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bwp@ 42 - Juni 2022
Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung
Hrsg.:
, , &Machtkritische Reflexionen und differenzsensible Professionalisierung im Lehramtsstudium der gewerblich-technischen Bildung
Im Beitrag wird, angelehnt an das Konzept der Critical Diversity Literacy, ein Vorschlag für die Vermittlung einer machtkritischen Lesepraxis im Lehramt der beruflichen Bildung entwickelt. Dabei wird insbesondere der Frage nachgegangen, welche Lernprozesse dadurch bei Studierenden ausgelöst werden (können). Dazu wird kurz in die theoretische Perspektive eingeführt und zwölf darauf aufbauende zwölf Lernziele formuliert. Orientiert an diesen Lernzielen wurden im Rahmen des hier vorzustellenden Forschungsprojektes Lerneinheiten entwickelt, die dazu dienen, im Rahmen von Universitätsseminaren im Berufsschullehramt differenzsensible Professionalisierungsprozesse zu gestalten. Empirische Grundlage dieses Beitrags sind die schriftlichen Ausarbeitungen von Studierenden, die sich auf die im Projekt entwickelten Lerneinheiten beziehen. In der Analyse der studentischen Ausarbeitungen wird der multikomplexe Prozess, der machtkritischem Lernen zu Grunde liegt, vorsichtig nachgezeichnet und an konkretem empirischen Material beispielhaft erläutert.
“Counter-hegemonic reflections” and diversity consciousness in the Teacher Training Program for Industrial-Technical Education
Based on the concept of critical diversity literacy, this article develops a proposal for teaching a critical reading practice in vocational education and training. In particular, the question of which learning processes are (or can be) triggered in students is explored. For this purpose, the theoretical perspective is briefly introduced and twelve learning objectives are formulated. Aiming on these learning objectives, learning units were developed in the context of the research project to be presented here, which serve to design diversity conscious professionalisation processes in the context of university seminars in vocational school teaching. The empirical basis of this contribution is the written work of students who refer to the learning units developed in the project. In the analysis of the students' papers, the multicomplex process underlying the counter-hegemonic learning is carefully traced and exemplified using empirical material.
1 Einleitung
Die schon vor Jahrzehnten erkannte Notwendigkeit eines differenzsensiblen pädagogischen Umgangs mit heterogenen Lernräumen (vgl. etwa Gogolin 1994; Leiprecht/Lutz 2003; Mecheril 2004) verstärkt sich gegenwärtig. Grund hierfür sind unter anderem die Folgen von Phänomen wie Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel sowie Kriege und die mit all diesen Aspekten jeweils zusammenhängenden Migrationsbewegungen. Berufsbildende genauso wie allgemeinbildende Schulen in Deutschland, sind in Bezug auf Ansprache, Lehrmaterial, Lehrinhalte und pädagogische Grundannahmen noch immer überwiegend traditionell ausgerichtet. Traditionell bedeutet in diesem Fall, dass die Institution Schule von weiß-deutschen ‚Norm‘-Schüler*innen ausgeht, die mit Deutsch als Erstsprache in heterosexuellen Kleinfamilien der Mittelschicht, eindeutig als Junge oder Mädchen positioniert und in einem als leistungsfähig geltenden Körper aufwachsen. Diese Norm-Schüler*innen werden in der Realität jedoch immer seltener, so es sie überhaupt in dieser Eindeutigkeit jemals gegeben hat. Stattdessen ist eine vielfältig divers zusammengesetzte Schüler*innenschaft die schon lange nicht mehr neue Normalität, ohne dass Schulen als Institutionen darauf ebenso normalisiert adäquate Antworten gefunden und umgesetzt hätten.
Damit es möglichst vielen Schüler*innen gelingen kann, bildungserfolgreich zu sein, braucht es institutionelle Rahmenbedingungen und pädagogische Fachkräfte, die alle Schüler*innen in ihren jeweils ungleichen individuellen Voraussetzungen wahrnehmen, sie stärken und begleiten können. Dabei reicht es nicht aus, sich mit dem eigenen Unterrichtsfach und verschiedenen didaktisch-methodischen Kniffs der leistungsbezogenen Binnendifferenzierung auszukennen. In einer strukturell von Ungleichheit geprägten Gesellschaft, gehört es zur Professionalisierung von Lehrkräften vielmehr dazu, dass diese in die Lage versetzt werden, gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre eigene Position darin zu reflektieren sowie daraus pädagogisch angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen (Messerschmidt 2016; Steyn 2015). Um ihre heterogene Schüler*innenschaft diversitätssensibel begleiten und unterstützen zu können, müssen Lehrer*innen also nachvollziehen, wie das eigene pädagogische Handeln dazu beitragen kann, Ungleichheitsverhältnisse zu (re-)produzieren und daraus folgend alternative, stärkende pädagogische Handlungsstrategien entwickeln. Dazu gehört auch, in der Lage zu sein, institutionelle Rahmenbedingungen in ihren Konsequenzen zu hinterfragen und sich aktiv für Veränderungen einzusetzen, die Schüler*innen in ihren Lernprozessen unterstützen und nicht behindern. Während in der allgemeinbildenden Schulforschung dazu schon umfangreiche Vorarbeiten existieren (vgl. etwa Akbaba u.a. 2022; Dirim/Mecheril 2018; Doğmus/Karakaşoğlu/Mecheril 2016; Gottuck u.a. 2019), sind diese Überlegungen für den Bereich der beruflichen Bildung noch in ihren Anfängen (vgl. etwa Euler/Severing 2020; Geisler/Niethammer 2019; Heinemann/Pape/Kakkattil i.E.; Heinrichs/Reinke 2019; Westhoff/Ernst 2016).
Das diesem Beitrag zu Grunde liegende Forschungsprojekt „Umgang mit Heterogenität in der beruflichen Bildung“[1] widmet sich ganz explizit der Frage, wie es möglich ist, Studierende im Lehramt für die Bereiche der gewerblich-technischen Bildung sowie der generalistischen Pflegeausbildung auf ihre pädagogischen Aufgaben in heterogenen Klassenräumen machtreflexiv vorzubereiten. Nach einer kurzen theoretischen Einordnung in die machtreflexive Perspektive des Forschungsprojekts, werden im Folgenden erste Auswertungsergebnisse vorgestellt. Das im Projekt erhobene empirische Material umfasst 22 Interviews mit Berufsschullehrkräften, 5 Beobachtungsprotokolle aus Unterrichtssituationen an Berufsschulen, 24 Beobachtungsprotokolle aus universitären Seminaren zum Thema ‚Diversität in der Berufsschule‘ sowie schriftliche studentische Reflexionen aus 4 Semestern (WiSe 2020/21 – SoSe 2022), die auf einer digitalen Plattform (p:ier) hochgeladen wurden. Im vorliegenden Beitrag fokussieren wir aus der Fülle des Materials insbesondere auf die schriftlichen Ausarbeitungen der Studierenden aus dem Lehramt der gewerblich-technischen Berufsbildung, die von den Studierenden als Analysematerial explizit freigegeben wurden und rahmen diese mit den Erkenntnissen, die durch die Beobachtungen ermöglicht wurden. Auf der Grundlage der Analyse der studentischen Reflexionen lässt sich der komplexe Prozess, der machtkritischem Lernen zu Grunde liegt, vorsichtig nachzeichnen.
2 Machtkritik im pädagogischen Raum
Die im Rahmen des Projekts gewählte machtkritische Perspektive auf Differenz und Diversität im Lernraum verbindet sich mit verschiedenen erziehungswissenschaftlichen Zugängen, die allesamt eint, dass sie pädagogische Fragen immer in einen Zusammenhang mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen bringen und ein aktives Interesse an einer Intervention in diese verfolgen, mit dem Ziel, demokratische und vor allem weniger gewaltvolle Verhältnisse zu ermöglichen. Konkret sind dies die Zugänge der Kritischen Pädagogik, der Migrationspädagogik, die gegenwärtig immer prominenter diskutierten Anliegen dekolonialer Pädagogiken sowie das von Melissa Steyn (2015) entwickelte Konzept der ‚Critical Diversity Literacy‘.
Wenn wir von Kritischer Pädagogik sprechen, meinen wir damit die Perspektiven, wie sie inspiriert von den pädagogisch-politischen Schriften Paulo Freires (1996) schon seit den 80er Jahren in den USA beispielsweise von Giroux (2017) und McLaren (1999) und in der Weiterentwicklung durch Monzó (2019) vertreten werden. Sie haben gemeinsam
“the belief that education is fundamental to democracy and that no democratic society can survive without a formative culture shaped by pedagogical practices capable of creating the conditions for producing citizens who are critical, self-reflective, knowledgable, and willing to make more judgements and act in a socially responsive way” (Giroux 2017, 3).
Ausgehend von diesen Überlegungen ist eine demokratische Gesellschaft nur möglich, wenn die in ihr lebenden Menschen auch in der Lage sind, sich aktiv für demokratische Werte, wie z.B. Chancengleichheit und Gleichberechtigung, einzusetzen. Ohne einen solchen Einsatz kann Demokratie als Gesellschaftsform nicht überleben, denn sie ist, wie Oskar Negt (2004) betont, die einzige Staatsform, die gelernt werden muss. Dazu gehört auch nachzuvollziehen, inwiefern diskriminierende Praktiken demokratischen Werten widersprechen und diesen schaden. Hier braucht es keine ‚neutralen‘ Pädagog*innen, sondern solche mit einer klaren Positionierung für Demokratie und gegen Ideologien der Ungleichwertigkeit, die sich auf allen Ebenen ihres pädagogischen Handelns widerspiegeln sollte.
Eine Erweiterung der Ansätze der kritischen Pädagogik, die einen besonderen Fokus auf die eben genannten diskriminierenden Praktiken legt, stellt die von Mecheril (2004) entwickelte Migrationspädagogik dar. In dieser macht er die Analysen der Cultural Studies (Hall 2012/1992) und der Critical Race Theorie (Rassismuskritik) (Zamudio u.a. 2011; Melter/Mecheril 2011) für die deutsche Migrationsgesellschaft und damit einhergehende pädagogische Fragen fruchtbar. Die Migrationspädagogik wurde über die Jahre umfassend rezipiert und vor allem durch differenztheoretische Perspektiven weiterentwickelt, so dass inzwischen neben race auch Differenzlinien wie class, gender, sexual identity und ability mehr in den Fokus rücken (vgl. etwa Akbaba u.a. 2022; Dirim/Mecheril 2018; Mai/Merl/Mohseni 2018). Das Ziel migrationspädagogischer Ansätze ist es dabei insbesondere jene diskursiven und kulturellen Praxen nachzuzeichnen, die einen Beitrag dazu leisten, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse im pädagogischen Raum zu reproduzieren. Erst wenn Lehrende verstehen und erkennen, durch welche Praxen, Repräsentationen, Diskurse sowohl die Institutionen, in denen sie arbeiten, als auch sie selbst und ihre Schüler*innen Diskriminierungen und damit Ungleichheitsverhältnisse (unbewusst) reproduzieren, können sie aktiv in diese intervenieren und ihr eigenes Verhalten, Sprechen, aber auch ihr Nicht-Sprechen entsprechend verändern.
Dekoloniale Pädagogiken teilen dieses Anliegen, aber gehen noch einen Schritt weiter. Sie hinterfragen grundsätzlich Formen und Inhalte westlicher Wissensproduktion auf der Folie einer Welt, die noch immer durch die Folgen ihrer kolonialen Geschichte geprägt und strukturiert ist und fordern einen aktiven Eingriff in die hegemoniale Wissensproduktion durch den Einbezug von bisher unhör- und unsichtbar gemachten Positionen (vgl. etwa Heinemann/Castro Varela 2017; Mignolo/Walsh 2018). Dazu gehören auch grundsätzliche Fragen danach, welche Wissensinhalte eigentlich als ‚legitim‘ und kanonisch gelten und welche eher als ‚nice-to-have’ oder gar als illegitim verortet werden. Welche Schüler*innen werden in Schulbüchern und Curricula mit ihren Lebenswirklichkeiten abgebildet und wer kommt nicht vor? Wer gilt als legitime Sprecher*in, der*die in der Lage ist, ‚objektives‘ Wissen zu vermitteln und wer wird eher als ‚voreingenommen‘ und subjektiv markiert und damit abgewertet (vgl. weiterführend Sousa Santos 2016; Connell 2017)? Im Rahmen dekolonialer Pädagogiken werden diese Fragen dabei immer auch im globalen Kontext betrachtet, historisiert und Überlegungen entwickelt, wie marginalisierte Positionen und Stimmen einen anerkannten Ort im pädagogischen Raum erhalten können (Heinemann 2020). Das normative Ziel ist dabei das Erlernen eines ethischen Umgang nicht nur mit lokalen, sondern mit globalen Ungleichheitsverhältnissen.
Mit dem Konzept der Critical Diversity Literacy (Steyn 2015) kann die in Südafrika nach der Apartheid an verschiedenen Universitäten lehrende Melissa Steyn die unterschiedlichen bereits genannten Strömungen mit ihren jeweiligen Anliegen geschickt miteinander verbinden. Critical Diversity Literacy (CDL) „synthetisiert wichtige Bewegungen der sozialen Theorien, die sich mit Fragen rund um Diversität, Differenz, Anderssein und Ver_andern auseinandersetzen“ (Steyn/Dankwa 2021, 40) und ist eine Lesepraxis, die sich vor allem an jene Menschen richtet, die ‚höchste Bildungsabschlüsse‘ in unserer Gesellschaft erreichen und entsprechend gesellschaftliche Führungsaufgaben und Verantwortlichkeiten übernehmen (vgl. ebd., 41). Sie sollen durch CDL dafür ausgebildet werden, Machtverhältnisse zu lesen, also die komplexen miteinander verwobenen Differenzordnungen zu verstehen, zu erkennen und in diese bewusst zu intervenieren. Dazu braucht es einer umfangreichen reflexiven Auseinandersetzung über einen längeren Zeitraum und die Bereitschaft, sich von als ‚natürlich‘ angesehen Selbstverständlichkeiten zu lösen und irritieren zu lassen.
Wenn wir im Folgenden von einer diversitätssensiblen Professionalisierung von (angehenden) Lehrer*innen und anderen pädagogischen Fachkräften sprechen, bauen wir insbesondere auf dem Konzept der CDL auf. Über ihren Beruf erreichen Pädagog*innen eine Vielzahl von Menschen und wirken auf sie ein, wobei sie Sozialisations- und Subjektivationsprozesse prägen, in denen sich gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln. Da Machtverhältnisse sich dadurch auszeichnen, dass sie meist verschleiert wirken und sich eher in scheinbaren ‚Normalitäten‘ und ‚Selbstverständlichkeiten‘ zeigen (Bourdieu/Steinrücke 2005), braucht es für eine diversitätssensible Professionalisierung eine umfangreiche Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen von Normalitätskonstruktionen in ihrer Historizität, Performanz und Wirkungsweise. Für die damit zusammenhängenden intensiven Lernprozesse wurden im Rahmen des Projekts zwölf Lernziele formuliert, die im Folgenden genauer ausgeführt werden.
3 Lernziele einer differenzsensiblen Professionalisierung
Die im folgenden ausformulierten Lernziele lassen sich theoretisch in den oben skizzierten Zugängen verorten, wobei sie sich insbesondere an den Kriterien der CDL nach Steyn und Dankwa (2021) orientieren. Sie konkretisieren das dynamische und komplexe Lernfeld der ‚Machtkritik‘ selbstverständlich ohne, dass wir einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnten. Die einzelnen Ziele werden nun folgend – notwendig verkürzt – erläutert und in der Analyse des empirischen Materials im weiteren Verlauf des Beitrags anhand der konkreten Auseinandersetzungen der Studierenden mit dem Material und den Seminarinhalten vertieft.
- Eine Vorstellung von der Funktionsweise von Machtverhältnissen entwickeln
Da, wie eben schon ausgeführt, Macht meist verschleiert und nicht explizit sichtbar wird, ist zunächst eine grundsätzliche Vorstellung davon nötig, dass gesellschaftliche (Ungleichheits-)Verhältnisse nicht einfach gott- oder naturgegeben sind, sondern durch Menschen beeinflusst und hergestellt werden. Dazu muss durch die Studierenden grundlegend nachvollzogen werden, wie machtvolle Unterscheidungspraxen wirken und wie diese einen Einfluss darauf nehmen, gesamtgesellschaftliche Ordnungen herzustellen (Mecheril/Melter 2010).
- Den Zusammenhang von Sprache und Macht erkennen und erläutern können
Die Wirkungsweise von Unterscheidungspraxen lässt sich insbesondere auf der sprachlichen Ebene nachvollziehen. In Sprache wird unterschieden, geordnet, zugewiesen, ein- und ausgeschlossen, ge- und entnannt. Wenn Studierende den Zusammenhang zwischen Sprache und Macht erkennen, können sie nicht nur nachvollziehen, wie machtvolle Diskurse Repräsentationen, Zuschreibungen, Haltungen und Institutionen beeinflussen, sondern auch eine Vorstellung davon entwickeln, wie sie selbst in diese Diskurse eingreifen können (Heinemann/Khakpour 2019).
- Die Konstruiertheit sozialer Identitäten in ihrer Normalitätskonstruktion und Naturalisierung beschreiben können
Ein weiterer Effekt von machtvollen sprachlichen Zuschreibungen ist das Herstellen beziehungsweise die Konstruktion von sozialen Identitäten. Bei diesem Lernziel geht es darum, zu verstehen, wie durch beständige wiederholende Anrufungen Menschen zu ‚Frauen‘, ‚Männern‘, ‚Deutschen‘, ‚Nicht-Deutschen‘ etc. gemacht und in dichotomen Anordnungen verortetet werden (Butler 1991). Werden soziale Identitäten als konstruiert verstanden, wird es möglich, damit verbundene ‚normalisierte‘ und ‚naturalisierte‘ Zuschreibungen á la: „Mädchen interessieren sich einfach nicht so für Mathe“ oder „Jungs müssen einfach laut sein“ aktiv in Frage zu stellen.
- Gesellschaftliche Positionierungen und damit einhergehende Privilegien reflektieren lernen
Menschen verfügen abhängig davon, an welcher Stelle sie gesellschaftlich positioniert sind, über unterschiedliche Privilegien. Diese sind unter anderem abhängig von ihrer jeweiligen Position in Bezug auf ihre Klassenzugehörigkeit (class), natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit (race), Geschlechtsidentität (gender), sexuelle Orientierung (sexual identity) und ihre Erstsprache (native language). Durch Legitimationslegenden wie die Vorstellung einer meritokratischen Gesellschaft, in der jede*r seine*ihre Stellung aufgrund der eigenen Leistung – unabhängig von den eben genannten Differenzlinien – erwirbt, werden die Mechanismen der Reproduktion von Ungleichheit systematisch verschleiert (Solga 2005) und die Verantwortung für die eigene (benachteiligte) Position auf die einzelnen Individuen verlagert (Felden 2020). Ein erster Schritt für die Studierenden sich diesem komplexen Geflecht anzunähern, ist, zunächst einmal die verschiedenen Positionierung bestimmenden Differenzlinien in ihrer Spezifität und die mit ihnen einhergehenden Privilegien kennenzulernen und sie in Bezug auf konkrete Folgen für sich selbst und ihre Schüler*innen hin zu befragen.
- Die intersektionale Verwobenheit von Differenzlinien analytisch bestimmen können
In einem nächsten, vertiefenden Schritt geht es dann darum, auch die Verwobenheit der verschiedenen Differenzlinien, ihre Intersektionalität, nachvollziehen zu können. Wie Crenshaw (2019) ausführt, lassen sich diese nämlich nicht einfach additiv zusammenzählen. Sie haben beim Zusammentreffen vielmehr Effekte, die sie als einzelne Differenzkategorie jeweils nicht oder anders hätten. Um diese Effekte als solche wahrzunehmen und pädagogisch darauf reagieren zu können, brauchte es eine beständige Aufmerksamkeit und eine fragende, offene Haltung mehrfach marginalisierten Schüler*innen gegenüber, da nur diese selbst die Folgen dieser Effekte erleben und beschreiben können.
- Die Gegenwärtigkeit historischer Geschehnisse nachvollziehen können
Gegenwärtige gesellschaftliche Strukturen und Diskurse haben eine Geschichte, deren Spuren auch im Gegenwärtigen wirken. Um zu verstehen, wie aktuelle gesellschaftliche Ordnungen entstanden sind und welche Diskurse sie aufrechterhalten, ist es daher notwendig, sie historisch zu kontextualisieren (Hall 2012/1992). Eine solche Kontextualisierung ist oft auch hilfreich, um die Gewaltförmigkeit bestimmter Begriffe und Redewendungen aufzudecken. Dazu ist es wichtig, nicht nur hegemoniale Geschichtserzählungen, sondern auch Erzählungen marginalisierter Gruppen in den Blick zu nehmen.
- Eine Diversitätsgrammatik entwickeln (machtkritisches Vokabular adäquat einsetzen können)
Über Machtverhältnisse zu sprechen ist eine besondere Herausforderung, da es etwas ist, was sehr umfangreich eingeübt werden muss und eine hohe Abstraktionsfähigkeit erfordert, welche vor allem an allgemeinbildenden Gymnasien mit humanistischer Ausrichtung systematisch vermittelt wird. Da Studierende im Lehramt der beruflichen Bildung oft erst nach einer abgeschlossenen Ausbildung und teilweise erst auf dem zweiten Bildungsweg den Weg in die Universität finden, braucht es hier, unserer bisherigen Erfahrung nach, einen besonderen Support auch in der Vermittlung des machtkritischen Vokabulars, damit das Sprechen über Ungleichheit nicht in eine undifferenzierte Wiederholung von Stereotypen kippt.
- Eine diskriminierungssensible Sprache einüben
Dazu gehört auch eine Sensibilisierung dafür, wie durch das eigene Sprechen Diskriminierung entsteht und ein darauf aufbauendes Einüben von Sprachpraxen, die möglichst wenig Gewalt reproduzieren. An dieser Stelle ist es auch sinnvoll die unter 6. bereits genannte Historisierung von Diskursen aktiv zu vollziehen, um die gewaltvolle Aufladung bestimmter Begriffe deutlich zu machen (Posselt 2019).
- Emotionen in ihrer gesellschaftlichen Verwobenheit verstehen lernen – Affektive Ökonomie/Empfindungsfähigkeit/Empathie
Wichtig ist in einer Erweiterung der Auseinandersetzung damit, welche Sprache verletzende und diskriminierende Folgen hat und woher die gewaltvolle Aufladung von Diskursen kommt, auch ein Verständnis von Emotionen als etwas, was ebenfalls gesellschaftlich beeinflusst ist. Ahmed (2004, 6) beschreibt: „wether something feels good or bad already involves a process of reading, in the very attribution of significance“. Die Frage danach, von was ich mich besonders berühren lasse, was mich ‚kalt‘ lässt oder leicht auszublenden ist, hat somit damit zu tun, welche Bedeutung ich der jeweiligen Sache beimesse. Butler (2016) diskutiert dazu beispielhaft die Frage: „When is life grievable?“ und zeichnet nach, wie unsere Emotionen in Bezug darauf, um wen wir trauern, für wen wir uns einsetzen, wer uns egal ist, was wir als gewaltvoll empfinden etc. durch die hegemonialen Diskurse der jeweiligen Gesellschaft, in der wir leben, mitgesteuert werden. Für Pädagog*innen, die mit ihren Schüler*innen immer auch in emotionale Beziehungsverhältnisse gehen, wenn sie Lernatmosphären gestalten, ist eine Auseinandersetzung mit der Konstruiertheit von Emotionen insbesondere wichtig, um auch die eigenen Affekte kritisch reflektieren zu können.
- Eine Dekodierfähigkeit entwickeln – Verschlüsselte hegemoniale Praxen durchschauen und interpretieren können
Ein weiteres eher anspruchsvolles Lernziel ist es nachzuvollziehen, wie sich Sprechpraxen im Laufe der Zeit verwandeln, dynamisch den jeweiligen Verhältnissen anpassen und dann in neuem Gewand wieder auftauchen. Wenn es beispielsweise diskursiv nicht mehr legitim ist, die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit von Jugendlichen zu entwerten und zu verbieten, können alternativ Sprechpraxen stark werden, die die Bedeutung der Beherrschung des Deutschen für die Zukunft der Jugendlichen in den Vordergrund rücken und damit den Ausschluss von Migrationssprachen im Unterricht legitimieren (vgl. weiterführend Dirim 2010). Solche Sprachfiguren zu dekodieren, ist nur möglich, wenn die vorherigen Lernziele erreicht und die Inhalte durchdrungen wurden. Es ist jedoch interessant für jene Studierende, die in ihrem machtreflexiven Professionalisierungsprozess bereits tiefer eingetaucht sind.
- Materielle (An)Ordnungen wahrnehmen und benennen können
Ähnlich herausfordernd ist das Lernziel der Wahrnehmung von Anordnungen, bei dem es darum geht, einerseits die Verhältnissen in ihrer jeweiligen Lokalität zu verstehen und wahrzunehmen und andererseits auch zu verstehen, wie sich insbesondere materielle Ungleichheitsverhältnisse auf die Verteilung von Körpern im Raum (zum Beispiel auf arme/reiche Stadteile, die Aufteilung von privilegierten und benachteiligten Jugendlichen in bestimmten Schulen, Vor- und Willkommensklassen etc.) auswirken (vgl. etwa Karakayali/zur Nieden 2013).
- Engagement – Übertrag in die Praxis
Dieses letzte Lernziel bezieht sich auf das Aneignen von konkreten Handlungskonzepten, um auf Grundlage der erkannten und benannten Verhältnisse und Praxen auch in ein Handeln zu kommen. So muss nach dem Erkennen, ein informiertes Abwägen über die nächsten Schritte folgen. Pädagog*innen müssen bei Bedarf intervenieren, die Situation ansprechen und/oder stoppen, dabei Betroffene so gut es geht schützen und lernen sie auch um Verzeihung zu bitten, wenn das eigene Handeln, trotz aller guten Absicht, doch Verletzungen oder Benachteiligungen erzeugt hat. Wichtig ist auch zu lernen, wo und wie bei Bedarf Expertise hinzugezogen werden kann, da es auch überfordernd ist, immer zu allen Differenzlinien jederzeit auf dem ‚letzten‘ Stand zu sein.
Nachdem im nächsten Abschnitt nun das Forschungsprojekt, aus dem die empirischen Daten stammen, kurz vorgestellt wird, gehen wir beispielhaft am Material nochmal genauer darauf ein, welche Lernprozesse die Studierenden auf dem Weg zu diesen Lernzielen unter anderem durchlaufen.
4 Das Forschungsprojekt: Umgang mit Heterogenität in der beruflichen Bildung
[Es geht darum], „um uns selbst gegen diskriminierende und ausschließende Differenzierungen zu sensibilisieren und den Lernenden eine förderliche, von sozialen Gegebenheiten freie und für alle zugängliche Lernatmosphäre zu schaffen“ (HK, 4: 1890).
Dieses Eingangszitat stammt aus dem Teilprojekt „Umgang mit Heterogenität in der beruflichen Bildung“ (März 2020 – Februar 2024), eines von fünf Vorhaben aus dem größeren Forschungszusammenhang „Strukturentwicklung in der beruflichen Bildung (SteBs)“. SteBs wiederum ist eingebettet in die BMBF-geförderte Qualitätsoffensive Lehrer*innenbildung. Ziel des Teilprojekts ist es, die Professionalisierung von Lehrkräften in der beruflichen Bildung im Umgang mit heterogenen Lernräumen zu stärken. Dazu wurden zunächst teilnehmende Beobachtungen in gewerblich-technischen Berufsschulen und Pflegeschulen, sowie leitfadengestützte Interviews mit Berufsschul- und Pflegelehrenden durchgeführt, um den Ist-Stand im Umgang mit Heterogenität an den Schulen zu erheben. Darauf aufbauend wurden und werden aktuell noch Lerneinheiten für die macht-reflexive Ausbildung von Studierenden im beruflichen Lehramt im Umgang mit Heterogenität entwickelt. Die Seminarkonzepte werden erprobt, evaluiert und angepasst, um final dann als Open Educational Ressource unter der Domain: www.berufsbildung-divers.de auch bundesweit Hochschulen zur Verfügung zu stehen. Das empirische Material, auf dem die folgenden Ausführungen aufbauen, stammt aus Portfolio- und Reflexionsbeiträgen, welche im Zusammenhang dieser Seminare zu Heterogenität von Studierenden des Lehramts „Berufliche Bildung mit gewerblich-technischem Schwerpunkt“ online erstellt wurden. Die insgesamt über 150 Einträge auf weit mehr als 520 Seiten Material entstanden in den Jahren 2020 bis 2022. Die Beiträge der Studierenden setzen sich zusammen aus Wiedergabe und Übertragung neu gelernter Wissensinhalte sowie aus daran angelegten Reflexionen eigener Erfahrungen vor dem Hintergrund dieses neuen Wissens. Darüber hinaus reflektieren die Studierende in einem unbenoteten, nicht für die Gruppe einsehbaren Aufgabenteil zum Ende des Semesters, ihre persönlichen Lernerfahrungen mit den Inhalten des Seminars. Wie genau das entstandene Material in unserem Forschungsprojekt aufbereitet und analysiert wird und auf welcher Grundlage unsere Analysen fußen, wird im Folgenden näher erläutert.
5 Methodisches Vorgehen und erste Erkenntnisse
Die Einträge und Protokolle werden angelehnt an die Grounded Theory-Methodologie nach Corbin und Strauss (2008) mit der Analysesoftware MAXQDA codiert. Vorweg sei zu erwähnen, dass wir uns noch im Prozess der Forschung befinden und an diesem Punkt noch keine gesättigte Theoriebildung aus unserem theoretischen Sampling abgeleitet werden kann, sondern wir erste vorsichtige Erkenntnisse nachzeichnen werden. Da in der Grounded-Theory-Methodologie nicht nur das Ergebnis, sondern der Forschungsprozess ebenfalls eine große Bedeutung hat, können auch an dieser Stelle im Prozess bereits Erkenntnisse abgeleitet werden.
Unser theoretisches Sampling (ebd.) setzt sich, wie bereits erwähnt, aus den Portfolio- und Reflexionsbeiträgen von Studierenden zusammen. Zu Beginn der Forschung war nicht klar, wie viele Seminardurchläufe wir analysieren werden. Im Analyseprozess entschieden wir, die Beiträge aller vier Semester zu nutzen, um eine breitere Analysebasis für die einzelnen Kategorien zu gewinnen.
In einem ersten Schritt wurde das Material induktiv in einem offenen Codierverfahren systematisiert und in Kategorien zusammengefasst. Den Vorgang des offenen Codierens haben wir mehrfach widerholt und weiteres Material hinzugenommen. Anschließend haben wir in Anlehnung an die oben vorgestellten 12 Lernziele von Steyn in einem zweiten Schritt das Material abermals codiert und die Informationen zusammengefasst. Hierbei sind deduktiv 12 Kategorien entstanden, welche durch 10 weitere induktiv gewonnen Kategorien ergänzt werden. Unterstützt wird das Vorgehen durch das Verfassen theoretischer Memos, in denen wir die Eigenschaften und Dimensionen der jeweiligen Kategorie sowie weiterführende Gedanken und Assoziationen festhalten. In diesem Prozess befinden wir uns derzeit noch. Durch die bewusste Mischung von deduktiven und induktiven Vorgehensweisen wollen wir verhindern, nicht nur vorformulierte Hypothesen am Material zu verifizieren, sondern wollen eine Offenheit bewahren, durch das Material überrascht zu werden und daran neue forschungsgeleitete Vermutungen abzuleiten, welche wiederum durch weiter Analysen bekräftigt oder verworfen werden können. Mit diesem Vorgehen folgen wir dem Paradigma eines Grounded-Theory-basierten Forschungsprozesses (vgl. Przyborski, Wohlrab-Sahr 2014) Schon an dieser Stelle der Analyse zeigt sich, dass die Frage, wodurch sich machtkritische Reflexionen als Teil von differenzsensibler Professionalisierung in der Lehramtsausbildung nachzeichnen lassen, weniger eindeutige Antworten verspricht. Lernprozesse sind in komplexe Zusammenhänge eingebettet. Im Folgenden wird beispielhaft anhand der beiden im Material herausgearbeiteten Kategorien ‚Involviertsein‘ und ‚Gutsein-Wollen‘ gezeigt, was wir mit der Komplexität von differenzsensiblen und machtkritischen Lernprozessen meinen und wie wir versuchen ihr zu begegnen. Für diesen Text haben wir bewusst die beiden Kategorien gewählt, die wir am Material erschlossen haben und nicht die Kategorien, die sich an den Lernzielen von Steyn orientieren, weil in den induktiv herausgearbeiteten Kategorien die Komplexität besonders sichtbar wird. Anschließend wird die Institution Universität in ihrer Beschaffenheit in diese Frage miteinbezogen und der Lernraum außerhalb universitärer Kontexte thematisiert.
6 Machtkritisches Lernen lehren?
6.1 Involviertsein
Aus der Fülle des Materials konzentrieren wir uns im Folgenden beispielhaft auf einige ausgewählte Zitate, in denen sich Studierende zu ihrer Lernerfahrung im Seminar ins Verhältnis setzen. Wir möchten dazu an dieser Stelle zunächst nochmal auf das eben bereits genannte Zitat näher eingehen.
[Es geht darum], uns selbst gegen diskriminierende und ausschließende Differenzierungen zu sensibilisieren und den Lernenden eine förderliche, von sozialen Gegebenheiten freie und für alle zugängliche Lernatmosphäre zu schaffen (HK, 4: 1890).
Der*die Studierende kann hier in der Reflexion die Seminarziele benennen, dass es um Fragen der Diskriminierung, der Ausschließung sowie um eine förderliche und für alle zugängliche Lernatmosphäre geht. Interessant ist auch, dass er*sie recht klar den Bezug zu sich selbst als zukünftige Lehrperson herstellt und formuliert, dass es darum geht, „uns selbst zu sensibilisieren“. Der*die Studierende scheint hier sehr klar ein Gefühl für seine*ihre Verantwortung und damit auch Handlungsmacht im Lernraum entwickelt zu haben und positioniert sich eindeutig. Gleichzeitig wird der Wunsch nach einer von „sozialen Gegebenheiten freie“ Lernatmosphäre formuliert. Trotz des grundsätzlichen Verständnisses für die eigene Verantwortung, scheint die Involviertheit aller gesellschaftlichen Verhältnisse in Machtstrukturen also noch nicht ganz nachvollzogen zu sein. Ein*e andere*r Studierende*r schreibt hingegen: „Um mögliche Ansatzpunkte für eine Veränderung identifizieren zu können, muss man sich kritisch damit auseinandersetzen, inwieweit man selber in die bestehenden Normalitätsannahmen involviert ist“ (LT, 2: 537). Auch hier ist die eigene Involviertheit, die im Seminar auch immer wieder thematisier wurde, ein Teil der Reflexion. Inwiefern jedoch gesellschaftliche Verhältnisse als Ganzes im Blick sind, lässt sich aus dem Material heraus nicht ableiten. Auch kann nicht gesichert herausgearbeitet werden, welche inneren Schritte auch über das ‚Benennen‘ von Involviertheit hinaus erfolgt sind. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass jene, die die Zusammenhänge zumindest schriftlich benennen können, auch auf anderen Ebenen zum Weiterdenken angeregt sind. So wird im weiteren Verlauf des Seminars die Berufsschule und der Lehrendenberuf als Ort reflektiert, der die Logik gewaltvoller Unterscheidungspraxen, etwa in Bezug auf Normalitätsverständnisse, (re)produziert, so dass Studierende ebenfalls darauf rekurrieren können und formulieren: „Auch die Schule ist durch hegemoniale Normalitätsannahmen aller Beteiligten noch geprägt und prägend zugleich, sie reproduziert und verstärkte diese, bewusst oder unbewusst“ (IK, 1: 1111).
6.2 Gutsein-Wollen
Wie in der Analyse des Materials deutlich geworden ist, können durch die schriftlichen Reflexionen kleine Einblicke in die Lernprozesse der Studierenden gewonnen werden, die jedoch auch dadurch verkürzt bleiben, dass die eingereichten Portfolios einer Benotung unterliegen, so dass die Studierenden schon dadurch geneigt sind, ‚sozial erwünschte‘ Reflexionen zu formulieren. Besonders interessant sind daher Formulierungen, die nicht lediglich dem allgemein Erwartbaren entsprechen. So formuliert eine*r Studierende*r:
Selbstverständlich fehlte mir aber in der Vergangenheit bei bestimmten Differenzlinien und Diskriminierungskategorien das gewisse Wissen, um mit der richtigen Sorgfalt und dem richtigen Verständnis auf diskriminierende Erfahrungen und Situationen reagieren und eingehen zu können. Dieses Wissen habe ich mir aber nicht angeeignet, um persönlich in solchen Situationen glänzen zu können, sondern um anderen Menschen ein besseres Gefühl zu geben und für diese Personen aus meiner Position heraus einzustehen, um gegen Diskriminierung ankämpfen zu können (ABK/HK, 12: 3333).
Es geht der schreibenden Person also nicht um sich selbst und darum ‚glänzen‘ zu können, sondern um ‚andere Menschen‘ und das Anliegen, für diese einzustehen. Tatsächlich taucht das ‚Gut-Sein’ und der damit einhergehende Wunsch, anderen helfen zu wollen, immer wieder in den verschiedensten Reflexionen als Motivation auf, sich überhaupt auf den Weg einer differenzsensiblen Professionalisierung begeben zu wollen. Der starke Wunsch, helfen zu wollen, könnte auch eine Folge dessen sein, dass im Seminar a) immer wieder auf die besonders privilegierte Ausgangssituation der Studierenden im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Gruppen hingewiesen wird und b) sie immer wieder als zukünftig pädagogisch verantwortliche Akteur*innen mit Handlungsmacht angerufen werden. Aus letzterem könnte sich auch der kämpferische Gestus des hier zitierten Eintrags erklären. Es geht nicht nur darum, für andere einzustehen und selbst gut zu sein, es geht darum, gegen Diskriminierung zu kämpfen.
Bemerkenswert ist auch das Anliegen des*der Studierenden, Wissen zu erwerben, um mit der ‚richtigen Sorgfalt‘ und dem ‚richtigen Verständnis‘ im Lernraum auf Diskriminierungen reagieren zu können. Dieser Wunsch nach Perfektion bleibt bestehen, obwohl im Seminar wiederholt durch die Lehrenden betont wird, dass es nicht um ‚richtiges‘ oder ‚falsches‘ Handeln, sondern vielmehr darum geht, innerhalb der gegebenen hegemonial strukturierten Verhältnisse durch das eigene Agieren ‚so wenig Schaden wie möglich‘ anzurichten. Welches Verhalten dabei das ‚jeweils richtige‘ ist oder sein kann, ist sehr kontextabhängig und zuweilen führt jede Entscheidung dazu, dass die ein oder andere Seite dennoch Benachteiligungen erfährt. Es ist zu vermuten, dass das Aushalten dessen, selbst nicht ‚perfekt‘ sein zu können, eine besondere Herausforderung gerade für den Lehrer*innenberuf darstellt. Wir wollen daher dieser Frage nach dem (teilweise überfordernden) Anspruch an sich selbst in einer Weiterentwicklung der Lerneinheiten mehr Raum geben, damit die Resignation darüber, nicht perfekt sein zu können, nicht im schlechtesten Fall dazu führt, dass das machtkritische Projekt aufgegeben wird.
6.3 Lernprozesse – Machtkritik oder Anpassung?
Durch das besondere Setting, zu Hegemoniekritik in einer hegemonialen Institution wie der Universität zu lehren und zu lernen, ergeben sich bestimmte Einschränkungen für den Verlauf des Lernens. Ein Raum, in dem das eigene Sprechen und Schreiben benotet wird, ist kein Raum, in dem es leicht ist, auch widerständige Perspektiven einzubringen. Bei Sichtung des Materials ist sehr auffällig, dass es kaum Kritik und In-Fragestellungen gibt. Obwohl die Studierenden mit dem Hinweis, dass sie sich in einem Lernraum befinden, explizit aufgefordert werden, auch kritische Fragen zu stellen und Unklarheiten zu benennen, geht der allgemeine Tenor der schriftlich formulierten Texte eher dahin, sich affirmativ auf das macht-kritische Anliegen zu beziehen und es besonders gut machen zu wollen. Nun könnte die Frage gestellt werden, ob das Erlernen von Machtkritik innerhalb von Universität eigentlich unmöglich ist und gleichzeitig auch darüber nachgedacht werden, ob Lernziele nicht auch dadurch erreicht werden können, dass Studierende sich tatsächlich mit dem demokratischen und kritisch-reflexiven Anliegen identifizieren und dieses zu ihrem eigenen machen. Was darauf hindeutet, dass durchaus Prozesse bei den Studierenden in Gang gesetzt werden, die das Setting des Seminars und die Prüfungsleistung übersteigen, ist, dass Studierende darauf hinweisen, dass sie sich auch über das Seminar hinaus mit den verschiedenen Differenzlinien beschäftigen, themenbezogene Podcasts hören, zusätzliches Wissen aus Medien erwerben und sich im Privatem für ein machtkritisches Anliegen engagieren. So werden Szenen angedeutet, in denen die Studierenden bei Diskussionen über die Seminarthemen im Freund*innen- und Familienkreis teils auf Widerstände stießen und ihre eigene Position verteidigen mussten. Dieses Ergebnis schließt auch an Erfahrungen von Ogette (2018) an, die Reflexionen von Studierenden aus einem ingenieurtechnischen Studiengang analysiert, welche an einem Seminar zu „Rassismus und Weißsein in Deutschland“ teilnehmen (Ogette 2018, 14). Ein Teil sieht in der weiten Übertragbarkeit der Themen über den Berufsschulkontext hinaus den Vorteil, auf mehreren Ebenen das neu gewonnene Wissen zu reflektieren und zu integrieren und eine*r der Studierenden konstatiert: „Jedoch hilft mir dieses Wissen [über Differenzlinien], diese Verwobenheit besser wahrzunehmen und letztendlich sowohl im privaten als auch im beruflichen Leben zu berücksichtigen“ (ABK/TE, 16: 2839). Oder auch konkreter an anderer Stelle: „Eine Trennung als Berufsschul-Lehrperson und Privatperson kann aber aus meiner Perspektive nicht vorgenommen werden“ (ABK/HK, 10: 1636).
Der Auseinandersetzungs- und damit auch der Professionalisierungsprozess ist dann sehr tiefgreifend und zeigt sich konkret auch im Alltag der Studierenden, wenn sie dem, was sie im Seminar erkannt haben, auch über das Seminar hinaus an verschiedensten Stellen begegnen:
Ich ertappe mich wie ich mein Verhalten hinterfrage, „Mache ich etwas anders?“ „Erkennt man, dass ich überlege, ob mein Verhalten in Ordnung ist?“ Seit Beginn des Seminars fallen mir diese Momente bewusst auf und für mich selbst ist dies schon ungewohnt. Insgesamt möchte ich dennoch für mich auch die Thematiken, die besprochen werden, annehmen und mich nicht nur oberflächlich damit beschäftigen. Verhaltensweisen oder gesellschaftliche antrainierte Gedankenverläufe abzulegen sind ein langer Weg und ich sehe definitiv die Chance hier, in diesem Semester, anzuknüpfen und auch meinen Blickwinkel zu verändern. (GB, 2: 2492)
Hier kann betont werden, dass natürlich nicht alle Studierenden in der eben gehörten Weise bereit waren, ihre persönlichen Reflexionsprozesse und Fragen zu teilen. Nicht jede Person ist in gleicher Weise an den Themen interessiert oder wählt leisere, „privatere“ Formate der Reflexion. Wir schließen nun mit einem Fazit, was die in der Analyse aufgeführten Aspekte nochmal kurz zusammenfasst.
7 Fazit
Nachdem wir nun zunächst in die theoretische Perspektive der Machtkritik eingeführt und darauf aufbauend Lernziele formuliert haben, haben wir in einem zweiten Schritt die schriftlichen Ausarbeitungen der im Projekt teilnehmenden Studierenden analysiert. Fokus der Analyse war, welche Lernprozesse durch eine Auseinandersetzung mit machtkritischen Lerninhalten ausgelöst werden können. Als Ergebnisse lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt vier Annäherungen festhalten: Erstens, dass die Auseinandersetzung mit Ungleichheitsverhältnissen bei vielen Studierenden im Lehramt zunächst einmal den Impuls auslöst, ‚gut‘ sein zu wollen und benachteiligte Schüler*innen vor Diskriminierung zu schützen. Während dies eine gute Grundlage dafür ist, pädagogische Verantwortung überhaupt übernehmen zu wollen, ist der zweite Aspekt, nämlich der Wunsch, alles immer ‚richtig’ zu machen, ambivalenter. Um hier nicht frühzeitig Resignation zu erfahren, ist es wichtig, dass Studierende sich auch mit der Unmöglichkeit auseinandersetzen, in hegemonialen Institutionen, immer alles für alle Beteiligten ‚richtig‘ zu machen. Sie sollten diese Unmöglichkeit aushalten lernen, ohne das Bemühen aufzugeben, möglichst wenig Diskriminierung und Benachteiligung zu reproduzieren. Die dritte Annäherung ist die notwendige Reflexion der Gesamtsituation, in der Lehr-Lernprozesse stattfinden. Welche Einschränkungen folgen beispielsweise aus hierarchischen und benoteten Settings für eine kritisch-reflexive Professionalisierung von Lehramtsstudierenden? Der vierte und letzte Aspekt der an dieser Stelle Erwähnung finden soll, die Berücksichtigung des Umstands, dass die Lernprozesse affektive Ebenen der Studierenden berühren, die weit über das eigentliche Seminar hinausgehen und sie auch in ihren privaten Zusammenhängen beeinflussen. Dies kann empowernd und stärkend sein, aber auch zu Konflikten mit bisherigen Freundeskreisen und der Familie führen. Diese durch das Seminar ausgelösten Konflikte sollten, wenn Studierende das wünschen, einen Raum auch im Seminar selbst haben, um sie mit den ‚Folgen‘ ihrer Auseinandersetzungen mit den Lerninhalten nicht ganz allein zu lassen. Die vier hier genannten Annäherungen umfassen bei weitem nicht alle ausgelösten Lernprozesse, die durch machtkritische Reflexionen angeregt werden, aber geben zumindest einen Einblick in jene Aspekte, die uns auf Grundlage unseres empirischen Materials als besonders bedeutsam erscheinen. Letztlich ist nicht nur machtkritisches Lernen multikomplex, sondern ebenso die Formen der Auseinandersetzung damit. Trotz aller damit einhergehenden Einschränkungen lohnt es sich jedoch, gerade zukünftige Pädagog*innen, die durch ihren Arbeitsort einen immensen Einfluss auf gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Diskurse haben, auf ihrem Weg in die Machtkritik zu begleiten, um sie für ein demokratisches Miteinander zu stärken. Wir gehen davon aus, dass die im Projekt aktuell entwickelte Open-Educational-Ressource-Plattform (www.berufsbildung-divers.de), die auch als E-Book zur Verfügung stehen wird, nach Abschluss des Projekts 2024 Impulse auch für andere Studiengänge der beruflichen Bildung und anschließende Forschung geben kann.
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[1] Teilprojekt im BMBF-Projekt: Strukturentwicklung in der Beruflichen Bildung, gefördert im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrer*innenbildung.
Zitieren des Beitrags
Heinemann, A. M. B./Reinsberg, M. (2022): Machtkritische Reflexionen und differenzsensible Professionalisierung im Lehramtsstudium der gewerblich-technischen Bildung. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 42, 1-17. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe42/heinemann_reinsberg_bwpat42.pdf (30.06.2022).