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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT05 - Berufliche Rahabilitation
Herausgeber: Roland Stein & Meinhard Stach

Titel:
Übergänge in der Beruflichen Rehabilitation - Probleme und Chancen


„Individualisierung“ als Maxime des neuen Reha-Modells der Berufsförderungswerke – Bedeutung und Umsetzung aus Sicht der Teilnehmenden

Beitrag von Wolfgang SEYD (Universität Hamburg)

Abstract

Das neue Reha-Modell der Berufsförderungswerke soll die Maximen des SGB IX konsequent einlösen: Die Leistungen richten sich von Beginn der Reha-Maßnahme an auf die Teilhabe am Arbeitsleben; an ihrer Auswahl und Ausgestaltung werden die behinderten Erwachsenen maßgeblich beteiligt. Integrationsorientierung ist Zielkategorie, Individualisierung Prozessmerkmal. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sind unabdingbare Prinzipien. Partizipation Betroffener setzt im Regelfall Handlungsspielräume und Flexibilität voraus. Die konkreten Rahmenbedingungen werden im Beitrag skizziert. Das neue Reha-Modell der Berufsförderungswerke bietet einen systematischen Ablauf von a) – vorgeschaltetem – Reha-Assessment zur Berufsklärung über b) ein Profiling mit Stärken-/Schwächen-Diagnose, Zielvereinbarung und Aktivitätenbestimmung, c) Rehabilitations- und Integrationsmanagement, d) handlungsorientierte Qualifizierung im Lernunternehmen, e) gleichgerichtete Entwicklung von Fach-, Schlüssel- und Gesundheitskompetenzen bis hin zu einem teilnehmerzentrierten Angebot an besonderen Hilfen durch medizinische Fachkräfte, Sozialarbeiter, Psychologen, Sporttrainer und andere Fachleute. Dabei ist vor allem die konkrete Umsetzung in den Alltag der Berufsförderungswerke von Interesse. Der Beitrag klärt hierzu anhand zweier Interviews auf, ausgewählt aus einer Reihe, die vom Verfasser mit Rehabilitanden aus süddeutschen Berufsförderungswerken geführt wurden. Kernaspekte der Implementation werden hier mit den Augen der Betroffenen betrachtet. Die Aussagen münden in Erkenntnisse, in der Form von sechs Thesen dargeboten.

1 Das neue Reha-Modell der Berufsförderungswerke und das Modellprojekt Individualisierung als Hintergrund der Teilnehmerbefragungen

Zwischen 2004 und 2007 erlebten die Berufsförderungswerke einen nie gekannten Einbruch in ihrer Belegung. Die Belegung der 28 in der ARGE Deutscher Berufsförderungswerke vertretenen BFWs stürzte von rund 18.000 auf 11.500 ab. Damit verbunden waren massive Entlassungen des Personals. Hauptgründe dieses dramatischen Rückgangs waren einerseits die eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten der Rehabilitationsträger Bundesagentur für Arbeit und Deutsche Rentenversicherung, die zusammen mehr als 95% der Plätze finanzieren, und andererseits die Auffassung, das in den vergangenen Jahren herausgeschälte didaktische Konzept sei in Teilen nicht mehr zeitgemäß. Zwar waren in den zurückliegenden Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen worden, um dieses Konzept durch Modellversuche weiter zu entwickeln, aber das schien dem für die Gestaltung des Rehabilitationssystems zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales offenbar nicht hinreichend, um wieder eine stabile Belegungssituation in den Berufsförderungswerken zu erreichen.

Der damalige Staatssekretär TIEMANN berief eine wissenschaftliche Fachkommission – „RehaFutur“ – und beauftragte sie, auf der Grundlage einer differenzierten Bestandsaufnahme und -analyse Schwachstellen und Entwicklungslinien herauszufiltern, die dann von den Leistungserbringern zur beruflichen Rehabilitation Erwachsener, neben den Berufsförderungswerken auch viele private Bildungsträger, umgesetzt werden sollten. Etwa zeitgleich entwickelten die Berufsförderungswerke in einer Projektgruppe ein Referenzmodell, das eine tragfähige Basis für alle in der ARGE BFW zusammengeschlossenen 28 Berufsförderungswerke abgeben sollte, um ein ganzheitliches, handlungsorientiertes, teamgesteuertes, auf Integration als Leitziel abgestelltes und der Individualisierung verpflichtetes Realmodell zu generieren. Im Anschluss daran wurde die Universität Hamburg vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Berufsförderungswerke (ARGE BFW) gemeinsam beauftragt, den Umsetzungsprozess wissenschaftlich zu begleiten. Die Laufzeit währt vom 1.12.2008 bis zum 30.11.2011.

Die Steuerungsgruppe neues Reha-Modell bekräftigte im Juli 2010 vier Ziele des neuen Reha-Modells. Es sollte

  • die Belegungsattraktivität erhöhen, um möglichst vielen Leistungsberechtigten zu einer Reha-Maßnahme in einem BFW zu verhelfen und den Berufsförderungswerken und den Mitarbeiter/innen der Reha-Träger eine sichere Planungsgrundlage an die Hand zu geben;
  • gesetzliche Vorgaben einlösen, insonderheit SGB I, SGB III, SGB V und BBiG § 1;
  • didaktische Maximen befolgen, die mit den Vokabeln Integrationsorientierung, Individualisierung, Flexibilisierung, Handlungsorientierung und Ganzheitlichkeit verknüpft sind;
  • nicht zuletzt auch die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Reha-Maßnahmen in Berufsförderungswerken sichern und erhöhen.

Nahezu zeitgleich wurde in den Berufsförderungswerken Nürnberg und München ein „Modellprojekt Individualisierung (MPI)“ aufgelegt, das neben den für das neue Reha-Modell ohnehin geltenden Komponenten

  • Reha-Assessment,
  • Profiling,
  • Qualifizierungssystem,
  • Angebot besonderer Hilfen,
  • Reha- und Integrationsmanagement,
  • Ausrichtung auf Fach-, Schlüssel- und Gesundheitskompetenzen

eine zeitlich und inhaltlich weit reichende Flexibilisierung erproben sollte (STAAB/ GEBAUER 2010; www.bfw.muenchen.de). Der Referent wurde mit der wissenschaftlichen Begleitung für den Zeitraum 1.1.2009 – 31.12.2010  betraut. Mit dem Ziel, einen individuellen Zeitrahmen unterhalb der üblichen 24 Monate festzulegen, wurde schließlich auch eine Personengruppe erfasst, die auf der 24-Monats-Basis kaum eine Chance auf die Bewilligung einer Reha-Maßnahme gehabt hätte: Ältere (ab 40 Jahre), bereits beruflich gut vorqualifizierte Leistungsberechtigte. So wurden auch Versicherten jenseits der 50-Jahres-Barriere noch Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in außerbetrieblicher Form bewilligt.

2 Individualisierung als Leitfigur in der beruflichen Rehabilitation Erwachsener

Erwachsene lernen anders. Dieser Leitspruch ist genau so richtig wie falsch. Schon vor 50 Jahren konnte der Wiener Erziehungswissenschaftler Richard OLECHOWSKI in seiner preisgekrönten Habilitationsschrift „Das alternde Gedächtnis“ auf der Grundlage einer Expertise von Befunden amerikanischer Lernpsychologen feststellen, dass die Lernfähigkeit von Erwachsenen keineswegs in toto abnehme, sondern lediglich bestimmte Bereiche wie etwa das Kurzzeitgedächtnis Abbauprozessen unterworfen sei. Insgesamt gesehen seien aber im Schulsystem erfolgreiche Lerner auch im Alter nicht nur die besseren Lerner, sondern überträfen die im Schulsystem schwächeren Lerner leistungsmäßig immer noch deutlich.

Einflussreich war seinerzeit auch der Lernbiologe VESTER (1974) mit seiner Forderung, Lerntypen zu unterscheiden und darauf Lehr-/Lernmethoden unter weitgehender Beteiligung der Lernenden zuzuschneiden.

Allerdings ist bei Erwachsenen auf erfahrungsbezogenes, handlungsorientiertes Lernen abzuheben, allemal in der beruflichen Rehabilitation Erwachsener (LÜDTKE/ VAN DE SAND 1994, LÜDTKE 2004). Das bedeutet einerseits, auf die im bisherigen Berufsleben erworbenen Erfahrungen zurückzugreifen und von da aus eine weiterführende Basis zu entwickeln, andererseits auch eine stärkere Beteiligung der Lernenden an der Planung, Gestaltung und Kontrolle der Lernprozesse LÜDTKE/ SEYD 2006).

Dabei sind immer drei Ebenen zu beachten:

  • die der einzelnen Teilnehmenden, die an der individuellen Förder- und Integrationsplanung gleichberechtigt beteiligt werden sollten,
  • die der Lerngruppe, die mittels Jour fixe – der regelmäßigen, z.B. wöchentlichen Reflexion – die Wirksamkeit und Angemessenheit der Lernprozesse reflektieren und daran anknüpfend Weichen für die Lernprozessgestaltung im nachfolgenden Zeitraum stellen sollte,
  • die der Gesamtheit der Teilnehmenden in Institutionen der beruflichen Rehabilitation, mit deren Interessenvertretung strukturelle und prozessuale Qualitätsparameter bedacht, besprochen, operationalisiert und möglichst partnerschaftlich umgesetzt werden sollten.
  • Im Zuge der Fortführung und Ausgestaltung des RehaFutur-Auftrages wurden vier Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit den Aspekten
  • Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Rehabilitanden (AG 1, vom Referenten moderiert),
  • Eingangsverfahren zur beruflichen Rehabilitation (AG 2),
  • Wirtschaft und Arbeitswelt als Kontext beruflicher Rehabilitation (AG 3) und
  • Forschung in der beruflichen Rehabilitation (AG 4)

befassen. Eines der wichtigsten Zwischenergebnisse  der AG 1 ist die Erkenntnis, dass Selbstbestimmung und -verantwortung ein hohes Maß an Informiertheit, adressatengerechte Beratung und ein hohes Maß an Überzeugung auf Seiten der Leistungsberechtigten, ihre Vorstellungen einbringen zu sollen und zu wollen, voraussetzt. Nicht zu übergehen ist die Bereitschaft der Verantwortlichen bei den Leistungserbringern, die Auffassungen der Teilnehmenden auch zu akzeptieren und in ihre (gemeinsame) Planung, Gestaltung und Reflexion der Qualifizierungsprozesse wirkungsvoll einzubeziehen.

Dies wiederum setzt ein bestimmtes, gereiftes Bild von Erwachsenenbildung voraus, das sich deutlich von der allgemein- und berufsbildenden Schule abhebt, die beide nach wie vor geprägt sind vom Frontalunterricht, wie die umfassende Untersuchung PÄTZOLD/ KLUSMEYER 2003 erneut nachgewiesen hat (s.a. PÄTZOLD/ LANG 2005). Man darf allerdings nicht vergessen, dass diese Form im 19. Jahrhundert einen erheblichen Fortschritt gegenüber der alten Klosterschule mit dem vorrangigen Prinzip des Abschreibens und Auswendiglernens darstellte (RUSS 1968; BLANKERTZ 1982). So sehr sie sich im Bewusstsein der Bevölkerung auch festgesetzt hat, so widerspenstig sind ihre Vertreter noch heute, wenn es um die Einlösung beispielsweise der Lernfeldstrukturierung der Rahmenlehrpläne, immerhin ja schon 1996 von der KMK beschlossen, geht (REETZ/ SEYD 2006). Dies gilt es im Blick zu haben, wenn es um die Einschätzung geht, wie und bis wann die Einlösung der genannten Prinzipien Ganzheitlichkeit, Handlungsorientierung, Teamsteuerung, Integrationsorientierung und Individualisierung wirklich als gelungen angesehen werden kann.

3 Flexibilisierungsmöglichkeiten und -grenzen der Berufsförderungswerke

Berufsförderungswerke bilden im Regelfall nach den Ausbildungsordnungen gemäß § 4 f. BBiG bzw. § 25 HwO und den von der KMK beschlossenen zugehörigen Rahmenlehrplänen aus. Darüber wacht die jeweils zuständige Stelle, meist die Industrie- und Handelskammer oder die Handwerkskammer. Sie trägt die Ausbildungsverträge in das entsprechende Verzeichnis (früher: „Lehrlingsrolle“) ein und organisiert die Abschluss- und Zwischenprüfungen. Dazu gehört selbstverständlich auch die Terminierung – und meist finden sich Kammern nur zu halbjährlichem Turnus bereit.

Wenn also sowohl die Anschlussbeschäftigung als auch der Kammerabschluss erreicht werden sollen, sind die BFWe an die Terminsetzungen gebunden. Es ist beachtlich, dass sich die zuständige IHK Nürnberg bereit erklärt hat, Prüfungen auch in kürzeren Zeiträumen abzunehmen und Ausbildungsverhältnisse quartalsweise einzutragen. Damit ergibt sich ein nicht zu unterschätzender Spielraum für die Bestimmung individueller Beginn- und Beendigungstermine.

Die Verantwortlichen des BFW München haben sich dazu entschlossen, sämtliche Qualifizierungsangebote zu modularisieren. Diese Module haben eine zeitliche Dauer von zwei Monaten. Sie können von den Teilnehmenden im Benehmen mit der/dem Reha- und Integrationsmanager/in individuell angewählt werden. Die Modulbeschreibung sorgt für Transparenz hinsichtlich der Ziele, Inhalte, Methoden, Kompetenz-Voraussetzungen und Prüfungsgegenstände. Dazu gehören auch differenzierte Lernorte, wie sie beispielsweise im BFW Nürnberg mit den Lernbetrieben und Selbstlernzentren vorzufinden sind. Die jeweils verantwortlichen Mitarbeiter/innen fungieren als Lernberater; ihr Informationsinput ist strukturierender und ergänzender Natur; die Teilnehmenden erarbeiten sich wesentliche Teile ihrer Qualifikationen selbst oder in Gruppen.

Wie sehen die Teilnehmenden diese für sie in aller Regel zunächst einmal völlig fremde Lernform? Für wie aussichtsreich halten sie diese Qualifizierung? Was ist aus ihrer Sicht daran zu verbessern, was trägt und sollte beibehalten werden? Das sind die wesentlichen Fragen, die den Interviewpartnern vom Referenten gestellt worden sind und deren Ergebnisse im nächsten Abschnitt dargeboten und kommentiert werden sollen.

4 Teilnehmerinterviews im Kontext der Modellversuche nR-M und MPI

Die Wahl der Untersuchungsmethode wurde an einschlägiger Literatur (DIEKMANN 2006, FLICK et al. 2007, MAYRING 2002, LAMNEK 2002) ausgerichtet; sie fiel auf das Leitfaden gestützte Interview. Allerdings wurden die Interviews nicht aufgezeichnet, sondern vom Interviewer/Referenten per Laptop unmittelbar in der Gesprächssituation festgehalten. Anschließend wurden sie überarbeitet und in sprachlich einwandfreie, flüssig lesbare Form gebracht und den Interviewpartnern zur Inhaltskontrolle übermittelt. In keinem Fall wurde von den Änderungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht. Die Interviews dauerten zwischen 22 und 125 Minuten, die Mehrzahl zwischen 45 und 70 Minuten.

Die Interviews wurden am 15. und 16.6.2010 (Nürnberg) und am 19. und 20.7.2010 (München) durchgeführt. Ein Anspruch auf Repräsentativität besteht nicht. Die Auswahl der Interviewpartner wurde von den Rehabilitations- und Integrationsmanagern vorgenommen. Eine Verzerrung durch eine bewusste Positivauswahl lässt sich nicht erkennen, ist aber nicht ständig auszuschließen.

5 Beispiele für Individualisierung in der beruflichen Rehabilitation Erwachsener

Fallbeispiel 1, 19.7.2010:

L. ist 52 Jahre alt, ca. 1,80 m groß und immer noch stark übergewichtig. Hat 2008 erste OP auf sich genommen, anschließend in der Kur 12 Kilo verloren. Aber immer wieder gab es den bekannten Jojo-Effekt. Schließlich hat er einen Teil des Magens entfernen lassen und daran anschließend sein Gewicht von 172 kg auf 120 kg reduziert.

L. war Schmelzschweißer bei Kraus-Maffai, hat beim Bau des Transrapid im Terminbüro mitgearbeitet. 1985 hat er zum Fahrlehrer wechseln wollen, wurde aber durch den Tod der Mutter aus der Bahn geworfen und hat die Prüfungen nicht bestanden. Daraufhin arbeitet er fünf Jahre als Lkw-Fahrer, zwischenzeitlich als Bestatter. Diese Kombination aus Lagerarbeiter, Lkw-Fahrer und Bestatter hat er 20 Jahre ausgeübt, zuletzt Gastronomie-Betriebe beliefert. Täglich war mehr als eine Tonne Paletten zu ziehen.

Eines Tages klappt Herr L. einfach zusammen, kann sich allein nicht mehr aufrichten. Peu a peu ist es gekommen. Auch als Bestatter war er starken körperlichen Belastungen ausgesetzt. „Es ist einfach so, dass bei mir da unten alles kaputt ist.“ Spritzen helfen nicht mehr. Der Arzt meint: „Müssen wir schauen, wie es operativ aussieht.“ Und rät zur Kur. Der dortige Reha-Berater eröffnet ihm, die Beweglichkeit werde nicht wiederkommen. Für eine OP dagegen ist die Schädigung offenbar nicht schwer genug. Mit Muskelaufbau kann die Wirbelsäule entlastet werden, auch mit weiterer Gewichtsreduktion.

Im Januar 2010 erfährt Herr L. durch den RIM vom Modellprojekt Individualisierung. Dort rät man ihm, der seinerzeit 172 kg auf die Waage bringt, zu einer Abnahme durch operative Magenverkleinerung. Das lässt er in Großhadern durchführen, nimmt an monatlichen Treffs mit Gleichbetroffenen teil, holt sich aus dem Internet Informationen zur Adipositas-Bekämpfung. „Mit wenig Aufwand kommt man zu einer schnellen Lösung.“ 52 kg hat er bislang schon geschafft.

Jetzt ist Herr L. Pendler mit 1 ½ Stunden Zeitaufwand pro Tour.

Sein individueller Wochenplan sieht so aus: Am Montag hat er von 8 Uhr an 2 Stunden Buchführung, 5 Std. Recht, 2 Stunden Tastatur. Herr L. hätte lieber die Reihenfolge Recht – Tastatur – Recht. Am Dienstag hat er 5 Std. Buchführung, 2 Std. Recht, 2 Std. EDV. Er plädiert für kürzere Einheiten. Nach 6 oder 7 Wochen kommt Englisch dazu. Und das bei Hauptschulenglisch, das 35 Jahre zurück liegt!

Wie sieht Herr L. seine Qualifizierung? Ausbilder L. wird sehr gelobt, wirkt mit innerer Ruhe. „Junge Lehrer reden dich dumm und dämlich, aber es bleibt nichts hängen.“ Herr L. braucht Empathie und Geduld. „Es gibt Pädagogen, die nicht bedenken, dass Vieles Neuland für die Teilnehmer ist. Man braucht eine Kombination aus Praxis und Theorie.“

Herr L. fühlt sich vollgepumpt mit Theorie, Praxis fehle. Zuerst gab es fünf Monate nur „Schule“, dann vier Monate Praxis. Warum nicht zwei Monate heranführen an das Lernen, anschließend sieben Monate praktische Ausbildung und theoretischer Unterricht?

Eine Kombination von 24-Monats-Teilnehmenden und verkürzt Lernenden hält er für nicht angebracht, weil die Langform-Teilnehmenden eine grundständige Ausbildung erfahren und stark auf die Abschlussprüfung fixiert sind. Zudem: „Wir sind alle über 40. Wir sind einfach zu alt.“

Alle Rehabilitanden müssten erst einmal auf ihre Vermittelbarkeit hin getestet werden. Lehrkräfte bemühen sich, Rentenversicherungsträger scheuen erhöhte Kosten. Man müsste Praxis und Theorie tauschen. Erst Orientierungspraktikum, damit man sieht, wohin man sich orientieren will. Dann kann man die Zusammenhänge erkennen. Die Möglichkeit zur individuellen Gestaltung des Lernens findet Herr L. aber richtig und effektiv.

Herr L. empfindet die Position des Rehabilitations- und Integrationsberaters zwar als schwierig, aber auch sehr wichtig: Der versuche den Weg ins Berufsleben für ihn zu bahnen und sei „Ansprechpartner, zu dem man immer mal gehen kann. Ist sehr hilfsbereit, auch im Privatbereich. Sucht nach Unterstützungsmöglichkeiten.“

Das Konzept hält Herr L. für zukunftsfähig, soweit die genannten Schwächen beseitigt werden. „Alles hängt an einem Arbeitsplatz, erhält man den, war auch die Maßnahme richtig.“

Zu seiner Perspektive äußert sich Herr L. freimütig. Notfalls will er wieder LKW fahren. Er will nicht in einem Verleihjob landen, dort für 6 Euro die Stunde arbeiten. „Ich kann doch keinen Buchhalter-Job annehmen, habe doch keine Berufserfahrung, wer nimmt mich denn? Ich habe nur Angelernten-Erfahrung!“ Praktikum kommt erst nach neun Monaten. „Ich weiß nur eines: reiner Bürojob ist nichts für mich. Ich möchte versuchen, in ein bezahltes Praktikum zu kommen. Notfalls auch auf dem Lkw.“

Fallbeispiel II: Frau H., 52, 15.6.2010, kfm. Teilqualifizierung (Träger: BG)

Frau H. hat eine Lehre zur Fleischereifachverkäuferin begonnen, diese abgebrochen, ist umgestiegen auf Fleischerin, hat die Ausbildung abgeschlossen und dann doch zusätzlich die Lehre zur Fleischereifachverkäuferin erfolgreich beendet. Anschließend hat sie einige Jahre Berufspraxis gesammelt, geheiratet, ein Telemarketing-Büro mit 25 Mitarbeitern gemeinsam mit ihrem Ehemann betrieben, dabei die Mitarbeiter selbst geschult. Nach ihrer Scheidung war sie wieder in einer Fleischerei als Filialleiterin tätig.

Vor vier Jahren erlitt sie bei Glatteis einen komplizierten Beinbruch: Schien- und Wadenbein waren gebrochen, der Knöchel zertrümmert. Nach der Operation konnte sie keinen Sport mehr ausüben, abgesehen vom Reiten. Insgesamt war sie neun Monate außer Gefecht. Anschließend Wiedereingliederung in Zeitetappen in Fleischerei-Filialleitung. Dann Wechsel der Filiale. Dort warteten 10-11 Stunden Arbeit mit Schichtarbeit im Wochenwechsel. Aber der Fuß erholte sich nicht mehr, die Schmerzen blieben.

Am 3.5.2009 ist Frau H. mit großen Schmerzen aufgewacht, konnte gar nicht mehr auftreten. Das Kernspin gibt schreckliche Gewissheit: Arthrose in fortgeschrittenem Zustand. Die BG übernimmt den Fall wieder, Reha ist angesagt. 10 Wochen braucht Frau H. bis zum schmerzfreien Gehen, am Stock. „Mit Iboprophen konnte ich wieder laufen.“ BG schlägt Umschulung vor. Frau H. lehnt eine komplette Umschulung ab. Sie ist ihrer Ansicht nach hinreichend qualifiziert für eine Berufstätigkeit.

Was ihr fehlt, sind Computerkenntnisse. Qualifizierung in dieser Richtung wird gebraucht. Sie nimmt an einem dreitägigen Assessment teil. Resultate: RVL ist nicht nötig. In Wirtschaftsrechnen und Rewe ist sie sehr gut. Ein Leben ohne berufliche Bestätigung ist ohnehin nicht denkbar. Frau H. hat ein starkes Interesse an beruflicher Wiedereingliederung. Sie drängt auf zügige Aufnahme der Qualifizierung. „Was ich mache, mache ich perfekt; ich will immer die beste sein.“

Das Grundlagenhalbjahr bis März 2010 absolviert Frau H. gemeinsam in der Lerngruppe; sie stellt sich allen Prüfungen: Bürowirtschaft, Rewe, IVO, Word, PCT, Englisch, Wirtschaftsrechnen. Besteht sie alle. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sie sich im Lernort Skripta Plus. Dort ist sie in Einkauf und Logistik aktiv. Sie könnte noch die Lernorte Vertrieb und Marketing mitmachen. Es besteht die Option, anschließend noch an weiteren Lernorten teilzunehmen, wenn zwischenzeitlich kein Übergang in Arbeit glückt.

Die Betreuung durch die BG bezeichnet Frau H. als hervorragend. Auch das Bewerbertraining ist in ihren Augen eine TOP-Ausbildung. Es wird von der Rehabilitations- und Integrationsmanagerin angeboten: „Da hast du gar nicht gemerkt, wie das gemacht wird, das hast du einfach gekonnt.“

Der Einstieg war sehr anstrengend: „Du bist es nicht gewohnt, kommst aus der Arbeit. Jetzt zwei Stunden dies und zwei Stunden das. Du hast alle zwei Stunden einen anderen Kopf auf.“ Eine Mischung ist erwünscht: Vorträge, Gruppenarbeit, Einzelarbeit, Präsentieren, Recherchen im Internet. „Wenn ich schon in einem BFW bin, erwarte ich auch, dass mir jemand etwas beibringt.“

Frau H. kritisiert: Man kann sich während des Unterrichts massieren lassen. Das bedeutet zeitliche Konkurrenz zur Ausbildung. „Mir fehlt dazu die Zeit.“ Manche halten sich stundenlang im Wartezimmer auf. Arbeitsauftrag wird vier Stunden lang einzeln bearbeitet, stundenlang im Internet recherchiert. Anschließend werden die Ergebnisse in einer halben Stunde abgearbeitet.

Neuer Arbeitgeber, der über das Praktikum bereits gefunden wurde, erwartet die Beherrschung von Excel und Power Point. Letzteres wird von Frau H. in Eigenarbeit gelernt. Die Möglichkeit zur freien Gestaltung der Lerneinheiten durch die Teilnehmenden wird von ihr als etwas Besonderes angesehen.

Die Rehabilitations- und Integrationsmanagerin hält Frau H. für sehr wichtig: „Jeder braucht Ansprechpartner. Sensible Menschen brechen in Tränen aus, brauchen jemanden, der sie an die Hand nimmt.“ Frau H. hält das Konzept für zukunftsfähig: „Absolut, man kann viel Geld damit sparen. Wir sind ja keine Kinder mehr, brauchen keine komplette neue Berufsausbildung.“ Sie schlägt vor, das Konzept bei Rehabilitanden mit über 40 Lebensjahren generell einzusetzen.

6 Erkenntnisse und Forderungen in Thesenform

Für den Erfolg des neuen Reha-Modells ist nicht entscheidend, ob es funktioniert, sondern dass es für die Teilnehmenden einen merklichen – nicht unbedingt auch „messbaren“ – Erfolg erbringt. Und das können die Teilnehmenden selbst am besten beurteilen, sofern sie dazu brauchbare Kategorien besitzen und ein gut Teil Objektivität walten lassen.

Teilnehmende können wertvolle Vorschläge zur individuellen Gestaltung der Qualifizierungs- und Unterstützungsleistungen machen, wenn man sie dazu ermuntert und ihre Anregungen ernst nimmt. Erwachsenenbildung ist „Bildung auf Augenhöhe“ oder sie ist nicht Bildung, sondern Belehrung.

Selbstbestimmung und -verantwortung setzen eingehende Information und große Transparenz voraus. Wer nicht weiß, welche Leistungen er beanspruchen kann, wird sich nicht zu einem aktiven Gestalter der eigenen Rehabilitation emporschwingen.

Hauptwiderstände gegen Individualisierung stellen formelle Rahmenbedingungen beruflicher Rehabilitation – Orientierung an Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen, Prüfungshoheit der Zuständigen Stellen  – und ganz besonders die Einstellungen und Haltungen der handelnden Personen dar. Damit sind sowohl die Ausbildungs- und Lehrkräfte als auch die Teilnehmenden selbst gemeint.

Individualisierung ist eine umfassende, tiefgreifende Innovation. Die in verschiedenen Studien ermittelten Erfolgsbedingungen für derartige Innovationen – allen voran Akzeptanz, Transparenz, angemessene Komplexität, Klarheit über Rahmenbedingungen, individuelle Gestaltungsspielräume, partnerschaftlicher Führungsstil, Teamorientierung und -steuerung (vgl. ERTL/ KREMER 2005, FREY et al. 2008, HRON/ FREY/ LÜSSIG 2005) müssen unbedingt beachtet werden.

Die Strukturierung der Qualifizierung in Module kann die Transparenz und Flexibilität der individuellen Leistungen erhöhen. Dazu bedarf es allerdings einer wirksamen Steuerung, und die scheint mit dem Rehabilitations- und Integrationsmanagement gegeben zu sein. Die Abarbeitung von Modulen stellt allerdings im Regelfall keine effektive Alternative für eine ganzheitliche, handlungs- und integrationsorientierte Rehabilitation dar.

Literatur

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DIEKMANN, A. (2006): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. 15. Aufl., Reinbek bei Hamburg.

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Zitieren dieses Beitrages

SEYD, W. (2011): „Individualisierung“ als Maxime des neuen Reha-Modells der Berufsförderungswerke – Bedeutung und Umsetzung aus Sicht der Teilnehmenden. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 05, hrsg. v. STEIN, R./ STACH, M., 1-11. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft05/seyd_ft05-ht2011.pdf (26-09-2011).



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