Titel:
Übergänge im Bildungssytem - Brüche oder Brücken? Die Rolle der Berufsschule im Prozess des Lebenslangen Lernens
Beitrag von Karin WIRTH (Universität Hamburg)
Derzeit besucht ein erheblicher Teil so genannter marktbenachteiligter Jugendlicher schulische Bildungsgänge der beruflichen Bildung. Marktbenachteiligte Jugendliche besitzen zwar die nötige Ausbildungsreife, erhalten aber dennoch keinen Ausbildungsplatz. Bildungspolitische Intention eines Hamburger Schulversuchs ist es, den Assistenzabschluss einer vollqualifizierenden Berufsfachschule mit dem Erwerb der Fachhochschulreife und dem Kammerabschluss eines dualen Ausbildungsgangs zu kombinieren, um den teilnehmenden Jugendlichen den Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu weiterführenden Qualifikationsmaßnahmen zu erleichtern. Die individuellen Zielsetzungen der Jugendlichen, die häufig von ihnen selbst als undifferenziert und diffus wahrgenommen werden, liegen dabei nur zum Teil auf dem Erwerb der Fachhochschulreife und einem Kammerabschluss. Darüber hinaus sind Lern- und Arbeitsverhalten der Schüler und Schülerinnen im Verlauf des Schulversuchs nicht unbedingt zielstrebig auf das Erreichen der individuellen Qualifizierungsziele ausgerichtet. An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden, ob Jugendliche die Durchlässigkeit des Bildungssystems als Chance nutzen wollen und können. Innerhalb dieses Beitrags soll der Verbleib der beteiligten Schüler und Schülerinnen analysiert und ein vorläufiges Fazit gezogen werden, in wie weit eine Dreifachqualifizierung für marktbenachteiligte Jugendliche tatsächlich eine Chance oder doch nur wieder eine Warteschleife darstellt.
Spätestens seit den Beschlüssen von Bologna (EUROPÄISCHEN BILDUNGSMINISTER 1999) und Kopenhagen (EUROPEAN MINISTERS OF VOCATIONAL EDUCATION AND TRAINING 2002) wird der Durchlässigkeit von Bildungsmaßnahmen verstärkt Aufmerksamkeit gewidmet. Als geeignete Maßnahmen im beruflichen Bereich haben sich mittlerweile Mehrfach- und Zusatzqualifikationen während und nach der Berufsausbildung bewährt (vgl. z.B. die Seite AusbildungPlus des BIBB 2011). Als Beispiele finden sich dort die Anerkennung von Fortbildungen bzw. von beruflich informell erworbenen Kompetenzen auf den (Fach-)Hochschulzugang, die Kombination von Fortbildungen mit (Fach-)Hochschulabschlüssen und Modelle, in denen die (Fach-)Hochschulreife als optionale Zusatzqualifikation in dualen oder Assistenzausbildungen erworben werden kann.
Gerade letztgenannte Modelle eignen sich als Ansatzpunkt, um so genannten marktbenachteiligten Jugendlichen eine Option auf Berufsausbildung und Weiterqualifizierung zu ermöglichen. Marktbenachteiligte Jugendliche besitzen zwar nach der gängigen bildungspolitischen Begriffsfassung die nötige Ausbildungsreife, erhalten aber aufgrund schlechter Konjunktur oder anderer Gründe keine Möglichkeiten auf einen Ausbildungsplatz. Gerade die mangelnden Berufserfahrungen von Marktbenachteiligten schließen sie aus den gängigen Modellen zum Erwerb der (Fach-)Hochschulreife und somit zur Weiterqualifizierung aus. Einziger Ansatzpunkt sind die länderspezifisch angebotenen Assistenzberufe, deren Abschlüsse allerdings auf dem Arbeitsmarkt nicht konkurrenzfähig sind.
Es stellt sich daher die Frage, mit welchen bildungspolitischen Modellen marktbenachteiligte Jugendliche gefördert werden können und so eine Chance sowohl auf eine anerkannte Ausbildung als auch auf weiterführende Qualifikationsmaßnahmen erhalten. Im Folgenden wird dieser Frage nachgegangen, indem zunächst der Begriff der Marktbenachteiligung definiert und anschließend ein Hamburger Schulversuch vorgestellt wird, der marktbenachteiligten Jugendlichen eine verbesserten Anschluss- und Abschlussmöglichkeit ermöglichen und somit zu einer erhöhten Durchlässigkeit beitragen möchte. Dazu wird der Intention des Schulversuchs eine Analyse der Zielgruppe gegenübergestellt. Anschließend lassen sich positive und negative Verbleibe unterscheiden und ein vorläufiges Fazit ziehen, in wie weit eine Dreifachqualifizierung für marktbenachteiligte Jugendliche tatsächlich eine Chance oder doch nur wieder eine Warteschleife darstellt.
In der wissenschaftlichen und bildungspolitischen Literatur ist der Begriff der Marktbenachteiligung nicht eindeutig definiert und steht inhaltlich im Spannungsverhältnis zweier Begriffskontexte (vgl. WIRTH/ GILLEN im Druck): Zum einen steht Marktbenachteiligung im Kontext bildungs- und arbeitsmarktsystematischer Aspekte wie der regionalen Angebotsverteilung, institutionaler Strukturen des Bildungssystems und Zugangsberechtigungen und nimmt Bezug auf die Vermittelbarkeit der Jugendlichen. Zum anderen wird Marktbenachteiligung ins Verhältnis zu individuellen Faktoren wie Ausbildungsreife, Ausbildungsfähigkeit, Berufseignung und beruflichen Qualifikationen gesetzt (RÜTZEL 2002). Bestehende Definitionsansätze zum Begriff der Marktbenachteiligung zeigen Hinweise auf beide Kontexte, so dass in der konkreten Anwendung ein Spannungsverhältnis entsteht, das in der Folge erläutert werden soll.
So wird im Ausbildungsreport Hamburg 2010 davon ausgegangen, dass eine Marktbenachteiligung vorliegt, wenn Jugendliche „trotz vorhandener Ausbildungsreife und mehrfacher Bewerbungsversuche keinen betrieblichen Ausbildungsplatz auf dem ersten (regulären) Ausbildungsmarkt gefunden haben“, so dass „allein aufgrund der ungünstigen Marktsituation die Aufnahme einer Berufsausbildung versagt blieb“ (BSB 2010, 13). Nach einer Definition des BIBB (2006) dient der Terminus dazu, eine Abgrenzung zu „originär benachteiligten Gruppen“ herzustellen. Darunter werden Jugendliche gefasst, die eigentlich als ausbildungsreif gelten, jedoch aufgrund der regionalen und sektoralen Gegebenheiten am Markt keinen Ausbildungsplatz finden konnten. Auch ENGGRUBER (2003, 14) nennt Jugendliche marktbenachteiligt, „die lediglich aufgrund fehlender Ausbildungs- und Arbeitsplätze als benachteiligt gelten“.
In diesen Begriffsfassungen zeigt sich, dass die regionale Bedarfslage des Marktes und die daran anknüpfende Chancen Jugendlicher, eine Ausbildung zu beginnen oder in den Arbeitsmarkt überzugehen als das wesentliche Kriterium für den Begriff der Marktbenachteiligung angesehen wird. Insofern kann die Anzahl der Jugendlichen, die als marktbenachteiligt gelten können, als konjunkturabhängige Größe bezeichnet werden. So ist derzeit z.B. zu erwarten, dass angesichts des im Ausbildungsjahr 2009 und 2010 angemahnten Bewerbermangels auf dem Ausbildungsmarkt (vgl. DIHK 2010; ZDH 2010) die Zahl der Marktbenachteiligten sinkt.
Ein weiteres wesentliches Kriterium in den Definitionen zur Marktbenachteiligung besteht darin, sie vom Konzept der Ausbildungsreife abzugrenzen. Demzufolge wird gerade dann von Marktbenachteiligung gesprochen, wenn die Jugendlichen zwar die Ausbildungsreife erlangt haben, aber dennoch keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.
Die Abgrenzung dieser beiden Begriffe wird in diesem Zusammenhang deutlich dadurch erschwert, dass die Kriterien für Ausbildungsreife im Kontext der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte komplexer geworden sind. So gilt als genereller Indikator für Ausbildungsreife immer noch der formale Bildungsabschluss, der durch Zertifikate des abgebenden Systems (in der Regel der allgemeinbildenden Schule) nachgewiesen wird. Eine deutlich höhere Komplexität zeigt sich, wenn aus der Sicht des annehmenden Systems, d.h. in der Regel die Ausbildungsbetriebe, argumentiert wird. So wird meist die Vermittelbarkeit der Jugendlichen auf dem Ausbildungsmarkt als Indikator für sinkende Ausbildungsreife der Jugendlichen genommen. Mit dem Wandel zur Wissensgesellschaft, der Umstrukturierung von Rationalisierungs- und Reorganisierungsprozessen und veränderten Strategien der Personalrekrutierung sowie einer Verschiebung zum Dienstleistungssektor ziehen sich die Betriebe zunehmend aus der Ausbildung zurück (DOBISCHAT/ MILOLAZA/ STENDER 2009, 131f.). Mit diesen Veränderungen wachsen die Anforderungen der Betriebe an die Jugendlichen zu Beginn einer Ausbildung. Die Betriebe beklagen zunehmend eine mangelnde Ausbildungsreife der Jugendlichen, die in der wissenschaftlichen Analyse zum Teil auch mit erhöhten Ausbildungsreifungsansprüchen der Betriebe erklärt wird (EBERHARD/ ULRICH 2010; SEVERING 2010; HILGER/ SEVERING 2010).
Eine einheitliche Definition des Begriffs Ausbildungsreife bzw. eine Abgrenzung zum Begriff der Marktbenachteiligung ist selbst aus Sicht der Experten schwierig. Eine Expertenbefragung des BIBB (2005) ergab, dass selbst die Befragten uneinig waren, nach welchen Kriterien ein Jugendlicher als ausbildungsreif gelten kann. Hinweise gibt seit 2006 der Kriterienkatalog des NATIONALEN PAKTS (2006), der allerdings nur eine mehr oder weniger systematische Aufzählung verschiedener Eigenschaften umfasst, die Jugendliche besitzen müssen, um als ausbildungsreif zu gelten. In welcher Qualität und auf welchem Niveau diese Eigenschaften vorhanden sein müssen bzw. wie sie nachzuweisen sind, das lässt der Kriterienkatalog weitgehend offen.
Im Kriterienkatalog des NATIONALEN PAKTS sowie in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung (vgl. z.B. RÜTZEL 2002) wird Ausbildungsreife von der Berufseignung abgegrenzt. Dabei stellt das Konzept der Berufseignung sowohl auf die Eignung eines Jugendlichen für einen spezifischen Beruf als auch darauf ab, dass der gewählte Beruf anschließend die Voraussetzung für die berufliche Zufriedenheit der Person bieten kann.
Neben der vorhandenen Ausbildungsreife und der fehlender Berufsausbildung stellen einige Konzepte der Marktbenachteiligung darauf ab, dass die Jugendlichen sich bereits erfolglos am Markt beworben haben müssen, um als marktbenachteiligt zu gelten. Uneinheitlich definiert ist jedoch, wie viele Bewerbungsversuche erfolglos bleiben müssen und ob der mangelnde Erfolg auf individuelle Defizite der betreffenden Jugendlichen verweist. Insbesondere das letzte Kriterium legt die Frage nach dem Verhältnis von Marktbenachteiligung und anderen Formen der Benachteiligung nahe. Hierzu hat ENGGRUBBER (2003, 10ff.) eine Systematisierung vorgelegt, in der sieben Typen der Benachteiligung von Jugendlichen am Übergang von Schule in den Beruf ausgewiesen werden, die das mögliche Spektrum der Wirkungsfaktoren von Benachteiligung deutlich machen.
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass Marktbenachteiligung ein flexibles Konstrukt zwischen Ausbildungsreife und Berufseignung auf der einen Seite und Vermittelbarkeit auf dem Markt auf der anderen Seite darstellt. Aber selbst Ausbildungsreife stellt sich nach HILGER und SEVERING (2010, 97) „oft erst in der Ausbildung her“. Um zu klären, ob eine Mehrfachqualifizierung während der (vollzeitschulischen) Ausbildung für die Jugendlichen eine Chance auf weitere, höherqualifizierende Bildungsmaßnahmen darstellt, sind daher nun Ziele und Einstellungen der Jugendlichen selbst in den Blick zu nehmen und deren Verbleib im Bildungssystem bzw. deren Vermittlung in den Arbeitsmarkt eingehender (BELLAIRE/ BRANDES 2007)zu analysieren. Als Ausgangspunkt dient im Weiteren ein Schulversuch, den das Hamburger Institut für Berufliche Bildung (HIBB) in Zusammenarbeit mit zwei Hamburger Schulen durchführt.
Um die Chancen marktbenachteiligter Jugendlicher zu erhöhen und ihnen eine weiterführende Qualifizierung zu ermöglichen, wurde in Hamburg ein Schulversuch mit dem Titel „Erprobung neu strukturierter Ausbildungsformen im Rahmen des Ausbildungskonsenses 2007 – 2010“ (EARA) konzipiert. Ziel dieses Schulversuchs ist es, das Konzept der bisherigen vollqualifizierenden Berufsfachschule mit der im Bildungssektor anerkannten Erlangung der Fachhochschulreife und einem auf dem Arbeitsmarkt anerkannten regulären dualen Ausbildungsabschluss zu verknüpfen und damit die bisher übliche Verweildauer vieler Jugendlicher im Schulsystem wesentlich zu verkürzen. Ein besonders prägendes Merkmal des Schulversuchs ist daher die Dreifachqualifizierung mit dem Ziel, die Anschlussfähigkeit der Jugendlichen in den weiterbildenden Systemen deutlich zu erhöhen.
Um die Erfahrungen aus dem Schulversuch weit über die Anlage des Schulversuchs, die Bindung in die Region Hamburg und die Einordnung als Maßnahme zur Akzeptanz vollzeitschulischer Bildungsgänge in den Fokus zu nehmen, wird der Schulversuch seit Februar 2009 von einem Konsortium des Instituts für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Die Evaluation erfolgt mit dem Ziel, Erkenntnisse über die curriculare und didaktisch-methodische Umsetzung sowie über die Akzeptanz und den Erfolg der neuen Ausbildungsform zu gewinnen, diese Erkenntnisse kontinuierlich in den Entwicklungsprozess zurück zu spiegeln und dadurch eine optimale Anlage und Durchführung des Schulversuchs zu gewährleisten. Das Evaluationsdesign wird im Sinne der Handlungs- und Aktionsforschung mit den am Schulversuch beteiligten Gruppen unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten des Schulversuchs und der für die Evaluation zur Verfügung stehenden Ressourcen konkretisiert und fortgeschrieben.
Die Evaluation ist formativ und summativ angelegt. Eine formative Evaluation erhebt Daten während des Entwicklungsprozesses, um mit den Ergebnissen und der Interpretation dieser Daten steuernd in den fortlaufenden Prozess einzugreifen. Formative Fragestellungen im Evaluationsdesign des Schulversuchs beziehen sich u.a. auf die curriculare und didaktisch-methodische Entwicklung und Implementation der neuen Ausbildungsform in Schulen und Betrieben sowie auf Maßnahmen zur Prozessanalyse und -gestaltung. Als formative Datenbasis liegen für diesen Beitrag qualitative halbstandardisierte Gruppeninterviews mit den Schülern und Lehrern des Durchgangs 08 vor. Die Interviews mit den Schülern erfolgten von November 2009 bis April 2010. Die Befragung der Schüler und Lehrer des Durchgangs 09 sind noch nicht abgeschlossen, so dass noch keine Aussagen vorliegen. Daten für eine summative Evaluation werden vor, während und im Anschluss an den Entwicklungsprozess erhoben, um durch die Ergebnisse ein differenziertes Bild zu verschiedenen Zeitpunkten zu erhalten und unter verschiedenen Fragestellungen miteinander zu vergleichen. Summative Fragestellungen im Evaluationsdesign des Schulversuchs betreffen vor allem Lern- und Prüfungserfolge sowie Aussagen zur Akzeptanz und zur Verknüpfung mit dem Arbeitsmarkt. Als summative Datenbasis wird für diesen Beitrag auf Erhebungen u.a. der Fachleistungen in Anlehnung an den bestehenden Hamburger Schulleistungstest ULME (vgl. LEHMANN/ SEEBER/ HUNGER 2007) zurückgegriffen. Bei den Erhebungen im Mai 2010 wurden die im Schulversuch verbliebenen Schüler weiterhin zu ihrer Praktikumssituation und der Wahrnehmung ihrer beruflichen Situation befragt. Die Erhebungen erfolgten mit einem geschlossenen, standardisierten Fragebogen. Die Befragungen des Durchgangs 09 sind derzeit noch nicht abgeschlossen.
Im Schulversuch EARA absolvieren die Schüler zunächst eine 2-jährige schulische Ausbildungsphase mit den Abschlüssen Technische bzw. Kaufmännische Assistenz und der Fachhochschulreife (vgl. für die folgenden Ausführungen Abbildung 1). Integrierte Praktika ermöglichen den Erwerb der erforderlichen Praxisanteile zur Fachhochschulreife. Bei erfolgreichem Bestehen folgt eine 1,5-jährige betrieblich ausgerichtete Ausbildungsphase als Fachinformatiker/in Systemintegration bzw. als Kaufmann/-frau für Bürokommunikation ohne Berufsschulunterricht mit dem jeweiligen Kammerabschluss.
Abb. 1: Abschlüsse und Durchlässigkeit im Schulversuch EARA
Ausgangspunkt des Schulversuchs war die in Hamburg beobachtete Auffälligkeit, dass Jugendliche zunächst eine Assistenzausbildung, z.B. als Technischer Assistent Informatik absolvierten, anschließend eine Fachoberschule zur Erreichung der Fachhochschulreife besuchten und dann eine duale Ausbildung als Fachinformatiker begannen. Zudem gelten Jugendliche mit dem Abschluss Technischer Assistent Informatik als nicht vermittelbar, da der Abschluss im Gegensatz zum dualen Abschluss des Fachinformatikers Systemintegration auf dem Arbeitsmarkt nicht die nötige Akzeptanz besitzt. Im Schulversuch EARA erlangen die Jugendlichen nach zwei Jahren mit dem Assistentenabschluss und der Fachhochschulreife zunächst eine Doppelqualifizierung, haben im Anschluss daran allerdings mit dem dualen Abschluss die Möglichkeit auf eine Dreifachqualifizierung. Durchlässigkeit wird im Rahmen dieses Schulversuchs also in zweifacher Hinsicht interpretiert: Zunächst gelangen die Jugendlichen schneller auf den Arbeitsmarkt als sie es sonst täten und sie erhalten mit der zusätzlich erworbenen dualen Ausbildung bessere Anschlussmöglichkeiten. Weiterhin haben die Jugendlichen nach diesem Schulversuch sowohl die Möglichkeit zur Ausübung eines Berufs als auch die Möglichkeit zur Weiterqualifizierung an einer (Fach-)Hochschule.
Als angestrebte Zielgruppe für das Angebot des Hamburger Schulversuchs EARA werden ausbildungswillige und -fähige jungen Menschen angesehen, die keinen Ausbildungsplatz erhalten haben und damit als marktbenachteiligt gelten können (vgl. HIBB 2008). Das Merkmal der Marktbenachteiligung, welches in der Beantragung für den Schulversuch für dieser Schülergruppe verwendet wird, bezieht sich demnach nicht auf personenbezogene Eigenschaften oder Fähigkeiten, sondern steht in der Begriffsfassung der Antragsteller dafür, dass diese Schüler durch den Ausbildungsmarkt „benachteiligt“ wurden bzw. keinen Ausbildungsplatz erhalten haben, obwohl sie keine (nennenswerten) Defizite vorweisen, die sie für eine Ausbildung ungeeignet machen.
Nach dieser Einordnung des Schulversuchs als bildungspolitische Maßnahme für verbesserte Anschluss- und Abschlussmöglichkeiten der Jugendlichen ist nun danach zu fragen, mit welcher Begründung die Jugendlichen sich auf den Schulversuch bewarben und wie die Jugendlichen selbst ihre Situation am Ende des schulischen Abschnitts einschätzen.
Zur Analyse der Zielgruppe wurden Daten aus verschiedenen methodischen Erhebungen kombiniert. Um ein Bild darüber zu erhalten, mit welchen Vorstellungen und Einstellungen die Jugendlichen in den Schulversuch kamen, wurden zunächst die Bewerbungsakten und ‑verfahren zur Aufnahme in den Schulversuch rekonstruiert. Zum Abschluss des schulischen Abschnitts wurden qualitative und quantitative Befragung über Gruppeninterviews und Fragebogen durchgeführt. Eine weitere Befragung nach Abschuss des betrieblichen Abschnitts ist geplant. Für die folgenden Aussagen wurden die Schüler beider Bildungsgänge (N = 31) am Ende des schulischen Teils ihrer Ausbildung befragt. Aufgrund der geringen Grundgesamtheit können die Ergebnisse nicht als repräsentativ bewertet werden. Sie geben lediglich eine Einschätzung der Schüler wider.
Abb. 2: Gründe für die Ausbildung
Als interessantes Ergebnis der Befragung am Ende des schulischen Abschnitts kann festgehalten werden, dass 23 von 31 Schülern rückblickend die Doppelqualifizierung des Assistentenabschlusses mit der Fachhochschulreife als Grund für die Teilnahme am Schulversuch nennen (vgl. Abbildung 2). Eine Dreifachqualifizierung mit dualem Abschluss war für 18 Schüler interessant. Am Ende des schulischen Abschnitts geben 18 Schüler an, später noch studieren zu wollen. Nur 14 von 31 Schülern geben marktbezogene Gründe für die Teilnahme am Schulversuch an und 14 Schüler wählten diese Ausbildung, weil sie noch nicht wussten, was sie eigentlich machen wollten. Insbesondere die letzten beiden Aussagen lassen sich durch die Analyse der Bewerbungsakten und -verfahren bestätigen. Bei den Bewerbungen zum kaufmännischen Bildungsgang z.B. gaben von 56 Bewerbern nur sieben Jugendliche an, tatsächlich Kaufmann/-frau für Bürokommunikation werden zu wollen. Vier Jugendliche geben als Berufswunsch den/die Bürokaufmann/-frau an und 33 Jugendliche bekunden ein unspezifisches kaufmännisches Interesse. Bei diesen Aussagen zeigt sich bereits, dass mindestens zwei unterschiedlich manifestierte Gründe zu vermuten sind, warum Schüler sich im Schulversuch beworben haben: Zum Einen scheint es sich um klassische Marktbenachteiligte zu handeln, die wissen, welchen Beruf sie erlernen möchten, aber auf dem Markt bisher nicht vermittelt wurden. Zum anderen scheint es eine Gruppe von Schülern zu geben, die vor dem Schulversuch noch nicht genau wissen, welchen Beruf sie ergreifen möchten.
Ihre eigenen Marktchancen beurteilen die Schüler nach Abschluss des schulischen Abschnitts überwiegend positiv (vgl. Abbildung 3): Über ¾ der Schüler schätzen ihre Chancen, nach Ausbildungsende eine Anstellung im erlernten Beruf zu finden als positiv ein und nur 6 der befragten 31 Schüler vermuten, nach Abschluss der Ausbildung arbeitslos zu werden.
Abb. 3: Marktchancen der Jugendlichen (Eigene Einschätzung)
Bei zwei Drittel der Befragten hat sich der Berufswunsch während der Ausbildung noch einmal verändert (ohne Abbildung). Nur knapp die Hälfte der Absolventen des schulischen Teils möchte später im Ausbildungsberuf arbeiten, dennoch möchten mehr als zwei Drittel der Schüler zunächst den betrieblichen Abschnitt der Ausbildung beenden.
Diese Einschätzungen der Jugendlichen am Ende des schulischen Abschnitts können nun den tatsächlichen Vermittlungszahlen gegenübergestellt werden.
Über den Verbleib der Schüler nach Abschluss der schulischen Phase lassen sich zu diesem Zeitpunkt folgende Aussagen treffen (Stand September 2010): Im ersten Durchgang haben im August 2008 27 Schüler den technischen Bildungsgang TAISI und 31 Schüler den kaufmännischen Bildungsgang BFSvq+KfB begonnen. Am Ende der schulischen Ausbildungsphase absolvierten nur 15 Schüler die Prüfungen zur technischen Assistenz und zur Fachhochschulreife, im kaufmännischen Bildungsgang gelingt dies 20 Schülern; In beiden Bildungsgängen liegen die Absolventenquoten des ersten Teils der Ausbildung bei 55,6 % bzw. 58,8 % der Schüler, die den Ausbildungsgang zwei Jahre zuvor begonnen hatten. Demgegenüber lässt sich feststellen, dass alle Schüler, die am Ende des schulischen Abschnitts die Assistenzprüfungen und die Prüfungen zur Fachhochschulreife ablegten, diese auch bestanden.
Während des schulischen Abschnitts haben 16 Schüler bereits im ersten Jahr den Bildungsgang verlassen. Die Faktoren, die nach Selbstaussagen der Schüler zum Abbruch oder zum Abgang geführt haben, liegen sowohl im schulischen als auch im privaten Umfeld begründet. Da 14 Schüler die schulische Phase des Bildungsgangs jedoch nicht beendet haben, weil sie im weiteren Sinne den Leistungsanforderungen nicht entsprachen, deutet sich an, dass der Bildungsgang in diesem Schülerjahrgang stark selektiv wirkte. Die Gründe, die die abgehenden Schüler selbst angaben, legen zudem nahe, dass viele Jugendliche im Verlauf des Schulversuchs feststellten, dass sie den falschen Bildungsgang gewählt hatten. Diese Vermutung korrespondiert mit der Tatsache, dass viele Schüler zu Beginn des Bildungsgangs ihre Berufswahl noch nicht endgültig getroffen hatten (vgl. Kapitel 3.2).
Neben diesen Abbruchquoten lassen sich auch positive Vermittlungserfolge verzeichnen: Ein Schüler wechselt bereits während des schulischen Abschnitts aus dem Schulversuch in eine reguläre duale Ausbildung. Von den verbleibenden Schülern werden 20 Schüler den im Schulversuch angelegten betrieblichen Teil der Ausbildung beginnen. Drei Schüler beginnen eine dreijährige Ausbildung. Diese Zahlen korrespondieren mit den Vorstellungen der Schüler zum Ende des schulischen Abschnitts, bei denen sie zwar einen Studierwunsch äußerten, aber zunächst den betrieblichen Abschnitts des Bildungsgangs beenden wollten (vgl. Kapitel 3.2).
Im Schulversuch lassen sich weiterhin deutliche „Klebeeffekte“ nachweisen, in denen die Schüler durch das Praktikum während des schulischen Abschnitts einen Ausbildungplatz für den betrieblichen Abschnitt des Bildungsgangs gefunden haben: Ein Unternehmen bot einem Schüler eine duale Ausbildung an, während er sein Praktikum dort absolvierte. Der Schüler brach daraufhin die Ausbildung im Schulversuch ab. Acht der zwanzig Schüler, die zum August 2010 in die 1,5-jährige betriebliche Ausbildungsphase wechselten und einer der Schüler, die eine dreijährige Ausbildung begannen, erhielten ihren Ausbildungsplatz bei einem Unternehmen, in dem sie vorher ein Praktikum absolviert hatten. Insgesamt haben also ca. ein Drittel der Schüler durch das Praktikum während des schulischen Abschnitts einen Ausbildungsplatz erhalten.
Die im vorherigen Kapitel vorgestellten Zahlen lassen vermuten, dass durch den Hamburger Schulversuch tatsächlich marktbenachteiligte Schüler eine Chance auf einen Ausbildungsplatz und eine Weiterqualifizierung erhalten haben. Diese Aussagen müssten in einem weiteren Schritt ins Verhältnis gesetzt werden zu einer Befragung der ausbildenden Betriebe zur Akzeptanz des Schulversuchs sowie zur Bewertung der teilnehmenden Jugendlichen, die derzeit von der wissenschaftlichen Begleitung durchgeführt wird. Zu den in diesem Beitrag vorgestellten Zwischenergebnissen ist im Verlauf des Schulversuchs weiter zu untersuchen, in wie weit der konzipierte Bildungsgang für Jugendliche derzeit eine Integrations- oder eine Selektionsfunktion erfüllt. Im schlimmsten Fall könnten Jugendliche, die bislang „nur“ als marktbenachteiligt galten, eine zusätzliche Benachteiligung durch schulische Überforderung und Leistungsmisserfolg erhalten.
Hinsichtlich der oben formulierten Frage, für welche Jugendlichen ein dreifachqualifizierender Ausbildungsgang eine Option darstellt, deutet sich an, dass insbesondere diejenigen Jugendlichen die schulische Phase des Bildungsgangs erfolgreich abschließen, die die Ausbildung mit guten Bildungsvoraussetzungen aus den allgemeinbildenden Schulen beginnen und die neben der im Bildungsgang unterstellten Marktbenachteiligung keine weiteren Benachteiligungen aufweisen. Dieses Zwischenergebnis entspricht der allgemeinen Konzeption doppel- oder mehrfachqualifizierender Bildungsgänge, die sich dem BIBB (2007) zufolge in der Regel an leistungsbereite Jugendliche richten und darauf abzielen, das duale Bildungssystem für Schulabgänger attraktiver zu gestalten.
Unter Berücksichtigung des Hamburger Schulversuchs EARA lässt sich dieses Ergebnis in Bezug auf individuelle und systembezogene Faktoren konkretisieren: Unter individueller Perspektive kommt es darauf an, wie ziel- und berufsorientiert die Schüler sind und in wie weit die Fähigkeiten der Schüler den Anforderungen, die durch die Dreifachqualifikation gestellt werden, entsprechen. Systembezogene Fragestellungen stellen eher darauf ab, in wie>weit die Schule auf die individuelle Leistungsfähigkeit und Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler eingehen und wie der konzeptionell angelegte gestufte Einstieg in den Beruf durch die Schule unterstützt und begleitet werden kann.
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