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bwp@ 39 - Dezember 2020
Berufliche Bildung in Europa – 20 Jahre nach Lissabon und am Ende von ET 2020. Entwicklungen und Herausforderungen zwischen supranationalen Strategien und nationalen Traditionen
Hrsg.:
, , , &Ein neoinstitutioneller Blick auf den Entwicklungsprozess des Nationalen Qualifikationsrahmens am Beispiel der Schweiz
Langfristige gesellschaftliche Entwicklungen prägen die Ausgestaltung des europäischen Wirtschaftsraums maßgebend. Die Einführung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) für lebenslanges Lernen gilt im Rahmen des Kopenhagen-Prozess als eines der zentralsten Umsetzungsinstrumente um Bildungsabschlüsse allgemeiner wie beruflicher Art grenzübergreifend vergleichbar zu machen und damit deren Transparenz sowie die internationale Mobilität der Lernenden und Arbeitnehmenden zu fördern. Mit Blick auf den Entwicklungsprozess des Nationalen Qualifikationsrahmens (NQR) in der Schweiz lässt sich unter neoinstitutionalistischen Mechanismen (Imitation, Zwang, Druck) beispielhaft erklären, weshalb eine tatsächliche Anwendung des NQR auf dem Bildungs- bzw. Arbeitsmarkt weitestgehend ausbleibt. In diesem Sinne handelt es sich bei der Entwicklung des NQR um die Implementierung sogenannter „Formalstrukturen“, welche zur Legitimierung (berufsbildungs-)strategischer Bemühungen dienen, und aus einer Erwartungsunsicherheit heraus entstehen. So entstand der NQR in der Schweiz unter Berücksichtigung ausländischer Entwicklungen, also unter Imitation, wobei auch der normative Druck der Trägerschaften, welche insbesondere zur Stärkung der höheren Berufsbildung beitragen wollten, zur Implementierung führte. Gleichzeitig kam mit der Festlegung eines gesetzlichen Rahmens auch ein „Einstufungszwang“ auf, dem die Trägerschaften Folge leisten mussten.
A neo-institutional view of the National Qualifications Framework development process using Switzerland as an example
Long-term social developments have a decisive influence on the shape of the European Economic Area. The introduction of the European Qualifications Framework (EQF) for lifelong learning is considered one of the most crucial instruments within the Copenhagen Process. The EQF aims to enable comparison of general and vocational educational qualifications across borders. By doing so, the EQF intends to promote transparency of education systems and simplify an international mobility of learners and employees. With regard to the development process of the National Qualifications Framework (NQF) in Switzerland, neo-institutionalist mechanisms (imitation, coercion, normative pressure) might explain why the NQF is not fully applied neither in the educational nor in the labour market. Development of the NQF involves the implementation of so-called "formal structures" which serve as legitimation of strategic decisions and arise from an uncertainty of expectations. The NQF in Switzerland thus was developed taking into account foreign developments, i.e. by imitation, whereby normative pressure as well as coercion have also been identified as reason for its implementation.
1 Einleitung
Langfristige Entwicklungen wie die Globalisierung, das Upskilling, der demografische Wandel, die Migration oder auch die steigende Mobilität und Flexibilität in den Arbeitsbeziehungen prägen die Ausgestaltung der Berufsbildung massgebend. Die Europäische Union definierte daher bereits im Jahr 2000 Transparenz, Durchlässigkeit und Mobilität als wichtigste Eckpfeiler der Lissabon-Strategie, welche zum Ziel hatte die Europäische Union bis zum Jahr 2010 „[…] zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen […]“ (Rat der Europäischen Union 2000, §5). Vor diesem Hintergrund begann im Jahr 2002 der Kopenhagen-Prozess, in dessen Rahmen konkrete Umsetzungsinstrumente für die Erreichung dieses Ziels erarbeitet wurden. Die Einführung des Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) für lebenslanges Lernen gilt dabei als eines der zentralsten Umsetzungsinstrumente. Unter einem Qualifikationsrahmen sind Strukturen zur Entwicklung, Beschreibung und Systematisierung der Beziehungen von Qualifikationen zu verstehen (vgl. Hanf/Reuling 2001, 50). Dieses bildungspolitische bzw. arbeitsmarktliche Instrument macht also Bildungsabschlüsse allgemeiner wie beruflicher Art, welche als Ergebnisse von Lernprozessen und den daraus erworbenen Kompetenzen zu verstehen sind, grenzübergreifend vergleichbar und fördert damit die Transparenz und folglich die internationale Mobilität der Lernenden und Arbeitnehmenden – so zumindest die Idee.
Obwohl die Stärken des EQRs in diversen Studien, wie z. B. in der von Bjørnåvold und Coles (vgl. 2010) herausgestrichen werden, genoss die Umsetzung des EQR nicht von allen Seiten her Zustimmung. So betonen beispielsweise Clarke und Winch (vgl. 2006, 267) schon vor der Implementierung des EQR im Jahr 2008, dass dieser nur schwierig umzusetzen sein dürfte, was sie unter anderem auf die unterschiedliche sozio-politische Rolle von Qualifikationen, auf uneinheitliche Industriestrukturen und Arbeitsprozesse sowie auf Differenzen bei den Ausbildungsinstitutionen der beruflichen Bildung in den betroffenen Ländern zurückführten (vgl. Clarke/Winch 2006, 255). Aber auch unter Rückbezug auf die Erfahrungen anderer Nationen wie Neuseeland, Mexiko, Schottland und Südafrika, die schon früh einen Nationalen Qualifikationsrahmen (NQR) eingeführt hatten, positionierte sich Blackmur bereits 2004 sehr kritisch gegenüber solchen Qualifikationsrahmen, da er eine gemeinsame Logik der Ordnung und Klassifizierung von Qualifikationen als schwierig einschätzte (vgl. Blackmur 2004, 270).
Wird der aktuelle Stand der Umsetzung des EQR sowie die Entstehung der einzelnen NQRs unter Betracht gezogen, wird deutlich, dass der Empfehlung zum EQR zwar gefolgt wird und NQRs entwickelt werden, dass diese jedoch im Bildungs- bzw. auf dem Arbeitsmarkt wenig bis gar keine Anwendung finden (vgl. z. B. Cedefop 2015; Cedefop et al. 2015, 2017).
Der vorliegende Beitrag sieht eine mögliche Erklärung dafür im Governance-Prozess, unter welchem die Ausarbeitung der NQRs stattfindet. Unter Rückbezug auf Mechanismen neoinstitutionalistischer Theorien, lässt sich herleiten, inwiefern die Entwicklung eines NQRs innerhalb eines institutionellen Spannungsfeldes zwar zur Implementierung nationaler Qualifikationsrahmen, jedoch nicht automatisch zu deren Anwendung führt. Am Beispiel des Entwicklungsprozesses des NQRs in der Schweiz wird diese These diskutiert. Abschliessend wird ausserdem herausgestrichen, welche Bedeutung sich daraus für die durch den NQR angestrebten Ziele, wie soziale und geographische Mobilität, Flexibilität, Transparenz, Durchlässigkeit, Gleichwertigkeit oder das lebenslange Lernen sowohl für die Schweiz aber auch für andere Länder, die sich am EQR orientieren, ableiten lassen.
2 Entwicklung und Implementierung des NQR am Beispiel der Schweiz
Die Europäische Union hat im Zuge des Kopenhagen-Prozesses im Jahr 2008 EQR-Empfehlungen formuliert, welche als Grundlage für die darauffolgende Entwicklung nationaler Qualifikationsrahmen diente. Der Entwicklungsprozess des NQR in der Schweiz wurde im Jahr 2010 initiiert und im Oktober 2014 konnte der Nationale Qualifikationsrahmen der Schweizer Berufsbildung (NQR-CH-BB) formell eingeführt werden. Das European Center of the Development of Vocational Training (Cedefop), welches unter anderem mit dem Monitoring über die Entwicklungen nationaler Qualifikationsrahmen beauftragt wurde, schätzt dabei den Entstehungsprozess des NQR-CH-BB als schnell ein (vgl. Cedefop 2013, 217).
Der Schweizer Bundesrat verabschiedete im Juni 2010 zuerst die internationale Strategie der Schweiz im Bereich Bildung, Forschung und Innovation (kurz: internationale BFI-Strategie der Schweiz). Diese Strategie beabsichtigt die Entwicklung eines international wettbewerbsfähigen Bildungs-, Forschungs- und Innovationssystems und hat zum Ziel durch die Definition klarer Prioritäten und Ziele die Schweiz international als bevorzugter Standort für Bildung, Forschung und Innovation zu etablieren. Im Zuge der BFI-Strategie definierte der Bundesrat drei Prioritäten um das angestrebte Ziel zu erreichen. Nebst der internationalen Vernetzung wurde die Unterstützung von Bildungsexport und Talentimport sowie die Förderung internationaler Anerkennung festgelegt. In der Strategie wurde ausserdem darauf verwiesen, dass die weltweiten demografischen Herausforderungen strategische Allianzen im Bereich des Humankapitals und der Mobilität bedeutsam machen, um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu steigern. Es wurde zudem Handlungsbedarf bei der internationalen Anerkennung des schweizerischen Bildungssystems, insbesondere im Bereich der Berufsbildung erkannt, damit dieser für die Schweiz äusserst relevante Bildungsbereich nicht zunehmend an Stärke verliert. Daher wurde das Ziel bekräftigt, dass der allgemeinbildende und der berufsbezogene Bildungsweg international eine gleichwertige gesellschaftliche Anerkennung erfahren soll (Schweizerische Eidgenossenschaft 2010, 3).
Darauf folgte im Mai 2011 die Festlegung gemeinsamer bildungspolitischer Ziele für den Bildungsraum Schweiz. Bund und Kantone, also das Eidgenössische Departement des Innern, das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement sowie die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und Erziehungsdirektoren, streben darin neben anderen bildungspolitischen Zielen die Vergleichbarkeit von Schweizer Berufsbildungsabschlüssen im internationalen Kontext an, um das Schweizer Berufsbildungssystem gegenüber den EU-Ländern sowie ausländischen Arbeitgebenden transparenter und die Abschlüsse besser verständlich zu machen. Ziel war es, dadurch die berufliche Mobilität von Fach- und Führungskräften zu fördern sowie die Berufsbildung zu stärken (vgl. SBFI 2014, 4).
Im Anschluss daran begann die konkrete Ausarbeitung eines NQRs noch im selben Jahr, als dass Eidgenössische Volksdepartement eine Reihe von „Round Tables“ organisierte, an welchen gemeinsam mit Vertretern der Kantone, den Organisationen der Arbeitswelt (Berufsverbände) und den Sozialpartnern ein Vorschlag für die Vernehmlassung im Frühling 2012 formuliert wurde. Dieser Vorschlag genoss eine breite Unterstützung bei den Stakeholdern, was besonders auf zwei Erklärungen zurückgeführt werden kann. Einerseits wurde im Zuge der Entwicklung eines NQR-CH-BB versucht die Bekanntheit und den Wert Schweizer Abschlüsse international zu erhöhen, was den Arbeitnehmenden mehr Möglichkeiten im Hinblick auf ihre Mobilität ermöglichen sollte. Andererseits spielt der im EQR angedachte Paradigmenwechsel hin zur Learning-Outcome-Orientierung direkt in die Karten der Schweizer Berufsbildungsreform vom Jahr 2004, mit welcher das Prinzip der Handlungskompetenzorientierung für die berufliche Grundbildung beschlossen wurde. Bevor die Steuerung und Lenkung im Bildungswesen sich nach Outcome und Lernergebnissen orientierte, standen bei der bildungspolitischen Steuerung lange Input-Faktoren im Zentrum, wobei Output, Outcome und teilweise auch Kontext gemäß Dehnbostel (vgl. 2016, 168) vernachlässigt oder weggelassen wurden. Lernergebnisse beschreiben, was jemand gelernt hat und sind somit „explizite Aussagen zum Ergebnis des Lernens“ (Adam 2007, 1).
Im Anschluss an die Ausarbeitung des Vorschlages zum NQR-CH-BB ist die Schweiz im Jahr 2012 der EQR Advisory Group beigetreten (vgl. Cedefop 2013, 216) und verfolgte in den darauffolgenden Jahren das Ziel den NQR-CH-BB gemäss den Kriterien und Verfahren der EQR Advisory Group dem EQR zuzuordnen (SBFI 2015, 4). Die Zuordnung zum EQR wurde dabei in Anlehnung an den Kopenhagen-Prozess sowie als Zusammenarbeit im Bereich der Berufsbildung verstanden (vgl. Cedefop 2013, 216).
Die Implementierung des NQR-CH-BB ist ausserdem eng mit der 2013 beschlossenen nationalen Strategie verknüpft, die höhere Berufsbildung auch international zu stärken. Die höhere Berufsbildung, als wesentlicher Teil der tertiären Bildung in der Schweiz, wird von Politik und Berufsverbänden als besonders essentiell dafür eingeschätzt, die zukünftigen Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu decken (vgl. Cedefop 2013, 217). Mit der rechtlichen Verankerung in Form einer Verordnung im Oktober 2014 wurde der NQR-CH-BB vom SBFI implementiert.
Wie unschwer zu erkennen ist, nimmt die Entwicklung des NQR-CH-BB eine klare Rolle bei der Umsetzung und Implementierung politischer Strategien und Reformen in der Berufsbildungslandschaft der Schweiz ein. Auch die vom Cedefop (vgl. 2018, 51ff.) durchgeführte Analyse bestätigt, dass diverse Länder Nationale Qualifikationsrahmen als Reformierungswerkzeug einsetzen. Das Cedefop hält diesbezüglich fest:
“In other cases, countries have (de facto) [Hervorhebung im Original] broadened the objectives of their frameworks, making use of the opportunities created by an evolving framework. Being closely linked to national lifelong learning policies, NQFs are, to some extent, becoming embedded in broader human resource development strategies, and in some ways contradicting the (heavily criticised) link between NQFs and neo-liberal economic policies […]. The evidence collected for this report shows that NQFs increasingly are seen as relevant tools for supporting lifelong learning policies and practices” (Cedefop 2018, 51).
Bezüglich der Stärkung des lebenslangen Lernens werden unterschiedliche Strategien verfolgt. Während der NQR in anderen Ländern für die Validierung informeller Bildung, zur besseren Durchlässigkeit ihres Berufsbildungssystems oder zur Qualitätssicherung verwendet wird, nutzt ihn die Schweiz im Besonderen dafür, um bereichsübergreifende und institutionenübergreifende Fragen zu klären und so verschiedene Stakeholder aus verschiedenen Bereichen des Bildungssystems (allgemeinbildende Hochschulbildung und berufsbildende höhere Berufsbildung) näher zusammen zu bringen (vgl. Cedefop 2018, 52).
Dass die Implementierung des Nationalen Qualifikationsrahmens in der Schweiz Reformcharakter vorweist, zeigt sich auch daran, dass die Trägerschaften der Berufe, also die Organisationen der Arbeitswelt angehalten wurden, innerhalb von drei Jahren nach Verabschiedung der Verordnung zum NQR-CH-BB im Jahr 2014 ihre Berufe in den NQR-CH-BB einzustufen. Dies, obwohl von Anfang an damit gerechnet wurde, dass ein Drittel der Berufsbildungsabschlüsse noch vor Revisionen und Reformen stehen, die vor der Einstufung noch vollzogen werden mussten (vgl. SBFI 2014, 7f.). Auch wenn die Trägerschaften in diesem Fall diese „Dreijahres-Einstufungs-Frist“ nicht einhalten mussten, scheinen die Trägerschaften so angehalten worden zu sein, die Revisionen im Sinne der festgelegten politischen Strategien vorzunehmen, um dann die Berufsabschlüsse einstufen zu können.
Die Verantwortung des Einstufungsprozesses sowie die endgültige Einstufungsentscheidung obliegen zwar dem SBFI, also dem Bund. Die Einstufung selbst wird jedoch gemäss einem vom SBFI erstellten Leitfaden von den Trägerschaften, also den Organisationen der Arbeitswelt vorgenommen. Auch die Kosten des Verfahrens werden von den Trägerschaften getragen, welche eigenständig über die interne Organisation und die Gestaltung des Ablaufs der Einstufung entscheiden können. Finanzielle Unterstützung konnte allerdings beim SBFI beantragt werden. Das Eidgenössische Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) hat ausserdem vom SBFI den Auftrag erhalten, als externe Fachstelle die Einstufungen auf ihre Konsistenz gemäss Systemlogik zu prüfen. Zwar obliegt der Entscheid über die definitive Einstufung dem SBFI, es ist jedoch anzumerken, dass das SBFI die Verbundpartner (Organisationen der Arbeitswelt und Kantone) über die Eidgenössische Berufsbildungskommission in die Entscheidung miteinbezieht. Eine definitive Einordnung findet nur bei Konsens zwischen dem SBFI, also dem Bund und den Trägerschaften statt (vgl. SBFI 2014, 8ff.)
Die eingestuften Berufsabschlüsse werden in der „Verordnung des SBFI über das Verzeichnis der gemäß dem nationalen Qualifikationsrahmen für Abschlüsse der Berufsbildung eingestuften Berufsbildungsabschlüsse“ vom 11. Mai 2015 integriert, welche zweimal jährlich aktualisiert wird. Erste eingestufte Berufsabschlüsse wurden mit der Aktualisierung der Verordnung im Januar 2016 eingetragen, wobei neun Berufe der beruflichen Grundbildung eingestuft wurden. Bei der letzten Aktualisierung im Juli 2020 waren es 243 eingestufte Berufsabschlüsse der beruflichen Grundbildung. Insgesamt umfasst das Berufsverzeichnis zu den beruflichen Grundbildungen vom SBFI 305 Berufe (Stand 31.08.2020).
Nach der Implementierung des NQR-CH-BB im Jahr 2014/2015 wurde es ruhig um den Nationalen Qualifikationsrahmen. Es lassen sich kaum Medienberichte finden und wissenschaftliche Publikationen dazu sind ebenfalls rar. Baumeler und Engelage (vgl. 2017, 223) halten in ihrer Publikation zum Vergleich der NQR zwischen Österreich, Deutschland und der Schweiz fest, dass nationale Qualifikationsrahmen keine neutralen Klassifikationssysteme, sondern Instrumente einer neutralen Bildungssteuerung darstellen. So ordnen nationale Qualifikationsrahmen „[…]Elemente eines Bildungssystems nach neuen Kriterien, wodurch in der Auseinandersetzung der beteiligten Akteure eine Neubewertung und -hierarchisierung von Bildungsstufen erfolgt, aus denen wiederum weitergehende politische Forderungen abgeleitet werden können“ (ebd., 222).
3 Neoinstitutionalismus – eine Annäherung
Aus den obigen Beschreibungen zum Entwicklungsprozess des NQR-CH-BB geht hervor, dass der nationale Qualifikationsrahmen für die Schweiz in erster Linie ein Reform- und Steuerungsinstrument darstellt. Dabei findet Steuerung stets in einem institutionellen Spannungsfeld verschiedener Stakeholder bzw. Institutionen statt. Neoinstitutionalistische Theorien, im Besonderen der soziologische Neoinstitutionalismus, erläutern in welchem Kontext Institutionen entstehen und zeigen die dafür verantwortlichen Mechanismen auf.
Im Unterschied zu klassischen Institutionstheorien sehen neoinstitutionalistische Theorien nicht in erster Linie die Gesellschaft und ihre Regelwerke als primärer Entstehungskontext von Institutionen. Viel mehr verstehen sie die besondere Bedeutung von Organisationen und deren Regelwerke als Kontext für die Entstehung von Institutionen. Die Entwicklung hin zu diesem von den klassischen Institutionentheorien differenten Ausgangspunkt lässt sich auf die allgemein gewachsene gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und Bedeutung von Organisationen in modernen Gesellschaften zurückführen. Dabei bedeuten organisationale Handlungen und Entscheidungen nicht das Ergebnis autonomer Wahl, sondern entstehen selbst durch den Rekurs auf ihre gesellschaftliche Umwelt und die dort vorherrschenden Regeln (vgl. Hasse/Krücken 2009, 238f.).
Die Sozialtheorie von Berger und Luckmann (vgl. 1971) wird gemeinhin als Grundstein neoinstitutionalistischer Theorien verstanden. Sie sehen die Funktion von Institutionen in der Bereitstellung von Erwartungssicherheit für die nach Erwartungssicherheit strebenden Akteure (vgl. Berger/Luckmann 1971). Den Akteuren in einer Gesellschaft wird es durch Institutionen möglich das Handeln anderer in bestimmten Situationen zu antizipieren. Hasse und Krücken (2009, 237) beschreiben daher, dass sich Institutionen „[…] soziologisch als gesellschaftliche Erwartungsstrukturen definieren [lassen], die darüber bestimmen, was angemessenes Handeln und Entscheiden ist“. Somit tragen Institutionen im Sinne Schimanks (vgl. 2007, 162) als „zentrale Muster“ zur „sozialen Interdependenzbewältigung“ bei. Unter dem Institutionsbegriff werden einerseits intentional etablierte Ordnungsmuster und andererseits eingelebte soziale Praxen, wie Sitten, Gebräuche oder Kulturen im Allgemeinen verstanden. Mit Blick auf die Steuerung beziehungsweise die Governance-Prozesse, weisen Institutionen somit eine Doppelfunktion auf. Einerseits stellen sie das Resultat von Gestaltungsbemühungen, in Form von intentional geschaffenen Mustern der Interdependenzbewältigung dar (vgl. Schimank 2007, 162), worunter zum Beispiel Gesetze, Verordnungen oder eben nationale Qualifikationsrahmen zählen. Andererseits bilden sie den Kontext dieser Gestaltungsbemühungen, welcher entweder einen restringierenden oder ermöglichenden Charakter aufweist (vgl. Schimank 2007, 162).
Da nationale Qualifikationsrahmen den Akteuren des Bildungssystems eine bestimmte Erwartungssicherheit (z.B. Sicherheit bezüglich Vergleichbarkeit der Abschlüsse) ermöglichen und sich nationale Qualifikationsrahmen, wie gezeigt wurde, in einem institutionellen Kontext entwickeln, eignen sich neoinstitutionalistische Theorien und deren Mechanismen besonders, um zu diskutieren, weshalb die Entwicklung eines NQRs innerhalb institutioneller Spannungsfelder zwar zur Implementierung nationaler Qualifikationsrahmen, jedoch nicht automatisch zu deren Anwendung führt.
Diese „institutionelle Doppelfunktion“ von Institutionen, geht auf die Grundgedanken von Meyer und Rowan (vgl. 1977) sowie DiMaggio und Powell (vgl. 1983) zurück, welche den soziologischen Neoinstitutionalismus besonders prägten. In der neoinstitutionalistischen Argumentationsweise wird die Entstehung formal-rationaler Strukturen, also die Entstehung institutionalisierter Handlungsweisen dadurch erklärt, dass Institutionen bzw. Organisationen durch formal-rationale Strukturen versuchen, den gesellschaftlich institutionalisierten Vorstellungen bzw. den gesellschaftlichen Rationalitätserwartungen zu entsprechen und so zu Legitimation im jeweiligen Kontext zu gelangen. Hier wird der „Spielraum“ deutlich, den die neoinstitutionellen Theorien im Gegensatz zu den klassischen Institutionentheorien bei der Einhaltung gesellschaftlich institutionalisierten Vorgaben zulassen. Dieser „Spielraum“ ermöglicht es, institutionelle Vorgaben lediglich symbolisch zu befolgen und so die Konformität mit den in der gesellschaftlichen Umwelt institutionalisierten Erwartungen auf Ebene sogenannter „Formalstrukturen“ aufrecht zu erhalten. Diese „symbolische Konformität“ kommt darin zum Ausdruck, dass Institutionen bzw. Organisationen gesellschaftlich institutionalisierte Vorgaben über ihre Formalstrukturen abbilden, ohne ihre Aktivitätsstrukturen, also die tatsächlichen Abläufe in der Praxis entsprechend anzupassen. Darin gründet die Diskrepanz zwischen externen, von der Gesellschaft an die Institutionen herangetragenen Mechanismen und ihrer tatsächlichen Praxis. Regelwerke und Abläufe werden lediglich als Legitimation nach außen formal übernommen (vgl. Hass/Krücken 2009, 239). So wird zumindest gegen aussen einer gewissen Erwartungskonformität gefolgt, ohne Änderungen der tatsächlichen Abläufe in der Praxis auszulösen. So beeinflussen die als Formalstrukturen bezeichneten, institutionalisierten und handlungsweisenden Strukturen, zu welchen auch ein NQR gezählt werden kann, die tatsächlich realisierten Abläufe in der Praxis, also die „Aktivitätsstrukturen“, nur sehr begrenzt. Auf Ebene der Formstrukturen lässt sich daher zwar innerhalb relativ kurzer Zeit auf veränderten Kontexterwartungen reagieren, auf Ebene der Aktivitätsstruktur findet jedoch stets noch „business as usual“ statt (vgl. ebd., 239).
Grundlegender Mechanismus des soziologischen Neoinstitutionalismus gemäß DiMaggio und Powell (vgl. 1983) ist die „institutionelle Isomorphie“. Gemeint ist damit ein Strukturangleichungsprozess innerhalb des jeweiligen Kontexts der Institution, welcher aus drei zusammenwirkenden Mechanismen „mimetic“, „normative“ und „coercive isomorphism“ also aus Imitation, normativem Druck und Zwang besteht. Damit konkretisieren DiMaggio und Powell (vgl. 1983) im Gegensatz zu Meyer und Rowan (vgl. 1977) wie es zu den oben beschriebenen Formalstrukturen kommt und inwiefern der Kontext bzw. die „gesellschaftliche Umwelt“ dabei eine Rolle spielen. Hasse und Krücken (vgl. 2009, 240) führen diesbezüglich aus, dass insbesondere staatliche Vorgaben bzw. Rechtsvorschriften als durch „Zwang“ hervorgerufene Isomorphie gelten. Der rechtliche Kontext „zwingt“ quasi zur Strukturangleichung. Unter dem „mimetic isomorphism“ bzw. der Imitation lässt sich ein typischer Angleichungsmechanismus verstehen, der insbesondere in unsicheren Kontexten zu finden ist. Hasse und Krücken (vgl. 2009, 240) halten dazu fest: „Unklare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, heterogene Umwelterwartungen und der Mangel an eindeutigen Problemlösungstechnologien führen zu Prozessen wechselseitiger Beobachtung und Imitation“. Nicht zuletzt ist noch der normative Druck oder „normative isomorphism“ zu erläutern. Normativer Druck wird gemäß Hasse und Krücken (vgl. 2009, 240) insbesondere durch Professionen erzeugt. Diese bieten einen Orientierungsrahmen, der normative Bindungen aufzeigt und zur Bevorzugung spezifischer, fall- und organisationsübergreifender Problemlösungsmuster führt. Schimank (2007, 165) fasst die Mechanismen des institutionellen Isomorphismus wie folgt zusammen:
Grundlegend ist ein ‚mimetic isomorphism‘, der auf wechselseitige Beobachtung zwischen Akteuren zurückgeht, die von ihnen als besonders effizient und effektiv eingeschätzte Praktiken anderer Akteure kopieren; verstärkt wird dies oft durch einen ‚normative isomorphism‘, der auf Empfehlungen durch anerkannte Experten zurückgeht, und nicht selten auch durch einen ‚coercive isomorphism‘ auf der Grundlage rechtlicher Vorschriften, die ihrerseits meist Experteneinschätzungen kodifizieren.
4 Diskussion – neoinstitutionalistische Mechanismen im Entwicklungsprozess nationaler Qualifikationsrahmen
In diesem Kapitel sollen nun die vorgestellten zentralen neoinstitutionalistischen Mechanismen auf den Entwicklungsprozess des NQR-CH-BB in der Schweiz angewendet werden.
So lässt sich daher argumentieren, dass die Implementierung des NQRs deshalb zu einer eingeschränkten Anwendung führt, weil sich dieser als „Formalstruktur“ zur Legitimierung (berufsbildungs-)strategischer Bemühungen zeigt und so nur wenig Einfluss auf die tatsächlich realisierten Abläufe und konkreten Handlungen auf dem Bildungs- bzw. Arbeitsmarkt hat. Somit bleiben die sogenannten „Aktivitätsstrukturen“ gemäß Hass und Krücken (vgl. 2009, 239) unberührt. Daraus lässt sich eine mögliche Erklärung für die ausbleibende Wirksamkeit des NQRs in Bezug auf Mobilität, Gleichwertigkeit, Durchlässigkeit und lebenslanges Lernen ableiten. Auf die ausbleibende Wirksamkeit verweisen diverse Studien (vgl. z. B. Raffe 2013; Helgøy/Homme 2015). Insbesondere die Untersuchung von Raffe (vgl. 2013, 156) zeigt, dass die Wirkung eines implementierten NQRs geringer als erwartet ist und sie sich erst nach vielen Jahren zeigt, wobei keine einheitliche Wirkung Nationaler Qualifikationsrahmen festgestellt wird. Die Wirkung unterscheidet sich von Qualifikationsrahmen zu Qualifikationsrahmen. Viel beunruhigender ist jedoch, dass Belege für einige der zentralsten durch die Implementierung des NQR angestrebten Ziele größtenteils ausbleiben. So lässt sich beispielsweise nicht feststellen, dass die über den NQR angestrebte stärkere Ausrichtung der Berufsbildung an der Nachfrage des Arbeitsmarktes tatsächlich eintrifft bzw. den gewünschten Effekt erzielt. Des Weiteren gibt es auch kaum Belege, die darauf hindeuten würden, dass nationale Qualifikationsrahmen die Mobilität und den Zugang zu regionalen und globalen Arbeitsmärkten tatsächlich verbessern respektive erhöhen.
Obwohl diverse Studien schon vor der Implementierung des EQR die Wirksamkeit eines länderübergreifenden Qualifikationsrahmens in Frage gestellt haben und obschon auch nach der Implementierung bereits erste Studien die Wirksamkeit kritisch beleuchteten, arbeiteten dennoch alle Länder der Europäischen Union sowie weitere Ländern wie beispielsweise die Schweiz Nationale Qualifikationsrahmen aus. Eine mögliche Erklärung dafür liefert der Ansatz des „mimetic isomorphism“, also der Mechanismus der „Imitation“ gemäß DiMaggio und Powell (vgl. 1983). Die fehlende Erwartungssicherheit, welche politischen Entscheiden über Steuerungsmechanismen und Umsetzungsinstrumenten immanent ist, führt dazu, dass sich politische Akteure durch „Imitation“ zu helfen versuchen. Es werden Instrumente und Strategien von anderen übernommen, von denen man glaubt, dass sie zielführend sind. Unklare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, heterogene Umwelterwartungen und der Mangel an eindeutigen Problemlösungstechnologien sind im Sinne Hasse und Krücken (vgl. 2009, 240) als Erwartungsunsicherheit zu verstehen und sind für Prozesse wechselseitiger Beobachtung und Imitation verantwortlich. Der EQR sowie die darauffolgenden NQR sind Umsetzungsinstrumente, die im Anschluss an die Lissabon-Strategie entstanden sind, welche wiederum die günstige ökonomische und politische Lage um das Jahr 2000 zu nutzen versuchte, um mit langfristigen und messbaren Zielen die Europäische Gemeinschaft ökonomisch, sozial und ökologisch auf die Herausforderungen des technologischen Wandels und der Globalisierung vorzubereiten. Das Festlegen einer Strategie lässt sich allerdings als Ergebnisse von Erwartungsunsicherheit verstehen. Die Lissabon-Strategie sowie der darauffolgende Kopenhagen Prozess und die daraus entstandenen Umsetzungsinstrumente sind im Sinne von Hasse und Krücken (2009, 237) Institutionen, welche als „gesellschaftliche Erwartungsstrukturen“ für „angemessenes Handeln und Entscheiden“ sorgen und somit der von Berger und Luckmann (vgl. 1971) beschriebenen Funktion von Institutionen entsprechen, die darin besteht, eine gewisse Erwartungssicherheit herzustellen. Wie diese Erwartungssicherheit hergestellt wurde, erklärt der Mechanismus der Imitation gemäß DiMaggio und Powell (vgl. 1983). Denn aus der vorherrschenden Erwartungsunsicherheit heraus, orientierte sich die Europäische Union an bereits bestehenden Qualifikationsrahmen anderer Ländern und entwickelte dann den Europäischen Qualifikationsrahmen. Derselbe Mechanismus lässt sich auch auf die anschließende Entwicklung Nationaler Qualifikationsrahmen anwenden. Auch die verschiedenen europäischen Nationen, sowie die Schweiz, haben sich aufgrund ihrer jeweiligen Erwartungsunsicherheit in Anlehnung an den „mimetic isomorphism“ an den Entwicklungen anderer Nationaler Qualifikationsrahmen orientiert und eigene NQR erstellt.
Wird der Entwicklungsprozess des NQRs in der Schweiz weiter an den neoinstitutionalistischen Mechanismen gespiegelt, so kann die Einstufung der Berufsabschlüsse durch die Trägerschaften als Zwang, also als „coercive isomorphism“ gedeutet werden. Zwar wurden die Trägerschaften im Entwicklungsprozess des NQR-CH-BB relativ früh während den „Round Tables“ im Jahr 2011 einbezogen, dennoch wurde mit der „Verordnung über den nationalen Qualifikationsrahmen für Abschlüsse der Berufsbildung“ ein rechtlicher Kontext gebildet, welcher alle Organisationen der Arbeitswelt quasi zur Strukturangleichung im Sinne von DiMaggio und Powell (vgl. 1983), also zur Einstufung ihrer Berufe in den NQR, zwingt. Dies führt zwar zu einer oberflächlichen, wenn auch breiten Umsetzung des NQRs, doch scheinen Zweifel dahingehend angebracht, ob sich Trägerschaften unter „Zwang“ nach der Implementierung für eine tatsächliche Anwendung des NQR auf dem Arbeitsmarkt aussprechen. Denn auch hier lässt sich wieder in Anlehnung an Hass und Krücken (vgl. 2009, 239) argumentieren, dass es sich hierbei nur um die Implementierung einer institutionalisierten und handlungsweisenden „Formalstruktur“ handelt, welche zwar innert relativ kurzer Zeit auf die veränderten Kontexterwartungen reagiert, jedoch das auf der Ebene der Aktivitätsstruktur stattfindende „business as usual“ nur wenig tangiert.
Die Implementierung des NQRs in der Schweiz nahm vor allem vor dem Hintergrund der Stärkung der höheren Berufsbildung Fahrt auf. Werden Organisationen der Arbeitswelt gewissermaßen als „Professionsgruppen“ verstanden, so lässt sich argumentieren, dass die Entwicklung des NQR-CH-BB und die anschließende Einstufung der höheren Berufsabschlüsse unter ihrem normativen Druck entstanden sind. Dies, mit dem Ziel, künftig ein Orientierungsrahmen zu geben, welcher normative Bindungen aufzeigt und im Sinne Hasse und Krücken (vgl. 2009, 240) zur Bevorzugung spezifischer fallübergreifender Problemlösungsmuster führt. Wobei das bevorzugte spezifische fallübergreifende Problemlösungsmuster im NQR zu verorten ist, der zur angestrebten Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit allgemeinbildender wie berufsbildender Hochschulabschlüssen führen soll. Dass dies allerdings auf internationaler Ebene zum Scheitern verurteilt zu sein scheint (und somit eine vereinfachte Mobilität in Frage stellt), lässt sich in Anlehnung an die Untersuchung von Helgøy und Homme (vgl. 2015, 137) zeigen. Sie konnten feststellen, dass der Erfolg des EQR davon abhängt, inwiefern die Logik des EQR mit der nationalen Bildungspolitik übereinstimmt. Sie beobachteten, dass ein länderspezifischer institutioneller Widerstand gegenüber einer vollständigen Übernahme des EQRs in nationale Strukturen vorherrscht, weil länderspezifische Mind-Sets, also unterschiedliche Bildungskulturen, Bildungssysteme und Systemlogiken vorherrschen. Dies führt zu länderspezifischen Umsetzungen der NQRs und braucht daher einen ständigen Übersetzungs-Prozess, welcher stets vor dem Hintergrund institutionalisierten Praktiken geschieht. Mit anderen Worten: Was in der Schweiz mit der Entwicklung des NQR intendiert wird, geht im Übersetzungsprozess vom NQR-CH-BB zum EQR und dann weiter zu anderen NQR verloren, solange verschiedene Länder unter dem jeweils vorliegenden normativen Druck unterschiedliche Orientierungsrahmen verfolgen, und so unterschiedliche Problemlösungsmuster bevorzugen.
5 Fazit
Der vorliegende Beitrag beleuchtet den Entwicklungsprozess des Nationalen Qualifikationsrahmens der Schweiz. Unter Rückbezug auf Mechanismen neoinstitutionalistischer Theorien wurde hergeleitet, weshalb die Entwicklung des NQR-CH-BB innerhalb des institutionellen Spannungsfelds zwar zu seiner Implementierung, jedoch nicht automatisch zu dessen Anwendung führte.
Als zentrale Erkenntnis gilt, dass es sich beim EQR bzw. beim jeweiligen NQR um die Implementierung sogenannter „Formalstrukturen“ handelt, die zur Legitimierung (berufsbildungs-)strategischer Bemühungen dienen, jedoch nur wenig Einfluss auf die tatsächlich realisierten Abläufe und konkreten Handlungen auf dem Bildungs- bzw. Arbeitsmarkt haben. Die sogenannten „Aktivitätsstrukturen“ bleiben somit aus. Dabei ist auch das der Grund, weshalb im Entwicklungsprozess des NQR-CH-BB die Trägerschaften zwar aus (rechtlichem) Zwang alle Berufsabschlüsse binnen relativ kurzen Zeit eingestuft haben, auf Ebene der Aktivitätsstruktur jedoch das stattfindende „business as usual“, also die realisierten Abläufe und konkreten Handlungen, nicht dementsprechend anpassten.
Des Weiteren konnte hergeleitet werden, dass sowohl auf gesamteuropäischer wie auch auf nationaler Ebene die Entwicklung von Qualifikationsrahmen als Versuch zu verstehen ist, mit einer stets vorliegenden Erwartungsunsicherheit umzugehen. Die Lissabon-Strategie sowie der darauffolgende Kopenhagen Prozess und die daraus entstandenen Umsetzungsinstrumente, wie der EQR und die jeweiligen NQR, sind im Sinne von Hasse und Krücken (2009, 237) Institutionen, welche als „gesellschaftliche Erwartungsstrukturen“ für „angemessenes Handeln und Entscheide“ sorgen und somit der von Berger und Luckmann (vgl. 1971) Funktion von Institutionen entsprechen, die darin besteht, eine gewisse Erwartungssicherheit herzustellen. Im Streben nach Erwartungssicherheit orientierte sich die Europäische Union aufgrund unklaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, heterogenen Umwelterwartungen und Mangel an eindeutigen Problemlösungstechnologien an bereits bestehenden Instrumenten und Strategien von anderen Ländern. Dabei wurden jene Instrumente und Strategien übernommen, von man glaubte, dass sie zielführend sind. So entwickelten sich sowohl der Europäische Qualifikationsrahmen wie auch die jeweiligen Nationalen Qualifikationsrahmen. Auch die Schweiz hat sich aufgrund ihrer jeweiligen Erwartungsunsicherheit in Anlehnung an den „mimetic isomorphism“ an der Entwicklung anderer Nationaler Qualifikationsrahmen orientiert und dabei den NQR-CH-BB erstellt.
Ausserdem konnte im Entwicklungsprozess des NQR-CH-BB auch der normative Druck, als dessen Entwicklung prägender neoinstitutionalistischer Mechanismus festgemacht werden. So entstanden der NQR-CH-BB und die anschliessende Einstufung der höheren Berufsabschlüsse unter dem normativen Druck der Trägerschaften, welche zum Ziel hatten, eine Gleichwertigkeit und Vergleichbarkeit allgemeinbildender wie berufsbildender Hochschulabschlüssen zu implementieren.
Abschliessend lässt sich festhalten, dass sich die neoinstitutionalistischen Mechanismen durchaus eignen, mögliche Erklärungen für die ausbleibende bildungs- und arbeitsmarktliche Umsetzung des NQRs zu finden. Das Beispiel der Schweiz zeigt dabei exemplarisch auf, dass die Implementierung des NQRs insbesondere für Reformierungszwecke genutzt wurde. Es bleibt zu diskutieren, inwiefern diese Erkenntnisse auch auf die Implementierung anderer NQRs übertragen werde können. Fest steht jedoch spätestens seit der Studie von Pilcher, Scott und Smith (vgl. 2015), dass Untersuchungen zur Wirkung von Nationalen Qualifikationsrahmen sowohl undurchführbar als auch wenig gewinnbringend sind, denn es fehlt ein geeignetes Mass, das die Wirkung verschiedener, länderspezifischer NQRs messen könnte. Es wird daher empirisch schwer einzuschätzen bleiben, inwiefern Nationale Qualifikationsrahmen tatsächlich zur sozialen und geographischen Mobilität, Flexibilität, Transparenz, Durchlässigkeit, Gleichwertigkeit oder zum lebenslangen Lernen beitragen.
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Zitieren des Beitrags
Martins, R. (2020): Ein neoinstitutioneller Blick auf den Entwicklungsprozess des Nationalen Qualifikationsrahmens am Beispiel der Schweiz. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 39, 1-14. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe39/martins_bwpat39.pdf (17.12.2020).