bwp@ 39 - Dezember 2020

Berufliche Bildung in Europa – 20 Jahre nach Lissabon und am Ende von ET 2020. Entwicklungen und Herausforderungen zwischen supranationalen Strategien und nationalen Traditionen

Hrsg.: Karin Büchter, Karl Wilbers, Hubert Ertl, Dietmar Frommberger & Franz Gramlinger

Editorial bwp@39

Beitrag von Karin Büchter, Karl Wilbers, Hubert Ertl, Dietmar Frommberger & Franz Gramlinger

EDITORIAL zur Ausgabe 39:
Berufliche Bildung in Europa – 20 Jahre nach Lissabon und am Ende von ET 2020. Entwicklungen und Herausforderungen zwischen supranationalen Strategien und nationalen Traditionen

Zwanzig Jahre nachdem der Europäische Rat die „Lissabon-Strategie“ zur Schaffung des „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum“ verabschiedet hat und am Ende des 2010 von der Europäischen Kommission verabschiedeten Strategierahmens für europäische Zusammenarbeit „Education and Training 2020“ (ET 2020) möchten wir mit der Ausgabe 39 von bwp@ Bilanz ziehen. Unser Anliegen ist es, Antworten auf verschiedene Fragen zu bekommen. Besonders interessiert uns, inwieweit die in den letzten Jahren häufig diskutierten Spannungen zwischen nationalen Traditionen und Handlungslogiken in der beruflichen Bildung einerseits und supranationalen Interessen und Strategien andererseits auf nationalen Ebenen berufsbildungspolitisch und berufsbildungspraktisch gelöst wurden. In diesem Zusammenhang geht es uns auch darum, nach dem Einfluss von Maßnahmen der Europäischen Union auf nationale Berufsbildungsstrukturen, Berufsbildungspolitiken und Berufsbildungspraxis zu fragen. Schließlich möchten wir anhand von Einzelaspekten (Anerkennung beruflicher Abschlüsse, Attraktivität beruflicher Bildung, Durchlässigkeit und Mobilität und Integration) exemplarisch herausfinden, ob und inwieweit europäische Initiativen auf nationaler Ebene tatsächlich zu kohärenten und wirksamen Reformen geführt haben, oder ob sich die europäischen Strategien nach wie vor in einem fragmentierten Nebeneinander von Frameworks, Standards und Konzepten für die berufliche Bildung niederschlagen.

Teil 1: Berufliche Bildung im Spannungsfeld supranationaler Strategien und nationaler Traditionen

Die Beiträge in diesem Kapitel weisen auf Ursachen und Folgen von Diskrepanzen zwischen supranationalen Strategien und nationalen Eigenarten in der Berufsbildung hin. Dabei gehen sie exemplarisch auf die Bedeutung nationaler Traditionen und Konventionen ein, die nicht per se kompatibel sind mit europäischen Programmen. Es wird aus verschiedenen Perspektiven nach Möglichkeiten einer besseren politischen Verständigung zwischen europäischer und nationaler Ebene gefragt. Gleichzeitig wird deutlich, wie einzelne Länder auf der Suche nach Kompromissen neue eigene Wege einschlagen oder auch ihre nationale Identität in der Berufsbildung begründen und festigen.

Sandra Bohlinger und Dieter Münk kritisieren, dass sich die deutschsprachige Berufsbildungsforschung zu Europäisierung überwiegend nur mit der Frage nach supranationalen Reformkonzepten, ihren Einflüssen und Umsetzungen auf der Ebene nationaler Berufsbildung befassen. Mit ihrem Beitrag verfolgen sie ein umgekehrtes Anliegen, indem sie aus einer theoretischen Perspektive einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Ansätzen zum Politiktransfer und Ansätzen europäischer Integration herstellen, auch verknüpft mit dem Ziel eines besseren Verständnisses von und damit einer besseren Verständigung über europäische Berufsbildungspolitik. Der Beitrag ist Andreas Fischer gewidmet.

Ramona Martins zeigt am Beispiel der Schweiz, warum die Anwendung des Nationalen Qualifikationsrahmens auf dem (Berufs-)Bildungs- und dem Arbeitsmarkt keine Relevanz hat bzw. ausbleibt. Aus einer neoinstitutionalistischen Perspektive argumentiert sie, dass die Implementation des NQR in der Schweiz vor allem Folge eines äußeren Drucks war. Der Beitrag zeichnet nach, wie im Spannungsfeld zwischen europapolitischen Erwartungen und nationalen Konventionen die Schweiz zwar grundlegende strukturelle Veränderungen unterlassen hat, jedoch die Bemühungen um die Implementierung des NQR gleichsam auch als Prozess der Reflexion und teilweise Reformierung der beruflichen Bildung genutzt wurde.

Tim Zaunstöck, Fernando Marhuenda Fluixá, Alicia Ros Garridos und Martin Fischer setzen sich in ihrem Beitrag rückblickend mit der Frage nach den Entwicklungen der spanischen Berufsbildung seit dem Beitritt Spaniens zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1986 auseinander. Einen Schwerpunkt der Reflexionen bilden die Beziehungen zwischen der europäischen und der spanischen Berufsbildungspolitik. Der Beitrag verdeutlicht, wie in dem Arrangement von europäischen Prozessen und historisch-kulturell gewachsenen Besonderheiten der spanischen Berufsbildung Spanien an seiner nationalen Identität in der Berufsbildung festhält.

Christian Schmidt untersucht vor dem Hintergrund aktueller Ziele europäischer Berufsbildungspolitik Entwicklungen betrieblicher Ausbildungsformen in den zwei europäischen Nationen, die nicht über ein institutionalisiertes duales System verfügen: Irland mit einem marktbasierten Modell beruflicher Qualifizierung und Italien mit einem schulbasierten und staatlich regulierten Modell der Berufsbildung. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, ob und inwieweit Postulate der EU-Kommission zu dualen Ausbildungsformen Eingang in diese Länder mit nicht dualisierter Ausbildung finden. Das Ergebnis der Analyse ist eher ernüchternd, da in beiden Ländern traditionell bedingt Widerstände deutlich werden.  

Andreas Diettrich und Franka Marie Herfurth widmen sich in ihrem Beitrag der Frage nach einem Weg, Anforderungen an grundständige berufliche Qualifikationen mit europäischem Bezug mit nationalen ordnungspolitischen Regelungen in Einklang zu bringen. Im Rahmen eines Entwicklungsprojektes, das die wirtschaftliche Vernetzung von Unternehmen durch eine gemeinsame Berufsbildung zum Ziel hatte, sollten grenzüberschreitende einjährige Berufsbildungen pilotiert werden. Dabei wurde deutlich, dass hohe Standards in der Berufsausbildung auf nationaler Ebene Bottom-Up-Prozesse der europäischen Angleichung erschweren.

Teil 2: Praktische Realitäten im Offenen Raum Berufliche Bildung

Anhand des Umgangs mit Leitzielen europäischer Programme zur beruflichen Bildung lassen sich auf der Grundlage der folgenden Beiträge Möglichkeiten und Grenzen der Realisierung des Anspruchs beruflicher Bildung als offener Raum in Europa anhand unterschiedlicher Einzelaspekte (Anerkennung, Employability) hinterfragen.

Hendrickje Catriona Windisch geht davon aus, dass der Zustrom von Asylbewerber*innen in die Europäische Union insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 zu einem Bedeutungszuwachs von Fragen der Anerkennung non-formalen und informellen Lernens im Kontext der Suche nach Integrationsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt geführt hat. Allerdings, so die Ausgangsthese, sei diese Frage der Integration nur zögerlich in den europäischen Ländern, also auch in Deutschland aufgenommen und behandelt worden. Anhand einer Rekonstruktion von Anerkennungspolitiken wird deutlich, dass traditionell auf formale Abschlüsse fixierte Länder wie Deutschland sich schwertun mit der Anerkennung non-formaler und informeller Qualifikationen.

Martin Schmid widmet sich in seinem Beitrag der Frage, inwiefern seit der Europäisierung der beruflichen Bildung auch non-formal und informell erworbene Kompetenzen zu selbstverständlichen Bestandteilen beruflicher Bildung und ihrer Abschlüsse geworden sind. Dazu werden für die Länder Deutschland, Österreich und Schweiz, also in Ländern mit einem dualen System der Berufsausbildung, Möglichkeiten analysiert, außerschulisch erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten validieren und anerkennen zu lassen. Allen drei Ländern werden Defizite im Hinblick auf die Anerkennungspraxis bescheinigt, was die Frage nach der Verbesserung und Verrechtlichung von Validierungsverfahren aufwirft.

Petra Kern setzt sich in ihrem Beitrag mit der durch die Bologna-Reform von 1999 verbreiteten Kategorie der Employability auseinander. Der Begriff Employability impliziert seither die Vorstellung von einem fließenden Übergang zwischen nicht-akademischer beruflicher Bildung und Hochschulbildung. Anhand von drei aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen, die sich mit dem Begriff Employability verbinden lassen, zeigt der Beitrag, dass, obwohl Employability im Laufe der 20 Jahre zu einer festen Chiffre im Veränderungsprozess hochschulischer Bildung geworden ist und seither auch das Verhältnis von beruflicher und akademischer Bildung neu gedacht wird, nach wie vor Indifferenzen auf der Umsetzungsebene bestehen.

Teil 3: Frameworks, Klassifikationen und Konzepte zur Unterstützung europäischer Initiativen

Die folgenden Beiträge setzen sich mit Instrumenten europäischer Berufsbildungsinitiativen auseinander und verdeutlichen die Komplexität ihrer Steuerung und Implementationsprozesse.

Im Mittelpunkt des Beitrags von Verena Watzek und Regina H. Mulder stehen Frameworks zur Qualitätssicherung beim Lernen am Arbeitsplatz in der beruflichen Bildung in Europa. Dabei geht es vor allem um den Prozess der Entwicklung und Kategorisierung von Indikatoren für die Qualitätssicherung beim Lernen am Arbeitsplatz in Unternehmen und um die entsprechenden Entscheidungsprozesse. Ziel ist es herauszufinden, ob und inwiefern die Indikatoren über verschiedene europäische Länder hinweg vergleichbar sind. Der Beitrag belegt den hohen Stellenwert, den das Thema Qualität des Lernens am Arbeitsplatz in den verschiedenen Ländern hat, sowie gleichzeitig eine große Bandbreite an Bestrebungen zur Qualitätssicherung.

Silvia Annen, Hannelore Mottweiler und Isabelle Le Mouillour untersuchen die „Taxonomy of Skills, Competences, Qualifications and Occupations“ (ESCO), eine Klassifikation, die als Bezugsinstrument die Steuerung der Arbeitnehmer*innenmobilität in Europa unterstützen soll. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Frage nach bedeutsamen Koordinierungs- und Steuerungsformen im Kontext von ESCO. Anhand einer Governance-Analyse werden die formal-regulative, akteurs- und aufgabenbezogene Komplexität sowie Diskurse und Logiken bei der Konstruktion und Implementation von ESCO betrachtet. Der Beitrag liefert Hinweise auf steuerungspolitische Herausforderungen.

Léna Krichewsky-Wegener befasst sich angesichts diverser Programme der Mobilitätsförderung von Jugendlichen in der beruflichen Bildung in ihrem Beitrag mit dem Phänomen internationaler Mobilität in der Berufsbildung. Anhand einer umfassenden Analyse von deutschen und französischen Forschungspublikationen kommt sie zu dem Befund, dass im Gegensatz zu den berufsbildungspolitischen Postulaten und Programmen Mobilitätsforschung in beiden Ländern eine eher geringe Rolle spielt und fragt nach Möglichkeiten der Intensivierung internationaler Mobilitätsforschung.

Teil 4: Eingeladene Beiträge aus Europa

In diesem Teil versammeln wir bis zum Mai 2021 Beiträge europäischer Kolleg*innen, die aus ihrer jeweiligen nationalen Sicht die Bedeutung historischer, kultureller und politischer Traditionen, Werte und Strukturen einzelner Länder bei der Rezeption und Umsetzung europäischer Programme rekonstruieren und analysieren.

Susan James Relley und Ewart Keep, Vereinigtes Königreich, gehen in ihrem Beitrag davon aus, dass das Vereinigte Königreich hinsichtlich seiner Reaktion auf die (berufs-)bildungspolitische Programmatik der EU eine Außenseiterposition eingenommen hat. Aufgrund eigener kultureller Werte und staatsbürgerlicher Konzepte, so eine These, waren die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU und damit das Erreichen einer gemeinsamen Sichtweise problematisch. Auf der Basis politischer Dokumente und Forschungsbefunde wird diese Diskrepanz in der (Berufs-)Bildungspolitik dargestellt und im Kontext des Verhältnisses zwischen EU und UK reflektiert.

Matteo Sgarzi, Frankreich, rekonstruiert in seinem Artikel den langjährigen Prozess bis zur Verabschiedung des französischen Qualifikationsrahmens, der im Zusammenhang mit der rechtlichen Regulierung der freien Berufswahl im Jahr 2018 eingeführt wurde. Die historische Perspektive verdeutlicht die Bedeutung nationaler Prinzipien von Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit im Entwicklungsprozess des NQR sowie die Notwendigkeit, die Freiheit der Bürger bei Entscheidungen über Ausbildung und Karriere durch eine entsprechende Infrastruktur und partizipative/sozialpartnerschaftliche Prozesse zu unterstützen.

Hans Daale, Niederlande, reflektiert europäische Entwicklungen auf der Grundlage der Erfahrungen im europäischen Chain5-Netzwerk, das sich selbst als Community of practice für den Qualifikationsstufe EQF5 versteht. Er blickt auf die Gestaltung der hochschulischen Bildung und den europäischen Hochschulraum und vermisst diese Dynamik in der Berufsbildung. Qualifikationen auf der EQF-Stufe 5 versteht er dabei als Grundlage für einen neu zu entwickelnden Bereich der „Vocational-Professional Education" (VPE) und eben nicht einer höheren Berufsbildung.

Nicht nur der vierte Teil, sondern die gesamte Ausgabe wird bis zum Online-Start von Ausgabe 40 noch durch eine Reihe weiterer Beiträge ergänzt werden. Der Start ist aber gemacht und das ganz knapp nach der Veröffentlichung der neuen “Council Recommendation on vocational education and training (VET) for sustainable competitiveness, social fairness and resilience“[1] vom 24. November 2020 und der “Osnabrück Declaration“[2] vom 30. November 2020 – zwei für die Berufsbildung in Europa wichtige Ereignisse, die eine politische Weichenstellung bedeuten und die wissenschaftliche Diskussion gut vertragen können.

Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, beim Redaktionsteam und der Webmasterin für die gute Zusammenarbeit und wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Karin Büchter, Karl Wilbers, Hubert Ertl, Dietmar Frommberger & Franz Gramlinger
(im Dezember 2020)

 

[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32020H1202(01)&from=EN

[2] https://www.cedefop.europa.eu/files/osnabrueck_declaration_eu2020.pdf

Zitieren des Beitrags

Büchter, K./Wilbers K./Ertl, H./Frommberger, D./Gramlinger, F. (2020): EDITORIAL zur Ausgabe 39: Berufliche Bildung in Europa – 20 Jahre nach Lissabon und am Ende von ET 2020. Entwicklungen und Herausforderungen zwischen supranationalen Strategien und nationalen Traditionen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschafts­päda­gogik – online, Ausgabe 39, 1-5. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe39/editorial_bwpat39.pdf (17.12.2020).