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bwp@ 44 - Juni 2023
Berufliche Bildung und Regionalentwicklung
Hrsg.:
, , &Editorial bwp@44
EDITORIAL zur Ausgabe 44:
Berufliche Bildung und Regionalentwicklung
Die Frage danach, unter welchen regionalen Bedingungen berufliche Bildung stattfindet und welchen Einfluss Strukturen, Politik, Akteurskonstellationen und Praktiken beruflicher Bildung auf Raum- bzw. Regionalentwicklung haben, wird in der Berufsbildungsforschung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr oder weniger intensiv untersucht. Auslöser hierfür sind häufig ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturwandel und damit verbunden Einbrüche oder Schieflagen auf regionalen Ausbildungsmärkten.
Seit den 1990er Jahren werden Debatten über berufliche Bildung und Regionalentwicklung im Zusammenhang mit Trends in Richtung weniger Staat und mehr Markt in der beruflichen Bildung und unter Berücksichtigung von Dezentralisierung und Deregulierung von Steuerung im beruflichen Bildungs- bzw. Schulwesen geführt. Dabei geht es vor allem darum, inwieweit im Rahmen von bundes- und landesrechtlichen Regelungen und unter Berücksichtigung kommunaler Planungen und öffentlicher Verantwortung der (beruflichen) Bildung auf einer mittleren räumlichen Bezugsebene mehr regionale Freiräume gewährt werden können, um so endogene Entwicklungspotenziale in Regionen und mehr regionalspezifische Innovationen und Reformen vor Ort – auch durch berufliche Bildung – zu ermöglichen. In unterschiedlichen Modellprogrammen sowie in zahlreichen Einzelprojekten sind seither diverse Konzepte und Initiativen entwickelt, erprobt und verstetigt worden, die dazu beitragen sollen, berufliche Bildung und Regionalentwicklung zusammenzudenken und wechselseitig aufeinander zu beziehen, um beispielweise Lernende Regionen und Lernen vor Ort zu unterstützen.
Zu den übergreifenden Zielen einer räumlich abgestimmten Ausrichtung von beruflicher Bildung gehören nach wie vor die Stärkung und Attraktivitätssteigerung beruflicher Bildung in der Region, die Bewältigung gebietsspezifischer Passungsprobleme auf den Ausbildungsmärkten, die lokale Gewinnung von Auszubildenden, die regionale Fachkräftesicherung in bestimmten Berufsfeldern sowie auch die ortsbezogene Verbesserung von Zugängen und Übergängen in die berufliche Bildung, die Verbindung von Bildungsgängen sowie die Durchlässigkeit im Bildungswesen. Eine besondere Bedeutung der Regionalisierung beruflicher Bildung kommt der Vernetzung und Kooperation von in Regionen zuständigen, beteiligten und aktiven Akteurinnen und Akteuren zu. Als praktische Formen von beruflicher Bildung und Regionalentwicklung können der Ausbau von regionalen Kompetenzzentren, Schulentwicklungen in Richtung von mehr Eigenständigkeit, neue Steuerungsformen in der beruflichen Bildung, veränderte Abstimmungs- und Kommunikationsformen zwischen Lernorten, Flexibilisierung des berufsschulischen Unterrichts etwa durch freie Berufsschulwahl oder ausbildungsübergreifenden Unterricht bis hin zur Unterstützung der Erreichbarkeit von Lernorten für Jugendliche genannt werden.
Bei interdependenter Betrachtung von beruflicher Bildung und Regionalität werden so bis heute Problematiken und Widersprüche deutlich. Diese manifestieren sich in der Persistenz regionaler Disparitäten, die auf unterschiedliche Gründe zurückgeführt werden können: das Fehlen wohnortnaher betrieblicher und schulischer Angebote, die räumliche Entfernung zwischen Betrieb und Schule und deren Erreichbarkeit für Jugendliche, einen Mangel an betrieblicher Ausbildungsbereitschaft, die schlechte Gewinnung von Lehrpersonal insbesondere in ländlichen Regionen, Probleme die auf spezifische Einzugsbereiche von berufsbildenden Schulen/Berufskollegs zurückzuführen sind sowie deren mangelnde Passung zu den Bedarfen lokaler Unternehmen (z. B. in den Feldern Nachwuchskräftegewinnung, -sicherung, Wettbewerberstrukturen, Unternehmenskooperationen). Nicht zuletzt stellen der administrativ-politische Wille in Regionen, die regionalpolitische Interessenlage hinsichtlich der Gestaltung beruflichen Bildung, (mikro-)politische Beziehungen und Machtressourcen in regionalen Netzwerken entscheidende Faktoren für die wechselseitige Unterstützung von beruflicher Bildung und Regionalentwicklung dar. Wenig Beachtung finden in der raumbezogenen Berufsbildungsforschung die subjektiven Reaktionen, Motive und Interessen von (potenziellen) Lehrerinnen und Lehrern berufsbildender Schulen und von Jugendlichen vor oder in der beruflichen Bildung.
Für die Regionalentwicklung ist die Frage danach, welche Bedeutung sozialräumliche Gegebenheiten und regionale Besonderheiten in der (beruflichen) Bildung für ihre Entscheidungen haben, eine Region zu bevorzugen, abzulehnen, zu verlassen oder aber auch sich regional zu engagieren, entscheidend. Dabei geht es nicht nur um den Einfluss von Arbeitsmarktsituation und Bildungsangeboten und ihre Erreichbarkeiten, sondern auch um die Bedeutung sozialer und kultureller Infrastruktur und Atmosphäre auf berufliche Orientierungen und Entscheidungen von jungen Lehrerinnen und Lehrern und Jugendlichen. Eine neue Dimension in die Diskussion und Forschung über berufliche Bildung und Regionalentwicklung bringt die Digitalisierung. Angesichts von veränderten Möglichkeiten der Kooperation, der Kommunikation, der Informationsverteilung und -verarbeitung und Abstimmung zwischen den verschiedenen regionalen Akteurinnen und Akteuren in Verwaltung, Politik und den verschiedenen Lernorten beruflicher Bildung stellt sich die Frage nach den steuernden Einflüssen der Digitalisierung auf regionale Berufsbildung bzw. auf den Zusammenhang zwischen beruflicher Bildung und Regionalentwicklung.
Für die Ausgabe bwp@ Nr. 44 sind uns relativ wenige Beiträge eingegangen, die aber das Anliegen der Ausgabe treffen. Insgesamt geben sie einen Einblick in den wechselseitigen Einfluss beruflicher Aspiration bzw. Berufsorientierung und Regionalentwicklung (Teil 1), in die Komplexität von Akteurskonstellationen und Netzwerken (Teil 2) und in die Herausforderungen der Steuerung beruflicher Bildungslandschaften (Teil 3).
Teil 1: Zum Verhältnis von beruflicher Aspiration, Berufsorientierung und Regionalentwicklung
Die Beiträge in diesem Teil verdeutlichen das Wechselspiel zwischen Wünschen und Einstellungen von Jugendlichen gegenüber der Ausbildung sowie der raumbezogenen Verteilung von Ausbildungsmöglichkeiten. Welche Rolle Berufsorientierung bei der Regionalentwicklung spielt, wird exemplarisch und forschungsbasiert dargelegt.
Marcus Eckelt (Helmut-Schmidt-Universität Hamburg) und Jennifer Schauer (Technische Universität Dresden) fragen in ihrem Forschungsbeitrag zunächst nach theoretischen Erklärungsmöglichkeiten für Ursachen raumbezogener Ungleichheiten in der Berufsbildung und schließen dann eine Darstellung von Ergebnissen einer eigenen repräsentativen Auszubildendenbefragung an unter der Frage, inwiefern sich Ausbildungssuche, Lebenssituation, berufliche Aspirationen nach der Ausbildung sowie Einstellungen und Wünsche Auszubildender mit Blick auf die Zukunft in Abhängigkeit der Größe ihres Wohnortes unterscheiden.
Davon ausgehend, dass besonders strukturschwache Regionen mit der Herausforderung der Abwanderung von Jugendlichen und in der Folge mit Rekrutierungsproblemen in der Ausbildung umzugehen haben, misst Christoph Krause (Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Schwerin) in seinem Beitrag der Kategorie Berichte und Reflexionen einer fundierten und nachhaltigen Berufsorientierung von Jugendlichen in diesen Regionen eine besondere Bedeutung zu. Dabei rückt die Frage nach der Konstitution der Berufsorientierungslandschaft (im Sinne ihrer Angebote, Akteure und Strukturen) in strukturschwachen Regionen in den Vordergrund, der er forschungsbasiert und mit Blick auf die Region der Oberpfalz nachgeht.
Vor dem Hintergrund eines Fachkräftemangels im MINT-Bereich gehen Christina Sotiriadou und Bernd Zinn (Universität Stuttgart) in ihrem Forschungsbeitrag der Frage nach, ob und inwiefern berufsorientierende Bildungsangebote für Schülerinnen und Schüler an Gymnasien regional- und wirtschaftspolitische Fördermöglichkeiten darstellen können. Im durchgeführten Modellprojekt geht es u.a. um Einflüsse auf das Interesse im MINT-Bereich, auf Berufswahlentscheidungen und regionale Bindungen von Schülerinnen und Schülern. Zudem wird auf die Notwendigkeit einer demografie- und geschlechtersensiblen Bildungspolitik hingewiesen.
Teil 2: Komplexität von Akteurskonstellationen und Netzwerken beruflicher Bildung in Regionen
Am Beispiel ausgewählter Regionen zeigen die in diesem Teil versammelten Beiträge, wie komplex und spannungsreich Akteurskonstellationen in der beruflichen Bildung sind, und welche genutzten und ungenutzten Potenziale in Formen der Vernetzung oder erweiterten Partizipation liegen können.
Im Mittelpunkt des Forschungsbeitrags von Anne Bieß, Sandra Bohlinger und Ina Krause (Technische Universität Dresden) stehen bislang wenig beachtete Akteure regionaler Netzwerkentwicklung in Berufsbildungslandschaften, Volkshochschulen und Coworking Spaces. Auf der Basis von Befunden aus zwei qualitativen Studien wird gezeigt, welche Bedeutung diese Bildungsanbieter für die regionale Strukturentwicklung und Gestaltung von Bildungsräumen in ländlichen Regionen Ostdeutschlands leisten. Die bislang ungenutzten Potenziale dieser Bildungsanbieter liegen nicht zuletzt in ihren besonderen Lernformaten für eine generationenübergreifende Zielgruppe im ländlichen Raum.
Ausgehend von der Beobachtung einer Vielzahl an Akteurinnen und Akteuren mit unterschiedlichen Zuständigkeiten und Befugnissen in der beruflichen Bildung, die sich aufgrund der komplexen Rechtslage und der regionalen Besonderheiten ergibt, diskutiert Dieter Hölterhoff am Beispiel der drei Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein die Frage nach den Konsequenzen landes- und kommunalspezifischer Regelung, Administration und Ressourcenverteilung für die berufliche Ausbildung.
Daniel Hagemeier (Universität Paderborn) präsentiert in seinem Forschungsbeitrag Erkenntnisse über Lernfabriken als Lernorte der beruflichen Ausbildung in der regionalen Berufsbildungslandschaft. Das didaktische Gelingen und die Wirkung von Lernfabriken setzen Kooperation regionaler Akteure in der beruflichen Bildung voraus. Am Beispiel der Lernfabrik ‚Lippe 4.0‘ untersucht und analysiert der Autor fallbasiert und aus einer Governance-Perspektive die lokale Vernetzung und die Kommunikationsprozesse zwischen den für die Lernfabrik relevanten Institutionen und Akteuren.
Teil 3: Herausforderung der Steuerung regionaler Berufsbildungslandschaften
Fallbasiert geht aus den folgenden Beiträgen hervor, welche Bedingungen für das Gelingen von Kommunikations-, Kooperationsprozessen in und der Steuerung von regionalen Berufsbildungslandschaften erfüllt sein müssen.
H.-Hugo Kremer und Stephanie Wilde (Universität Paderborn) wenden sich in ihrem Beitrag der niederländisch-deutschen Grenzregion ‚Rhein-Waal‘, auch Euregio genannt, zu. Im Mittelpunkt ihres Berichts steht die Auseinandersetzung mit grenzüberschreitenden langjährigen Formen und Aktivitäten der Zusammenarbeit im Bereich der beruflichen Bildung im Netzwerk Ler(n)ende Euroregio. Darüber hinaus reflektieren sie die Konzeption und Erprobung von Austauschformaten in der Euregio. Aufgedeckt werden besondere Potenziale einer grenznahen Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung.
Iris Pfeiffer, Irina Kreider und Sabrina Lorenz (f-bb Nürnberg) geht es in ihrem Diskussionsbeitrag um die Verzahnung und den Ausbau von Kooperationspraktiken beruflicher Bildung in kommunalen Bildungslandschaften. Präsentiert werden Ergebnisse aus zwei Forschungsprojekten, um einerseits die Rolle beruflicher Bildung in kommunalen Bildungslandschaften aufzuzeigen und um andererseits Kooperationsformen im Kontext der Digitalisierung in der beruflichen Bildung in den Blick zu nehmen. Die Autorinnen werfen schließlich die Frage nach Bedingungen lernortübergreifender Kooperationsformen auf.
Corinna Mühlig und Eva Schäfer (involas) beschreiben in ihrem Bericht das Interesse einer strategischen Verschränkung von beruflicher Bildung und Regionalentwicklung und sehen hierin den Kern kommunaler Steuerung. Am Beispiel einer Fallkommune reflektieren sie die Gestaltung von Kooperations- und Kommunikationsstrukturen zwischen beruflicher Bildung und Regionalentwicklung und wie sich eine verzahnte Steuerung praktisch, das heißt administrativ und kommunikativ darstellt, und welche Rolle der Kommunalverwaltung als möglichem koordinativem Akteur dabei zu Teil wird.
Insgesamt zeigen die Beiträge nur einen Ausschnitt eines im Prinzip weiten Diskussions- und Forschungsfeldes der Berufsbildung, das in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik nur marginal bearbeitet wird. Daher hoffen wir, dass wir mit bwp@ Ausgabe 44 Impulse für eine Intensivierungen der Diskussion und Forschung über berufliche Bildung und Regionalentwicklung geben können.
Wir bedanken uns bei allen Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, beim Redaktionsteam und der Webmasterin für die gute Zusammenarbeit und wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.
Karin Büchter, Nicole Naeve-Stoss, Laura Büker & Marco Hjelm-Madsen
(im Juni 2023)
Zitieren des Beitrags
Büchter, K./Naeve-Stoss, N./Büker, L./Hjelm-Madsen, M. (2023): Editorial zu Ausgabe 44: Berufliche Bildung und Regionalentwicklung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 44, 1-5. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe44/editorial_bwpat44.pdf (22.06.2023).