Titel:
Übergänge im Bildungssytem - Brüche oder Brücken? Die Rolle der Berufsschule im Prozess des Lebenslangen Lernens
Beitrag von Angela BACHMANN & Elke WÄLLNITZ (Sächsisches Bildungsinstitut Radebeul)
Seit dem Schuljahr 2008/09 wird unter Leitung des Sächsischen Bildungsinstituts (SBI) ein Schulversuch durchgeführt, der in zwei Teilprojekten den Übergang vom Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) in Ausbildung für Abgänger unterer Klassen erfolgreicher gestalten soll. Zehn Berufliche Schulzentren erproben ein zweijähriges BVJ mit erhöhten praktischen Anteilen (GBVJ). In drei Regionen wird eine engere Zusammenarbeit zwischen Schulen zur Lernförderung und den Beruflichen Schulzentren mit dem Ziel eines passgenauen Übergangs in das BVJ als kooperative Form konzeptionell entwickelt und erprobt (KBVJ). Anliegen des Schulversuches ist es, die Anzahl der Schüler, die die Ausbildungsreife erlangen, weiter zu erhöhen.
Das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sowie das Sächsische Staatsministerium für Kultus und Sport erarbeiteten seit 2006 mit weiteren Ressorts der Staatsregierung, der Bundesagentur für Arbeit, den zuständigen Stellen sowie den Sozialpartnern Eckwerte für die Bündelung aller Fördermaßnahmen in der Berufsausbildung. Im Ergebnis wurde das „Integrierte Gesamtkonzept zur Unterstützung der Berufsfähigkeit“ vorgelegt. Ein wesentlicher Aspekt besteht darin, dass für unversorgte Schulabgänger ohne Schulabschluss berufsvorbereitende Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit (BvB) zukünftig nachrangig gegenüber schulischen Maßnahmen der Berufsvorbereitung sind. Diese Abgänger allgemeinbildender Schulen sollen im Berufsvorbereitungsjahr (BVJ) einen dem Hauptschulabschluss entsprechenden Bildungsstand erreichen, um bessere Chancen für die Aufnahme eines Ausbildungsverhältnisses zu haben. Für Jugendliche, die das einjährige BVJ auf Grund ihrer komplexen Konfliktgeschichten und daraus resultierenden Defizite und Schwächen nicht mit Erfolg absolvieren können, wurden im Rahmen eines Schulversuchs zwei Varianten einer Streckung der Ausbildungsinhalte des BVJ entwickelt. Ziel des Schulversuchs ist die Erhöhung der Zahl der Schüler, die die Ausbildungsreife erlangen. Im Rahmen der Durchführung sind dabei folgende Teilziele zu erreichen:
Der Schulversuch umfasst zwei Teilprojekte mit unterschiedlichen Lösungsansätzen (Abb.1).
Als erstes Teilprojekt wird seit dem Schuljahr 2008/09 ein zweijähriges, praxisorientiertes Berufsvorbereitungsjahr als Vollzeitmaßnahme erprobt. Die Umsetzung erfolgt auf der Grundlage der gültigen Stundentafel des einjährigen BVJ mit einer Erhöhung der praktischen Anteile u. a. durch Einführung von Werkstatttagen, einem intensiven Betriebspraktikum sowie Arbeitstagen im Betrieb (Gestrecktes Berufsvorbereitungsjahr in zweijähriger Form - GBVJ).
Abb. 1: Struktur des Schulversuches
Ein weiteres Teilprojekt erprobt seit dem Schuljahr 2010/11 eine zielgruppenorientierten Variante zum passgenauen Übergang zwischen Schulen zur Lernförderung (FÖSL) und berufsbildenden Schulen bzw. Berufsbildenden Förderschulen in Form eines „Gestreckten Berufsvorbereitungsjahres in kooperativer Form“ (KBVJ). Diese Erweiterung des Schulversuchs gliedert sich in zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung des Übergangs Schule - Berufsausbildung ein, die im Rahmen des Projektes zur Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Förderung in Sachsen realisiert werden. Die Umsetzung erfolgt in der Einheit von Klassenstufe 9 und dem einjährigen BVJ auf der Grundlage der gültigen Stundentafeln und Lehrpläne. In der Klasse 9 lernen die Förderschüler an einem Tag im Beruflichen Schulzentrum die dort angebotenen Berufsbereiche kennen, die sie dann im anschließenden BVJ vertiefen. Auf Grund einer schulartübergreifenden festen Lerngruppe bietet dieses Teilprojekt für Schulabgänger der Schule zur Lernförderung in besonderer Weise Potenziale, die Berufs- und Lebenswegplanung so zu gestalten, dass sich für diese Jugendlichen überschaubare, durchlässige und anschlussfähige Etappen ergeben.
Erste Ergebnisse liegen für das GBVJ vor, so dass sich die weiteren Ausführungen auf dieses Teilprojekt beschränken.
Die Ausbildung im Rahmen des zweijährigen BVJ (GBVJ) erfolgt nach der Stundentafel und dem Lehrplan für das einjährige Berufsvorbereitungsjahr in Sachsen. Im zusätzlichen Schuljahr stehen den Schulen zwei Unterrichtstage für den erhöhten Wahlpflichtbereich und Wahlbereich zur Verfügung. Drei Unterrichtstage pro Woche werden für die vertiefte praktische Ausbildung der Jugendlichen in einem Betrieb genutzt (Einsatz im Betrieb). Die zeitliche Planung zur Umsetzung der Stundentafel liegt in der Verantwortung der Schulen.
Tabelle 1: Stundentafel im Vergleich GBVJ und BVJ (Gesamtstundenzahl)
Fächer / Bereiche | Einjähriges BVJ | Gestrecktes BVJ |
Deutsch/Kommunikation | 120 | 120 |
Wirtschafts- und Sozialkunde | 80 | 80 |
Mathematik | 120 | 120 |
Religion oder Ethik | 40 | 40 |
Sport | 80 | 80 |
Berufsbezogener Bereich | 720 | 720 |
Wahlpflichtbereich | 40 | 560 |
Wahlbereich | 40 | 80 |
Betriebspraktikum | 2 – 4 Wochen | 2 bis 6 Wochen 3 Tage / Woche im 2. Jahr |
Im Schuljahr 2008/09 konnten acht Berufliche Schulzentren (BSZ) Schülerinnen und Schüler in das GBVJ aufnehmen. Das BSZ Glauchau und die Susanna-Eger-Schule in Leipzig begannen die Ausbildung im Schulversuch im Schuljahr 2009/10. Eine Übersicht über alle Standorte enthält Tabelle 2.
Tabelle 2: Standorte des Gestreckten Berufsvorbereitungsjahres
Berufliches Schulzentrum „Konrad Zuse“ | |
Berufliches Schulzentrum Löbau |
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Berufliches Schulzentrum Dippoldiswalde |
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Berufliches Schulzentrum Großenhain „Karl Preußker“ |
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Karl-Heine-Schule | |
Susanna-Eger-Schule | |
Berufliches Schulzentrum für Technik und Hauswirtschaft | |
Berufliches Schulzentrum für Technik Limbach-Oberfrohna | |
Berufliches Schulzentrum für Technik und | |
Berufliches Schulzentrum für Ernährung und Hauswirtschaft Wilkau-Haßlau |
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Die Streckung des Bildungsganges auf zwei Jahre bietet ausreichend Zeit, um die Grundvoraussetzungen in der Einstellung und Motivation der Jugendlichen zu entwickeln. Sie werden in einem angemessenen Zeitraum wieder an klassische Schulfächer herangeführt. Besonders positiv wirkt sich der von den Schulen eigenverantwortlich auszugestaltende Wahlpflichtbereich auf den Entwicklungsprozess der Jugendlichen aus. Im zweijährigen BVJ stehen 560 Unterrichtsstunden gegenüber 80 Unterrichtsstunden im einjährigen Bildungsgang zur Verfügung. Lebensweltbezogene Angebote, wie Antiaggressionstraining, Suchtprävention, aber auch die Interessen und Neigungen der Schüler berücksichtigende Angebote, wie z. B. relativ-künstlerische Kurse, dienen einer nachhaltigen Vermittlung eines gesellschaftskonformen Wertekanons und unterstützen die Entwicklung der Personal- und Sozialkompetenz. Beim überwiegenden Teil der Schüler zeigt sich insbesondere im zweiten Jahr eine positive Entwicklung auf Grund der Reife in der Persönlichkeit – eine Grundvoraussetzung, damit möglichst viele das BVJ erfolgreich abschließen und einen Bildungsstand entsprechend Hauptschulabschluss erreichen.
Der konzeptionelle Ansatz, die Schüler über eine umfassende Praxisphase – den Einsatz im Betrieb – an die Arbeitswelt heranzuführen, hat sich ebenfalls bewährt. In zwei Schulhalbjahren lernen die Jugendlichen an drei Tagen pro Woche das betriebliche Umfeld kennen. Sie erhalten erstmalig in ihrer Bildungslaufbahn die Möglichkeit, betriebliche Erfahrungen über einen längeren Zeitraum zu sammeln. Die Übertragung von Verantwortung im Betrieb auf die Jugendlichen bringt sehr positive Erfahrungen, zeigt ihnen dabei aber auch persönliche Grenzen auf. Alle Beteiligten – Schüler, Lehrer und Betriebe – schätzen die Wirksamkeit der Einsatztage im Betrieb sehr hoch ein. 88 % der Schüler geben in der Endbefragung an, dass sie die Einsatztage gut finden, weil sie praktisch arbeiten können. Die Mehrzahl der Betriebe stellt fest, dass der Einsatz im Betrieb die Soziakompetenzen (insbesondere Teamfähigkeit) und die Personalkompetenzen (insbesondere Pünktlichkeit, aber auch Leistungsbereitschaft, Durchhaltevermögen, Zuverlässigkeit) positiv beeinflussen konnte. Durchgängig ist eine Steigerung der Arbeitsleistung der Schüler zu verzeichnen. Für diesen Ausbildungsteil hat sich der Einsatz sozialpädagogischer Praxisbegleiter bewährt. Unterstützt der Sozialpädagoge der Schule das Lehrerteam bei der Bewältigung der vielfältigen Problemlagen der Jugendlichen in der Schule, so nimmt der Praxisbegleiter diese Aufgaben in den Betrieben wahr. Darüber hinaus ist er Ansprechpartner für die Betriebe. Durch die Synergieeffekte der Einbindung des Praxisbegleiters in regionale Netzwerke kann die Anzahl der Übernahme von Praktikanten in Ausbildung („Klebeeffekt“) erhöht werden.
Zielgruppe des GBVJ sind Abgänger unterer Klassen der Hauptschule und Abgänger allgemeinbildender Förderschulen. Komplexe Problemlagen bedingt durch das soziale Umfeld der Schüler, ausgeprägte Schulmüdigkeit und Schulverweigerung, aber auch Lernbehinderungen und Lernbeeinträchtigungen stellen eine große pädagogische Herausforderung dar. Im Schuljahr 2008/09 wurden 177 Schülerinnen und Schüler in das GBVJ aufgenommen, 74 von ihnen konnten das GBVJ erfolgreich abschließen und 56 erfolgreich in eine Ausbildung vermittelt werden. Die Ursachen für die relativ hohe Anzahl von vorzeitigen Abgängen sind vielfältig, jedoch in der Regel durch die kritische Lebenssituation der Jugendlichen begründet. Im Rahmen einer Verbleibsstudie der Universität Frankfurt/Main wurde der Kontext belastender Risikofaktoren in deren lebensweltlichen Zusammenhängen detailliert untersucht. Neben einem mangelnden bzw. fehlenden sozialen Netzwerk, dem Problem früher Elternschaft und finanziellen Schwierigkeiten fallen für die Schülerklientel des GBVJ ausgeprägte Probleme im Legalitätsbereich auf. Lediglich 40 % der befragten Schülerinnen und Schüler gaben an, in den letzten beiden Jahren vor dem Beginn des GBVJ keine Probleme mit der Polizei gehabt zu haben. Gegen 54 % der Jugendlichen ist bereits mindestens einmal Anzeige erstattet worden. Dies betrifft insbesondere die männlichen Schüler. Während nur jede vierte junge Frau strafrechtlich auffällig geworden ist, sind es bei den jungen Männern über zwei Drittel. Die Untersuchung der Anzeigenarten verweist auf ein nicht zu unterschätzendes Gewalt- und Aggressionspotenzial vor allem bei den männlichen Schülern. Insgesamt geben 74 der Schüler mit Legalitätskonflikten 86 Straftaten an. Da es sich um eine mündliche Befragung handelt, ist von einer höheren Dunkelziffer auszugehen (Abb. 2)
Abb. 2: Angabe der Straftaten der Jugendlichen des ersten Aufnahmejahrganges (N = 128)
Um das zweijährige Berufsvorbereitungsjahr mit Erfolg absolvieren zu können, benötigen die Schülerinnen und Schüler eine besonders intensive Unterstützung. Ein beständiges Lehrerteam, in das auch der Sozialpädagoge und der Praxisbegleiter, integriert werden, sichert eine kontinuierliche Betreuung der Jugendlichen und ermöglicht den Aufbau eines positiven Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Engagierte Kolleginnen und Kollegen, die Verständnis für die mitunter sehr schwierigen und komplexen Lebenslagen der Schüler aufbringen, aber dennoch konsequent zu bewältigende Anforderungen stellen, fördern den Entwicklungsprozess. Ein differenziertes Lehren und Lernen erfordert aber auch Klassenstärken von maximal zehn bis zwölf Schülern. Lebensweltbezogener Unterricht, der in allen Fächern und Lernfeldern Bezüge zu den außerschulischen Praxisphasen herstellt, führt schulmüde und schulfrustrierte Jugendliche wieder an klassische Schulfächer heran.
Abb. 3: Projekttag am Beruflichen Schulzentrum Wilkau-Haßlau
Für Jugendliche in einer Phase erheblicher Entwicklungsprobleme hat sich das GBVJ als Übergangssystem zwischen allgemeinbildender Schule und Ausbildung bzw. Arbeitswelt erfolgreich bewährt. Aus dem Zustand der Perspektivlosigkeit erleben die Schülerinnen und Schüler Chancen für ihre Einbindung in den gesellschaftlichen Wertschöpfungsprozess. Sie erkennen, dass sie mit dem erfolgreichen Abschluss des GBVJ ihren Platz in der Gesellschaft finden, um ein unabhängiges, selbst finanziertes und selbst bestimmtes Leben zu führen. Seitens des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus und Sport ist die Überführung in die Regelausbildung ab dem Schuljahr 2012/13 vorgesehen.
Arbeitsstelle für Sonderpädagogische Schulentwicklung und Projektbegleitung der Goethe-Universität Frankfurt am Main: Zwischenbericht 2008 zur Verbleibsstudie im Rahmen des Schulversuches „Gestrecktes Berufsvorbereitungsjahr“
Sächsisches Bildungsinstitut: Schulversuch Gestrecktes Berufsvorbereitungsjahr – Überarbeitete Konzeption vom 14.08.2009
Internetpräsenz des Schulversuches: http://www.sachsen-macht-schule.de/schule/11616.htm
BACHMANN, A./ WÄLLNITZ, E. (2011): Jeder zählt – Senkung des Anteils der Schüler ohne Abschluss durch neue Ansätze in der Lernportkooperation. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 02, hrsg. v. RÜTZEL, J./ ZÖLLER, A., 1-9. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws02/bachmann_waellnitz_ws02-ht2011.pdf (26-09-2011).