bwp@ 43 - Dezember 2022

Digitale Arbeitsprozesse als Lernräume für Aus- und Weiterbildung

Hrsg.: Karin Büchter, Karl Wilbers, Lars Windelband & Bernd Gössling

Lernmedienentwicklung für handlungs- und gestaltungsorientiertes, Augmented Reality-gestütztes Lernen aus Fehlern an CNC-Drehmaschinen - Zielkonflikte zwischen didaktischem Anspruch und technischer Umsetzung

Beitrag von Marvin Goppold, Mattia Lisa Müller, Silke Thiem , Sven Tackenberg, Martin Frenz & Verena Nitsch
Schlüsselwörter: Ausbildung, Didaktisches Konzept, Simulation, Integrierte Produktentwicklung

Der Beitrag erörtert die Lernmedienentwicklung unter Nutzung einer Entwicklungsmethodik für komplexe technische Produkte zur Unterstützung didaktischer Zielstellungen für die berufliche Bildung. Es wird eine konkrete Entwicklungsmaßnahme eines Augmented Reality Lernsystems zum Lernen aus Handlungsfehlern in der betrieblichen Ausbildung beschrieben. Basierend auf einem handlungsorientierten Lernverständnis erfolgt die Einführung eines gestaltungsorientierten didaktischen Konzepts, das die Grundlage für die Ableitung von Anforderungen an die Lernmedienentwicklung bildet. Anhand eines konkreten Anwendungsfalls werden situationsspezifische Anforderungen dargelegt, auf deren Basis im Anschluss Aushandlungsprozesse zu Zielkonflikten von didaktischen und technischen Akteuren im Entwicklungsprozess beispielhaft aufgezeigt werden. Die Ergebnisse der gelösten Zielkonflikte präsentieren Beispiele der notwendigen Handlungserfassung und Erfahrungen in Lernhandlungen an Werkzeugmaschinen im Betrieb. Die Diskussion synthetisiert die Ergebnisse in Bezug auf Vorgehensweisen und eine Entwicklungsmethodik für digitale Lernmedien in real situierten Lernprozessen in der beruflichen Bildung.

Learning Media Development for Action- and Design-oriented Augmented Reality-supported Learning from Errors at CNC-Lathes - Conflicting Goals of Didactical Ambitions and Technical Implementation

English Abstract

The paper discusses learning media development using a development methodology for complex technical products to support didactic objectives for technical vocational education and training (TVET). The development of an augmented reality learning system for learning from action errors in TVET provides an example. In light of an action-oriented understanding of learning, a design-oriented didactic concept offers general requirements for the development of learning media to be transformed. The concrete use-case presents situation-specific requirements that introduce negotiation processes regarding to conflicting goals of didactic and technical stakeholders in the development process. The findings show resulting solutions with a focus on necessary action detection and experiences when learning actions using machine tools in enterprises. The subsequent discussion synthesizes the results in terms of procedures and a development methodology for digital learning media in real situated learning processes in TVET.

1 Einleitung

Im Beitrag wird die Entwicklung eines handlungs- und gestaltungsorientierten Lernmediums vor dem Hintergrund der Idee aus Fehlern zu lernen beschrieben. Hinsichtlich der Technologie zur Gestaltung des Lehr-Lern-Systems als Lernmedium wurde zu Beginn die Festlegung getroffen, die technologischen Möglichkeiten einer computergestützten erweiterten Realität (Augmented Reality, AR) zu nutzen. Der in dem Beitrag fokussierte Anwendungsfall unterstützt eine selbständige Lernhandlung an einer CNC Drehmaschine im Betrieb als Lernort (Schmitz/Frenz/Koch 2017).

Durch den Einsatz von Augmented Reality (AR) können bei der realen Ausführung von Lern- und Arbeitsaufgaben in betrieblichen Lernumgebungen Handlungsfehler vom Lernmedium erkannt werden und anschließend Fehlerkonsequenzen durch das integrierte technische System virtuell veranschaulicht werden. Dazu ist es erforderlich, dass die realen Handlungen durch die AR-Technologie als digitale Zwillinge erfasst werden. Falls ein Fehler mit negativen Folgen vorhergesehen werden kann, kann die reale Handlung durch einen Stopp der Maschine unterbrochen werden und es werden den Auszubildenden simulierte Fehlerkonsequenzen mit der Microsoft HoloLens 2 visualisiert. So wird es möglich, dass Auszubildende Fehler machen und negative Folgen hinsichtlich Sicherheit, Wirtschaftlichkeit oder Umweltschutz schadlos erfahren können und so einen Nutzen stiften (vgl. Seifried/Baumgartner 2009). Im Rahmen der Entwicklung des Lernmediums werden neben der realen Maschine (hier: CNC Drehmaschine) und den notwendigen Werkzeugen (hier: zumeist digitale Werkzeuge zur Rekonstruktion der Handlung) mit entsprechenden digitalen Schnittstellen, die Microsoft HoloLens 2 AR-Brille, die Simulationsumgebung VEROSIM sowie die Microsoft Azure Cognitive Services zu einer neuen Lernumgebung zusammengeführt. Dies bedeutet, dass die Auszubildenden zunächst mit Lernszenarien an realen Maschinen konfrontiert werden. Ein Teil der Handlungen und deren Auswirkungen erfolgt allerdings ausschließlich in der augmentierten Welt, so dass z. B. auf einem Werkzeugrevolver an einer Drehmaschine falsch montierte Werkzeuge nicht real mit dem Werkstück kollidieren, sondern dies nur virtuell und durch AR visualisiert erfolgt.

Empirische Untersuchungen haben nachgewiesen, dass das Verursachen von Fehlern und das Erleben von Fehlerkonsequenzen effektive Lerngelegenheiten darstellen (Cattaneo/Boldrini 2017; Harteis/Bauer/Gruber 2008). Um mit dem digitalen Medium Lernen aus Fehlern in komplexen, realen Handlungen zu unterstützen, bedarf es einer Reflexion der gemachten Erfahrungen aus der beruflichen Handlung. Dies wird im Anschluss an die gemachten Erfahrungen im Rahmen der Lern- und Arbeitsaufgabe in einem gemeinsamen strukturierten Reflexionsgespräch zwischen Ausbildungspersonal und Auszubildenden durchgeführt. Ziel ist es, dass die Auszubildenden umfassende Handlungen selbständig durchführen, ggf. dabei Fehler machen und ihnen dann negative Folgen hinsichtlich Sicherheit, Wirtschaftlichkeit oder Umweltschutz erfahrbar gemacht werden.

Die Entwicklung eines solchen Lern-Lehrmediums führt zwangsläufig zu einem Zielkonflikt zwischen didaktischem Anspruch und technischer Umsetzung. Es stehen unterschiedliche Maximen im Fokus, wie keine Veränderungen im Vergleich zu Lernerfahrungen in realen Lernumgebungen und z. B. permanente Nutzung einer HoloLens 2 oder Nutzung von Werkzeugen mit einer digitalen Schnittstelle, um die Handlung in einem digitalen Zwilling abbilden zu können. Davon ausgehend wird im Beitrag die folgende Forschungsfrage mit zwei Schwerpunkten bearbeitet:

Wie kann aus didaktischer Sicht ein digitales Medium für das Lernen in komplexen, realen Handlungen vor dem Hintergrund des Zielkonflikts zwischen didaktischem Anspruch und technischer Umsetzung mithilfe einer Entwicklungsmethodik gestaltet werden?

Schwerpunkt 1: Beschreibung eines didaktischen Konzeptes mit dem Fokus „Lernen aus Handlungsfehlern“ und Konkretisierung der didaktisch-methodischen Anforderungen an das Lernmedium.

Die notwendige didaktische Konzeption (Frenz im Druck, in Druck) erfolgt theoretisch fundiert auf Basis des Hamburger-Lehr-Lernmodells (Tramm/Naeve 2007) sowie den Bezugstheorien der Handlungsorientierung und Gestaltungsorientierung (Heidegger/Rauner 1990; Rauner 2021) am Beispiel der Entwicklung eines Ausbildungsangebots an CNC-Drehmaschinen. Zunächst wird hierfür das didaktische Konzept dargestellt und daraus die didaktischen Anforderungen an das zu entwickelnde Lernmedium abgeleitet.

Schwerpunkt 2: Entwicklungsmethodik zum Festlegen der technischen Anforderungen und zum Lösen von Zielkonflikten zwischen didaktischem Anspruch und technisch möglicher Umsetzung.

Für die didaktischen Anforderungen werden technische Herausforderungen im Rahmen der Umsetzung aufgezeigt. Dabei liegt der Fokus neben der didaktischen Konzeption des Lern-Lehrangebots auf den technischen Herausforderungen, welche sich mit der didaktischen Konzeption wechselseitig beeinflussen. Als Ergebnis wird der gefundene Kompromiss zwischen didaktischen Anforderungen und technischen Herausforderungen dargelegt. Der Beitrag betrachtet zum Schluss die Limitationen der didaktischen Konzeption und der Entwicklungsmethodik und gibt ein Ausblick auf weiterführende, mögliche Fragestellungen.

2 Theoretische Bezüge der didaktischen Konzeption und zur Entwicklungsmethodik

Als theoretische Bezüge für das zu entwickelnde Lernmedium werden zunächst das handlungsorientierte Lehr-Lern-Verständnis der didaktischen Konzeption und die relevanten Bezüge dargestellt. Anschließend werden die Grundzüge der gestaltungsorientierten theoretischen Grundlegung der didaktischen Konzeption dargelegt, bevor die verwendete Entwicklungsmethodik zur Lösung von Zielkonflikten zwischen didaktischen Anforderungen und einer technischen Umsetzung beschrieben wird.

2.1 Handlungsorientiertes Lehr-Lern-Verständnis der didaktischen Konzeption

In der betrieblichen Ausbildung ist zumeist die vollständige Handlung eine normative Setzung (z.B. Deutscher Bundestag 1990; Pampus 1987; Höpfner 1991). Die Tätigkeitstheorie ist hierfür eine Bezugstheorie und unterscheidet zwischen Zielen und Motiven. Motive sind mit persönlichen oder kollektiven Bedürfnissen verknüpfte, stoffliche oder nicht-gegenständliche ideelle Gegenstände (Leontjew 1982). Ziele sind gedankliche Vorwegnahmen von Zwischenergebnissen (Leontjew 1982), der Befriedigung von Bedürfnissen auf Motivebene untergeordnet und erschließen neue Handlungsoptionen in der Zukunft (Oesterreich 1987). Motive für berufliche Handlungen kann man nicht lernen (Engeström 2015), sondern nur annehmen oder ablehnen, sodass diese Gegenstand der didaktischen Auseinandersetzungen mit Leitideen sind, während Ziele für Handlungen aus realen Arbeitsprozessen erschlossen werden können (Becker 2013). Entsprechend konstruktivistischer Ansätze lassen sich Lerneffekte nicht direkt von Lehrenden bewirken (vgl. Tramm/Naeve 2007). Stattdessen muss die Lernaufgabe (Howe et al. 2002) sowie die Lernumwelt so gestaltet werden, dass Lerneffekte durch die selbstbestimmte Handlung der Auszubildenden als Zielgruppe erreicht werden.

Lernhandeln im Hamburger Lehr-Lern-Modell (HLLM, s. Abbildung 1) (Tramm/Naeve 2007) verbindet Lernprozess und Lernaktivität. Damit wird die Schwäche anderer Ansätze umgangen, nämlich, dass zuerst die Handhabung einer Lernsituation vor deren Ausführung theoretisch im Sinne der zu verallgemeinernden Erkenntnisse vorweggenommen wird und anschließend der Transfer in der Handlung erfolgt (vgl. Lave/Wenger 2011). Das HLLM versucht die Antinomie von Fremdbestimmung in Lernprozessen und Autonomie durch die Handlungsorientierung zu lösen. Dazu werden interne und externe Effekte unterschieden (vgl. Friede 1995; Straka/Macke 2003), wie in Abbildung 1 zu erkennen ist. Deshalb liegen im Optimalfall Lern- und Handlungsziele immer parallel vor, sodass Lernaktivitäten psychische und physiologische Lernprozesse bewirken. Daher sind die externen Handlungsprodukte bzw. die Veränderung der Umwelt in der Lernhandlung und der erwünschte Lerneffekt in Abhängigkeit iterativ zu gestalten. Dabei müssen etwaige Interventionen berücksichtigt und bei komplexen Lernsituationen eine Abfolge im Lernprozess vorgesehen werden (Tramm/Naeve 2007), um eine optimale kognitive Belastung zu erreichen. In der Lernhandlung liegt der Fokus insbesondere auf den Wechselwirkungen zwischen Denkprozessen und Handlungen (z. B. Volpert 1983; Volpert 1999; vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Hamburger Lehr-Lern-Modell (Tramm/Casper 2018)Abbildung 1: Hamburger Lehr-Lern-Modell (Tramm/Casper 2018)

Das Effektziel kann daher sowohl Erfahrungen als auch Wissen umfassen, sodass sich eine sehr gute Anschlussfähigkeit an das Konstrukt des Arbeitsprozesswissens ergibt (vgl. Fischer 2000; Boreham 2002). Dabei können sowohl Wissen als auch Erfahrung im Rahmen des Lernziels aufbauend auf dem Prozessziel ineinander überführt werden. Hierfür müssen geeignete Lern- und Arbeitsaufgaben (Howe et al. 2002) in der passenden Umwelt des Lernorts bereitstehen, um durch Lehrhandeln unterstützt die intendierten Lerneffekte zu erreichen (Müller et al. 2021).

2.2 Gestaltungsorientierte theoretische Grundlegung der didaktischen Konzeption

Technik erwächst nicht nur aus Natur- und Sachgesetzen, sondern ist eingebettet in gesellschaftliche Strukturen (Heidegger/Rauner 1990; Bremer Sachverständigenkommission 1986; Bader 1991). Auch technikbezogene Facharbeit muss sich zunächst der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung stellen, bevor die Frage der Technikanwendung gestellt wird. Technik wird in diesem Sinne als eine Einheit aus dem technisch Möglichen und dem sozial Wünschbaren verstanden. Die gestaltungsorientierte Didaktik (vgl. Rauner 1987) geht neben der kritischen Auseinandersetzung mit Anforderungen und Ansprüchen in beruflichen Handlungen einen Schritt weiter und will zur Teilnahme am Diskurs der zukünftigen Auslegung von beruflichen Handlungen befähigen (Arnold/Münk 2006). Ausgehend von dem beschriebenen Verständnis von Mensch und Technik hat sich für die berufliche Bildung die Leitidee der Gestaltungsorientierung manifestiert (Rauner 2021), um die Zielstellung „Gestaltung von Arbeit, Technik und Umwelt“ am Lernort Betrieb zu erreichen (Deutscher Bundestag 1990, 47).

Das Schema aus Betroffenenperspektiven und Feldern der Technikgestaltung (Abbildung 2) setzt diese Erwartungshaltung auch hinsichtlich der Bewertung und Abwägung unterschiedlicher Motive einer Tätigkeit um (Rauner 1987). Abbildung 2 zeigt eine Matrix, deren Zeilen i Stakeholder der Technikgestaltung darstellen. Diese besitzen als Subjekte eigene Sichtweisen auf disziplinäre ontologische Bereichs- und Schichtmodelle aber auch transdisziplinäre pragmatische Situationsmodelle in j Spalten (vgl. Ropohl 2012). Beispiele sind Auszubildende, Betrieb und Staat bzw. Fertigungstechnik, Thermodynamik, Technik und Umwelt sowie Technik und Arbeit. Mit dieser Methode lassen sich Bewertungsmaßstäbe ableiten, um Motive von Lern- und Arbeitsaufgaben vollständig beurteilen zu können und auch fortwährend Auseinandersetzungen sowie Hierarchiekonflikte der Stakeholder zur Erklärung von Unterschieden z. B. der Arbeitsergebnisse abzubilden (vgl. Billett 2001).

Abbildung 2: Felder der Technikgestaltung und Betroffenenperspektiven (eigene Abbildung)Abbildung 2: Felder der Technikgestaltung und Betroffenenperspektiven (eigene Abbildung)

2.3 Entwicklungsmethodik zur Lösung von Zielkonflikten zwischen didaktischen Anforderungen und einer technischen Umsetzung

Zum Festlegen der technischen Anforderungen und Lösungen von Zielkonflikten zwischen didaktischem Anspruch und technisch möglicher Umsetzung im Rahmen der gemeinsamen Entwicklung wird eine produkt- und prozessintegrierte Entwicklungsmethodik benötigt. Eine integrative Betrachtung von Produkt und Prozess bei der Lernsystementwicklung ist notwendig, da sowohl das technische Lernmedium als auch der zugrundeliegende Arbeitsprozess auszugestalten sind. Hierfür ist die modellintegrierte Produkt- und Prozessentwicklung (MiP²) (Mattmann 2017) als passende Modellvorstellung für die Ausgangslage und das Entwicklungsproblem ausgewählt worden. Die im Modell enthaltene technische Vorgehensweise kann aus didaktischer Sicht als strukturtheoretische Abbildungen interpretiert werden.

Innerhalb dieses Modells erfolgen im Anforderungsraum (links) die Auseinandersetzungen der verschiedenen Stakeholder hinsichtlich ihrer Ansichten zum zu entwickelnden Lernmedium (s. Abbildung 3). Durch die verschiedenen Perspektiven können Konflikte hinsichtlich der Anforderungen an das zu entwickelnde Lernsystem entstehen, die der Auflösung bedürfen, Aus der Auflösung dieser Konflikte ergeben sich Soll-Eigenschaften für das Lernmedium, die in den Entwicklungs- und Konstruktionsprozess überführt werden (s. Abbildung 3). In der konstruktionsmethodischen Vorgehensweise auf Basis der Soll-Eigenschaften ergeben sich iterativ nach standardisierten Vorgehensweisen immer konkretere Lösungen (vgl. Feldhusen/Grote 2013). Dabei lassen sich regelmäßig neue Anforderungen aus den entwickelten Lösungen extrahieren, die zurück in den Anforderungsraum überführt werden und dort bei Konflikten erneut diskutiert und ausgelegt werden. Die Implikationen der Anforderungen werden wiederum als aktualisierte, detaillierte oder eventuell aus didaktischer Sicht neue Anforderungen für die berufspädagogische Auseinandersetzung zurückgespiegelt. Daraufhin können Anpassungen am didaktischen Konzept vorgenommen werden, um z. B. den Arbeitsprozess entsprechend auszugestalten.

Abbildung 3: Vorgehensweise in der modellintegrierten Produkt- und Prozessentwicklung (eigene Abbildung nach Mattmann 2017)Abbildung 3: Vorgehensweise in der modellintegrierten Produkt- und Prozessentwicklung (eigene Abbildung nach Mattmann 2017)

In der Vorgehensweise wird als erster Schritt der Zweck der Entwicklung des technischen Lernsystems als Lernmedium aus dem didaktischen Bedarf abgeleitet. Daher hat zunächst die didaktische Konzeption vorzuliegen, welche als Lead-User fungiert (vgl. Hippel 1986). Die Anforderungen werden über gängige Vorgehensweisen (vgl. Ahrens 2000) vor allem aus den Handlungszielen erhoben und transformiert, sodass im Anschluss Hauptmerkmalslisten (Feldhusen/Grote 2013) und Dokumentationen eines Arbeitssystems (vgl. Goppold et al. 2021) zur Konkretisierung verwendet werden können.

3 Didaktisches Konzept

Für das didaktische Konzept wird als theoretische Grundlage auf das Hamburger Lehr-Lern-Modell und den gestaltungsorientierten Ansatz als konzeptioneller Rahmen zurückgegriffen. Dabei werden zunächst allgemeine didaktische Anforderungen an das gewünschte digitale Lernmedium abgeleitet. Anschließend werden diese Anforderungen in Bezug auf den Anwendungsfall, das Rüsten einer CNC-Drehmaschine zur Fertigung einer Welle, herausgearbeitet.

3.1 Ableitung von allgemeinen didaktischen Anforderungen

Das technische Lernsystem erfasst auf Basis der Entwicklung automatisch Handlungen und soll die individuellen Handlungsschritte der Auszubildenden auswerten können. Wird von Auszubildenden in der Bearbeitung einer Lern- und Arbeitsaufgabe ein Fehler gemacht, wird zum Zeitpunkt der negativen Fehlerkonsequenzen die Maschine gestoppt und die Fehlerkonsequenzen augmentiert visualisiert. Damit entsteht für die Auszubildenden die Möglichkeit, selbständig ohne mögliche gesundheitliche, ökologische oder ökonomische Schäden die Lern- und Arbeitsaufgabe zu bearbeiten. Dabei ist ein zentraler Gedanke des didaktischen Konzepts, dass lediglich die Fehlerkonsequenzen visualisiert werden und keine Informationen zur Fehlerursache oder gar Lösungsvorschläge dargestellt werden.

Die Auszubildenden sollen anschließend selbstständig ihre Handlung vollständig oder Teilschritte daraus wiederholen können. Hierfür sollen Fragen zur Fehlerursache und Strategien zur Fehlervermeidung selbstständig erarbeitet werden. Zusätzlich legen Fehlerlerntheorien nahe, dass eine Reflexion der gemachten Erfahrungen unverzichtbar für einen nachhaltigen Lernerfolg ist (z.B. Deppe 2015; Tulis/Steuer/Dresel 2016). Diese sollte möglichst durch erfahrenes Ausbildungspersonal begleitet werden. Gleiches gilt auch für fehlerfreie Handlungen (Ellis/Davidi 2005; z.B. Ellis/Mendel/Nir 2006). Durch die Einbindung von Ausbildungspersonal kann auch der zukünftige betriebliche Lernprozess gut gestaltet werden und auf Erfahrungen von Dritten in der Reflexion zurückgegriffen werden.

Die eigenen Erfahrungen mit möglichen Handlungsfehlern sind für das Lernen in der Ausbildung wichtig, weil diese Erfahrungen im Sinne des Arbeitsprozesswissens aufgebaut werden sollen (Gartmeier et al. 2008; Eraut 1994), um sie im Anschluss mit generalisierbarem Wissen zu verknüpfen. So werden vergleichbare Fehler in der Zukunft vermieden und aus den vergangenen Fehlern als kontrastierende Handlung gelernt (Parviainen/Eriksson 2006; Minksy 1994). Die Reflexion zum Lernen aus Fehlern (vgl. Tawfik/Rong/Choi 2015) erfolgt bezogen auf den gestaltungsorientierten Ansatz vor dem Hintergrund der Tätigkeitsmotive Nachhaltigkeit, Qualität und Arbeitssicherheit als Felder der Technikgestaltung (vgl. Kap. 3.2), sodass unterschiedliche Standards zum Abgleich eines Fehlers existieren. Die Handlungsschritte des Lernhandelns werden hinsichtlich dieser Motive in einem Reflexionsbogen automatisiert ausgewertet und stehen als Diskussionsgrundlage der gewählten Lösung sowie deren Umsetzung zur Verfügung. Der Reflexionsbogen bildet dabei die Basis für das direkte Feedback zwischen Ausbildungspersonal und Auszubildenden (vgl. Abbildung 1).

Aus der beschriebenen Beziehung von Ausbildungspersonal und Auszubildenden muss das Automationslevel (z.B. Parasuraman/Sheridan/Wickens 2000) des technischen Lernsystems das Ausbildungspersonal bei der Gestaltung von Lernprozessen unterstützen (Härtel et al., 2018) und sollte daher kein vollautonomes Lernsystem darstellen. Das beschriebene didaktische Konzept bedeutet zusammengefasst für das Lernhandeln, dass die Auszubildenden

  • eine reale Handlung an einer realen Maschine mit den dazugehörigen Werkzeugen und anderen Hilfsmitteln (wie z. B. Messwerkzeugen)
  • Handlungen individuell, selbstständig und vollständig innerhalb der Lern- und Arbeitsaufgabe durchführen können.
  • in ihrer Lernhandlung möglichst vollständig und automatisch erfasst werden, um
    • mögliche Handlungsfehler zu detektieren,
    • eine Basis für den Reflexionsbogen und das Reflexionsgespräch zu bilden,
    • negative, reale Konsequenzen zu unterbinden und
    • Fehlerkonsequenzen erlebbar zu machen und damit die Auseinandersetzung mit Fehlern zu unterstützen (vgl. Tawfik/Rong/Choi 2015).

Für das direkte Feedback in Form des Reflexionsgesprächs ergibt sich die Anforderung, dass

  • eine Reflexionsgrundlage zur mehrperspektivischen Betrachtung (im gestaltungsorientierten Sinne) bereitgestellt wird, die
    • sowohl den Lernprozess mit erlaubten Fehlern als auch Leistungsbeurteilung ermöglicht (Weingardt 2004),
    • relevante Arbeitsschritte mit Bezug zu gemachten Fehlern und Aspekten der Einhaltung von Leitideen hervorhebt und
    • den Auszubildenden und dem Ausbildungspersonal zur Verfügung steht.

Für das Lehrhandeln ergibt sich die Anforderung, dass

  • die Lern- und Arbeitsaufgabe sowohl als Ganzes, als auch in Teilen wiederholbar sein sollte und
  • die Reflexionsphase innerhalb der vollständigen Handlung mit dem Ausbildungspersonal durchlaufen wird.

3.2 Anforderungen in Bezug auf einen Anwendungsfall „Rüsten einer CNC-Drehmaschine“

Im Folgenden wird der Anwendungsfall „Rüsten einer CNC-Drehmaschine zur Fertigung einer Welle“ im Detail beschrieben. Anschließend werden die abgeleiteten Anforderungen aus der Lernhandlung „Erfassung der Handlung“, „Reale Erfahrung“, „Visualisierung der Fehlerkonsequenzen“ und „Systematische Reflexion der gemachten Erfahrungen“ an das didaktische Konzept ausführlich beschrieben.

3.2.1 Erhebung der Arbeitshandlung mit möglichen Fehlern und Fehlerkonsequenzen

Für das allgemein dargestellte Konzept wird ein realer Arbeitsprozess als Ausgangslage bereitgestellt, um die didaktische Konzeption und Intervention zu konkretisieren. Hierfür ist ein handwerklicher Arbeitsprozess im Bereich der Grundbildung im Metallbereich sowie passend zu den Ausbildungen Feinwerkmechaniker/in und Zerspanungsmechaniker/in ausgewählt worden. Die Auszubildenden führen den Rüstvorgang an einer CNC-Drehmaschine zur anschließenden Herstellung einer Welle aus, der im Normalfall die in Abbildung 4 dargestellten Teilhandlungen umfasst.

Abbildung 4: Teilhandlungen des Rüstprozesses (eigene Abbildung)Abbildung 4: Teilhandlungen des Rüstprozesses (eigene Abbildung)

Hierfür sind Arbeitsprozessanalysen in der betrieblichen Ausbildung vorgenommen worden, welche neben einer Arbeitsstrukturerhebung des Arbeitsplatzes auch eine Arbeitsprozessmodellierung umfassen (Goppold/Frenz/Nitsch 2021; Goppold et al. 2020). In den beruflichen Handlungen werden drei unterschiedliche Fehlerkategorien für die technische Entwicklung unterschieden (s. Abbildung 5).

Abbildung 5: Vom technischen Lernmedium zu unterscheidende Fehlerarten im Arbeitsprozess (eigene Abbildung)Abbildung 5: Vom technischen Lernmedium zu unterscheidende Fehlerarten im Arbeitsprozess (eigene Abbildung)

Im für die Entwicklung genutzten systemischen Fehlermodell „Functional Resonance Analysis Method“ (Hollnagel 2012) sind für den Anwendungsfall Mengen-, Vertauschungs-, Positionierungs-, Zeit-, Zeitpunkts- und Handlungsablauffehler als objektiv detektierbare allgemeine Typen von Handlungsfehlern definiert worden (in Anlehnung an Hollnagel 1993). Die erstgenannten Ausprägungen betreffen einzelne Arbeitshandlungen im Arbeitsprozess, wobei unterschieden werden muss, ob die Fehlerkonsequenz direkt oder erst zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen von Fehlerverkettungen in der Realität auftritt. Der Handlungsablauffehler muss technisch hingegen anders detektiert werden (Herrmann/Atanasyan/Casser im Druck).

3.2.2 Handlungserfassung

Im vorliegenden Anwendungsfall ist bereits ein Fertigungsprogramm vorhanden, sodass aus diesem die Informationen über Werkzeuge und Werkstück entnommen werden können. Das Besondere an diesem Anwendungsfall ist, dass der Großteil der Handlungsschritte manuell durchgeführt wird. Somit müssen sowohl die Handlungen durch das technische Lernsystem erfasst werden, die bisher nicht durch Sensoren der CNC-Drehmaschine abgebildet werden, als auch die Eingaben an der CNC-Drehmaschine ausgelesen werden.

Ein Beispiel hierfür ist das „Rüsten des Schlichtmeißels“ (vgl. Tabelle 1). Um den Schlichtmeißel auf die richtige Position des Werkzeugrevolvers zu rüsten, muss im Fertigungsprogramm an der CNC-Drehmaschine geprüft werden, auf welcher Position der Schlichtmeißel im Programm hinterlegt ist. Da es keine offene Schnittstelle der Drehmaschine für eine Datennutzung gibt, musste hierfür zur Umsetzung der Anforderung der Handlungserfassung eine Lösung gefunden werden.

3.2.3 Reale Erfahrungen während der Lernhandlung

Die selbstständige Arbeit an einer realen CNC-Drehmaschine stellt eine wichtige Erfahrung in der betrieblichen Ausbildung dar, weil unter anderem eine große Verantwortung an die Auszubildenden abgegeben wird. Dies liegt neben der hohen Investitionssumme auch an der Sicherheit der Arbeitsumgebung und der arbeitsteiligen betrieblichen Organisation. Beim Rüstprozess muss auf das die Programmierung des Fertigungsprogramms ausführende Kollegium vertraut werden und die Maschinenführung wird ggf. an das Kollegium weitergegeben. So fallen eigene Fehler u.U. erst deutlich später im Fertigungsprozess auf, während diese nicht zwangsläufig eine alleinige Ursache in der Rüsthandlung haben müssen.

Die für die Entwicklung des Lernsystems in den Arbeitsprozessanalysen identifizierten möglichen Handlungsfehler sind in Abstimmung mit dem Ausbildungspersonal auch bezogen auf verschiedene Tätigkeitsmotive verifiziert und ergänzt worden. Dies ist für die in Tabelle 1 dargestellte Teilhandlung didaktisch mit Handlungs- und verknüpften Lernzielen aufbereitet. Dabei sind sowohl berufliche Erfahrungen als auch Wissenselemente Bestandteile der für die Entwicklung ausgewählten Handlungsfehler.

Tabelle 1:     Ausschnitt aus der Teilhandlung „Rüsten des Schlichtmeißels“ mit Operationen

Operationen und Teilhandlungen

Die Auszubildenden …

Teilhandlungsziel (Prozessziel)

Erkenntnisziel (Effektziel)

Die Auszubildenden …

prüfen im CNC-Programm, auf welcher Position der Schlichtmeißel ist

Werkzeugposition des Schlichtmeißels identifiziert

analysieren die Ausgangslage und nutzen zielgerichtet die grafische Benutzeroberfläche

identifizieren den vorgerüsteten Schlichtmeißel

Vorhandener Schlichtmeißel als Arbeitsobjekt in der Hand

kennen grundlegende Werkzeugeigenschaften

untersuchen das Schneidplättchen des Schlichtmeißels auf Verschleiß

Verschleißzustand des Schneidplättchens ungenügend für weitere Nutzung

kennen Verschleißphänomene und Werkstoffeigenschaften und bewerten Verschleißbilder

...

montieren das korrekte Schneidplättchen in die Werkzeugaufnahme

Korrektes Schneidplättchen fach- und sachgerecht in Werkzeugaufnahme montiert

wählen fallabhängig geeignete Schneidwerkzeuge aus

rüsten den Schlichtmeißel

Schlichtmeißel fach- und sachgerecht an korrekter Werkzeugposition gerüstet

können fremde Planungen aus Maschinenprogramm erkennen und für ihre Handlung interpretieren

vermessen den Schlichtmeißel

Schlichtmeißel fach- und sachgerecht vermessen

wenden Prozesse zur Maschineneinrichtung an, schätzen die Zusammenhänge von Fertigungstoleranzen ein

3.2.4 Visualisierung der Fehlerkonsequenzen

Um die Anforderung „Visualisierung der Fehlerkonsequenzen“ umzusetzen, kommt im vorliegenden Anwendungsfall die HoloLens 2 als AR-Brille zum Einsatz. Entsprechend der Anforderung der Ausführung einer möglichst realen Handlung sollen dabei weitere Systembestandteile zur Handlungserfassung durch die Auszubildenden möglichst nicht wahrnehmbar sein. Im Anwendungsfall zum Rüsten des Schlichtmeißels können unterschiedliche Fehler auftreten. Wird das verschlissene Schneidplättchen nicht gewechselt, so ist die Konsequenz, dass dieses während der Fertigung abbrechen kann. Tritt dieser Fehler auf, wird im AR-System die Fehlerkonsequenz über das Einfärben des Schlichtmeißels und das simulierte Abbrechen des Schneideplättchens durch eine zu große Beanspruchung des Schneidplättchens dargestellt. Ein weiterer möglicher Fehler ist, die Auswahl des falschen Schneidplättchens. Die Konsequenz davon wäre eine fehlerhafte Oberflächenstruktur des Werkstücks. Im AR-System wird diese Fehlerkonsequenz als ein rot eingefärbtes Werkstück mit einer Rillenstruktur visualisiert. Ein weiterer möglicher Fehler ist die fehlende Handlung zur Entfernung nicht benötigter Werkzeuge. Die Konsequenz davon wäre, dass z. B. ein im Werkzeugrevolver befindlicher langer Bohrer mit dem Futter der Maschine kollidiert. Im AR-System wird diese Fehlerkonsequenz durch die Kollision des Werkzeugs mit dem Futter durch farbliche Effekte sowie den abbrechenden Bohrer aufgrund zu hoher Werkstoffbeanspruchung visualisiert (s. Abbildung 6).

Abbildung 6: Kollision eines vergessenen Werkzeuges mit dem Spannfutter im Drehprozess (eigene Abbildung)Abbildung 6: Kollision eines vergessenen Werkzeuges mit dem Spannfutter im Drehprozess (eigene Abbildung)

3.2.5 Systematische Reflexion der gemachten Erfahrungen

Unterstützt wird der Lernprozess von einem automatisch erstellten Reflexionsbogen (vgl. Kap. 3). Dieser basiert auf der erfassten Handlung der Auszubildenden. Im Reflexionsbogen wird der Handlungsverlauf als Teilhandlungen mit Zeitangaben dokumentiert. Fehler werden abhängig von den Standards der mittels Gestaltungsorientierung ausgewählten Motive identifiziert und hervorgehoben. Das Ausbildungspersonal kann die Handlung zusammen mit den Auszubildenden mithilfe des Reflexionsbogens in einem Reflexionsgespräch nachvollziehen (Bauer et al. 2010). Gemeinsam können die unterschiedlichen Sichtweisen der Motive auf die ausgeführte Handlung vor der Lern- und Arbeitsaufgabe diskutiert und Fehler ergründet werden (Tawfik/Rong/Choi 2015). Erfahrungen zu fachwissenschaftlichen Erkenntnissen, die die Auszubildenden in ihrem Lernhandeln unterbewusst aufgenommen haben, können durch das Ausbildungspersonal angesprochen und in einem Gesamtzusammenhang gesetzt werden (Gruber/Harteis/Rehrl 2006). Gerade durch vorhandene Handlungsfehler können diese etwa auf Verständnisschwierigkeiten zurückgeführt werden und diese in zukünftigen Lernprozessen verbessert werden (Bauer et al. 2010). Voraussetzung ist dabei, dass das Ausbildungspersonal eine offene Fehlerkultur lebt und Fehler als eine Möglichkeit des Lernens sieht (Hetzner et al. 2010).

4 Aushandlung der Zielkonflikte zwischen didaktischen Anforderungen und technologischen Limitationen

Aufbauend auf dem zuvor geschilderten Lehr-Lernverständnis ist im Entwicklungsprozess des didaktischen Lernmediums in Form eines technischen Lernsystems davon auszugehen, dass der Zweck durch die didaktische Konzeption bestimmt ist.

Im Folgenden werden exemplarisch die Anforderungen Handlungserfassung und reale Erfahrungen während der Lernhandlung herausgegriffen. Die Anforderungen werden anhand von Herausforderungen diskutiert, die sich während des Entwicklungsprozesses zwischen Akteuren mit didaktischer und technischer Perspektive abgezeichnet haben.

4.1 Beispiele zur Handlungserfassung

Die Akteure der didaktischen Perspektive gehen selbstverständlich durch vollmundige Werbeversprechen oder industrielle Speziallösungen davon aus, dass die Realität über Kameras abgebildet wird. Kameras sind etwa in der genutzten AR-Brille HoloLens 2 von Microsoft vorhanden. Dies ist ein erster Konflikt mit den Akteuren der technischen Entwicklungsperspektive, welche eine solche Lösungseinschränkung zu Beginn in der Entwicklungsmethodik aus Kapitel 2.3 nicht vorsieht, weil sich Lösungen erst schrittweise in Entwicklungsprozessen ergeben (s. Abbildung 3). Stattdessen sind zunächst unterschiedliche Funktionen zu erörtern und im Anschluss physikalische Effekte abzuleiten (vgl. z.B. Feldhusen/Grote 2013), wobei die Erfassung optischer Strahlung mittels einer Kamera nur eine von vielen Möglichkeiten ist.

Stattdessen ist der Vorschlag der umsetzenden Akteure aus den technischen Entwicklungsdisziplinen, zunächst so gut wie möglich vorverarbeitete Daten in die Abbildung der Realität im Simulationssystem einzubeziehen. Hierzu gehören unter anderem alle vorhandenen Maschinendaten, wobei im Bereich des Handwerks viele Maschinen keine standardisierten Schnittstellen haben oder die zur Abbildung des Arbeitsprozesses wichtigen Maschinendaten über solche nicht verfügbar sind. Dies gilt auch für den Anwendungsfall an der Traub TNA 300, deren Hersteller nur sehr aggregierte Daten etwa zu Stückzahl oder aktivem Betrieb der Maschine bereitstellt. Ein prinzipiell identifiziertes Problem liegt bei der Bestückung des Werkzeugrevolvers der Drehmaschine vor. Die hierbei durch manuelle Handlungen vorgenommenen Veränderungen der Umwelt werden nicht durch die Maschine erfasst, sondern müssen auch hier durch die Auszubildenden nach der Handlung einprogrammiert werden.

In Arbeitssystemen werden Menschen häufig in Situationen eingesetzt, welche hohe Flexibilität benötigen oder aus technischer Sicht zu ineffizienter Nutzung von Entwicklungskapazität führen könnten (vgl. z.B. Hollnagel 2014). Die Methodik aus Kapitel 2.3 greift aus diesem Grund bevorzugt auf die vorige Option zurück, um Entwicklungsprobleme so weit wie möglich zu vereinfachen. Die Akteure der technischen Umsetzung verlagern daher vorhandene Entwicklungsprobleme auf menschliche Handlungen von Auszubildenden oder betrieblichem Ausbildungspersonal, um Entwicklungskapazität für technisch interessante Lösungen zu schaffen. Dies sorgt für Diskussionen mit den Akteuren der didaktischen Perspektive, da ein tayloristisches Menschenbild unterstellt wird.

Das vorliegende Beispiel soll in diesem Fall durch zusätzliche Handlungen der Auszubildenden erweitert werden, um notwendige Informationen zu realen Handlungen an das technische Lernsystem zu übermitteln. Am einfachsten und effizientesten für den Entwicklungsprozess wäre eine bewertende Eingabe über eingeblendete Augmented Reality Buttons, z. B. „ich habe den Schlichtmeißel montiert“. Der gezeigte Lösungsansatz steht im Widerspruch zur Anforderung der Durchführung einer möglichst realen Arbeitshandlung, sodass hier eine alternative Lösung durch die Beteiligten gefunden werden muss. Hierfür müssen aus der realen Umweltveränderung Informationen in das Simulationssystem überführt werden und diese ausgewertet werden, was technisch viel anspruchsvoller ist als eine bereits menschlich bewertete reale Situation.

4.2 Beispiele zu realen Erfahrungen während der Lernhandlung

Ein weiterer Konfliktfall entsteht durch zurückgespiegelte Anforderungen aus der Entwicklung an den Arbeitsprozess. Die zusätzlich zur Erfassung der Realität benötigten Handlungen im Arbeitsprozess stehen zunächst der didaktischen Gestaltungsintentionen einer authentischen Arbeitssituation entgegen, sodass hier Anpassungen erforderlich werden.

Die Zerstörung der bisherigen Situierung aus der ohne Randbedingungen geplanten Arbeitshandlung und technischen Umsetzung sorgt für Kompromisse aus beiden Entwicklungsperspektiven. Auch die didaktischen Akteure verfügen über eine gewisse Flexibilität bei der Gestaltung der Aufgabenstellung, um die Arbeitshandlung etwa durch die Gestaltung der Randbedingungen für eine leichtere technische Erfassung ohne Verletzung der eigenen Anforderungen zu beeinflussen. Dies lässt sich bei der Gestaltung des Arbeitsplatzes für den Einsatz des technischen Lernmediums im nachfolgenden Kapitel nachvollziehen, welche gemeinsam in iterativer Vorgehensweise erfolgt ist. Dabei gehen die Akteure vor der Entwicklungsmethodik aus Kapitel 2.3 mit der technischen Entwicklungsperspektive von im gemeinsamen Arbeitssystem definierten Arbeitsmitteln und -objekten aus, welche erfasst und in einen digitalen Zwilling im Simulationssystem überführt werden müssen. Im Arbeitsschritt zur Auswahl des Schneidplättchens (s. Tabelle 1) zeigt sich jedoch, dass bei der Interpretation des Systems kein gemeinsames mentales Modell vorliegt. Die Akteure der didaktischen Sichtweise gehen selbstverständlich von realen Randbedingungen in der betrieblichen Ausbildung aus, die aus der Selbstverständlichkeit heraus jedoch nicht explizit im Arbeitssystem modelliert worden sind. Die technische Entwicklung stützt sich dagegen auf die modellierten Informationen des Arbeitssystems, sodass im Anschluss durch die zur Erweiterung um die realen Bedingungen notwendigen Iterationen ungeplanter Mehraufwand entsteht.

5 Ergebnisse als gelöste Zielkonflikte zwischen didaktischer und technischer Entwicklungsperspektive

Hier werden nun anknüpfend an die beschriebenen Zielkonflikte vor dem Hintergrund der abgeleiteten Anforderungen und der eingangs vorgestellten Entwicklungsmethodik die gefundenen Lösungen der Aushandlung zwischen Akteuren mit didaktischer und technischer Perspektive beschrieben.

5.1 Handlungserfassung

Zunächst konnte die Lösung gefunden werde, ein virtuelles Mensch-Maschine-Interface als exakte Nachbildung der CNC-Drehmaschine zu gestalten und statt des realen Maschineninterfaces zu verwenden, um eine bestmögliche Situierung zu erzielen, da die realen Maschinendaten nicht auslesbar sind. Zur Lösung der beschriebenen Herausforderung bzgl. der Handlungserfassung wurde über einen zweiten Bildschirm die Bedienoberfläche der Maschinensteuerung nachgebaut (virtuelle GUI, s. Abbildung 7). Der Bildschirm mit Touchfunktion ist an einer Halterung an der Maschine befestigt und ermöglicht es, ihn über die reale Steuerung zu schwenken.

Abbildung 7: Virtuelles GUI der CNC-Drehmaschine mit notwendigen Interaktionsmöglichkeiten zur Handlungserfassung (eigene Abbildung)Abbildung 7: Virtuelles GUI der CNC-Drehmaschine mit notwendigen Interaktionsmöglichkeiten zur Handlungserfassung (eigene Abbildung)

Dies ist jedoch nur der erste Schritt, da als mögliche Fehlerursachen von Handlungsfehlern die didaktische Konzeption deutlich mehr Handlungsvarianten beachten muss. Es muss in Betracht gezogen werden, dass bei einer korrekten vorherigen Handlung eine falsche Parametereingabe im GUI erfolgt oder umgekehrt. Das bedeutet, dass auch die Umweltveränderungen an der Maschine selbst detektiert werden müssen, um der Didaktik für die Gestaltung des Lernprozesses aus der Handlungserfahrung heraus einen Mehrwert zu bieten.

Zur Erfassung der Position der Werkzeuge in der CNC-Drehmaschine können prinzipiell folgende Lösungen gefunden werden: Vorversuche zeigen, dass eine Erfassung über die HoloLens 2 aufgrund der technischen Machbarkeit ausscheidet. Darüber hinaus besteht die betriebliche Randbedingung, dass die CNC-Drehmaschine nicht durch zusätzliche konventionelle Sensorik erweitert werden darf, sodass in der Kompromissfindung eine Lösung mittels statischer Bildverarbeitung der Daten einer auf der Maschine platzierten Zusatzkamera ausgewählt wurde.

Die Werkzeuge sowie der Revolver sind mit AR-Markern zur einfachen Identifikation versehen worden. In Abbildung 8 ist links der Ausgangszustand des Revolvers für die Lern- und Arbeitsaufgabe abgebildet und auf dem rechten Bild die Lösung zu erkennen.

Abbildung 8: Ausgangszustand Werkzeugrevolver (links) sowie mit AR-Markern und Erfassungslösung technisch erfassbarer Revolver (rechts) (eigene Abbildung)Abbildung 8: Ausgangszustand Werkzeugrevolver (links) sowie mit AR-Markern und Erfassungslösung technisch erfassbarer Revolver (rechts) (eigene Abbildung)

In der Ausgangslage der Lern- und Arbeitsaufgabe (s. Abbildung 8) ist bereits ein Teil der benötigten Werkzeuge gerüstet, aber nicht immer auf der korrekten Position. Der Schlichtmeißel aus der Teilhandlung in Tabelle 1 ist in dem Fall noch nicht im Revolver vorhanden und befindet sich auf einem Arbeitstisch (s. Abbildung 9) mit unterschiedlichen Werkzeugen, Werkstücken sowie Mess- und Hilfsmitteln. Somit kann eine Kamera erfassen, ob diese herausgenommen bzw. zurückgelegt werden. Dies ist realen Bedingungen einer Werkstatt nachempfunden, da sich oft Werkzeuge an festen Orten befinden.

Abbildung 9: Arbeitstisch mit Werkzeuge, Werkstücken, Mess- und Hilfsmitteln (eigene Abbildung)Abbildung 9: Arbeitstisch mit Werkzeuge, Werkstücken, Mess- und Hilfsmitteln (eigene Abbildung)

5.2 Reale Erfahrungen während der Lernhandlung

Ein weiterer Kompromiss entsteht bei der Gestaltung der kamerabasierten Lösung zur Erfassung des Arbeitstisches (s. Abbildung 9). Die Situierung wird durch die Anordnung der Werkzeuge und die AR-Marker zwar verändert, aber ist im Rahmen der Toleranzen für die Akteure mit der didaktischen Sichtweise geblieben. Besonders auffällig ist die sonst übliche Sortierung von Werkzeugen und Werkstücken nach ihrem Zweck und unterschiedlichen Größen, welche nicht stringent eingehalten wird. Zu Beginn hat die Auswahl von mehreren Optionen neben der optimalen gefehlt. Es wurden alternative Werkzeuge ergänzt, die in der betrieblichen Ausbildung selbstverständlich zur Verfügung stehen, um keine allzu offensichtliche Lösung für das Problem in der Lern- und Arbeitsaufgabe zu bieten und damit die Situierung zu zerstören. Aus technischer Sicht kommt das dem Hinzufügen von Komplexität gleich, weil eine Variantenexplosion an möglichen und damit auch abzubildenden Handlungsalternativen entsteht. Im vorliegenden Fall des Schlichtmeißels ist sich auf drei verschiedene Schneidplättchen (s. Abbildung 10) geeinigt worden, die mit nachträglichem Mehraufwand ergänzt worden sind. Die unter realen Bedingungen auf den Verpackungen bereitgestellten kurzen Informationstexte sind dazu ergänzt worden, sodass keine gesonderte Hilfestellung vorliegt.

Abbildung 10: Verschlissenes Plättchen, Schneidplättchen auf Arbeitstisch, Schneidplättchen unter realen Werkstattbedingungen (v.l.n.r.) (eigene Abbildung)Abbildung 10: Verschlissenes Plättchen, Schneidplättchen auf Arbeitstisch, Schneidplättchen unter realen Werkstattbedingungen (v.l.n.r.) (eigene Abbildung)

6 Diskussion der Ergebnisse mit Schwerpunkt Entwicklungsmethodik

Das Beispiel zum Einsatz der HoloLens 2 mit ihren Funktionen zeigt einen gegenseitig bestehenden zentralen Konflikt, der nur durch in beiden Sichtweisen vorhandene Expertise verhindert werden kann. Sowohl Didaktik als auch die Disziplinen der technischen Entwicklung fordern lösungsbestimmende Anforderungen, welche einen offenen Zielraum generieren, im welchem die disziplinär geprägte Gestaltung vorgenommen werden kann. Allerdings sind in Entwicklungsvorhaben häufig aus der anderen Disziplin lösungseinschränkende Randbedingungen vorhanden, die teilweise erst nach Erstellung eines Lösungskonzepts oder sogar fertiger Lösungen artikuliert werden können. Diese schränken den Lösungsraum ein und sorgen im schlimmsten Fall dafür, dass der vorhandene Arbeitsfortschritt als Nenn-Eigenschaft außerhalb der akzeptierten bzw. dann neu zu definierenden Soll-Eigenschaft liegt.

Nicht ohne Grund beschreibt Rauner (2005) das für die Gestaltung von technisch unterstützten didaktischen Interventionen benötigte gegenseitige Verständnis der beteiligten Stakeholder und dass normalerweise in dieser Disziplin wenig auf entwickelte Methodik zurückgegriffen wird (vgl. Floyd 1992). Der Entwicklungsfortschritt zu Auswahloptionen des Schneidplättchens zeigt, dass allen Stakeholdern die Systemgrenze und deren Funktion bewusst sein müssen. Nur so kann die Systemtheorie als gemeinsam nutzbare Kommunikationsbasis verwendet werden. Zudem basieren die meisten technischen Entwicklungsmethoden auf einem systemtheoretischen Verständnis, weshalb technische Disziplinen mit Systemgrenzen sehr stringent umgehen, sodass nur entwickelt wird, was zuvor z. B. in einem Arbeitssystem modelliert ist oder anderweitig explizit als Anforderung bzw. Randbedingung bekannt ist. Dies war im Beispiel nicht gegeben, da die im betrieblichen Kontext selbstverständlich vorhandenen Optionen zuvor nicht als Handlungsbestandteil modelliert waren. Nur wenn die Systemgrenze und deren Anwendung für alle Stakeholder gleichermaßen verständlich ist, kann die Anwendung eines systemtheoretisch geprägten Entwicklungsansatzes gelingen.

Die Schwierigkeit zum Verständnis der jeweils anderen Entwicklungsperspektive lässt sich anhand der Beispiele auf unterschiedliche Interpretationen der Ziel- und Teilzielstellungen innerhalb der Entwicklungsmethodik MiP² zurückführen. Große Herausforderungen sind dadurch entstanden, dass die Akteure der technischen Entwicklungsperspektive für die benötigten Informationen nicht intersubjektiv verständliche Fragen stellen und das eigentliche Informationsinteresse durch die didaktische Entwicklungsperspektive nicht nachvollzogen werden kann. Ein Beispiel hierfür bieten die Fragen zur Visualisierung der Fehlerkonsequenzen, die entsprechend abstrakter Neuentwicklungen gestellt worden sind. Es sind Ausgestaltungswünsche erfragt worden, obwohl Beispiele von Fehlerbildern gemeint sind, die durch die Situierung bereits real vorhanden sind. Daher lagen mündliche und schriftliche Beschreibungen statt phänomenologischer Fehlerbilder von falsch bearbeiteten Wellen vor, deren bestmöglich didaktische Abbildung diskutiert werden könnte. Umgekehrt fällt es den Akteuren der didaktischen Perspektive schwer, ihre eigenen Ziele und Vorstellungen verständlich zu äußern, damit diese nachvollzogen werden können, um gemeinsame offene Lösungsräume und Flexibilität für die Gestaltung einer bestmöglichen Lösung im Entwicklungsprozess zu finden, wie im Absatz zuvor aufgezeigt.

Daraus lässt sich ableiten, dass besonders iterative Vorgehensweisen geeignet sind, um die damit verbundenen Konflikte effektiv frühzeitig im Entwicklungsprozess zu erkennen und zu lösen (Ehrlenspiel/Meerkamm 2017; vgl. Albers et al. 2016). Dies liegt daran, dass die jeweils andere Perspektive nicht geübt ist, die abstrakten Lösungsansätze und deren Implikationen auf den eigenen Lösungsansatz nachzuvollziehen, weshalb hierfür regelmäßige Kommunikation benötigt wird. Außerdem sollten Ansätze zur Handhabung von Unsicherheit im Entwicklungsprozess verwendet werden, um bereits vorab Strategien anzuwenden, die einen Teil der Konflikte effizient bewältigen können (z.B. Groche et al. 2021). Wichtig ist, dass weder zu großschrittige noch zu kleinschrittige Iterationen genutzt werden. Nur so kann sowohl eine zu schnelle Konkretisierungen der Lösung als auch eine ineffiziente Bindung von Entwicklungskapazität bei notwendigen Änderungen vermieden werden Besonders hilfreich ist auch eine gewisse Pragmatik im Umgang mit flexibel handhabbaren Anforderungen sowie die Kenntnis des gesamten tolerierten Lösungsraums innerhalb der eigenen Disziplin, um den Fortschritt im Entwicklungsprozess nicht zu behindern, sondern konstruktiv durch lösungsbestimmende Maßnahmen voranzutreiben.

Zuletzt soll noch betrachtet werden, wie die Akteure beider beteiligten Disziplinen den Arbeitsprozess wahrnehmen. Für die Akteure der didaktischen Perspektive nehmen die beruflichen Handlungen in Verknüpfung mit den Erkenntniszielen den leitenden Charakter bei der Gestaltung der Lern- und Arbeitsaufgabe ein (s. Tabelle 1). Insbesondere für die Reflexionsphase ist relevant, wie gehandelt wurde. Die Akteure mit technischer Perspektive dagegen interessiert vor allem, was im Sinne von Teilhandlungszielen (s. Tabelle 1) verändert wurde, da sie diese Veränderungen in der Umwelt erfassen und für eine Simulation von möglichen Fehlerfolgen nutzen müssen.

Abbildung 11: Informationstechnische Sichtweise auf den Arbeitsprozess (oben), didaktische Sichtweise auf den Arbeitsprozess (unten) (eigene Abbildung)Abbildung 11: Informationstechnische Sichtweise auf den Arbeitsprozess (oben), didaktische Sichtweise auf den Arbeitsprozess (unten) (eigene Abbildung)

Aus Abbildung 11 geht die Äquivalenz beider im Zusammenhang der Entwicklungsaufgabe eingenommenen Sichtweisen hervor, die zunächst jedoch die Kommunikation erschwert. Die jeweiligen Betrachtungsweisen aus dem vorigen Absatz spiegeln sich in den Anforderungsbeschreibungen der Entwicklungsmethodik wider. Aus den durchgeführten Iterationsschritten in der Entwicklung geht hervor, dass die didaktische Konzeption die definierten Teilhandlungsziele in deutlich mehr Teilziele bzw. die in Tabelle 1 dargelegten Operationen herunterbrechen muss, um erfassbare und formal beschreibbare Zustände für Aussagen zur Art und Weise der Handlungen zu erhalten. Nur so können Akteure aus der Didaktik Interpretationen zu einer erfolgten Handlung für die Gestaltung von Lernprozessen sinnvoll vornehmen. Insbesondere gilt es zu beachten, dass eine vollständige gestaltungsorientierte Beurteilung der Handlung möglich ist.

Dabei ist bei einem moderaten konstruktivistischen Verständnis zu beachten, dass das für die Modellierung genutzte didaktische Konzept nur eine Auswahl an Sichtweisen auf den Arbeitsprozess darstellt und viele andersartige und gleichberechtigt korrekte Interpretationen existieren können. Die technische Entwicklungsperspektive muss deshalb nebenläufige Handlungen modellieren, sodass die automatisierten Auswertungen auch bei andersartiger Vorgehensweise interpretierbar bleiben. Trotz der dann vorliegenden Abbrüche oder Sprünge zwischen den modellierten Handlungen muss Ausbildungspersonal noch die Vorgehensweise der Auszubildenden erkennen können. Dies gewinnt an Brisanz, da auch Fehler auf Grundlage der Handlungsmodellierung beurteilt werden und somit sicherheitsrelevante Funktionen vorliegen, die mit entsprechenden Methoden gesichert werden müssen.

7 Limitationen, Fazit, Ausblick

Zusammenfassend stellt der Beitrag mithilfe der verwendeten theoretischen Bezüge unter Rückgriff auf die produkt- und prozessintegrierte Entwicklungsmethodik Ausschnitte des Entwicklungsprozesses eines AR-Lernmediums dar, um Zielkonflikte von Didaktik und technischen Entwicklungsdisziplinen zu verdeutlichen. Dabei wurde zunächst auf die Ableitung allgemeinen und spezifischen didaktischen Anforderungen eingegangen. Daran anknüpfend wurden für die didaktische Anforderungen Handlungserfassung und Reale Erfahrungen während der Lernhandlung Beispiele und im Anschluss Lösungen für die Aushandlung der Zielkonflikte von Akteuren mit didaktischer und technischer Perspektive beschrieben. Diese Ergebnisse wurden abschließend vor dem Hintergrund der Eignung der gewählten Entwicklungsmethodik diskutiert.

Limitierend für den vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass für die abgeleiteten didaktischen Anforderungen kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht. Diese wurden vor dem beschriebenen theoretischen Hintergrund im spezifischen Kontext des Anwendungsfalls begründet. Weiterhin ist kritisch anzumerken, dass die beschriebenen, gefundenen Lösungen im Rahmen der Gestaltung des Lernmediums nicht zwingend das globale Optimum ist, weil nicht alle Anforderungen und Randbedingungen zu Beginn vorgelegen haben. Durch die iterative Vorgehensweise entsteht allerdings eine Verkettung von im beschriebenen Kontext ausgehandelten optimalen Kompromissen zwischen didaktischen Anforderungen und technischen Möglichkeiten aus den jeweiligen Entwicklungsschritten.

Die zukünftige Forschung sollte auf Basis der hier nachgewiesenen Eignung der integrierten Produkt- und Prozessentwicklung eine gemeinsam von didaktischen und technischen Akteuren nutzbare Methode suchen, die neben Arbeitsprozess und Lernmedium auch das aus didaktischer Sicht wichtige Handlungsprodukt mitberücksichtigt. Die aktuell noch in der Entstehung befindliche Entwicklungsmethodik zur hybrid-integrierten Fertigung könnte sehr gut als anpassbare Blaupause hierfür genutzt werden, weil sie ein vergleichbares (technisches) Problem löst.

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Zitieren des Beitrags

Goppold, M./Müller, M. L./Thiem, S./Tackenberg, S./Frenz, M./Nitsch, V. (2022): Lernmedienentwicklung für handlungs- und gestaltungsorientiertes, Augmented Reality-gestütztes Lernen aus Fehlern an CNC-Drehmaschinen – Zielkonflikte zwischen didaktischem Anspruch und technischer Umsetzung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschafts­päda­gogik – online, Ausgabe 43, 1-26. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe43/goppold_etal_bwpat43.pdf (18.12.2022).