bwp@ 44 - Juni 2023

Berufliche Bildung und Regionalentwicklung

Hrsg.: Karin Büchter, Nicole Naeve-Stoß, Laura Büker & Marco Hjelm-Madsen

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in der Euregio Rhein-Waal: Ein möglicher Beitrag zur Regionalentwicklung?

Beitrag von H.-Hugo Kremer & Stephanie Wilde
Schlüsselwörter: Mobilitäten; Tandempartnerschaften; Euregio Rhein-Waal; Niederlande; Deutschland; euregionale Entwicklung

Mobilitäten und Austausch im Kontext der Berufsbildung in der Euregio Rhein-Waal stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags. Diese Grenzregion in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden ist der (eu)regionale Kontext für Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung. Die Eigenschaften dieser Euregio werden zusammengefasst und die Struktur des Netzwerks Ler(n)ende Euregio wird dargestellt.

Der mögliche Beitrag von grenzüberschreitendem Austausch in der beruflichen Bildung für die Regionalentwicklung in diesem spezifischen Kontext wird diskutiert. Der Austausch geschieht über die Struktur von Tandempartnerschaften, die in diesem Projekt begleitet wurden, aber auch über andere Aktivitäten (Berufswettbewerbe, Berufsbeschreibungen und sprachliche Unterstützung). Das Zusammenspiel zwischen dem Individuum und regionalen Kontext wird herausgearbeitet.

Weitere mögliche Forschungsthemen werden präsentiert, wie beispielsweise die Rolle der Betriebe im grenzüberschreitenden Austausch in der beruflichen Bildung und die Frage nach dem Erlernten in diesem Austausch.

Dutch-German cross-border co-operation in vocational education and training: A potential contribution to regional development?

English Abstract

The focus of this paper is on mobility and exchange in the context of vocational education and training (VET) in the Euregio Rhine-Waal. This cross-border region in North Rhine-Westphalia and the Netherlands is the (eu)regional context for VET exchange discussed in this paper. The characteristics of this Euregio are summarised and the structure of the Learning Euregio Network, which is active in this region in the field of VET, is presented.

The paper discusses the potential contribution of cross-border exchange in VET for regional development in this specific context, using the example of the structure of tandem partnerships, which were the focus of a research project, but also other relevant activities (skills competitions, descriptions of occupations and language support). The interplay between the individual and the regional context is outlined.

Further potential research topics are presented, such as the role of companies in cross-border exchange in VET and the question of what is learned during such exchanges.

1 Einführung: Interpretation der Regionalentwicklung in einer ‚Euregio‘

In der Euregio Rhein-Waal wurden seit mehr als 20 Jahren in den verschiedenen INTERREG (Förderprogramm zur Europäischen Zusammenarbeit) Förderphasen Projekte zur Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung durchgeführt. Basis des vorliegenden Beitrags ist eine Aufarbeitung dieser Aktivitäten in den verschiedenen Projektphasen und eine explorative Studie zur Bestimmung von spezifischen Möglichkeiten und Grenzen des Austauschs resp. Mobilitäten von Lernenden und Lehrenden in Berufskollegs und den berufsbildenen Zentren in den Niederlanden (regionaal opleidingencentrum, ROCs) (vgl. Ler(n)ende Euregio o. J.; Kremer/Stelzer/Wilde 2022, 64-84). Im Kern der Zusammenarbeit steht die Eröffnung von Lernangeboten in und mit dem Nachbarland mit einer Verschränkung von Zielkorridoren, die einerseits auf Lernen und Kompetenzentwicklung der Lernenden ausgerichtet sind und andererseits regionalen Entwicklung beitragen sollen. Damit steht zwar der Austausch von Lernenden im Zentrum der Zusammenarbeit des Netzwerks Ler(n)ende Euregio (das Netzwerk für den Austausch zwischen berufsbildenden Schulen in dieser Grenzregion, für berufliche Wettbewerbe und Projekte zur Übersetzung von Schlüsselbegriffen für bestimmte Berufe), allerdings sind diese verbunden mit dem Ziel, die Barrierewirkung der Grenze zu reduzieren, indem zum Beispiel der jeweilige Arbeitsmarkt ‚über die Grenze‘ aktiver wahrgenommen und die Fahrt ‚über die Grenze‘ zum Tanken, Shoppen oder Feiern differenzierter verstanden wird.

Die Zusammenarbeit in derartigen Grenzregionen kann vielfach auf eine lange Tradition und vielfältig kooperativ ausgerichtete Förder- und Entwicklungsprojekte zurückblicken. Diese Kooperationszusammenhänge sind damit konfrontiert, dass die jeweiligen Institutionen und Regelungen zu berücksichtigen sind, Kulturen gleichermaßen Ähnlichkeiten und grundlegende Unterschiede aufweisen und die Verflechtungen in einer Euregio ein Zusammenspiel entwickeln und finden müssen. Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der beruflichen Bildung und bietet einerseits Einblicke in die langjährigen Formen der Zusammenarbeit und andererseits Erkenntnisse eines Pilotvorhabens zur Konzeption von Austauschen und Mobilitäten einer grenznahen Berufsbildungsarbeit. Abschließend möchten wir besondere Potenziale einer grenznahen Zusammenarbeit im Bereich der beruflichen Bildung im Kontext der Regionalentwicklung diskutieren. Wir bieten Einblicke in die Zusammenarbeit in der Euregio Rhein-Waal und insbesondere über eine Untersuchung zu Tandempartnerschaften von ‚beruflichen Schulen‘ aus den Niederlanden und Deutschland, Einblicke insbesondere Potenziale zur Mobilitätsarbeit in der beruflichen Bildung aufzeigen.

Der regionale Kontext für diesen Beitrag ist die niederländisch-deutsche Grenzregion ‚Rhein-Waal‘, die auch Euregio genannt wird. Euregio wird aus den Begriffen europäisch und Region gebildet und bezeichnet eine Grenzregion in der Europäischen Union. Die Bundeszentrale für politische Bildung liefert folgende breite Definition:

„Euregio versteht sich als einen grenzüberschreitenden Zusammenschluss lokaler und regionaler Gebietseinheiten der EU auf wirtschaftlichem, kulturellem und gesellschaftlichem Gebiet. Ziel ist es, die Regionen zu vernetzen, den Zusammenhalt und das europ. Bewusstsein der EU-Bürger zu stärken. Besonders gut funktioniert das in der dt.-niederl. Grenzregion. 1958 wurde die erste E. (Euregio, Anm.) Enschede-Gronau gegründet. Solche Kooperationen sind erfolgreich bei grenzüberschreitender Raum- und Bauplanung, gemeinsamen Fremdenverkehrsregelungen oder Abwassersystemen. Es gibt ferner die Möglichkeit, Lehrer für eine länderübergreifende Tätigkeit auszubilden. »E.-Lehrer« unterrichten in den Grenzregionen zweisprachig und konzentrieren sich auf die interkulturelle Erziehung. Eine enge Definition einer E. ist nicht möglich, da jede E. über eine unterschiedliche Organisationsstruktur verfügt (z. B. punktuelle Zusammenarbeit, lose Arbeitsgemeinschaften, parlamentarische Versammlungen oder öffentlich-rechtliche Zweckverbände). Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Regionalentwicklung wird über Förderprogramme der Gemeinschaftsinitiative INTERREG finanziert.“ (Chardon 2020)

Der Beitrag stützt sich sowohl auf die Dokumentenanalyse des Netzwerks Ler(n)ende Euregio als auch auf die Auswertungen von Interviews mit Fokusgruppen, die mit Lehrenden und Schulleitungen im Netzwerk Ler(n)ende Euregio stattgefunden haben (vgl. Kremer/Stelzer/Wilde 2022). Die erste Aufgabe im Begleitprojekt war, einen Überblick über die Historie und die Dokumente des Netzwerks zu gewinnen. Einschlägige Dokumente haben die Anfänge (vgl. u. a. Hövels/Kutscha 2001) und die Entwicklung (vgl. Keppels/Frietman/Frietman 2019) des Netzwerks zusammengefasst und chronologisch in einer Zeitlinie präsentiert (KBA, o. J.). Seit 1999 haben mehr als 30.000 Lernende das Nachbarland besucht sowie sind auch Gastgeber*innen gewesen (lerende euregio, o. J.).

2 Annäherungen an die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in der Euregio Rhein-Waal

In diesem Kapitel stellen wir die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in der Euregio Rhein-Waal vor. Zunächst kennzeichnen wir die Merkmale und Eigenschaften der Region mit besonderer Bedeutung für die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung. Darauf aufbauend stellen wir die besonderen Möglichkeiten, die Formen der Zusammenarbeit und die Potenziale heraus. Wir schließen mit einer Kennzeichnung von Treibern und Hemmnissen im Rahmen der euregionalen Zusammenarbeit in der Berufsbildung.

Es existieren auf verschiedenen Ebenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in dieser Grenzregion, die teilweise durch die Tandemarbeit in Partnerschaften im Kontext der berufsbildenden Bildung deutlich werden. Beispielsweise arbeiten die Lehrenden und Lernenden im Gartenbau im selben Klima und mit denselben saisonalen Bedingungen. Im Einzelhandel gibt es eine besondere Grenzregion, die für den Sektor Möglichkeiten aber auch Schwierigkeiten verursacht.

In Bezug auf allgemeinen Gemeinsamkeiten sind Klima, Logistik und Geografie zu nennen. Schwierigkeiten existieren im Bereich Umgang mit der gemeinsamen Geschichte, die die zwei Regionen auch trennt, die weiterexistierende Barrierewirkung der Grenze, Sprache (die jeweiligen Nachbarsprachen sind nicht immer Priorität für Lernende, auch wenn sie in einer Grenzregion leben) und in den Unterschieden in den Kulturen der Wirtschaft und der Politik.

2.1 Kennzeichnung der Euregio Rhein-Waal

Einschlägige Eigenschaften der Euregio Rhein-Waal sind folgende:

  • eine Fläche von 9831 km²;
  • eine gemeinsame Bevölkerung von 4.883.737 (davon 2.996.411 in den Niederlanden und 1.887.326 in Deutschland), mit einer Bevölkerungsdichte von 497/ km²;
  • eine Anzahl von 300.000 Unternehmen;
  • eine Arbeitslosenquote von 4,9 %;
  • ein Handlungsvolumen von den Niederlanden nach Nordrhein-Westfalen (NRW) von € 31.821.000.000 und von NRW in die Niederlande von € 18.449.000.000;
  • 54 Berufskollegs und 14 Hochschulen und Universitäten;
  • in den Bereichen Infrastruktur und Logistik: neun Häfen, drei Flughäfen (Düsseldorf, Weeze und Eindhoven) und Bus- und Bahnverbindungen (Euregio, 2019).

Eine Arbeitsmarktanalyse der Euregio Rhein-Waal (vgl. Euregio Rhein-Waal/GrenzInfoPunkt, 2019) legt den Fokus auf die Merkmale des Arbeitsmarktes, die Beschäftigungslage, offene Stellen und Arbeitssuchende und Arbeitslose. Der Bericht zeigt dabei einige Eigenschaften der einzelnen Arbeitsmärkte und des gemeinsamen Arbeitsmarktes in der Euregio Rhein-Waal auf. Im entsprechenden Arbeitsgebiet der Euregio Rhein-Waal sind 29 niederländische und 20 deutsche Gemeinden Mitglieder. In der deutschen Grenzregion finden sich Duisburg, Düsseldorf sowie die Kreise Kleve und Wesel, wohingegen in der niederländischen Grenzregion Arnhem und Nijmegen und die Regionen Achterhoek, Nordost-Brabant, Süd-West-Gelderland und die West-Veluwe liegen (Euregio Rhein-Waal/GrenzInfoPunkt, 2019, 4). Eine Herausforderung in der Darstellung der wirtschaftsrelevanten Informationen der Grenzregion liegt darin, dass die verfügbaren Daten für die jeweiligen Länder und nicht für dieses Arbeitsgebiet sind (Euregio Rhein-Waal/GrenzInfoPunkt, 2019, 18). Die Branchen, die Fachkräftemangel aufweisen, sind in beiden Ländern gleich: Technik, Logistik, Pflege und Gastronomie, wobei es in den Niederlanden zusätzlich in den Branchen Wirtschafts- und Rechtsberufe und IT-Berufe mehr Bedarf an Fachkräften als in der deutschen Region gibt, wohingegen im deutschen Teil der Euregio Rhein-Waal im Bauwesen mehr Fachkräfte als im niederländischen Teil gesucht werden (Euregio Rhein-Waal/GrenzInfoPunkt, 2019, 19). In diesem Kontext könnte die berufliche Bildung und insbesondere die Berufsberatung eine entscheidende Rolle spielen. Eine einschlägige Einschätzung der Bildungsinstitutionen und der beruflichen Bildung in dieser Grenzregion in Bezug auf die Berufswahl, die Strukturen der beruflichen Bildung, den Fachkräftemangel und die Arbeitslosigkeit könnte diese Arbeitsanalyse ergänzen.

In Bezug auf die Grenzpendler arbeiten mehr Deutsche in den Niederlanden als umgekehrt. Die Arbeitsmarktanalyse der Euregio Rhein-Waal präsentiert die folgenden wichtigen Bedingungen für das Arbeiten über die Grenze:

  • Aufklärung potenzieller neuer Grenzgänger, auch durch derzeitige Pendler;
  • Starke Vernetzung von Unternehmen, Behörden und Bildungseinrichtungen;
  • Grenzüberschreitende Ausbildung sowohl an Schulen als auch bei der Weiterbildung von Arbeitssuchenden;
  • Gute Unterstützung des Grenzgängers in der Einarbeitungsphase seiner neuen Tätigkeit im Nachbarland (Euregio Rhein-Waal/GrenzInfoPunkt, 2019, 19).

2.2 Euregio Rhein-Waal: Besonderheiten einer euregionalen Zusammenarbeit und Einblicke in das Netzwerk Ler(n)ende Euregio

Die Besonderheiten dieser Zusammenarbeit liegen teilweise im geographischen Kontext begründet, da die teilnehmenden berufsbildenden Schulen trotz kultureller, bildungspolitischer und sprachlicher Unterschiede nicht weit voneinander entfernt sind und diese Grenzregionen gemeinsame Eigenschaften (Landschaft, Klima, den Fluss Rhein-Waal) und Dienstleistungen (Transportverbindungen, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeitaktivitäten und Sport) aufweisen. Diese Grenzregion teilt gemeinsame sozio-ökonomische Faktoren, die für beide Nachbarländer, sei es in der Logistik oder auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen, wirtschaftlich entscheidend sind.

Die Wahrnehmung dieser Gemeinsamkeiten in der Grenzregion Rhein-Waal kann für Lernende und Lehrende durch den Austausch mit berufsbildenden Schulen in der Grenzregion geschärft werden. Dieser Austausch bietet die Gelegenheit, den Blickwinkel zu ändern und die eigene Region mit der Perspektive der anderen wahrzunehmen. Insofern ist der Wechsel zwischen der Gastrolle und der Gastgeberrolle entscheidend, da Erkenntnisse durch diesen wechselseitigen Perspektivwechsel gewonnen werden können.

In Bezug auf die interkulturelle Verständigung bietet die größere Offenheit für das Nachbarland einen möglichen Zugewinn durch den Tandemaustausch der berufsbildenden Schulen. Insofern ist die Kompetenzentwicklung, die im jeweiligen Bildungsgang verankert ist, mit der Entwicklung von kommunikativen und interkulturellen Kompetenzen zusammenzuführen. Für die Sprachkompetenz kann die Erwartungshaltung selbstverständlich nicht sein, dass alle Lernenden und Lehrenden die jeweilige Sprache sprechen und verstehen. Kommunikationsstrategien zu entwickeln, die es ermöglichen, dass die Gruppen sich verständigen können, ist jedoch Teil der Erfahrung in der Grenzregion. Zum Teil wird auf Englisch oder mit Gesten kommuniziert und natürlich werden hier auch Online Tools für die Übersetzung herangezogen. Gerade dieser gemeinsame Prozess ist Teil des ‚gemeinsam Erlebten‘ für die Lernenden und Lehrenden im Austausch.

In diesem Zugang über die Besonderheiten einer grenzüberschreitenden beruflichen Bildung und Regionalentwicklung treffen unterschiedliche regionale Institutionen und Organisationen aufeinander. Dazu gehören zum Beispiel die Strukturen der beruflichen Bildung (vgl. hierzu Busse/Frommberger/Meijer 2016), die Standorte der Euregios aber auch die Arbeitsämter und anderen relevanten Behörden. Der Zugang zu den einschlägigen Besonderheiten, die für die berufliche Bildung in der Regionalentwicklung in dieser Grenzregion relevant sind, wird durch den Austausch erweitert und fokussiert. Die berufliche Bildung und deren Institutionen und betriebliche Partner existieren nicht in einem Vakuum und können deswegen nicht isoliert betrachtet werden. Die Gestaltung der Zusammenarbeit (innerhalb der Grenzregion sowie des jeweiligen niederländischen und deutschen Kontexts) kann Synergien in der Regionalentwicklung, aber auch Irritationen und Missverständnisse aufzeigen. Unterschiedliche nationale, regionale und lokale Organisationen, Institutionen und Denkweisen treffen aufeinander. Gerade an dieser Schnittstelle entsteht die Möglichkeit, in der Regionalentwicklung gemeinsam Lehr- und Lernprozesse zu erleben und zu reflektieren. Hier besteht allerdings die Gefahr, dass die Prozessperspektive dominiert, da die Zusammenarbeit auf institutioneller, bildungspolitischer und sozio-ökonomischer Ebene Komplexitäten aufweist. Die interkulturellen Aspekte der Tandempartnerschaften in der beruflichen Bildung in Form der Kommunikation, der gemeinsamen Erlebnisse und der offenen Diskurse wirken dieser Prozessperspektive jedoch entgegen.

Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio gestaltet über 20 Jahre in diesem Grenzbereich Mobilitäten, Austausche, berufsbezogene Wettbewerbe und die Unterstützung des beruflichen Spracherwerbs. Diese Aktivitäten sind in einer Zeitlinie zusammengefasst worden, die die verschiedenen Meilensteine (abgeschlossene Projekte, weitere INTERREG-Phasen, Publikationen) betont. Die Zeitlinie zeigt sechs Phasen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf, die alle ähnliche Ziele haben (gemeinsame Projekte in den Bereichen Bildung, Wirtschaft und Kultur) (KBA o. J.).

Der Name des Netzwerks Ler(n)ende Euregio ist dabei ein Wortspiel: leren ist das niederländische Wort für lernen. Deswegen heißt das Netzwerk Ler(n)ende Euregio. Lernen steht im Mittelpunkt des Netzwerks, welches ein Projektmanagementteam und zuständige Projektmanager*innen für die berufsbildenden Schulen in den Niederlanden und in Deutschland hat, die den teilnehmenden Schulen Unterstützung und Beratung bieten. Dieser Rahmen trägt dazu bei, dass die beteiligten Lehrenden bei Fragen oder Unklarheiten Ansprechpartner*innen haben. Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio bietet einen Rahmen für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, welches eine unterstützende Funktion einnimmt, die wegen der Unterschiede in der Institutionalisierung und in den Verwaltungsstrukturen in den beiden Nachbarländern eine wichtige Rolle spielt. Die euregionale Entwicklung in dieser Grenzregion beinhaltet Herausforderungen, die strukturell, institutionell und kulturell sind. Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio bietet einen Ansatz dafür, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann, und wie die Grenzen der Regionalentwicklung erkannt und respektiert werden können. Die komplexen und vielfältigen Ebenen (regional, euregional, national) müssen in diesem Kontext berücksichtigt werden. Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio bietet somit eine Option für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung, die jedoch keine vollendete Lösung darstellt.

Die Komplexität dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit liegt teilweise im herausfordernden Ziel, die Barrierewirkung der Grenze zu reduzieren, und gleichsam in der Vielfalt der teilnehmenden Institutionen und Gebiete (Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung, Infrastruktur, Verkehr, Umwelt und Natur, Sprache und Kultur, öffentliche Sicherheit, soziale Netzwerke und Gesundheitswesen). Die Betriebe in der Euregio Rhein-Waal vertreten jeweils die Kamer van Koophandel und die Industrie- und Handelskammer.

Im Überblick wurde klar, dass das Netzwerk verschiedene Aktivitäten umfasst, die für die berufliche Bildung und für den Arbeitsmarkt innerhalb der niederländisch/deutschen Grenzregion Rhein-Waal relevant sind. Die berufliche Bildung bietet in diesem Kontext klare Möglichkeiten für den regionalen Austausch. Das Netzwerk hat zusätzlich zu den Tandempartnerschaften zwischen ROCs (regionaal opleidingencentrum) in den Niederlanden und Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen die folgenden Arbeitsfelder: Neben Mobilitäten von Lernenden und Lehrenden haben Wettbewerbe eine besondere Bedeutung. Dabei wurden in ein- oder auch mehrtägigen Veranstaltungen Lernenden aus ausgewählten Berufsfeldern (u. a. hatte der Einzelhandel hier eine besondere Bedeutung) zusammengeführt und konnten sich hier in spezifischen Handlungen messen. In den Wettbewerben arbeiten die Lernenden in bi-kulturellen oder auch in internationalen Gruppen. Hiermit üben sie interkulturelle Zusammenarbeit und Kooperation. Damit wurden auch Arbeiten vorgenommen, die sich im Zuge der Zusammenarbeit resp. -führung von Lernenden und Lehrenden zeigen, so z. B. die Erfassungen von wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren in der Grenzregion; die Entwicklung von Berufsbeschreibungen in beiden Sprachen; Herstellung von Glossaren für bestimmte Berufe in beiden Sprachen; Tagungen zu einschlägigen Themen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, z. B. Möglichkeiten und Grenzen des Spracherwerbs, Annäherungen an spezifische Kompetenzen für berufliche (Euregio-Kompetenz)..

Die folgenden Aspekte führen Gestaltungserfahrungen und Bedingungen für die Zusammenarbeit

  • Die Nachhaltigkeit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der Kontakte;
  • Die Niederschwelligkeit der grenzüberschreitenden Austausche, sodass diese Gelegenheit ohne finanzielle und kulturelle Barrieren für Lernende zugänglich ist;
  • Das Ziel des ,gemeinsamen Erlebten‘, das das Kernstück der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit bildet;
  • Der Aufbau von relevanten und nachhaltigen, betrieblichen und institutionellen Kontakten;
  • Die Sicherung von Finanzierungen und die Annahme, dass die Lernenden immer im Mittelpunkt dieser grenzüberschreitenden Arbeit stehen.

Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio bietet einen Rahmen und Unterstützung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Genau hier zeigen sich auch Grenzen für eine dauerhafte Implementation, da die Zusammenarbeit von den Finanzierungs- und Unterstützungsstrukturen des Netzwerks abhängig ist und dieses nur eine projektförmige Finanzierung erfährt. Dementsprechend kann auch festgestellt werden, dass die Formen der Zusammenarbeit nicht systematisch entwickelt werden, sondern deutlich von individuellen Bereitschaften, Erfahrungen abhängig sind und kaum über die Projektaktivitäten z. B. in Curricula institutionalisiert sind.

2.3 Ausblick: Treiber und Hemmnisse in der Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung

In den Gesprächen mit den beteiligten Lehrenden und Schulleitungen sind einige Hemmnisse und Herausforderungen intensiv besprochen worden. In Bezug auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sind folgende Aspekte nicht zu unterschätzen:

  • Die strukturellen und bildungsorientierten Unterschiede in der Grenzregion, und insbesondere in der beruflichen Bildung;
  • Die Herausforderungen der interkulturellen Kompetenz und der interkulturellen Kommunikation;
  • Den unterstützenden Beitrag des Projektmanagements, das die berufsbildenden Schulen unterstützt. Allerdings müssen die Tandempartnerschaften auch ohne diese Unterstützung funktionieren können, um nachhaltig zu sein.

In Bezug auf die Treiber für die Zusammenarbeit, sind folgende Aspekte bedeutend:

  • Die geographische Nähe in der Grenzregion Rhein-Waal, die logistisch hilfreich sein kann;
  • Der langjährige Kontext des Netzwerks Ler(n)ende Euregio mit bewährten Strukturen und Ansätzen;
  • Die interkulturelle und grenzüberschreitende Zusammenarbeit gewinnt für die Schulen und für die Wirtschaft in der Grenzregion stets an Bedeutung.

Einige Aspekte können sowohl ein Hemmnis als auch einen Treiber darstellen. Die geographische Nähe kann für Lernende zum Beispiel auch abschreckend sein, wenn sie daran interessiert sind, eine Mobilität zu wählen, die weiter weg ist. Die Bedeutung der Sprachen in der Euregio Rhein-Waal stellt ebenfalls einen Treiber und ein Hemmnis dar, da die Kommunikation kreativ gestaltet wird, wenn die Teilnehmer*innen die Sprache des Nachbarlandes nicht sprechen.

Eine euregionale Zusammenarbeit setzt Maßnahmen bezüglich der Organisations-, Personal- und Unterrichtsentwicklung sowie die Weiterentwicklung von euregionalen Strategien im berufsbildenden Bereich voraus.

Das nächste Kapitel nimmt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Tandempartnerschaften auf.

3 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Regionalentwicklung: Mobilitäten in Tandems in der Grenzregion Rhein-Waal

Die Beschreibung der Tandempartnerschaften basiert auf Interviews in Fokusgruppen an den beteiligten Berufskollegs, die im Rahmen von drei bildungsgangbezogenen Tandempartnerschaften (Einzelhandel/E-Commerce, Gartenbau und Erzieher*in) zwischen Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen und dem jeweiligen regionaal opleidingencentrum (ROC) in den Niederlanden stattgefunden haben. Basis der Schaffung von Mobilitätsangeboten war somit zunächst die Herstellung von Partnerschaften und Ermöglichung von Austauschen der gesamten Lerngruppen. Eben diese Organisation in den jeweiligen Bildungsgängen ist für die Tandempartnerschaften ausschlaggebend, da dadurch gemeinsame Interessen und Fragestellungen entstehen. Dies geschieht in erster Linie in der Vorbereitungsphase bei den Lehrenden, die nach geeigneten Betriebs- und Institutionsbesichtigungen suchen, und dann bei den Lernenden, indem diese über die gemeinsamen beruflichen Bezugspunkte schnell untereinander u. a. zu Fragen zur Ausbildung, zum Arbeitsmarkt, zum Wohnort, zur Besoldung und zum jeweiligen Status des Berufs ins Gespräch kommen.

Der Begriff Tandem umfasst jeweils sowohl zwei berufliche Schulen als auch zwei Nachbarländer und zwei verschiedene Bildungssysteme, in denen zwei sozio-ökonomische Kontexte vertreten sind. Diese Tandems sind schulisch geprägt und werden durch die beruflichen Schulen getragen und organisiert. Betriebe und Institutionen bieten Besichtigungen an, die für die Lernenden zukunftsrelevant sind. Ihre Beteiligung könnte jedoch weiterentwickelt und auch tiefer erforscht werden.

Die Tandems waren Basis zur Aufarbeitung der besonderen Möglichkeiten der Mobilitätsarbeit in der beruflichen Bildung. Dabei waren die jeweiligen Tandems aufgefordert, Gestaltungsmöglichkeiten zu konzipieren und zu erproben. Im Fokus stand damit eine Perspektive der Gestaltung von Mobilitäten und Austauschformaten als Lehr- und Lernumgebungen in der beruflichen Bildung, die Perspektive der Regionalentwicklung hatte hier nur über die zugrundeliegenden Handlungs- und Bedingungsfelder einen Einfluss, war jedoch in der ursprünglichen Studie nicht Untersuchungsgegenstand. Wir haben die besondere Mobilitäts- und Austauschformen unter Euregio Mobility gefasst und werden diese in Bezug auf Fragen der Regionalentwicklung weiterführend diskutieren.

3.1 Zusammenfassungen der Haupteigenschaften der drei Tandems.

Tandem A:    Die beteiligten berufsbildenden Schulen sind ein Berufskolleg aus Nordrhein- Westfalen und ein ROC aus den Niederlanden, beide in der Grenzregion Euregio Rhein-Waal und ungefähr 100 km voneinander entfernt, der beteiligte Bildungsgang ist Einzelhandel und E-Commerce; das Tandem arbeitet mit einem Buddy Konzept und vier Lernende sind von jeder berufsbildenden Schule beteiligt; es gibt vier beteiligte Lehrende von jeder Schule, wobei es in ROC 1 auch einen internationalen Koordinator gibt; die Dauer der Mobilität ist zwei Mal fünf Tage.

Tandem B:    Die beteiligten berufsbildenden Schulen sind ein Berufskolleg aus Nordrhein- Westfalen und ein ROC aus den Niederlanden, beide in der Grenzregion Euregio Rhein-Waal und ungefähr 20 km voneinander entfernt, der beteiligte Bildungsgang ist Gartenbau; das Tandem arbeitet mit Tagesbesuchen mit Betriebs- und Schulbesichtigungen; ganze Klassen nehmen jeweils an diesen Tandembesuchen teil; es gibt drei beteiligte Lehrende vom Berufskolleg und ein internationalen Koordinator vom ROC; die Dauer der Mobilität beträgt zwei Mal einen Tag.

Tandem C:    Die beteiligten berufsbildenden Schulen sind ein Berufskolleg aus Nordrhein- Westfalen und ein ROC aus den Niederlanden, beide in der Grenzregion Euregio Rhein-Waal und ungefähr 125 km voneinander entfernt, der beteiligte Bildungsgang ist Erzieher*in; das Tandem arbeitet mit einem gegenseitigem Besuch; 10-15 Lernende nehmen daran teil; es gibt zwei beteiligte Lehrende pro berufsbildende Schule; die Dauer der Mobilität beträgt zwei Mal 2-4 Tage.

Folgende Faktoren sind für alle drei Tandems bedeutsam:

  • Die strukturellen und bildungsorientierten Unterschiede in der Grenzregion Rhein-Waal sind nicht zu unterschätzen;
  • Eine effektive grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen und Arbeitgeber*innen erfordert interkulturelle Kompetenz;
  • Die Unterstützung der jeweiligen Schulleitungen ist zentral für den Erfolg der Tandems;
  • Kontinuität in den Teams, die diese Tandems vorbereiten, durchführen und reflektieren, ist für die Nachhaltigkeit der Tandems unterstützend, und
  • Projektmanagement, das die berufsbildenden Schulen gut kennt und diese miteinander verbinden kann, ist für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit wertvoll.

Die Zusammenarbeit in den Tandems bezieht sich sowohl auf die formellen als auch informellen Prozesse. Formell liegt der Fokus auf einen gleichen oder sehr ähnlichen Bildungsgang, sodass gemeinsame fachliche Interessen im Mittelpunkt stehen. Ein Beispiel vom Bildungsgang Erzieher*in sind die gemeinsamen Besuche an diversen Bildungseinrichtungen (Kindertagesstätten, Kindergärten, Sonderschulen, beispielsweise). Im Tandem mit dem Bildungsgang Einzelhandel/E-Commerce ist die fachliche Relevanz zu betonen, da für beide Länder E-Commerce relativ neu ist (in den Niederlanden etwas früher eingeführt). In diesem Kontext besteht einen für beide berufsbildenden Schulen hilfreichen Austausch. Hinzukommt die Tatsache, dass die niederländisch-deutsche Grenzregion für den Einzelhandel eine wichtige Rolle spielt und die jeweiligen Kaufkulturen von den Lernendengruppen besprochen und untersucht werden können. Die Lehrenden haben durch das Tandem die Möglichkeit, sowohl die berufsbildende Schule im Nachbarland zu erleben als auch die Struktur der Ausbildung und erfahren im Austausch mit den Kolleg*innen vielleicht neue Impulse für ihre eigene Arbeit in ihrer Ausbildung. Eine Stärke dieser grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist, dass die Struktur flexibel ist und für jedes Tandem und für jeden Bildungsgang kreativ gestaltet werden kann.

Interkulturelle Kompetenz wird in der Zusammenarbeit in der Grenzregion auch gefördert, indem die Lernenden und Lehrenden mit dem Alltag an der berufsbildenden Schule, der Arbeitskultur, der Sprache und mit den Eigenschaften eines Ortes im Nachbarland konfrontiert werden.

Ziele, die die beteiligten Lernenden von den drei Tandems gemeinsam betonen sind: den Lernenden sowohl eine weitere Perspektive zu geben als auch ihnen einen Perspektivwechsel zu ermöglichen, indem sie zwischen der Gastrolle und der Gastgeber*innenrolle wechseln; die Horizonte der Lernenden durch das Tandem zu erweitern; ihnen weitere Optionen für ihre berufliche Zukunft zu öffnen (mitunter die Möglichkeit, im Nachbarland zu arbeiten oder ein Praktikum zu machen); eine nachhaltige grenzüberschreitende Zusammenarbeit anzubieten, die auch für Lernenden zugänglich ist, die sonst nicht ins Ausland fahren würden.

3.2 Tandempartnerschaften: Erkenntnisse und Potenzial

Die Kooperationszusammenhänge in der beruflichen Bildung in der Euregio Rhein-Waal weisen Grenzen sowie Potenziale auf. Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio bietet ein Beispiel dafür, wie sich Austausch, Kooperation und Mobilität gestalten können. Diese Kooperationen finden an verschiedenen Orten statt: an Bildungsinstitutionen, im Arbeitsmarkt, im Ausbildungsmarkt und in der Wirtschaft. Berufe und Qualifikationen werden zugeordnet und die Inhalte werden übersetzt (sprachlich, aber auch in Bezug auf Arbeitsprozesse). Der Austausch zwischen Lernenden und Lehrenden spielt hier eine entscheidende Rolle und kann für Arbeitsmöglichkeiten im Nachbarland sensibilisieren. Zusammengefasst bedeutet das, dass die Lernenden überlegen, zum einen über die Grenze zu gehen und zum anderen über diese zu denken. Hier stellen sich weiterführend folgende Fragen: Was sind die weiteren Lernpotenziale in einem solchen Austausch? Wie kann das ‚gemeinsam Erlebte‘ und das ‚gemeinsam Erlernte‘ auch mit dem Kontext der berufsbildenden Schule geteilt werden, sodass alle Lernenden und nicht nur die, die am Austausch teilgenommen haben, davon profitieren können?

Der fachliche Fokus im Tandem führt dazu, dass die Lehrenden und Lernenden gemeinsame fachliche Interessen, Wissensbedarfe und Fragen bezüglich ihrer beruflichen und persönlichen Zukunft haben. Beispielsweise sprechen die Gruppen über die Möglichkeit, im jeweiligen Nachbarland zu arbeiten und zu leben. Für die oft intensive Arbeit im Tandem ist es hilfreich, dass die Lernenden eine ‚gemeinsame berufliche Sprache‘ in Bezug auf ihren Bildungsgang teilen. In diesem Kontext bilden sich Austausche, Auseinandersetzungen und Diskurse, die für den Unterricht, aber auch für das persönliche Leben eine Bereicherung darstellen.

In einem bildungsgangorientierten Tandem, das eine konstante Zusammensetzung von Lehrenden aufweist, kann sich über eine langjährige Zeit eine effiziente und unbürokratische Zusammenarbeit entwickeln. Der Anfang des Tandems ist zwar mit Mehrarbeit verbunden, jedoch zahlt sich diese Investition mit Blick auf Zeit und Aufwand über die Jahre aus, weil die Terminfindung der Besuche, die Organisation der Betriebsbesichtigungen und die Einbindung der Schulleitungen zum ‚Selbstläufer‘ werden können.

Im Tandem mit dem Bildungsgang Erzieher*in beschreiben die Lehrenden aus beiden Nachbarländern genau diese Situation, da sie über einige Jahre grenzüberschreitend eng zusammenarbeiten und ihren Lernenden Einblicke in den Bildungsgang in beiden Regionen eröffnen. Sie organisieren beispielsweise mit den Lernenden aus beiden regionalen Kontexten ‚Question and Answer‘ Veranstaltungen zu den vergleichbaren Arbeitsaufgaben, den Rahmenbedingungen und den Möglichkeiten, in den jeweiligen Grenzregionen eine Ausbildung abzuschließen, eine Anerkennung zu durchlaufen oder auch dort zu arbeiten. Die Lernenden diskutieren aktiv verschiedene Vergleiche zu den jeweiligen Arbeitszeiten, zur Bezahlung und zum wahrgenommen Status der Arbeit als Erzieher*in.

In Bezug auf die fachliche Weiterentwicklung innerhalb eines Tandemaustausches liefert das Tandem zum Einzelhandel und E-Commerce ein fachlich relevantes Beispiel, da die grenzüberschreitende Interaktion in diesem Kontext sehr aktiv ist. Die Menschen, die in dieser Grenzregion leben, gehen bekannterweise oft im Nachbarland einkaufen, tanken oder gestalten dort ihre Freizeit. Die großen Einkaufszentren und Outlets in den Niederlanden sind beliebt, da sie auch sonntags geöffnet haben, was in Deutschland nicht der Fall ist. Im Tandem ist es deswegen möglich, konkrete Fallbeispiele gemeinsam zu bearbeiten. Ein weiteres Beispiel für die fachliche Weiterentwicklung liegt darin, dass die Niederlande das Fach E-Commerce etwas früher eingeführt haben als es in Deutschland der Fall war. Deswegen konnten die Lehrenden im deutschen Kontext einiges von den Kolleg*innen in den Niederlanden erfahren, wodurch fachlich relevante Diskussionen entstanden sind. Diese erfolgen zusätzlich im Kontext des beruflichen Wettbewerbs im Bereich Einzelhandel.

Am Beispiel Gartenbau berichten die Lehrenden, dass – da diese Arbeit saisonal ist – in den Betrieben ähnliche Arbeitsrhythmen und -strukturen herrschen. Allerdings stellen die Lehrenden aus Deutschland fest, dass ihre Lerngruppen erstaunt sind, wenn sie beobachten, wie groß diese niederländischen Gartenbaufirmen verglichen mit den Firmen in Deutschland sind. Insofern haben sie hierdurch die Gelegenheit, andere Arbeitsformen zu beobachten. Gerade beim Beispiel Gartenbau argumentieren die Lehrenden in Deutschland, dass die Anpassung der Besuche herausfordernd sein kann. Das liegt daran, dass der Tandembesuch am hilfreichsten ist, wenn das Thema, das gerade im Lehrplan behandelt wird, in den Betriebsbesichtigungen widergespiegelt wird. In diesem Kontext ist die Verzahnung mit dem Lehrplan in den ROCs in den Niederlanden eine Herausforderung.

In den Interviews mit den Lehrenden lag der Fokus auf der Kompetenzentwicklung ihrer Lernenden. Es muss aber betont werden, dass das ‚gemeinsam Erlebte‘ nicht ausschließlich aus der Entwicklung des fachlichen Wissens besteht. Die berufsbildenden Schulen zu besichtigen, die Standorte und die Region zu besuchen und gemeinsam essen zu gehen, waren ebenfalls auf der Tagesordnung. Durch diese Aktivitäten fangen die Lernenden somit an, zu vergleichen und ihren eigenen Kontext differenzierter wahrzunehmen. Beispiele sind hier, dass die ROCs architektonisch oft sehr modern sind und diese Tatsache den Lernenden aus Deutschland besonders auffällt. Den Lernenden aus den Niederlanden fällt dagegen auf, dass die Kantinen an den Berufskollegs mittags warmes Essen anbieten. In den Niederlanden ist das nicht der Fall. Durch solche Beobachtungen werden neue Wahrnehmungen aktiv gestaltet. Die Nachhaltigkeit der Tandempartnerschaften bedarf der vollständigen Unterstützung der Ausbildungsbetriebe und der Schulleitungen. In diesem Kontext sind die Internationalisierung und die Offenheit für die Grenzregion im Nachbarland mögliche ‚Werbeschilder‘ für zukünftige Lernende und Lehrende.

Die bedeutendsten Treiber, die für die Tandempartnerschaften relevant sein können, sind wie folgt:

  • Die geografische Nähe, da diese die Logistik und die Organisation erleichtert, auch weil die Lehrenden sich ohne größeren Aufwand zur Planung treffen können;
  • Das langjährige Bestehen des Netzwerks Ler(n)ende Euregio;
  • Die kontinuierliche Zunahme der Bedeutung der Grenzregion für Bildung und für die Wirtschaft;
  • Materialien und Lernoptionen um Deutsch und Niederländisch zu lernen bietet Knüpfungspunkte mit dem Unterricht an den Berufskollegs und ROCs;
  • Die Synergie, die das Netzwerk Ler(n)ende Euregio anbietet, beinhaltet Strukturen und Kontakte, die für die Tandempartnerschaften hilfreich sind, auch über den eigenen Bildungsgang hinaus.

Die Hemmnisse, die für die Tandempartnerschaften relevant sein können, sind wie folgt:

  • Die geografische Nähe kann von den Lernenden negativ wahrgenommen werden (als zu nah und zu bekannt);
  • Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio hat keine sichere Nachhaltigkeit, trotz der langen Historie;
  • Diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung ist nicht in der Bildungsarbeit beider Nachbarländer verankert;
  • Der Sprachkontext ist für die Planung und Organisation durchaus herausfordernd, wenn keine Lehrende beide Sprachen beherrschen;
  • Die Unterschiede in den beiden berufsbildenden Schulen, obwohl Fokus der Tandems, können die Zusammenarbeit erschweren.

Euregio Mobility geht über die individuelle Mobilitätsarbeit hinaus und verschränkt die Zusammenarbeit von Bildungsgängen mit individuellen Mobilitäten. Dabei zeigen sich dann die tradierten bildungspolitischen Programme (insbesondere Erasmus) in der Form als herausfordernd, dass diese kaum einen geeigneten Rahmen für die spezifischen Austauschformen in der Euregio bieten. Gerade hier zeigt sich auch in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit herausfordernd, die Bildungszusammenarbeit curricular zu institutionalisieren und aus der Abhängigkeit des Engagements von Schulleitungen, Lehrkräften, Ausbildern oder weiteren Bildungsakteuren zu lösen.

3.3 Euregio Mobility und Regionalentwicklung: Das ‚gemeinsam Erlebte‘

In den Tandempartnerschaften spielt – wie schon erwähnt – nicht nur die Entwicklung der fachlichen Kompetenzen eine Rolle, sondern auch die Entwicklung weiterer interkultureller, sprachlicher, kommunikativer und identitätsbezogener Kompetenzen. Unter ‚Euregio Mobility‘ haben wir die Besonderheiten der Gestaltung von Austauschen und Mobilitäten in einer Euregio gefasst. Mit der Bezugnahme auf Mobilitäten und der Region wird erkennbar, dass einerseits mit Euregio Mobility Fragen der regionalen Entwicklungsarbeit durch berufliche Bildung und der Internationalisierung resp. internationalen Ausrichtung beruflicher Bildung ein neues Zusammenspiel erfahren und andererseits Fragen der individuellen Entwicklung beruflichen Lernens in Verbindung mit wirtschaftlichen Entwicklungen gesetzt werden. Damit werden durchaus klassische Spannungsfelder beruflicher Bildung aufgenommen und es stellen sich durchaus grundlegende Fragen für die weitere Ausrichtung. Mit den Tandempartnerschaften haben wir zunächst die Potenziale zur Kompetenzentwicklung aufgenommen und dann weiterführend eine Konfrontation mit Anforderungen und Beiträgen zur regionalen Entwicklung wahrgenommen.

Euregio Mobility hat das Potenzial, in den folgenden Bereichen einen Beitrag zu leisten: Stärkung des regionalen Lebensraums; Angebote für Erfahrungs- und Erlebensräume zur individuellen Kompetenzentwicklung von Lernenden; die Verankerung von Mobilitäten durch Euregio Akteur*innen; ein grenzüberschreitender kooperativer Ansatz; ein Zusammenspiel von Mobilitäten von Lernenden und Lehrenden; eine Verankerung in den (Aus-)Bildungsgängen und ein niederschwelliges Mobilitätsangebot für Lernende in der Region.

Euregio Mobility besteht einerseits aus dem politischen Raum, in dem sie verankert ist, und andererseits aus den tatsächlich stattfindenden Aktivitäten in der beruflichen Bildung. In diesem Kontext sind die Tandemaustausche, die berufsrelevanten Wettbewerbe, die Unterstützung der Sprachen in beruflichen Kontexten, der Austausch zwischen Lehrenden und digitalen Kontakten zu nennen. In diesem Zusammenhang findet das Zusammenspiel zwischen Euregio Mobility und Regionalentwicklung statt, indem sich institutionelle, individuelle und betriebliche Kontakte entwickeln.

Die folgende Grafik stellt dieses Zusammenspiel zwischen der Perspektive Kompetenz und der Perspektive Identität dar. Beide sind einzeln bedeutsam und das Zusammenspiel generiert weitere Erkenntnisse und Erfahrungen im Kontext des ‚gemeinsam Erlebten‘ von den Beteiligten in den Tandempartnerschaften. Den Raum für dieses Zusammenspiel liefern die drei dazugehörigen Phasen der Vorbereitung, Durchführung und Reflexion in den Tandempartnerschaften. Diese finden wiederum im regionalen Kontext des Euregio Rhein-Waals statt. In der Grenzregion existieren die Lebens-, Bildungs-, Arbeits- und Wirtschaftsräume sowohl der beiden Nachbarländer als auch in der Schnittstelle zwischen ihnen.

Die Dualität der Partnerschaften ist mehrfach: zwei Nachbarländer; zwei berufsbildende Schulen; zwei Sprachen; zwei Lehrenden- und Lernendengruppen. Die Interviews in den Fokusgruppen mit den Lehrenden zeigen, dass das Vergleichen in der Verarbeitung der Tandems eine zentrale Rolle spielt. Im nächsten Schritt entwickeln die Lehrenden- und Lernendengruppen Einsichten und Erkenntnisse, die über die ersten Vergleiche hinausgehen. Diese nehmen vorwiegend den Umgang mit der eigenen Ausbildung und den eigenen Zukunftsplänen auf. Die Lernenden und die Lehrenden können die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den berufsbildenden Schulen, in den jeweiligen Bildungsgängen, im Berufsfeld und in der gemeinsamen Grenzregion konstruktiv besprechen. Diese Prozesse laufen in erster Linie über die Bildungsgänge, da diese den Fokus aller Beteiligten bilden. Das ‚gemeinsam Erlebte‘ im Tandemaustausch bietet Gelegenheiten, über den eigenen Bildungsgang, über den Beruf im weiteren Sinne und über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der niederländischen und in der deutschen Kultur zu diskutieren. Hier liegt das Potenzial, die Barrierewirkung der Grenze gemeinsam abzubauen. Die Grafik veranschaulicht diese Prozesse und zeigt die Zwischenräume auf, in denen sie stattfinden.

Abbildung 1: Euregio Mobility – Zusammenspiel von Beruflicher Bildung und Euregionaler EntwicklungAbbildung 1: Euregio Mobility – Zusammenspiel von Beruflicher Bildung und Euregionaler Entwicklung

Die beteiligten Individuen (Lernende, Lehrende, Schulleitungen, Arbeitgeber*innen) erleben wiederum die Tandempartnerschaften und Mobilitäten als Erlebens- und Erfahrungsräume, die ihnen die Gelegenheit geben, ihren geographischen Raum, ihre Ausbildung, ihren zukünftigen Beruf, die Eigenschaften ihres Bildungswegs und die Lehr- und Lernprozesse differenzierter wahrzunehmen. Sie durchlaufen diesen Prozess innerhalb der Strukturen der eigenen berufsbildenden Schulen und Betriebe in den verschiedenen Institutionen der Grenzregion. Hinzukommt, dass das Netzwerk Ler(n)ende Euregio Angebote zur Unterstützung und Beratung bietet, die vorrangig von den Lehrenden wahrgenommen werden. In diesem Sinne existiert ein Gerüst für die grenzüberschreitenden Erlebnisse. Die Abbildung verdeutlicht, dass die Ebene der Regionalentwicklung und die Ebene des Individuums zusammengebracht werden.

3.4 Euregio Mobility: Desiderata und weiteres Potenzial

Eine weitere Perspektive, die sowohl in der berufsbildenden grenzüberschreitenden Zusammenarbeit als auch in der weiteren Forschung bis jetzt wenig Beachtung bekommt, ist die der Arbeitgeber*innen und der Betriebe. Für die Regionalentwicklung wäre diese Perspektive von großer Bedeutung, da besonders in Zeiten des Fachkräftemangels die Gewinnung von Auszubildenden für die weitere Grenzregion eine Rolle spielen kann. Zusätzlich ist der Austausch von betriebsrelevantem und pädagogischem Wissen eine mögliche Bereicherung. Gerade die Grenzregionen bieten im Kontext der Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung viele Optionen, die für beide Nachbarländer positiv sein können. In einem weiteren Schritt könnten diese Erfahrungen auch für andere Euregios und Grenzregionen hilfreich sein.

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Form von Tandempartnerschaften in der Euregio Rhein-Waal ist in den jeweiligen berufsbildenden Systemen stark verankert. Diese Tatsache bietet einen klaren Fokus für die Zusammenarbeit. Die gemeinsamen Vergleiche und Diskurse laufen jedoch Gefahr, auf der Oberfläche zu verbleiben und sich mit jedem Besuch der neuen Kohorten zu wiederholen. In diesem Kontext ist die Weitergabe von Impressionen, Eindrücken und Interpretationen durch die jeweiligen Kohorten und durch die Lehrenden und Betriebe stärker zu fördern. Die Unterstützung seitens der relevanten Institutionen – in diesem Fall zum Beispiel die Euregio Rhein-Waal (und auch weitere Euregios) – ist unabdingbar, da die beruflichen Schulen und die Lehrenden dies nicht einzeln leisten können.

Der Mehrwert der Weiterentwicklung vom Verständnis der jeweiligen Systeme ist vielschichtig, da dieses sowohl die Vorbereitung, Durchführung und Reflexion der Tandempartnerschaften unterstützen als auch das berufliche Verständnis der Lehrenden und Lernenden erweitern kann. Dadurch kann die Wahrnehmung des Arbeitsmarkts geschärft werden. Weiter kann diese Entwicklung einen bedeutsamen Beitrag zum Abbau der Barrierewirkung in der Grenzregion leisten, indem die Kohorten der Lernenden und auch der Lehrenden zusammenarbeiten, sich austauschen und sowohl die Perspektive der beruflichen Kompetenz als auch die Perspektive der eigenen Identität ausbauen. In diesem Kontext ist der Perspektivwechsel durch den grenzüberschreitenden Austausch wertvoll, da sowohl die alltägliche Lehr- und Lernpraxis als auch die Eigenschaften der Grenzregion aus einem anderen Blickwinkel wahrgenommen werden. Aus den verschiedenen Perspektiven können sich damit durchaus unterschiedliche Entwicklungsräume zeigen. Euregionale Mobilitätsarbeit kann somit den Lernenden erste Erfahrungen in interkulturellen Bildungskontexten eröffnen und so auch Gruppen oder einzelne Lernende an Mobilitäten heranführen, die sonst eher unterrepräsentiert sind oder eine begleitende Vorbereitung von Mobilitäten benötigen. Dies erfordert, dass die regionale Zusammenarbeit nicht als zusätzliches Angebot gestaltet, sondern dass systematische Mobilitätsarbeit in die Strukturen der Bildungsgänge integriert wird (vgl. u. a. Frehe/Kremer/Kückmann 2015). Aus der Perspektive der Regionalentwicklung bietet sich die Möglichkeit, systematisch Berufs-, Arbeits- und Bildungsstrukturen zusammenzuführen und damit Anschlussfähigkeiten in der Region herzustellen und Perspektiven auf die strukturellen Unterschiede in einer Region in Bezug auf eine mögliche Zusammenarbeit anzubieten.

4 Reflexionen und weiterführende Fragen zur Regionalentwicklung über die berufliche Bildung

Dieser Beitrag stellt am Beispiel des Netzwerks Ler(n)ende Euregio in der Euregio Rhein-Waal die Potenziale der beruflichen Bildung unter Perspektive der Regionalentwicklung in einer Grenzregion dar. Einige Fragen bleiben hier selbstverständlich offen: Wie replizierbar ist diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Tandems an beruflichen Schulen? Was wird tatsächlich von den Lernenden und den Lehrenden erlebt und gelernt? Wie kann eine solche Zusammenarbeit in der Grenzregion nachhaltig und für alle Beteiligten niederschwellig gestaltet werden? Was sind die besonderen Eigenschaften und Herausforderungen in der Zusammenarbeit in der Euregio Rhein-Waal? Wo ist weiteres Potential, das noch nicht ausgeschöpft worden ist? Welchen Beitrag können Tandempartnerschaften in der beruflichen Bildung für die Regionalentwicklung leisten? Die abschließenden Reflexionen und weiterführende Fragen beleuchten diese Themen.

4.1 Rückblick und zusammenführende Positionsbestimmung

Ausgangspunkt dieses Beitrags war einerseits die Aufarbeitung der Aktivitäten zum Netzwerk Ler(n)ende Euregio und darauf bezogen die Konzeption und Erprobung von Austauschformaten in der Euregio Rhein-Waal. Damit waren vordergründig Fragen des Lehrens und Lernens in der beruflichen Bildung adressiert. Bereits die Frage, welche Kompetenzen die Euregio Rhein-Waal für berufliches Handeln erfordert und wie darauf vorbereitet werden kann, geht mit der Annahme einher, dass mit der Euregio spezifische Anforderungen, aber auch Gestaltungsmöglichkeiten verbunden sind. Gleichermaßen wurde in den Projektaktivitäten auch erkennbar, dass die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung mit der Regionalentwicklung verschränkt ist und nicht davon losgelöst betrachtet werden kann. Es kann Röber zugestimmt werden, der in einer Studie zur Bodenseeregion zu folgender Feststellung kommt: „Selbst wenn die einzelnen Teilregionen politisch und administrativ in ähnlichen nationalen Kontexten eingebettet sind, unterscheiden sich die institutionellen Arrangements im Hinblick auf ihre Steuerungs- und Koordinationsfähigkeit teilweise in erheblichem Maße. Damit verbunden sind ein sehr unterschiedliches Leistungs- und Aufgabenspektrum, das im Rahmen dieser Kooperationsbeziehungen bearbeitet wird, und letztlich auch eine stark schwankende Wahrnehmung von Kooperationsbemühungen in den jeweiligen Regionen bzw. Teilregionen.“ (Röber, 2015, 12).

In der Euregio Rhein-Waal bieten sich in der regionalen und kulturellen Nähe eine auf den ersten Blick gute Zugänglichkeit und Verständlichkeit, die in den Begegnungs- und Austauschformen Unterschiede in den Verhaltens- und Handlungsmustern aufdeckt und in unterschiedlichen institutionellen Arrangements im Hinblick auf die Steuerungs- und Koordinationsformen, Handlungs- und Aufgabenbereiche der Institutionen erkennbar ist. Diese institutionellen Gegebenheiten bestimmen in erheblichem Maße die Formen der Zusammenarbeit und auch die Möglichkeiten einer dauerhaften Verankerung. Beispielsweise war es bisher kaum möglich, über projektförmige Formen der Zusammenarbeit eine institutionelle Verankerung zu erhalten. Das Netzwerk Ler(n)ende Euregio zeigt deutlich, dass die unterschiedlichen institutionellen Strukturen eine Ressource für berufliche Lehr- und Lernprozesse bieten, aber eben auch Grenzen aufzeigen, die mit den unterschiedlichen Systemen kaum aufgelöst werden können. Die regionalen Besonderheiten und die genauen Konstellationen der sich beteiligenden Akteur*innen sind entscheidend für die Formen der Zusammenarbeit. Die Ausdifferenzierung spezifischer Mobilitäts- und Austauschprogramme für die euregionale Zusammenarbeit bieten Potenziale für die Regionalentwicklung und heben im Sinne von Hövels und Kutscha die sozialen Prozesse hervor: „Regionen, zumal Lernende Regionen, sind nicht das Ergebnis administrativer Akte, sondern gehen aus sozialen Prozessen hervor.“ (Hövels/Kutscha 2001, 64). Die Anlehnung an Mobilitäts- und Austauschprogramme bietet Potenziale für die Regionalentwicklung. Mobilitätsarbeit setzt an Austausch und Auseinandersetzung an und arbeitet hierzu an den sozialen Strukturen, indem die Akteur*innen der berufsbildenden Einrichtungen aktiv involviert werden und nicht nur auf die direkt beteiligten Personen ausstrahlen. Die Zusammenführung von institutionellen Partner, die Berücksichtigung bestehender sozialer Strukturen und die Entwicklung von gemeinsamen Themen und Zielbereichen für Bildungsgänge sind eine wichtige Basis, um die Mobilitätsarbeit grundzulegen.

Der Kontext der Euregio Rhein-Waal bietet eine besondere Form von Regionalentwicklung, die in einer Grenzregion mit einem entsprechenden wirtschaftlichen, sozio-ökomischen, geschichtlichen und kulturellen Hintergrund stattfindet. Ein Hauptziel der Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in der Euregio Rhein-Waal besteht darin, einen Beitrag zum Abbau der Barrierewirkung der Grenze zu leisten. Das weitere Potenzial des Konzeptes des Netzwerks Ler(n)ende Euregio hängt selbstverständlich sowohl von der Wahrnehmung der Bedeutung von Mobilitäten als auch von der vorhandenen Unterstützung und Finanzierung ab. Die Erkenntnisse des Begleitforschungsprojekts zeigen, dass diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung für alle Beteiligten gewinnbringend sein kann.

Weiteres Potenzial liegt womöglich in der erweiterten Beteiligung von Betrieben an den Mobilitäten in der Euregio Rhein-Waal. In diesem Kontext kann sowohl mit der Attraktivität der Grenzregion für zukünftige Berufswege argumentiert werden, die dem Fachkräftemangel entgegenwirken könnte, als auch eine Begründung über die positive Öffentlichkeitsarbeit für Betriebe, die in internationalen Mobilitäten aktiv sind, erfolgen. Diese Tatsache könnte die Betriebe für Bewerber*innen attraktiver machen. Diese positive Wirkung der Öffentlichkeitsarbeit ist auch für berufsbildende Schulen relevant, da solche Mobilitäten und Austausche für Lernende eine Begründung darstellen können, sich für ebendiese berufsbildende Schule zu entscheiden.

Die Hindernisse und Herausforderungen, denen die Mobilitäten ausgesetzt sind, sind nicht unbeachtlich. Um diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit möglichst nachhaltig und niederschwellig anbieten zu können, müssen einige Aspekte gewährleistet werden. Die grundlegende bildungspolitische Unterstützung ist für diese Arbeit unabdingbar. Hiermit verbunden ist die erforderliche und auch unbürokratische Finanzierung. Diese grenzüberschreitende Arbeit braucht auch Lehrende, die diese Arbeit mit Hingabe, Fantasie und vielen unbezahlten Überstunden machen. Ohne Lernende, die daran teilnehmen und die dazugehörige Offenheit dafür mitbringen, mit einer anderen Kultur und anderen Lern- und Arbeitsweisen konfrontiertet zu werden, ist diese Zusammenarbeit nicht möglich. Sprachkenntnisse bei den Lehrenden und den Lernenden erleichtern die Arbeit, sind aber nicht zwangsläufig vorhanden.

Das Gegenargument ist überzeugend: trotz aller Hindernisse und Herausforderungen sind Mobilitäten und Austausche von der aktuellen berufsbildenden Bildung nicht wegzudenken. Die Kooperation mit anderen Regionen, die Offenheit für andere Arbeits- und Betriebsstrukturen und das Erleben anderer Lehr- und Lernprozesse stellen eine Bereicherung für alle Beteiligten (Lernende, Lehrende, Betriebe, Schulleitungen) dar.

Die Kompetenzentwicklung, die mit einer Mobilität zusammenhängen kann, ist für die fachliche Entwicklung der Lernenden entscheidend. Ein Perspektivwechsel findet statt, wenn Lernende erleben, wie Lehr- und Lernprozesse in einem anderen Kontext ablaufen oder wie Arbeitsprozesse und der soziale Umgang in Betrieben im anderen Land gestaltet sind. Diese Erlebnisse und Erkenntnisse untermauern den beruflichen Werdegang der Lernenden. Die Identitätsentwicklung, die mit einer Mobilität zusammenhängen kann, ist für diverse Entwicklungen der Lernenden von Bedeutung. Beispielsweise nehmen sie die eigene Region schärfer wahr, sind offener für Sprachentwicklung und aufgeschlossener für den Umgang mit dem Unbekannten.

Im Beispiel Ler(n)ende Euregio zeigt sich das Spannungsfeld zwischen regionaler Berufsbildung, individueller Kompetenz- und Identitätsentwicklung und den Kulturen und Praktiken der (eu-)regionalen Lebens- und Wirtschaftsräume. Gerade dieses Spannungsfeld bietet besondere Gestaltungsformen und Potenziale grenzüberschreitender Mobilitäten. Die dazugehörigen Herausforderungen müssen selbstverständlich auch in den Blick genommen und Lösungsansätze gefunden werden. Die Ziele auf politischer Ebene (sowohl innerhalb Deutschlands als auch auf EU-Ebene) können nur mit nachhaltiger Unterstützung (finanziell und zielorientiert) und einer Verankerung von Mobilitäten in die Bildungsgangarbeit erreicht werden.

4.2 Weiterführende Fragen zum möglichen Beitrag der beruflichen Bildung für die Regionalentwicklung in einer Euregio

Dieser Beitrag zeigt die Verbindung von Mobilitäts- und Austauscharbeit in der Euregio Rhein-Waal auf. Euregio Mobility deutet die besonderen Möglichkeiten einer Zusammenarbeit in der Euregio an. Dabei wird erkennbar, dass die besonderen Potenziale, aber auch Herausforderungen weiter herauszuarbeiten sind und ein Handlungsrahmen im Zusammenspiel von Regionsbildung und Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung weiter auszudifferenzieren ist. Wir möchten hier mit Forschungs- und Entwicklungsfragen für die Weiterentwicklung der Mobilitäts- und Austauscharbeit in der beruflichen Bildung abschließen. Im Kontext des Lehrens und Lernens in der beruflichen Bildung deuten die folgenden Fragen Herausforderungen und Entwicklungsbedarfe an:

  • Was lernen die Beteiligten tatsächlich in einem Austauschkontext in der Grenzregion? Wie kann das erfasst werden? Was ist der Ertrag für die verschiedenen Gruppen – Lehrende, Lernende, Betriebe?
  • Wie könnte die Rolle der Betriebe in Austauschen in der beruflichen Bildung in Grenzregionen als Forschungslücke gewinnbringend untersucht werden?
  • Wie könnten die Erkenntnisse zur regionalen, euregionalen und internationalen Entwicklung konkretisiert werden? Was bedeutet diese Entwicklung konkret für die beteiligten Gruppen?
  • Was sind die möglichen Auswirkungen eines grenzüberschreitenden Austausches für Lernende für ihre berufliche Zukunft? Inwiefern liefert ein Austausch im euregionalen Ausland Impulse, später eine Arbeit oder ein Praktikum im Ausland in Erwägung zu ziehen?

Im Kontext der Regionalentwicklung werden diese Fragen um einige Schärfungen erweitert:

  • Wie kann Regionalentwicklung über Mobilitäten in der beruflichen Bildung erfolgen?
  • Wie gestalten sich in diesem Kontext wechselwirkende Prozesse?
  • Wie unterstützt der Austausch in der Grenzregion Offenheit für die (Arbeits-)kulturen der Grenzregionen und Nachbarländer? Wie kann dies erfasst und gefördert werden?
  • Inwieweit können Mobilitäten in der berufsbildenden Bildung als Bindeglied fungieren, wenn vor allem weitere unterstützende Instrumente oder Institutionalisierungen fehlen?

In Bezug auf den Ausbau des Diskurses zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung wäre ein möglicher Weg, das Potenzial dieses Ansatzes in weiteren Grenzregionen und Euregios in den Blick zu nehmen. Inwiefern sind diese Grenzregionen vergleichbar? Welche Faktoren sind in anderen Kontexten anders geprägt? Welche Faktoren bleiben für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit relativ stabil? Welche Unterstützung wird von Lehrenden, Schulleitungen und Betrieben erwünscht? Welche Erkenntnisse und Ergebnisse versprechen sich die Lehrenden für sich selber und für ihre Lerngruppen?

An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die Beteiligung der Arbeitgeber*innen intensiver beleuchtet werden muss. Dieser Diskurs bleibt verhältnismäßig oberflächlich und hat den Fokus auf den Programmpunkt ‚Betriebsbesichtigungen‘. Dass die Austauschprojekte im berufsbildenden Kontext schulisch geprägt sind, ist zu erwarten. Jedoch bleibt das Potenzial des möglichen Beitrags der Arbeitgeber*innen nicht vollständig erschöpft. Vergleiche der Arbeitsprozesse, der Ausbildungsinhalte, des jeweiligen Berufs in den verschiedenen Systemen und (Arbeits-)kulturen sind Beispiele des möglichen Mehrwerts. Die Stimmen der Arbeitgeber*innen intensiver einzubeziehen, könnte zusätzlich Impulse für grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Grenzregion liefern.

Unterschiede in den berufsbildenden Systemen in den Niederlanden und in Deutschland sind an dieser Stelle sicher relevant. In den Niederlanden ist die Ausbildung mehrheitlich schulbasiert. Deswegen wird ein Austausch ausschließlich von der schulischen Seite geplant und genehmigt. Für die Lernenden aus Deutschland muss die Erlaubnis sowohl von der beruflichen Schule als auch vom Ausbildungsbetrieb erfolgen. Um diese Erlaubnis zu bekommen, muss es für Betriebe überzeugend sein, dass diese Erfahrung für ihre Auszubildenden gewinnbringend ist.

Für den Prozess der Regionalisierung könnten engere Kontakte und tiefgründigerer Austausch zwischen Bildungsinstitutionen und Betrieben über die Grenze hinaus einen bedeutsamen Beitrag zur Verständigung in der Grenzregion leisten. Der Ansatz des ‚Tandems‘ könnte gewinnbringend und nachhaltig auch auf der Ebene der Schulleitungen und der Betriebe weiterentwickelt werden. Eine Verankerung, die über die einzelnen Bildungsgänge, Bildungsinstitutionen und Betriebe hinausgeht, könnte einen noch aktiveren Beitrag zur Regionalentwicklung möglich machen.

Der Beitrag zeigt unter dem Konstrukt Euregio Mobility Potenziale grenzüberschreitender Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung zur Eröffnung von niedrigschwelligen Austausch- und Mobilitätsangeboten. In der zugrundeliegenden Studie haben wir den Fokus insbesondere auf die Potenziale für individuelle Entwicklungsmöglichkeiten gerichtet. Damit werden z. B. Fragen adressiert, inwiefern eine Mobilität eine interkulturelle Auseinandersetzung eröffnet, der Bildungsaustausch von Lerngruppen individuelle Mobilitäten anregen können oder inwiefern im Grenzraum ein Perspektivwechsel erfahren werden kann. Im Bezug auf die Regionalentwicklung wird euregionale Zusammenarbeit über eine Grenze betrachtet und so in besonderer Weise mit institutionellen Regeln und Ordnungsstrukturen aus zwei Systemen konfrontiert. Hier konnten wir in einem ersten Zugang die Vielschichtigkeit regionsbezogener Identifikationsprozesse andeuten. Damit bietet dies Bezugspunkte für andere euregionale Grenzregionen, aber auch für die regionale Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung.

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Zitieren des Beitrags

Kremer, H.-H./Wilde, S. (2023): Grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in der Euregio Rhein-Waal: Ein möglicher Beitrag zur Regionalentwicklung? In: bwp@ Berufs- und Wirtschafts­päda­gogik – online, Ausgabe 44, 1-22. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe44/kremer_wilde_bwpat44.pdf (22.06.2023).