reviews des Forschungsstandes sind in der Berufsbildungsforschung trotz eines zunehmenden Bedarfs nach Wissenssynthesen und Strukturierung laut Gessler und Siemer (2020) wenig verbreitet. Während es sowohl in Deutschland als auch in Frankreich zur guten wissenschaftlichen Praxis gehört, englischsprachige Literatur in der eigenen Forschung zu rezipieren und einzubeziehen, ist die Einbeziehung der Forschung aus anderen Sprachräumen außer bei vergleichenden Analysen oder länderbezogenen Forschungsfragen hingegen selten. Diesen beiden Defiziten soll mit der vorliegenden Publikation versuchsweise und für das überschaubare Feld der Mobilitätsforschung begegnet werden. Für eine vergleichende Analyse des französischsprachigen Forschungstandes zur internationalen Mobilität sprechen aus Sicht der deutschen Berufsbildungsforschung mindestens drei Gründe:

  • Die Relevanz des Phänomens der internationalen Mobilität in der Berufsbildung hat auch in Frankreich die Forschung hierzu befeuert, beispielsweise in Form von Forschungsaufträgen der Agentur für Europa und der Gründung des peer-reviewed Journal of International Mobility im Jahr 2013.
  • Langjährige deutsch-französische Mobilitätsprogramme, durchgeführt mit großer politischer Unterstützung durch die deutsch-französische Agentur für den Austausch in der beruflichen Bildung ProTandem, führen deutsche und französische Akteure der Berufsbildung noch zusätzlich zu den europäischen Programmen zusammen. Dieser Austausch auf Praxisebene kann von einem stärkeren Austausch auf Forschungsebene profitieren.
  • Die Berufsbildungsforschung, die in Frankreich wie in vielen Ländern Europas wenig institutionalisiert ist und deshalb auch noch stark zwischen verschiedenen Disziplinen fragmentiert bleibt (insb. Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Erziehungswissenschaften), gewinnt unter dem Einfluss anhaltend hoher Jugendarbeitslosigkeit seit Jahren an Bedeutung und Sichtbarkeit.

Für die Durchführung der Untersuchung wurden die klassischen Schritte eines Reviews durchschritten: Literaturrecherche, kriterienbasierte Selektion der zur Auswertung bestimmten Studien, kategorienbasierte Inhaltsanalyse, Interpretation der Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen.

Die Literaturrecherche wurde aus Effizienzgründen auf den Zeitraum 2000-2020 begrenzt. Dieser Zeitraum ergibt sich aus den Ergebnissen einer 2013 durchgeführten aber nicht veröffentlichten Recherche der Autorin, die für den Zeitraum bis 2000 nur sehr vereinzelte Treffer ergeben hatte. Durch die zeitliche Begrenzung wird die Anzahl der nicht relevanten aber zu prüfenden Treffer reduziert. Für die Suche wurden Begriffspaare aus dem Komplex „Berufsbildung“ und „Auslandsaufenthalt“ gebildet, so dass in beiden Sprachen jeweils 6 Suchanfragen pro Datenbank getätigt wurden.

In beiden Ländern wurden spezialisierte Literaturdatenbanken genutzt, in denen Artikel aus Fachzeitschriften und Buchbeiträge aus den Sozialwissenschaften bzw. speziell aus den Erziehungswissenschaften enthalten sind. Zusätzlich wurde in Frankreich die Möglichkeit genutzt, über das Portal www.theses.fr relevante Dissertationen zu suchen.

Tabelle 1:     Kriterien der Literatursuche

 

deutschsprachig

französischsprachig

Datenquellen

www.fachportal-paedagogik.de

https://lit.bibb.de/

https://hal.archives-ouvertes.fr

Cairn.info

www.theses.fr

Suchwörter zum Komplex „Berufsbildung“

Berufsbildung, Auszubilden*

Formation, apprenti

Suchwörter zum Komplex „Auslandsaufenthalt“

Auslandsaufenthalt, Auslandspraktik*, „internationale Mobilität“

„séjour à l’étranger“, „Stage à l‘étranger”, “mobilité internationale”

Zeitraum

2000-2020

2000-2020

Als Beispiel für die Trefferquote bei den Rechercheergebnissen kann das Fachportal Pädagogik aufgeführt werden, dessen Ergebnisse auch die Suche in der Library of Congress, ERIC und EBSCOhost ebooks einbeziehen. Insgesamt wurden mit den verschiedenen Suchwörterkombinationen 302 Titel gefunden. Nach Abzug der Dubletten blieben 210 Titel übrig, die nach qualitativen Kriterien gefiltert werden mussten.

Tabelle 2:     Treffer im Fachportal Pädagogik (www.fachportal-pädagogik.de), 02.09.2020

FIS Portal

Berufsbildung

Auszubilden*

Summe

Auslandsaufenthalt

75

53

128

Auslandspraktik*

33

22

55

"internationale Mobilität"

106

13

119

Summe

214

88

302

Zur Validierung und Vervollständigung der Suchergebnisse wurde nach dem Schneeballverfahren das Literaturverzeichnis der im ersten Schritt identifizierten und selektierten Publikationen ausgewertet, um weitere noch nicht identifizierte Veröffentlichungen zu finden. Im Ergebnis wurden sechs deutschsprachige und sechs französischsprachige Publikationen für die Analyse festgehalten, die sich zumindest substanziell mit den Wirkungen internationaler Mobilität von Lernenden in der Berufsbildung befassen.

Tabelle 3:     Ausgewählte Studien zur internationalen Mobilität in der Berufsbildung

Deutschland

Autor (Erscheinungsjahr)

Titel [eigene Übersetzung]

Typus

Seiten

Becker u.a. (2012)

Grenzüberschreitende Mobilität bei sozial benachteiligten Jugendlichen in der Berufsausbildung. Kompetenzerwerb und besonderer Nutzen der Auslandserfahrung

Evaluation

99

Friedrich und Körbel 2011

Verdeckte Mobilität in der beruflichen Bildung

Auftragsforschung

120

Krichewsky-Wegener (2020)

Lernen durch Auslandsaufenthalte in der Berufsausbildung. Eine empirische Untersuchung zum Lernpotenzial internationaler Mobilität

Dissertation

350

Kröll (2018)

Auslandsaufenthalte in der Berufsbildung 2011

Auftragsforschung

152

Scheel (2010)

Förderung grenzüberschreitender beruflicher Mobilität in Europa

Dissertation

508

Wern (2019)

Interkulturelle Sensibilität und Persönlichkeitsmerkmale. Eine empirische Untersuchung zu Auslandsaufenthalten von Auszubildenden

Dissertation

282

Frankreich

Autor (Erscheinungsjahr)

Titel [eigene Übersetzung]

Typus

Seitenzahl

Brissot (2019)

L’analyse de la mobilité comme espace de transition biographique et de reconfiguration identitaire : le cas des post apprentis dans un dispositif du programme Erasmus + [Die Analyse der Mobilität als Raum der biographischen Transition und Neuordnung der Identität: der Fall der Auszubildenden nach dem Berufsabschluss in einem Mobilitätsprogramm von Erasmus+]

Dissertation

517

Calmand u.a. (2016)

Expériences à l’étranger en cours d’études et insertion : des liens complexes, pour quelle plus-value ? [Auslandsstudium und Beschäftigung: komplexe Zusammenhänge, für welchen Mehrwert ?]

Artikel in Fachzeitschrift (peer reviewed)

20

Céreq (2014)

Mobilité européenne et valorisation de l’apprentissage. Etude d’impact nationale. [Europäische Mobilität und Anerkennung der Lernergebnisse. Nationale Wirkungsstudie]

Auftragsforschung

47

Dupuis u.a. (2012)

Actions innovantes pour développer la mobilité internationale des jeunes en apprentissage et en mission locale [Innovative Maßnahmen zur Förderung der internationalen Mobilität von Jugendlichen in der Ausbildung und in Arbeitsmarktprogrammen]

Evaluation

178

Nordberg (2006)

Un séjour professionnel à l’étranger: La construction d’une identité interculturelle. [Ein beruflicher Auslandsaufenthalt: Die Konstruktion einer interkulturellen Identität]

Masterarbeit

130

Tourmen (2014)

Un cadre pour valoriser les apprentissages informels issus de l’expérience international [Ein Rahmen zur Anerkennung der informellen Lernergebnisse aus der Auslandserfahrung]

Artikel in Fachzeitschrift (peer reviewed)

30

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden die Trefferlisten von Dubletten bereinigt und die Ergebnisse wurden auf der Grundlage folgender Kriterien einem Selektionsprozess unterzogen:

  • Thematisch: die Publikation beschreibt oder analysiert die Wirkungen von Auslandsaufenthalten für Lernende in der Berufsbildung. Wenn mehrere Publikationen eines Autors bzw. einer Autorin auf der gleichen Datengrundlage beruhen, wurde die umfassendere Publikation für die Analyse herangezogen.
  • Methodisch: es wurden nur empirisch basierte Untersuchungen berücksichtigt, wobei sowohl quantitative als auch qualitative Forschungsdesigns in die Analyse einbezogen wurden.
  • Qualitätskriterien: neben hochschulischen Qualifizierungsarbeiten (Masterarbeiten und Dissertationen) wurden Artikel in Fachzeitschriften und Monographien sowie Buchbeiträge berücksichtigt. Auftragsforschung wurde nur in Ausnahmefällen einbezogen, wenn das methodische Vorgehen offengelegt und begründet war.

Die verbliebenen Veröffentlichungen wurden im Hinblick auf folgende Aspekte analysiert:

  • Leitendes Erkenntnisinteresse,
  • Forschungsfragen,
  • Fachwissenschaftliche Verortung,
  • Theoretische Bezüge,
  • Methodische Vorgehensweise,
  • Hauptergebnisse.

Die Ergebnisse der Analyse werden im folgenden Abschnitt dargelegt.

2 Ergebnisse des Vergleichs des Forschungsstandes zur internationalen Mobilität in der Berufsbildung in Deutschland und Frankreich

2.1 Überblick zu den Forschungsbeiträgen nach Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen

Wird die internationale Mobilität als eine Lernhandlung verstanden, wie es in der behandelten Literatur zumindest implizit der Fall ist und wie sich auch theoretisch fundiert argumentieren lässt (vgl. Kristensen 2004), so befassen sich die hier untersuchten Forschungsbeiträge allesamt mit dem Produkt bzw. mit den Wirkungen dieser Handlung. Eine mögliche Gruppierung der Studien kann entsprechend in Anlehnung an das vier-Ebenen Modell von Kirckpatrick (2010) vorgenommen werden. Die von ihm unterschiedenen vier Wirkungsebenen von Lernhandlungen können für Auslandsaufenthalte wie folgt spezifiziert werden:

  1. Reaktion (Akzeptanz, Zufriedenheit, Nützlichkeit): Wie reagieren die Lernenden auf den Auslandsaufenthalt? Wie beurteilen sie dessen Nutzen und wie zufrieden sind sie mit den Ergebnissen?
  2. Lernen (Lernerfolg, subjektiv, objektiv): Wie haben sich die Kompetenzen, die Einstellungen, Kenntnisse und Fähigkeiten der Lernenden durch den Auslandsaufenthalt verändert?
  3. Verhalten (Lerntransfer): Wie haben sich das Verhalten und die Motivation der Lernenden am Arbeitsplatz, in der Berufsschule oder in Bezug auf den Berufseinstieg verändert?
  4. Ergebnisse (Effizienz): Welche Ergebnisse erzielt die internationale Mobilität beispielsweise in Bezug auf den Übergang in den Arbeitsmarkt, die spätere Arbeitsmobilität, oder die Karrieremöglichkeiten?

Eine Zuordnung der Studien zu den einzelnen Ebenen kann nur im Sinne einer Schwerpunktbestimmung erfolgen, da viele Studien mehr als eine dieser Ebenen adressieren. Insgesamt können drei Gruppen von Studien gebildet werden.

Eine erste Gruppe von Studien legt den Schwerpunkt auf die beiden ersten Wirkungsebenen. Dies sind in Deutschland Becker u.a. (2012), Friedrich und Körbel (2011), Kröll (2018) und Scheel (2010), in Frankreich vor allem Dupuis u.a. (2012). Damit handelt es sich auf beiden Seiten der Grenze mit der Ausnahme der Dissertation von Scheel (2010) in allen Fällen um Auftragsstudien bzw. um Evaluationen. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Beschreibung der Lerneffekte und des Nutzens internationaler Mobilitätsprogramme. Bei Becker u.a. (2012) werden kausale Zusammenhänge zwischen einem Auslandsaufenthalt und der Entwicklung bestimmter Kompetenzen und Nutzenwahrnehmungen mittels Vergleichsgruppen plausibilisiert. Die übrigen Studien verfolgen kein über die Beschreibung hinausgehendes Erkenntnisinteresse.

Wie Becker u.a. (2005) zielt auch Wern (2018) auf den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen der internationalen Mobilität und Lerneffekten, wobei er interkulturelle Sensibilität fokussiert. Hierbei unterscheidet er sich jedoch von den übrigen Studien durch den Rückgriff auf Persönlichkeitstests. Anders als die vorhergenannten Autoren betrachtet er auch nicht die Zufriedenheit oder den wahrgenommenen Nutzen der Mobilitätsmaßnahme.

Eine zweite Gruppe von Studien legt den Schwerpunkt auf die zweite und dritte Wirkungsebene. Brissot (2019), Krichewsky-Wegener (2020), Nordberg (2006) und Tourmen u.a. (2014) zielen darauf ab, Lerneffekte zu beschreiben und zu verstehen, wobei sie im Rahmen biographischer Forschungsansätze auch den Transfer des Gelernten in die neue Lebensphase nach der Rückkehr mit in den Blick nehmen und insbesondere die transformative Wirkung des Auslandsaufenthaltes auf die Identität und die beruflichen Pläne der Teilnehmenden in den Blick nehmen.

Eine dritte Gruppe von Studien erkundet die Effekte der Mobilität auf den Berufseinstieg und die berufliche Entwicklung der Teilnehmenden. Es handelt sich um Céreq (2014) und Calmand u.a. (2016), wobei letztere Studie auf den Ergebnissen der regelmäßig vom Centre d’étude et de recherches sur les qualifications (Céreq) durchgeführten Befragung Enquête Génération beruht. Anders als einige Studien der ersten Gruppe, die den erwarteten Nutzen der Mobilität für künftige Berufschancen erheben (z.B. Kröll 2018 und Becker u.a. 2012), werden hier Effekte der Mobilität mittels indikatorenbasierter Längsschnittuntersuchungen untersucht.

Insgesamt verfolgen die Studien aus beiden Ländern ähnliche Erkenntnisinteressen. Nur in Bezug auf die vierte Wirkungsebene des Modells sind ausschließlich französische Studien gefunden worden. Diese wurden von einer dem Bildungsministerium und dem Arbeitsministerium untergeordneten öffentlichen Forschungseinrichtung durchgeführt, dem Céreq, die sich der Erforschung des Themenkomplexes Arbeit, beruflicher Bildung und Beschäftigung widmet. Allgemein verortet das Céreq seine Arbeit auf den Gebieten der Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Bei den übrigen Arbeiten, ausgenommen den Evaluationen, deren fachwissenschaftliche Zuordnung nicht eindeutig ist, handelt es sich um Werke, die als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, Fachbeiträge oder als Auftragsforschung eindeutig den Erziehungswissenschaften zugeordnet werden können, in Deutschland speziell der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.

2.2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten der theoretischen Bezüge und methodischen Herangehensweisen

Im politischen und gesellschaftlichen Diskurs über Mobilität werden Auslandsaufenthalten bestimmte Wirkungen zugesprochen, beispielsweise auf die persönliche Entwicklung, die Beschäftigungsfähigkeit und die Kompetenzen der Lernenden (vgl. Kristensen 2004, Fahle 2018). Die Theorie stützt solche Vorstellungen, indem sie die Spezifika des Lernens im Ausland hervorhebt und Wirkungen beispielsweise auf die Entwicklung sprachlicher, interkultureller und fachlicher Kompetenzen vorhersagt (vgl. zum Beispiel Kristensen 2004 und Borch u.a. 2003). Zur Erforschung dieser Wirkungen greifen die hier untersuchten Studien sowohl auf quantitative als auch auf qualitative Methoden zurück, wobei einige auch im Sinne einer Triangulation einen Methodenmix anwenden.

2.2.1 Mobilitätsforschung im quantitativen Paradigma

Eine besondere Herausforderung zur empirischen Untersuchung der Mobilität in der Berufsbildung mittels quantitativer Instrumente liegt in der Bildung repräsentativer Stichproben. Da weder in Deutschland noch in Frankreich eine Meldung der Auslandsaufenthalte im Rahmen der nationalen Bildungsstatistik vorgesehen ist, bedarf es konsequenter Mittel für die Identifizierung und Befragung mobiler Lernenden, sofern die Stichprobe nicht auf ein bestimmtes Förderprogramm begrenzt sein soll. Vor diesem Hintergrund sind in beiden Ländern von der jeweiligen nationalen Agentur für Erasmusprogramme große Befragungen mobiler Auszubildender und Berufsschüler/innen beauftragt worden. In Deutschland sind es die Studien von Friedrich und Körbel (2011) sowie von Kröll (2018). Deren primäres Anliegen lag in der Quantifizierung der Mobilität in der Berufsbildung, wobei auch eine Befragung zum Nutzen und den subjektiven Lerneffekten der Mobilität durchgeführt wurde. Die Besonderheit dieser beiden aufeinander aufbauenden Studien liegt zum einen in der Bildung einer repräsentativen Stichprobe mobiler Auszubildender und Berufsschüler/innen. Dies wurde durch eine Kontaktaufnahme zu den Lernenden über die Abgangsklassen der Berufsschulen erreicht. Insgesamt liegen bei Friedrich und Körbel (2011) 502 Fragebögen von mobilen Lernenden zu Auswertung vor, bei Kröll (2018) sind es 624 Fragebögen von mobilen Lernenden und 5.023 von nicht-mobilen Lernenden. Mit der Bildung einer Vergleichsgruppe konnte Kröll (2018) insbesondere die Auswirkung der Mobilität auf die Einschätzung des Nutzens von Auslandsaufenthalten erheben. Neben den Lernenden wurden in beiden Studien auch Ausbildungsbetriebe und berufliche Schulen befragt. Mit einem etwas anders gelagerten Erkenntnisinteresse wurde vom Céreq ebenfalls über die Vermittlung von Ausbildungszentren eine repräsentative Stichprobe von 908 mobilen Auszubildenden für eine von der Agence Erasmus+ France beauftragte Studie gebildet. Zugleich wurde ein Befragungsmodul zur Auslandserfahrung in die Längsschnittuntersuchung Enquête Génération integriert, die regelmäßig vom Céreq durchgeführt wird. Somit konnten 2013 und 2017 rund 33.000 Junge Menschen, die 2010 ihre (berufliche oder hochschulische) Ausbildung beendet haben, befragt werden. Auf den Ergebnissen dieser Umfrage aus dem Jahr 2013 beruhen auch die Analysen von Calmand u.a. (2016). Durch die große Stichprobe sind insbesondere Vergleiche zur Wirkung der Mobilität zwischen Lernenden in der Berufsbildung und in der Hochschulbildung möglich. Die Datensätze der hier genannten Studien werden durch das Céreq bzw. vom Bundesinstitut für Berufsbildung für an Sekundäranalysen interessierten Wissenschaftler/innen zur Verfügung gestellt.

Die übrigen hier betrachteten quantitativen Studien beruhen auf wesentlich kleineren Stichproben, die aus Teilnehmenden an bestimmten Mobilitätsprojekten oder Förderprogrammen bestehen. Aus methodischer Sicht stechen zwei Studien durch ihr elaboriertes und theoretisch fundiertes Forschungsdesign hervor: Becker u.a. (2012) und Wern (2018). Insbesondere zeichnen sich diese beiden Studien durch den Aufbau einer Kontrollgruppe zur Isolierung der Effekte internationaler Mobilität auf Kompetenzen bzw. auf interkulturelle Sensibilität sowie durch die theoretische Fundierung der Erhebungsinstrumente zur Operationalisierung ebendieser Konzepte aus. Becker u.a. (2012) vergleichen zwei Gruppen von Jugendlichen in der außerbetrieblichen Berufsausbildung miteinander, von denen eine ein Auslandspraktikum (n=151) und die andere ein Praktikum im Inland (n=259) absolviert haben. Außerdem wurden auch Ausbilder/innen und Sozialpädagog/innen sowie Träger von Mobilitätsprojekten qualitativ befragt. Für die Erhebung der Lerneffekte wurde unter Anleitung von Prof. Erpenbeck ein Verfahren entwickelt, bei dem die Jugendlichen zunächst gebeten werden, bis zu drei positive und drei negative Erlebnisse aus ihrem Praktikum zu beschreiben. Anschließend sollen sie das positivste und negativste Erlebnis auswählen und anhand von zehn Fragen beantworten, inwiefern diese Erlebnisse sie befähigt haben, eine Handlung auszuführen oder neue Eigenschaften zu gewinnen. Damit wird die Reflexionsarbeit der Befragten angeregt und die Bewusstwerdung implizit gebliebener Lerneffekte angestoßen. Die Fragen bilden Teilkompetenzen ab, die vier Kompetenzfeldern zugeordnet sind (personale Kompetenz, Aktivitäts- und Handlungskompetenz, sozialkommunikative Kompetenz und Fach- und Methodenkompetenz). Speziell auf das Ausland gerichtete Kompetenzen, wie beispielsweise Sprachkompetenzen oder interkulturelle Kompetenzen, werden nicht abgefragt. Damit ist die Vergleichbarkeit zwischen beiden Praktikumsorten gewahrt, jedoch wird der besondere Mehrwert des Auslandspraktikums gegenüber einem Inlandspraktikum nicht sichtbar, sei es beispielsweise im Bereich der Fremdsprachenkompetenzen oder der interkulturellen Kompetenz. Erst eine qualitative Analyse der geschilderten Erlebnisse könnte möglicherweise mit diesem Erhebungsdesign die verschiedenen Ausprägungen der einzelnen Teilkompetenzen aufdecken.

Dem Einfluss von Auslandsaufenthalten auf interkulturelle Sensibilität widmet sich hingegen die Dissertation von Wern (2018). Dieser befragte 208 Auszubildende, die im Rahmen ihrer beruflichen Ausbildung einen Auslandsaufenthalt absolviert haben, sowie 468 nicht-mobile Auszubildende zum Vergleich. Er setzte ein Messinstrument zur Erfassung interkultureller Sensibilität von Schneider (2005) ein sowie die Kurzskala zur Erfassung der „Big-Five“-Persönlichkeitsdimensionen nach Rammstedt et al. (2004). Diese Arbeit zeichnet sich durch die ausgiebige Diskussion der Herausforderungen und ausgewählter Lösungsansätze zur Operationalisierung des Konstruktes der interkulturellen Kompetenz unter Berücksichtigung insbesondere der englischsprachigen Literatur aus. Im Feld der Berufsbildungsforschung konstatiert der Autor, „dass in einer Vielzahl von Arbeiten stark auffällt, dass eine tiefer gehende theoretische Begründung bezüglich der Konstruktoperationalisierung fehlt“ (Wern 2018, 26). In diesem Befund sind auch die Studien von Friedrich und Körbel (2011) sowie Kröll (2018) inkludiert. Damit füllt diese Arbeit eine Lücke aus und setzt neue Maßstäbe zur Untersuchung der Lerneffekte internationaler Mobilität mit quantitativen Methoden in der Berufsbildungsforschung.

2.2.2 Mobilitätsforschung im qualitativen Paradigma

Qualitative Arbeiten zur Untersuchung der Lerneffekte von Auslandsaufenthalten in der Berufsbildung nehmen ihren Ausgang in der Feststellung der Grenzen, die einem quantitativen Erhebungsverfahren bei der Sichtbarmachung informell erworbener Kompetenzen innewohnen. Insofern als sich Auslandserfahrung nicht auf Situationen formalen Lernens reduzieren lässt, sondern im Gegenteil alle Lebenssphären umfasst, stehen die hier analysierten Studien vor der Herausforderung, einen methodischen und theoretischen Zugang zu den Ergebnissen teilweise impliziten Lernens zu finden.

In der von Dupuis (2012) durchgeführten Evaluation eines Förderprogramms des französischen Bildungsministeriums werden die Ergebnisse einer standardisierten Befragung mit 246 Teilnehmenden an Mobilitätsmaßnahmen (vor und nach dem Auslandsaufenthalt) mit den Ergebnissen von 301 qualitativen Einzelinterviews und 37 Fokusgruppen trianguliert, um die Lerneffekte eines Auslandsaufenthaltes für Jugendliche in der beruflichen Ausbildung sowie Jugendliche ohne Ausbildungsplatz zu untersuchen. Die Fülle an Datenmaterial, die dieser Studie zugrunde liegt, ist einzigartig. Leider enthält der veröffentlichte Evaluationsbericht trotz der sehr detaillierten Beschreibung und kritischen Reflexion des Evaluationsprozesses keine Darstellung des theoretischen Rahmens für die Konstruktion der Erhebungsinstrumente. Für die Interpretation der Ergebnisse greifen die Autoren auf die theoretischen Überlegungen Kristensens (2001) zum Lernen in Auslandsaufenthalten zurück. Damit wird das konstruktivistische Lernverständnis deutlich, das die Studie prägt. Kristensen lehnt seine normative Theorie an die Konzepte des „akkomodativen Lernens“ nach Piaget (1947) bzw. des „transformativen Lernens“ nach Mezirow (2000) an. In der Darstellung der Ergebnisse fällt das Gewicht der qualitativen Daten im Vergleich zu den quantitativen Daten bei der Analyse auf, insofern als die Ergebnisse quantitativer Umfragen eher zur Illustration qualitativ gewonnener Befunde denn als Ausgangspunkt der Analyse dienen. Wie und mit welchen Einschränkungen es den Autoren gelingen kann, die Wirkungen transformativen Lernens empirisch sichtbar zu machen, wird von den Autoren jedoch nicht erläutert.

Demgegenüber stellen sich die Arbeiten von Tourmen u.a. (2014), Brissot (2019) und Krichewsky-Wegener (2020) dieser Herausforderung der Sichtbarmachung informellen Lernens mit verschiedenen Methoden. Tourmen u.a. (2014) knüpfen an berufspädagogische Forschungsarbeiten zur Ermittlung und Anerkennung informell erworbener Kompetenzen an, die im Zuge der Einführung der Validation des Acquis de l’Experience [Validierung der Ergebnisse von Erfahrungslernen] in das französische Berufsbildungssystem entwickelt wurden (Bouder und Kirsch 2011). Der gewählte Ansatz der didactique professionnelle [berufliche Didaktik] nach Pastré u.a. (2006) wird mit der Methode des entretien d’explicitation nach Vermersch (1994) verknüpft. Letzteres bietet ein Interviewvorgehen, das die detaillierte Nacherzählung von konkreten (Arbeits)Situationen zum Ausgangspunkt für die Verbalisierung und Reflexion von implizitem Wissen nimmt. Die Rolle des Interviewers besteht unter anderem darin, die befragte Person zu ermuntern, ihre Sinneseindrücke zu erinnern und sich damit mental noch besser in die geschilderte Situation hineinzuversetzen. Die Autorengruppe führte qualitative Interviews mit 17 Jugendlichen durch, die im Rahmen ihrer landwirtschaftlichen Berufsausbildung 1-3-monatige Auslandspraktika absolviert hatten. In den Interviews wurden die Befragten gebeten, chronologisch zu erzählen und immer wieder auf einzelne Situationen zu fokussieren, um diese so detailliert wie möglich zu beschreiben. Zur Aufdeckung der teilweise unbewussten Lerneffekte des Auslandsaufenthaltes wurden die Interviewtranskripte nach Aussagen durchsucht, die auf „Regeln“, „Konzepten“ und „Theoremen in Aktion“ oder „für wahr gehaltene Darstellungen der Realität“ hinweisen, die Menschen konstruieren und in ihrem Handeln mobilisieren. Daraus konnten Rückschlüsse auf Lerneffekte gezogen werden, die im Rahmen direkter Fragen wie zum Beispiel „Was hast Du in Bezug auf Land und Leute gelernt?“ nicht zur Sprache gekommen wären.

Ein sehr ähnlicher Weg wird von der Verfasserin (Krichewsky-Wegener 2020) eingeschlagen. Hier wird ein subjektwissenschaftliches Lernverständnis nach Holzkamp (1995) mit der Methode des verstehenden Interviews nach Kaufmann (1999) verknüpft. Der theoretische Rahmen, der das Lernen in Situationen und ausgehend von Handlungsanforderungen konzipiert, eröffnet jedoch den Blick zusätzlich für individuelle, biographisch situierte Lernbegründungen und Lernstrategien. Somit wird zum einen das Lernen in die Biographie des Lernenden situiert und damit ein Bogen zu Fragen der Identitätskonstruktion geschlagen. Zum anderen wird ein Zugang zum Verständnis der Lernprozesse geschaffen. Für die Identifizierung von Lerneffekten werden ähnliche Kodierstrategien wie bei Tourmen u.a. (2014) gewählt.

Die Arbeiten von Nordberg (2006) und Brissot (2019) unterscheiden sich von den beiden zuvor genannten durch ihren Fokus auf Identitätskonstruktion. Die zentrale Stellung des Konzepts der Identität führt zu etwas anders gelagerten theoretischen Bezügen als bei den zuvor genannten Studien. Beide Arbeiten befassen sich mit Jugendlichen, die unmittelbar nach ihrem berufsbildenden Abschluss einen sechsmonatigen Auslandaufenthalt absolviert haben. Nordberg kombiniert in ihrer erziehungswissenschaftlichen Masterarbeit verschiedene Erhebungsinstrumente miteinander: die qualitative Inhaltsanalyse von 29 Praktikumsberichten, einem Gruppeninterview, drei Einzelinterviews und einer schriftlichen Befragung von 18 Teilnehmenden. Der theoretische Rahmen der Arbeit liegt im Bereich der Studien zum interkulturellen Lernen, mit dem Rückgriff auf die Konzepte der kulturellen Identität, des Kulturschocks und der Akkulturation nach Ward u.a. (1996). Die Autorin weist auf die ungelösten Schwierigkeiten hin, die Begriffe der interkulturellen Identität und Kompetenz zu operationalisieren. Für die Auswertung der Interviews und Praktikumsberichte führt die Autorin eine Frequenzanalyse auf der Grundlage einer ersten kategorienbasierten thematischen Inhaltsanalyse durch, die hauptsächlich induktiv erfolgt und große Ähnlichkeiten zum Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) aufweist. Zur Interpretation der Ergebnisse aus dieser maßgeblich quantitativen Inhaltsanalyse nutzt sie zusätzlich Einzelfallanalysen.

Der Schwerpunkt der Untersuchung von Brissot (2019) liegt auf die Identitätsarbeit der Lernenden, die durch die geographische, aber zugleich auch soziale und kulturelle Mobilität beeinflusst wird. Der Auslandsaufenthalt wird als biographische Transitionsphase konzipiert, die in den untersuchten Fällen an der Schnittstelle zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit situiert ist und auch den Übergang von der Jugend zum Erwachsenenalter markiert. Neben schriftlichen Dokumenten wie Motivationsschreiben und Praktikumsbericht gründet die empirische Untersuchung vor allem auf den biographischen Interviews, die mit acht ehemaligen mobilen Auszubildenden geführt wurden. Neben einer offenen und einer semi-strukturierten Interviewphase forderte die Autorin die Befragten auf, eine Chronographie über den Auslandsaufenthalt und die Zeit unmittelbar davor und danach zu erstellen sowie einen für sie bedeutsamen Ort zu zeichnen. Die Chronographie und die Zeichnung unterstützen die Verbalisierung der Erfahrungen und bieten ergänzende Hinweise zur Deutungsarbeit der Subjekte. Die Arbeit greift vielfach auf Konzepte und Methoden der Ethnomethodologie und der Psychoanalyse zurück. Insbesondere wird dem Ort die Rolle eines „Analysators“ nach Lapassade (1971) gegeben, um Sinnkonstruktionen zu Tage zu führen und zugleich auch anzuregen.

Während das quantitative Paradigma bei den deutschsprachigen Arbeiten dominiert, widmen sich somit mehrere französischsprachige Arbeiten dem Thema der internationalen Mobilität mit qualitativen Methoden. Jenseits der Unterschiede, die auch innerhalb der beiden Gruppen existieren, zeigt die vergleichende Analyse ein gemeinsames Bestreben, Methoden und Konzepte außerhalb des Feldes der interkulturellen Studien einzubeziehen, die den Besonderheiten der Lerneffekte von Auslandsaufenthalten in der Berufsbildung besser gerecht werden. Insbesondere gilt es für die Autor/innen, sowohl bei quantitativ als auch bei qualitativ ausgerichteten Arbeiten, den Einfluss auf berufliche Kompetenzen und berufsbezogene Identitätsprozesse sichtbar zu machen. Dies wird durch die Anregung von Reflexionsprozessen bei den Befragten angestrebt. Hierzu greifen mehrere Arbeiten auf Methoden und Konzepte aus der Berufspädagogik zurück, wie den Kompetenzbegriff von Prof. Erpenbeck, die theoretischen Überlegungen Kristensens (2004) oder die didactique professionnelle in Verbindung mit den Methoden zur Erfassung informell erworbener (beruflicher) Kompetenzen. Einige Arbeiten bedienen sich auch allgemeiner Lerntheorien, wobei in den untersuchten Studien der konstruktivistische Ansatz dominiert. Schließlich greifen einige Arbeiten auch auf psychologische, psychoanalytische und soziologische Ansätze zurück, um den Einfluss der Mobilitätserfahrung auf (berufliche) Identitätskonstruktionen zu untersuchen.

2.3 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

Eine zusammenfassende Betrachtung der Forschungsergebnisse aus beiden Ländern zeigt auf jeder Wirkungsebene, wo es zu Konvergenzen kommt, wo sich Arbeiten ergänzen und wo auch neue Fragen aufgeworfen werden.

2.3.1 Wirkungsebene 1

Auf der ersten Wirkungsebene stellen alle Arbeiten eine hohe Zufriedenheit der Lernenden mit ihrem Auslandsaufenthalt fest. Bei Dupuis u.a. (2012) sagen 95% der Befragten, sie seien „sehr zufrieden“. Von 246 Befragten würde nur eine Person die Teilnahme am evaluierten Mobilitätsprogramm nicht weiterempfehlen. Qualitativ drückt sich die Zufriedenheit vor allem im Zusammenhang mit Situationen aus, in denen die Teilnehmenden Verantwortung übernehmen mussten und Erfolgserlebnisse berichten können. Unter den wichtigsten Faktoren für die hohe Zufriedenheit stehen die guten Beziehungen zu den Verantwortlichen des Programms vor Ort (88% Nennungen) und den im Zielland geknüpften Kontakten (84%), noch weit vor den Aufgaben vor Ort (z.B. im Praktikumsbetrieb) (70%) oder den Kursen vor Ort (68%) (ebd., 145ff). Auch deutsche Teilnehmende äußern sich beispielsweise in der repräsentativen Umfrage von Kröll (2018) insgesamt zufrieden mit ihrem Auslandsaufenthalt und bewerten dessen Qualität mit Schulnoten zwischen 2,0 und 2,2 auf einer Skala von 1 (sehr gut) bis 5 (mangelhaft) (ebd., 92). Bei qualitativen Untersuchungen wird die Tendenz der Befragten deutlich, positiv über die Auslandserfahrung zu berichten, sogar in Fällen bei denen einige wichtige Erwartungen an den Auslandsaufenthalt nicht erfüllt wurden, beispielsweise in Bezug auf die Aufgaben beim Auslandspraktikum oder dem Kontakt zu Einheimischen. Dies stellt die Frage nach dem Sinn, den Auszubildende ihrem Aufenthalt zuschreiben und damit auch nach den Motiven für ihre Mobilitätsentscheidung (vgl. Krichewsky-Wegener 2020).

2.3.2 Wirkungsebene 2

Die von den Lernenden selbst subjektiv wahrgenommenen Lerneffekte internationaler Mobilität sind besonders hoch im Bereich der sozialen und persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen. Auf einer Fünferskala (1 ist sehr hoch, 5 sehr gering) wird beispielsweise der Effekt der Mobilität auf die Verantwortungsbereitschaft und auf das selbständige Arbeiten im Durchschnitt mit 2,1 bewertet und auf Teamfähigkeit mit 2,5. Die befragten Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen geben ähnlich positive Einschätzungen ab (Kröll 2018, 111). Diese Lerneffekte werden auch von Becker u.a. (2012) bei Jugendlichen im Übergangssystem festgestellt. So stimmen 63% der Befragten der Aussage „voll und ganz zu“, die Mobilität hätte sich positiv auf ihre Teamfähigkeit und ihr Durchhaltevermögen ausgewirkt und 64,4% sehen ebenfalls einen positiven Effekt auf ihre Zuverlässigkeit (ebd., 63). Auch hier stimmen Außenstehende wie die befragten Sozialpädagog/innen mit den Einschätzungen der Lernenden überein.

Teilnehmende an Auslandsaufenthalten äußern insgesamt die Meinung, sie hätten ebenfalls in Bezug auf Sprachkenntnisse, Kenntnisse über Land und Leute bzw. Verständnis fremder Kulturen profitiert. Bei Friedrich und Körbel (2011) wird der Nutzen in Bezug auf Sprachkenntnisse beispielsweise auf 71 von 100 Punkten geschätzt, bei den Kenntnissen über Land und Leute erreicht der Wert sogar 77 Punkte (höchster Nutzen von allen adressierten Kompetenzen). Anders ist es jedoch in Bezug auf fachliche und berufsbezogene Kompetenzen, wo die subjektive Einschätzung der Lerneffekte verhaltener als in den anderen Kompetenzbereichen ausfällt. In der Studie von Friedrich und Körbel (2011) wird der Nutzen eines Auslandsaufenthaltes in Bezug auf berufliche Fachkenntnisse mit 58 von 100 Punkten bewertet, in Bezug auf „Kennenlernen neuer Arbeitstechniken und –praktiken“ mit 61 Punkten. In der Folgestudie von Kröll (2018) sind die Werte ähnlich, mit einer Bewertung von 2,6 für die beruflichen Fachkenntnisse und 2,8 für das Kennenlernen neuer Arbeitstechniken auf einer Skala von 1 (hoher Nutzen) bis 5 (kein Nutzen). Allein die von Scheel (2010) durchgeführte Befragung von Teilnehmenden an Leonardo-da-Vinci Mobilitätsmaßnahmen sticht mit ihren Ergebnissen hervor, wonach 99,1 Prozent der Befragten angeben, sie hätten „neue Arbeitstechniken und weitere berufliche Fachkenntnisse gelernt“ (ebd., 343). Der Nutzen eines Auslandsaufenthaltes für die Fachkompetenz wird in dieser Studie höher geschätzt als für die interkulturelle und personale Kompetenz (86,2 Prozent) oder die Sprachkompetenz (36,1 Prozent) (ebd.). Die Antwortmöglichkeiten, die nur zwischen „ja“ und „nein“ unterscheiden, statt wie in den anderen Befragungen eine Skala anzubieten, führen möglicherweise zu diesen überzeichneten Ergebnissen.

Demgegenüber erlauben qualitative Studien kein Ranking der Lerneffekte nach Kompetenzbereich, jedoch beleuchten sie die Reichweite der Lerneffekte stärker im Detail. Während die Oberkategorien für die beobachteten Lerneffekte mit den obengenannten Teilkompetenzen zum großen Teil übereinstimmen (z.B. berufsbezogene, kulturbezogene, sprachenbezogene und persönlichkeitsbezogene Lerneffekte bei Tourmen u.a. 2014), zeigen sich Nuancierungen auf der Detailebene. So stellen sowohl Tourmen u.a. (2014, 123) als auch Krichewsky-Wegener (2020, 177 ff.) fest, dass das erworbene Wissen über die fremde Kultur oft oberflächig und anekdotisch bleibt, ohne dass sich die Lernenden dessen immer bewusst zu sein scheinen. Die mit psychologischen Tests durchgeführte Studie von Wern (2018) zeigt ebenfalls die Grenzen und Widersprüche interkulturellen Lernens durch Auslandsaufenthalte. Sein Vergleich von mobilen mit nicht-mobilen Auszubildenden bestätigt nicht die Eingangshypothese, wonach die interkulturelle Sensibilität bei mobilen Personen höher wäre (ebd., 220). Gegenüber den quantitativen Untersuchungen weisen die qualitativen Studien auf die große Bandbreite der Lerneffekte hin, die auch bei ähnlichen Lernbedingungen individuell sehr unterschiedlich ausfallen können. Damit wird die Frage nach den Lernprozessen und Einflussfaktoren auf das Lernen aufgeworfen.

2.3.3 Wirkungsebene 3

Auf der dritten Wirkungsebene werden die mittel- und langfristigen individuellen Wirkungen des Auslandsaufenthaltes analysiert. Dupuis u.a. (2012) stellen eine Reihe von Effekten der Mobilität für eine Gruppe von benachteiligten Jugendlichen fest, die in den übrigen hier vorgestellten Arbeiten nicht vorkommen. Dies sind insbesondere folgende:

  • Motivierungseffekt (effet motivant),
  • Empowerment-Effekt (effet capacitant): Valorisierung, Autonomisierung,
  • Katalysatoreffekt (effet catalyseur): negative Eigenwahrnehmung wird verstärkt, wenn der Lernende im Gastland keine Akzeptanz erfährt,
  • Boomerang-Effekt (effet boomerang): Probleme in der Heimat werden nach der Rückkehr umso stärker empfunden und wirken demotivierend, das Gastland erscheint im Rückblick wie das verlorene Paradies,
  • Vertrauensaufbau zu Institutionen: ein durch Schulversagen und Abhängigkeiten gegenüber staatlichen Instanzen gestörtes Verhältnis verbessert sich.

Dupuis u.a. (2012) stellen darüber hinaus auch Effekte auf die Präzisierung der beruflichen Pläne und der Berufsidentität (effet professionnalisant) fest. Damit wird eine Verbindungslinie zwischen dieser Arbeit und den Arbeiten von Nordberg (2006), Brissot (2019) und Krichewsky-Wegener (2020) gezogen. Auch diese nehmen insbesondere Effekte auf berufliche Pläne und Identitäten in den Blick, nicht zuletzt im Zusammenhang mit künftiger internationaler Mobilität. Dabei stellt Nordberg (2006) fest, dass nur bei rund der Hälfte ihrer Stichprobe nach dem Berufseinstieg noch ein Bezug zum Ausland in der Tätigkeit, beispielsweise durch die Anwendung von Fremdsprachenkenntnissen, gegeben ist. Krichewsky-Wegener (2020) zeigt ihrerseits, wie die Auslandserfahrung die Zukunftsvorstellungen erweitert, ohne dass es jedoch unmittelbar zu einer Realisierung der Mobilitätspläne käme. Brissot (2019) entwickelt an diesem Punkt eine Typologie zur Charakterisierung der „Profile“ von mobilen Auszubildenden basierend auf Kontinuität/Diskontinuität im Verhältnis zu Auslandstätigkeit, zu weiterführenden Qualifizierungen und zum Berufsfeld. Eine Originalität der Arbeit liegt in der zentralen Bedeutung des „Ortes“, der als Analysator veranschaulicht, wie die Befragten ihre Auslandserfahrung im Zusammenhang ihrer Biographie reflektieren. So halten sich die Teilnehmenden im Rahmen des Auslandsaufenthaltes an verschiedenen Orten auf, die sie erkunden, die sie sich aneignen und über die sie sich eine Vorstellung bilden. Die Autorin zeigt, wie aus dem Verhältnis, den die Teilnehmenden zu diesen Orten in all ihren Dimensionen (sozial, kulturell, symbolisch) aufbauen, Selbsterkenntnisprozesse erwachsen. Sie deckt dabei einen Zusammenhang zwischen den Profilen der Teilnehmenden und der Vorstellung dieser Orte auf - angeeignete Orte für die „Nomaden“, Durchgangsorte für die „Karrieristen“, Möglichkeitsräume für die „Selbsterkennenden und Unternehmenden“. Die Bedeutung der Orte und sozialen Interaktionen für die Biographie der Befragten werden von Brissot (2019) mit dem Konzept der Sozialisation erfasst. Zugleich geht sie auch sehr detailliert den Reflexionsprozessen auf die Spur, die der Biographiearbeit der Befragten im Rahmen des Interviews zugrunde liegen.

2.3.4 Wirkungsebene 4

Für eine Analyse der tatsächlichen Wirkungen von Auslandsaufenthalten auf den Berufseinstieg und den Karriereverlauf von Absolventen der Berufsbildung fehlt bis heute in Deutschland die Datengrundlage. Anders ist es dagegen in Frankreich. Calmand u.a. (2016) ermitteln insgesamt einen positiven Einfluss internationaler Mobilität auf Arbeitsmarktindikatoren, wie die Dauer des Übergangs in Beschäftigung, die Form der Beschäftigung, den Gehälter- und Karriereverlauf. Einschränkend wird jedoch hervorgehoben, dass der positive Einfluss der Mobilität auf den Berufseinstieg oder den Zugang zu einem unbefristeten Arbeitsvertrag nicht mehr signifikant ist, wenn die soziale Herkunft der Befragten berücksichtigt wird. Leichte Effekte auf Gehalt und Position lassen sich in signifikantem Maße nur für längere Auslandsaufenthaltsformen, die kaum von Abgängern der Berufsbildung praktiziert werden, oder akademische Austauschformate messen. Eine wesentliche Limitierung der Aussagekraft dieser Studie ergibt sich aus der Tatsache, dass sich im Ausland befindende Personen nicht befragt werden. Da ein Auslandsaufenthalt während der Erstausbildung die Wahrscheinlichkeit signifikant erhöht, in den ersten drei Jahren nach dem Abschluss im Ausland zu arbeiten, könnten die Einflüsse auf die erhobenen Indikatoren somit unterschätzt werden. Die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den deutschen Kontext bleibt ungewiss. Für die Geringfügigkeit der Effekte in Frankreich liefern jedoch qualitative Studien, auch aus Deutschland, mögliche Erklärungshypothesen. Insbesondere die von Tourmen u.a. (2014) und Krichewsky-Wegener (2020) festgestellte Schwierigkeit für Lernende, den Lernertrag ihrer Auslandserfahrung in Worte zu fassen, könnte darauf hindeuten, dass mobile Auszubildende oftmals gar nicht in der Lage sind, ihre Auslandserfahrung gewinnbringend bei der Arbeitssuche darzustellen.

3 Diskussion

Eine systematische Literaturrecherche zur internationalen Mobilität in der Berufsbildung in deutscher und französischer Sprache ergibt zahlreiche Treffer, von denen jedoch nur eine kleine Zahl der empirischen Untersuchung der Wirkungen von Auslandsaufenthalten gewidmet ist. Insgesamt wurden für die vorliegende vergleichende Analyse des Forschungsstandes in beiden Sprachen jeweils sechs Veröffentlichungen aus jedem Land ausgewählt.

Diese zwölf Studien adressieren zusammengenommen alle vier Wirkungsebenen des Auslandsaufenthaltes als Lernhandlung, wie sie in Anlehnung an Kirckpatrick (2010) unterschieden werden können. Dabei sind die Erkenntnisinteressen in beiden Sprachräumen ähnlich gelagert, bis auf die Ausnahme der Beschäftigungswirkungen internationaler Mobilität (Wirkungsebene 4), die nur von französischen Arbeiten untersucht werden. Hier wirkt sich möglicherweise die in Frankreich seit Jahren hochbleibende Jugendarbeitslosigkeit aus, die zu einer hohen gesellschaftlichen Relevanz und damit auch zu einem hohen Stellenwert der Forschung zur Arbeitsmarktintegration führt. In diesem Fall handelt es sich um Auftragsforschung, die von einer öffentlichen Forschungseinrichtung durchgeführt wurde.

Ähnliche Erkenntnisinteressen führen nicht zwangsläufig zu ähnlichen Forschungsmethoden und theoretischen Konzepten. Ganz im Gegenteil zeigen sich bei dem Vergleich der Forschungsdesigns der untersuchten Studien teilweise sehr unterschiedliche Wege, mit den der Thematik inneliegenden methodischen Herausforderungen umzugehen. Eine dieser Herausforderungen besteht zunächst in der Sichtbarmachung von Lerneffekten, die den Lernenden selbst teilweise oder gänzlich unbewusst sind. Keine der untersuchten Arbeiten fokussiert auf formale Lernprozesse, wie sie beispielsweise im Rahmen eines Aufenthaltes an einer ausländischen Berufsschule oder einer Sprachschule stattfinden könnten. Vielmehr werden gerade auch persönlichkeitsbildende Effekte und die soziale, interkulturelle und berufsbezogene Kompetenzentwicklung als Ergebnis informeller, erfahrungsbasierter Lernprozesse in den Blick genommen. Die mehrheitlich quantitativ ausgerichteten deutschsprachigen Arbeiten bieten hierfür drei Lösungsansätze an:

  • Triangulation: bei Friedrich und Körbel (2011), Becker u.a. (2012) oder Kröll (2018) werden neben den mobilen Auszubildenden auch Ausbildungsbetriebe nach den Lerneffekten der Mobilität befragt. Somit wird die Eigenwahrnehmung der Lernenden mit der Fremdwahrnehmung der Ausbildungsbetriebe relativiert;
  • Tests: Wern (2018), der den Fokus auf persönlichkeitsbildende Aspekte der Mobilität setzt, benutzt Persönlichkeitstests zur Messung der Wirkungen von Auslandsaufenthalten auf die interkulturelle Sensibilität der Lernenden;
  • Ereignisbeschreibungen als Reflexionsimpulse: Becker u.a. (2012) bitten die Befragten, sich an prägende positive und negative Erlebnisse zu erinnern, um auf dieser Grundlage anhand standardisierter Fragebögen die Lerneffekte einzuschätzen.

Qualitativ ausgerichtete Arbeiten, die in drei von vier Fällen aus Frankreich stammen, setzen ebenfalls auf Instrumente zur Anregung von Reflexionsprozessen bei den Lernenden. Das Ziel ist dabei stets, diese bei der Verbalisierung implizit gebliebenen Wissens zu unterstützen. Eine zentrale Rolle kommt hierbei dem qualitativen Interview zu, das durch gezielte Reformulierungen und auf das eben Gesagte bezogene Fragen die Reflexion fördern soll. Tourmen u.a. (2014) sowie Krichewsky-Wegener (2020) nutzen die Schilderung konkreter Situationen als Ausgangspunkt für die dialogische Reflexion und später für die Analyse der Lernprozesse und -effekte. Brissot (2019) hingegen lädt die Befragten im Rahmen des Interviews dazu ein, Zeichnungen für sie wichtiger Orte und eine Chronographie des Auslandsaufenthaltes anzufertigen. Im Entstehungsprozess dieser beiden Artefakte und im Austausch über das fertige Ergebnis findet sie einen Zugang zu Identitätskonstruktionen im Zusammenhang mit der Mobilität. Zur Entwicklung dieses Forschungsdesigns sowie zur Interpretation der Ergebnisse greift Brissot auf die Ethnomethodologie, die Psychologie und Psychoanalyse zurück. Damit eröffnet sie das Feld der internationalen Mobilitätsforschung über die Berufspädagogik bzw. die Erziehungswissenschaften hinaus für Einflüsse aus anderen Fachwissenschaften. Diese Öffnung könnte insbesondere in der Weiterführung der dargestellten Forschungsarbeiten zur pädagogischen Begleitung, Nachbereitung und möglicherweise auch Anerkennung von Auslandsaufenthalten in der Berufsbildung von Interesse sein.

Eine weitere methodische Herausforderung bei der Erforschung internationaler Mobilität in der Berufsbildung besteht in der Konstruktion repräsentativer Stichproben für die Untersuchung der Wirkungen von Mobilität. Hierbei scheint in beiden Ländern der Weg über die Bildungseinrichtung (Berufsschule oder Centre de Formation des Apprentis) der Weg der Wahl zu sein (vgl. Friedrich/Körbel 2011, Kröll 2018 und Céreq 2014). Dieser Weg ist jedoch aufwendig und teuer und steht daher insbesondere Doktoranden und Evaluatoren selten zur Verfügung. Aus diesem Grund sind viele Arbeiten mit Bezug auf ein konkretes Mobilitätsprogramm im Sinne einer Fallstudie aufgebaut. Dies wirft die Frage nach der Tragweite und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse auf. Die zusammenfassende Betrachtung der Forschungsergebnisse zeigt eine weitgehende Übereinstimmung bei den identifizierten Hauptwirkungen der Mobilität. So werden Auslandsaufenthalte von den Lernenden zum Beispiel eher positiv bewertet und der Nutzen wird stärker bei der Persönlichkeitsentwicklung und den sozialen Kompetenzen als bei den berufsbezogenen und fremdsprachlichen Kompetenzen gesehen. Im Detail stellen jedoch insbesondere die testbasierten und die qualitativen Untersuchungen widersprüchliche oder sehr spezifische Wirkungen fest, wie beispielsweise in der Untersuchung von Dupuis u.a. (2012) zur Mobilität von benachteiligten Jugendlichen in der Berufsbildung. Längsschnittuntersuchungen und quasi-experimentelle Designs sind bisher nur ansatzweise umgesetzt worden und für Metastudien ist die Studienlange noch nicht weit genug entwickelt. An dieser Stelle besteht daher noch ein großes Potenzial für weitere Forschungsaktivitäten, einschließlich international vergleichender Analysen, mit dem Ziel einer Validierung vorhandener Erkenntnisse und eines besseren Verständnisses der Besonderheiten verschiedener Zielgruppen.

Internationale Mobilität in der Berufsbildung ist ein Phänomen, das seinem Wesen nach transnational ist und zugleich auch durch die kontinuierliche Förderung durch die Europäische Kommission im Rahmen des Leonardo-da-Vinci und später Erasmus+-Programms auch eine dezidiert europäische Dimension besitzt. Aus dem vorliegenden Vergleich des Forschungsstandes hierzu in Frankreich und in Deutschland geht jedoch hervor, dass die Mobilitätsforschung auf beiden Seiten der Grenze noch stark national ausgerichtet bleibt. So zitieren sich die zwölf untersuchten Studien abgesehen von Krichewsky-Wegener (2020) nicht gegenseitig. Der Rückgriff auf Veröffentlichungen aus dem jeweils anderen Land begrenzt sich weitgehend auf Klassiker wie Piaget oder Simmel, die schon lange übersetzt und rezipiert worden sind. Dies ist jedoch mit Blick einerseits auf die hier aufgezeigten Überlappungen der Erkenntnisinteressen und andererseits die methodischen Unterschiede bedauerlich. So stellt sich hier zum Abschluss die Frage, wie ein besserer grenzüberschreitender Austausch nicht nur in der Berufsbildung, sondern ebenfalls in der Berufsbildungsforschung befördert werden könnte.    

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Zitieren des Beitrags

Krichewsky-Wegener, L. (2020): Auslandsaufenthalte in der Ausbildung – deutsche und französische Perspektiven auf einen transnationalen Forschungsgegenstand. In: bwp@ Berufs- und Wirt­schafts­pädagogik – online, Ausgabe 39, 1-22. Online:

https://www.bwpat.de/ausgabe39/krichewsky-wegener_bwpat39.pdf (17.12.2020).