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bwp@ 42 - Juni 2022
Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung
Hrsg.:
, , &Regionale Disparitäten in der Berufsbildungsforschung: Deutungsmuster und Bewertungsansätze zwischen Vielfalt und Ungerechtigkeit
In diesem Beitrag stehen regionale Disparitäten des Berufsbildungssystems sowie Fragen ihrer Interpretation und Bewertung nach Gerechtigkeitsgesichtspunkten im Mittelpunkt. Hierzu werden einführend zentrale Begrifflichkeiten, Forschungsfragen sowie (empirische) Forschungszugänge einer raumbezogenen Berufsbildungsforschung dargelegt, um nachfolgend einzelne Teilbereiche der beruflichen Bildung einem raumbezogenen Vergleich zu unterziehen. So wird anhand einer Reihe von empirischen Phänomenen gezeigt, dass das deutsche Berufsbildungssystem in erheblichem Maße von raumbezogenen Disparitäten geprägt ist. Unterschiedliche Bildungsgerechtigkeitsverständnisse in den Blick nehmend, wird anschließend diskutiert, wie diese Befunde zu bewerten sind. Ziel dieses Beitrages ist es, sich der Vielschichtigkeit von Bildungs(un-)gerechtigkeit aus raumbezogener Perspektive anzunähern.
Regional Disparities in VET Research: Patterns of Interpretation and Approaches to Evaluation between Diversity and Inequity
This article focuses on regional disparities in the VET system and on the way such disparities are to be interpreted and evaluated from the perspective of educational equity. The paper clarifies central concepts, research questions and (empirical) research approaches in spatial VET research before moving on to consider regional differences in selected aspects of VET. Various phenomena are used to show that the German VET system is characterized to a considerable extent by spatial disparities. The article also discusses understandings of educational equity and their influence on the evaluation of regional disparities in an attempt to shed light on the complex phenomenon of educational (in)equity.
1 Einführung: Raumbezogene Disparitäten in der beruflichen Bildung und deren Relevanz bezüglich Bildungsgerechtigkeit
Im Zuge der Diskurse zur Bildungsexpansion in den 1960er Jahren ist in den Sozialwissenschaften ein Bewusstsein dafür gewachsen, dass neben sozialer bzw. familialer Herkunft, Religion und Geschlecht auch „Räumlichkeit“ als eine Kategorie von Ungleichheit sowie von Benachteiligung anzusehen ist. In der häufig rezipierten Formulierung des „katholischen Arbeitermädchens vom Lande“ (vgl. Peisert 1967, 99) wird der räumliche Bezug durch das Aufgreifen einer impliziten Dualität von Stadt und Land zum Ausdruck gebracht. Bis heute wird die Stadt-Land-Metapher vielfach herangezogen, um auf Unterschiede in einzelnen Teilräumen hinzuweisen. Dass raumbezogene Disparitäten jedoch weit vielfältiger sind, zeigen diverse Raum- und Regionalstudien: Bildungsinfrastrukturen,
-angebote und -nachfrage sind ungleich über geographische oder auch politisch-administrative Räume verteilt. Disparitäten lassen sich auf allen Maßstabsebenen – z. B. zwischen einzelnen Quartieren, Stadtteilen, Gemeinden, Städten und Kreisen sowie Bundesländern – nachvollziehen. Für den allgemeinbildenden Bildungsbereich weisen Studien beispielsweise nach, dass Entfernungen zur nächstgelegenen Regelschule zwischen einzelnen Bundesländern sowie Kreisen z.T. erheblich differieren (u.a. Neumeier 2018) sowie dass die Erreichbarkeit von weiterführenden Schulen (insb. Gymnasien) selbst in urbanen Räumen unterschiedlich ausfällt (u.a. Terpoorten 2014, 240). Belegt ist auch, dass Unterschiede im lokalen bzw. regionalen Bildungsangebot deutlichen Einfluss auf individuelle Bildungsweg-Entscheidungen nehmen sowie dass größere Effekte in sozial benachteiligten Milieus zu verzeichnen sind (zusammenfassend u.a. Sixt 2007, 4).
Die für den berufsbildenden Bereich bekanntesten Darstellungen regionaler Disparitäten sind die Angebots-Nachfrage-Relationen (ANR) bzw. deren erweiterte Fassung (eANR), die jährlich für die duale Berufsausbildung veröffentlicht werden. Darüber hinaus untersucht und belegt sind auch erhebliche Unterschiede in der Erreichbarkeit von Beruflichen Schulen (BBSR 2017, 77), das regional sehr unterschiedliche Angebot an vollzeitschulischen Berufsausbildungen (Seeber et al. 2019, 47ff.) sowie Zentrum-Peripherie- und Nord-Süd-Differenzen in Angebotsstrukturen der (beruflichen) Weiterbildung (vgl. Herbrechter/Loreit/Schemmann 2011). Ebenso untersucht sind regionale Unterschiede in der beruflichen Erstausbildung (Kalisch 2011) sowie angebots- und nachfragebasierte Disparitäten auf Seiten berufsbildender Schulen in Schleswig-Holstein (Hjelm-Madsen 2022).
Bemerkenswert ist, dass die persistente Existenz raumbezogener Disparitäten innerhalb der Communities von Bildungsgeographie, Regionalforschung und Bildungsplanung selbstverständlicher Diskursgegenstand ist, wohingegen sie innerhalb der Bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen (Schul-, Sozial-, Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Erwachsenenbildung usw.) kaum wahrgenommen bzw. diskutiert wird. Auch im Bereich der Berufsbildungsforschung haben sich „blinde Flecken“ gebildet. Zum einen mangelt es an differenzierten Betrachtungen zu empirischen Ausmaßen der Disparitäten; zum anderen fehlen Kriterien, um diese zu bewerten.
Vor diesem Hintergrund wird im vorliegenden Beitrag folgenden Fragestellungen nachgegangen:
- Welche Forschungszugänge sind umsetzbar, um regionale und raumbezogene Unterschiede von Berufsbildungsprozessen zu analysieren und welche methodologischen Herausforderungen sind hierbei zu beachten?
- Welche Disparitäten zeigen sich bei einer raumbezogenen Betrachtung des deutschen Berufsbildungssystems?
- Wie sind diese Disparitäten vor dem Hintergrund von Bildungs(un)gerechtigkeit zu interpretieren und zu bewerten?
Voraussetzung einer nachvollziehbaren (sekundär-)empirischen Auseinandersetzung mit regionalen und raumbezogenen Aspekten von Ungleichheit und (Un-)Gerechtigkeit ist die Operationalisierung zentraler Begrifflichkeiten sowie die Klärung des methodologischen Zugangs. Der nächste Abschnitt dient so einerseits der theoretischen Fundierung, andererseits der Verständigung über terminologische und semantische Fragen.
2 Raumsoziologischer Forschungszugang, zentrale Begriffe und methodologische Vorüberlegungen
In den Sozial- und Naturwissenschaften haben sich in den vergangenen Jahrhunderten unterschiedliche Raumbegriffe entwickelt. Unterscheiden lassen sich absolutistische, relativistische und relationale Raumverständnisse (für einen Überblick vgl. Schroer 2012, 35 ff.). Das vorherrschende Alltagsverständnis von Raum geht einher mit einer territorialen, absolutistischen Vorstellung: unter Raum wird ein erdräumlich-materieller Ausschnitt gedacht, der den Menschen umgibt und sich wie ein zu füllendes Gefäß mit starren Begrenzungen verhält (vgl. Stošić 2011, 227). Raum wird hier als eine Art „Behälter“ oder „Container“ verstanden, der unabhängig vom Handeln der Menschen existiert und in dem sich bestimmte Phänomene zeigen. Eine andere Konzeption liegt relativistischen Raumvorstellungen zugrunde. Dieser Auffassung nach entsteht Raum durch die Anordnung von Körpern und der (Lage-)Beziehungen zwischen ihnen. Im soziologischen Verständnis ist Raum das Ergebnis menschlicher Konstruktionsprozesse und Handlungen. Während die erst genannte Konzeptualisierung von (erdräumlichen) Strukturen ausgeht, zweitgenannte Position den Konstruktcharakter von Räumen fokussiert und strukturierende Elemente ausblendet, gelingt es Martina Löw mit ihrer relationalen Raumkonzeption beide Positionen zu verbinden (vgl. Löw 2001, 152 ff.). Sie arbeitet zwei Aspekte heraus: Erstens: Räumlichkeit wird sozial konstruiert. Bei den vermeintlich „in“ einzelnen Räumen vorgefundenen Gegebenheiten handelt es sich daher nicht etwa um „natürliche“ Vorkommnisse. Es handelt sich vielmehr um sozial hergestellte Verhältnisse (z. B. regionales Aus- und Weiterbildungsgeschehens), die sich an geographischen Orten nachvollziehen lassen bzw. dort platziert werden. Zweitens: Räume sind nicht mit Orten gleichzusetzen, sondern sie konstituieren sich als relationale Ordnungen von Lebewesen und (sozialen) Gütern. Da Räumlichkeit stets konstruiert wird und keine ontologische Eindeutigkeit besteht, ist sie stets im Kontext einer „Zuordnungsebene“ zu interpretieren. Die „Platzierung“ des sozialen Gutes Berufsbildung kann diesem Konzept folgend raumbezogen z. B. auf individueller, Quartiers-, Stadt-, Kreis- oder Landes- bzw. Nationalebene synthetisiert werden. Zu beachten ist, dass bei Konstitutionen von Räumlichkeit stets politische Gestaltungsbefugnisse, Herrschaftsverhältnisse sowie ungleiche Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten wirksam werden – Stošić spricht hier von „MachtRäumen“ (bezogen auf die Strukturebene von lokalen Bildungsräumen) und „RaumMächten“ (bezogen auf die davon wiederum zu unterscheidende Handlungsebene) (vgl. Stošić 2011, 281f.)
Die in diesem Beitrag dargelegten Analysen knüpfen an diesen raumsoziologischen Diskurs an. Die Ausführungen basieren überwiegend auf einem relationalen Raumverständnis. Aus methodologischer Sicht führt dies jedoch in eine paradoxe Situation: Empirische Betrachtungen von raumbezogenen Fragestellungen sind bislang aus forschungsökonomischen Gründen darauf angewiesen, sekundärempirische Daten zu nutzen, die durch verschiedene Institutionen (Statisches Bundesamt, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Bundesagentur für Arbeit, Kammern usw.) erhoben werden. Genutzt werden jedoch z.T. unterschiedliche räumliche Aggregatebenen, z.B. Stadtbezirke, Kreise, Städte, Bundesländer, Kammerbezirke oder andere Regionen-Zuschnitte. Die Daten werden somit jeweils spezifisch „synthetisiert“ und irreversibel an den jeweiligen Raumausschnitt gekoppelt. Das erweist sich zum einen insofern als problematisch, als dass die o.g. politisch-administrativen Raumzuschnitte in vielen Fällen nicht ausschlaggebend sind für die sozialen Prozesse, die für die Berufsbildungsforschung von besonderem Interesse sind (z. B. das raumabhängige Zusammenspiel von Bildungsangebot und -nachfrage). Relationale Betrachtungen werden dadurch zumindest erheblich erschwert und Forschungsdesigns auf dieser Basis laufen Gefahr, verdinglichend in „Containerraum-Vorstellungen“ zu verharren (vgl. Werlen 2005, Stošić 2011, Hjelm-Madsen 2022). Bislang ist es im (berufs-)bildungswissenschaftlichen Kontext noch nicht gelungen, alternative methodologische Forschungsansätze auch in empirische Studien umzusetzen.
Anliegen dieses Beitrages ist es, die Existenz regionaler Disparitäten greifbarer zu machen und diese im Anschluss im Kontext von Bildungs(un)gerechtigkeit zu diskutieren. Aus diesem Grund erachten wir es als legitim und sinnvoll, jene Daten zu nutzen, die vorhanden sind, auch wenn diese vorrangig im Sinne eines absolutistischen Raumverständnisses gelesen werden können. Auf die Begrenztheit dieses Vorgehens werden wir im Fazit und Ausblick zurückkommen und Anregungen für weitere Forschungsvorhaben und methodische Vorgehensweisen geben.
Wenn nachfolgend von raumbezogenen Disparitäten die Rede ist, so ist dies als wertneutrale Aussage zu verstehen, mit der zum Ausdruck gebracht wird, dass sozial hergestellte Verhältnisse in einzelnen Teilräumen unterschiedlich strukturiert sind. Treffend wie basal beschreiben es Belina/Miggelbrink (2010) mit den Worten: „Hier so. Dort anders!“
3 Räumliche Phänomene in der beruflichen Bildung
In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, welche raumbezogenen Disparitäten sich bei der Betrachtung des deutschen Berufsbildungssystems zeigen. In den Blick genommen werden hierbei exemplarisch folgende drei Teilbereiche:
(1) Disparitäten am Übergang Schule-Beruf,
(2) Disparitäten in der dualen Berufsausbildung und
(3) Disparitäten in der schulischen Berufsausbildung.
3.1 Vorgehensweise und Datengrundlage
Ausgewählt wurden die oben genannten Teilbereiche des Berufsbildungssystems vor allem deshalb, weil sich die Datenlage zu berufsbildungsrelevanten Indikatoren hier – aufgrund der nationalen Berufsbildungsberichterstattung sowie einzelner Regionalstudien – vergleichsweise gut darstellt, anders als beispielsweise für den Bereich der beruflichen Fort- und Weiterbildung.
Für die nachfolgenden Analysen und Betrachtungen wurden Datenbanken und Publikationen folgender Institutionen genutzt: Bundesinstitut für Bau-, Regional- und Stadtforschung (INKAR-Datenbank), Statistische Ämter des Bundes und der Länder, BIBB und Agentur für Arbeit. Ausgewählt wurden diejenigen Indikatoren, die für die Betrachtung von Einmündungs- und Übergangsprozesse sowie für weitere relationale Betrachtungen besonders relevant erschienen und für die ausreichend Daten vorlagen. Unterhalb der Ebene der Bundesländer erwies es sich für viele Indikatoren als schwierig, schlüssige Zusammenstellungen zu generieren, die über Vergleichszeiträume für das gesamte Bundesgebiet konsistent verfügbar sind. Dies liegt u.a. daran, dass die jeweiligen Institutionen ihre Daten raumbezogen unterschiedlich aggregieren: So bezieht die Bundesagentur für Arbeit ihre Daten auf „Agenturbezirke“; diese sind jedoch nicht ohne weiteres zu vergleichen mit Daten der Statistischen Ämter, die zumeist auf Gemeinde- oder Kreisebene erfasst werden oder mit Daten, die für einzelne Kammerbezirke vorliegen. Regionale Vergleiche werden dadurch erschwert. Kleinräumige Vergleichsbetrachtungen werden nahezu ausgeschlossen.
Die genutzten Daten der Statistischen Ämter zum regionalen Bildungsmonitoring wurden, um vergleichend nutzbar zu sein, zunächst über „Umschlüsselungen“ harmonisiert und dann – unter anderem – auf das Aggregat der „siedlungsstrukturellen Kreistypen“[1] umgerechnet, um so eine differenzierte Vergleichsbasis zwischen der Ebene der Bundesländer und den Kreisen über dichotome Stadt-Land-Vergleiche hinaus zu ermöglichen. Die Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten ist derzeit die differenzierteste bundesweit verfügbare Maßstabsebene, die für Indikatoren zur Berufsbildung herangezogen werden kann.
3.2 Disparitäten am Übergang Schule – Beruf
Im Vergleich der drei Sektoren verfügt der „Übergangssektor“ über den geringsten Grad an Institutionalisierung und normativen Regelungen. Dadurch entsteht ein höheres Potenzial regionaler Varianz. Jene „erste Schwelle“ gilt mit Blick auf die erfolgreiche Gestaltung von Erwerbsbiografien als besonders bedeutsam. Betrachtet man bundesweit das Geschehen an diesem Übergang, so zeigt sich folgendes Bild: Knapp 70 Prozent der Neueinmündungen in die drei Sektoren des Berufsbildungssystems führten im Berichtsjahr 2016 in eine Berufsausbildung: eine duale Ausbildung nahmen 48,1 Prozent aller Jugendlichen auf, 21 Prozent wählten eine schulische Ausbildung. Fast ein Drittel (30,2 Prozent) der erfassten Jugendlichen mündeten jedoch „lediglich“ in eine Übergangsmaßnahme (vgl. Tab. 1).
3.2.1 Übergänge in einzelne Berufsausbildungsbereiche – auf Landesebene
Aus einer subjektorientierten Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass Fähigkeiten und Bereitschaft zur Aufnahme einer Berufsausbildung oder die Notwendigkeit für vorgeschaltete Übergangsmaßahmen ebenso wie Ausbildungspräferenzen für eine duale bzw. für eine schulische Berufsausbildung in allen Ländern und Regionen Deutschlands ähnlich verteilt sind, da es unwahrscheinlich ist, dass Jugendliche in einzelnen Ländern grundsätzlich ausbildungs(un)reifer sind oder schulische Ausbildungsberufe grundsätzlich präferieren. Demzufolge müssten die Übergangsquoten in allen Ländern ähnlich aussehen.
Betrachtet man die Einmündungsquoten in die drei Teilsysteme so zeigen sich – entgegen dieser Erwartungshaltung – zwischen den Ländern enorme Unterschiede. Im Jahr 2016 divergierten die Neueinmündungen …
- im Übergangssektor zwischen 17,7 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern und 41,9 Prozent in Baden-Württemberg,
- im Schulberufssystem zwischen 13,1 Prozent in Bremen und 32,8 Prozent in Berlin sowie
- im dualen System zwischen 41,1 Prozent im Saarland und 60,1 Prozent in Hamburg
(vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, Tabelle E1-4web).
Tabelle 1: Neueinmündungen in die Teilbereiche des Berufsausbildungssystems nach Bundesländern und aggregierten Ländergruppen
ausgewählte Bundesländer / Ländergruppe |
Duales System |
Schulberufs- |
Übergangs- |
in % |
|||
Deutschland insgesamt |
48,1 |
21,7 |
30,2 |
Baden-Württemberg |
41,5 |
16,6 |
41,9 |
Bayern |
56,8 |
20,5 |
22,7 |
Mecklenburg-Vorpommern |
53,2 |
29,1 |
17,7 |
Schleswig-Holstein |
43,2 |
18,6 |
38,2 |
nach Ländergruppen |
|||
Flächenländer zusammen |
47,9 |
21,4 |
30,7 |
Stadtstaaten |
50,7 |
25,6 |
23,7 |
Flächenländer Ost |
48,3 |
30,6 |
21,1 |
Flächenländer West |
47,8 |
20,2 |
32,0 |
(Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, Tabelle E1-4web;
Berichtsjahr 2016; eigene Darstellung)
Auch im Vergleich von Ländern, die eine ähnliche geografische Lage sowie vergleichsweise ähnliche Wirtschafts- und Siedlungsstrukturen aufweisen – beispielsweise Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern und Baden-Württemberg – bestehen erhebliche Unterschiede (vgl. Tab. 1). Diese lassen sich nicht nur auf regional unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen und Wirtschaftsbereiche zurückführen, sondern verweisen darauf, dass die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Bildungssegmente berufsbildungspolitisch mehr oder weniger stark forcieren und auch unterschiedlich ausweisen (siehe z. B. Daten zum Berufsgrundbildungsjahr).
Disparitäten werden ebenso deutlich, wenn die länderspezifischen Daten aggregiert und beispielsweise „Stadtstaaten“ und „Flächenländer“ miteinander verglichen werden. Die Neueinmündungsquoten in das duale System sowie in das Schulberufssystem fallen in den „Stadtstaaten“ höher aus als in den „Flächenländern“. Demzufolge fällt die Quote der Jugendlichen, die in „Stadtstaaten“ in den Übergangssektor münden, geringer aus als die der Jugendlichen aus „Flächenländern“.
Werden die „Flächenländer“ noch einmal gesondert betrachtet, treten ebenfalls Unterschiede zu Tage: die ostdeutschen „Flächenländer“ weisen eine deutlich höhere Einmündungsquote in das Schulberufssystem, die westdeutschen „Flächenländer“ hingegen in den Übergangsbereich auf.
Diese Befunde lassen vermuten, dass Disparitäten weniger auf wirtschafts-strukturelle Bedingungen, sondern vielmehr auf berufsbildungspolitische Einflussnahme zurückzuführen sind. Dies bedeutet auch: Jugendliche mit vergleichbaren individuellen Berufsbildungsvoraussetzungen werden – mit einer hohen Wahrscheinlichkeit – in Abhängigkeit des Bundeslandes, in dem sie leben, unterschiedliche Berufsbildungswege gehen (müssen).
3.2.2 Teilnahmequoten nach Berufsbildungsbereichen in urbanen, kreisstädtischen und ländlichen Räumen
Unterschiede im Übergangsgeschehen zeigen sich ebenfalls, wenn man Räume nach ihrer Bevölkerungsdichte vergleichend in den Blick nimmt (siehe Tab. 2). Bedeutsam hierbei ist, dass eine universell-dichotome Stadt-Land-Unterscheidung als Deutungsmuster zu kurz greift und die Unterschiede wesentlich vielfältiger sind.
- In allen Kreistypen überwiegt die Teilnehmer*innenquote des dualen Systems deutlich die Quoten anderer Bildungssegmente. Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die Teilnahmequote jedoch in den dünn besiedelten ländlichen Kreisen am höchsten ist. Deutlich wird so, welche enorme Bedeutung dem dualen Ausbildungssystem – vor allem in diesen Siedlungsräumen – beigemessen werden muss.
- Bei einer Betrachtung des Schulberufssystems zeigt sich, dass die Teilnahmequote in den dünn besiedelten ländlichen Kreisen am geringsten ist. Sie steigt mit der Einwohnerdichte. Schulische Ausbildungsberufe werden offensichtlich vor allen in großstädtischen Räumen vermehrt angeboten und besucht.
- Die Teilnahmequoten im Übergangsbereich sind wiederum in den städtischen Kreisen am höchsten. Auffällig ist insbesondere die Diskrepanz zwischen der Teilnehmerquote von 11,7 Prozent in den Städten und der Teilnehmerquote von 18,7 Prozent in städtischen Kreisen – urbane(re) Umfelder sind also in sich ebenfalls keineswegs homogen im Hinblick auf Berufsbildungsstrukturen.
Tabelle 2: Teilnahmequoten in einzelnen Sektoren des Berufsausbildungssystems nach siedlungsstrukturellen Kreistypen (Schuljahr 2016/2017) in Prozent[2]
Siedlungsstruktureller Kreistyp |
duales System |
Schulberufs- |
Übergangs- |
kreisfreie Großstädte |
68,5 % |
19,9 % |
11,7 % |
städtische Kreise |
63,4% |
17,9 % |
18,7 % |
ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen |
67,7 % |
15,5 % |
16,8 % |
dünn besiedelte ländliche Kreise |
69,2 % |
14,7 % |
16,1 % |
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Werten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Deutschland, 2018 (bildungsmonitoring.de). (Kreise und kreisfreie Städte der Bundesländer Saarland, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen konnten aufgrund fehlender Werte zum Zeitpunkt der Datenerhebung nicht berücksichtigt werden.)
3.2.3 Einmündung in die duale Ausbildung – auf der Ebene der Bezirke der Agentur für Arbeit
Einem Aspekt des Übergangsgeschehens wird bereits seit Jahrzehnten besondere Aufmerksamkeit geschenkt: dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage von dualen Ausbildungsplätzen. Als Indikator hat sich – nicht ohne Kritik – die mittlerweile erweiterte Angebot-Nachfrage-Relation (eANR) etabliert. Diese gibt Auskunft darüber, wie viele Ausbildungsstellen auf 100 offiziell ausbildungsplatzsuchende Jugendliche innerhalb eines Bezirkes der Agentur für Arbeit gemeldet wurden. Hierbei werden alle Ausbildungsstellen aufsummiert, ungeachtet des Berufsfeldes bzw. Ausbildungsbereiches. In der jährlichen Berufsbildungsberichterstattung wird dieser „offizielle Ausbildungsmarktindikator“ für alle Agenturbezirke ausgewiesen. Unterschieden wird zwischen Bezirken, in denen …
- das Verhältnis von Angebot und Nachfrage „ausreichend“ ist. Es müssen hierbei mindestens 112,5 Ausbildungsstellen für 100 ausbildungssuchende Jugendliche vorhanden sein[3], denn nur bei einem (deutlichen) Überhang an Ausbildungsplätzen kann von tatsächlichen Berufswahloptionen für die Jugendlichen gesprochen werden.
- es zu wenig Ausbildungsstellen gibt; d.h., ausbildungsinteressierte Jugendliche nicht „versorgt“ werden können. Es wird dann von „Versorgungsproblemen“ in diesen Regionen gesprochen.
- es zu wenige ausbildungsinteressierte Jugendliche gibt, d.h., die von den Unternehmen ausgeschriebenen Ausbildungsstellen nicht besetzt werden können. Die Rede ist dann von Regionen mit „Besetzungsproblemen“.
- es für einige Ausbildungsberufe „Versorgungsprobleme“ und/oder „Besetzungsprobleme“ gibt, was mitunter auch zeitgleich an Orten zu beobachten sein kann. Diese Regionen weisen „Passungsprobleme“ in unterschiedlich auftretenden Konfigurationen auf (vgl. Seeber et al 2019, 78f.).
Aus dem Berufsbildungsbericht 2020 geht hervor, dass es kaum Bezirke gibt, die eine „ausreichende“ Angebots-Nachfrage-Relation aufweisen. Ersichtlich werden vielmehr die „erheblichen regionalen Unterschiede“ (BMBF 2020, 54), die insbesondere in kartografischen Darstellungen zum Ausdruck kommen (ebd. 55). Eckelt und Schauer (2019, 451) sprechen in Hinblick auf Ausbildungsangebot und -nachfrage daher von „persistenten regionalen Ungleichheiten“.
Aus der Perspektive der Jugendlichen führt dies dazu, dass es – in Abhängigkeit vom
(Wohn-)Ort – bei äquivalenter schulischer Qualifikation unterschiedlich wahrscheinlich ist, in eine duale Ausbildung einzumünden. Bedeutsam ist, dass sich Angebot und Nachfrage in den einzelnen Ausbildungsberufen raumbezogen deutlich unterscheiden: neben Berufen mit einem hohen Anteil an unbesetzten Ausbildungsstellen gibt es lokalspezifisch ebenso Berufe mit einem hohen Anteil an erfolglosen Ausbildungsplatznachfragenden (vgl. BMBF 2020, S. 54ff.). Fragen von Passung, Lage und Mismatch des Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage am Ausbildungsstellenmarkt sind aus diesen Gründen als lokalspezifische Phänomen zu betrachten, die an anderen Orten anders strukturiert sein können.
3.3 Disparitäten in der dualen beruflichen Erstausbildung
Industrie- und Wirtschaftszweige, Branchen und Unternehmensstandorte sind nicht gleichmäßig über den Raum verteilt. Vielmehr haben sich aufgrund naturräumlich-geographischer Lage, sozialer Entwicklungen oder politischer Ereignisse an einzelnen Standorten bzw. in einzelnen Regionen – z.T. über Jahrhunderte – unterschiedliche wirtschaftliche Schwerpunkte gebildet. Seit geraumer Zeit werden durch europäische, bundesweite oder auch landesspezifische Förderungen Impulse für Regionalentwicklung gesetzt, die u.a. dem gezielten Aufbau regionaler Wirtschafts- bzw. Technologie-Cluster dienen. Unterschiedliche wirtschaftliche Schwerpunkte in einzelnen Regionen sind offenbar nicht nur erwünscht, sondern geradezu intendiert. Als Stärke des deutschen Berufsbildungssystems (bzw. genauer der beruflichen Erstausbildung im Dualen System) gilt, dass es flexibel auf jene differierenden ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Bedarfe reagieren kann. Deutlich wird dies beispielsweise bei der Betrachtung der Verteilung der dualen Ausbildungsberufe über das Bundesgebiet.
3.3.1 Disparitäten des Dualen Systems auf der Länderebene
Das Duale System der Berufsbildung ist berufsspezifisch weit gefächert und hält über 320 nach BBiG und HwO anerkannte Ausbildungsberufe vor, die in sich jeweils z. T. nochmals über Spezialisierungs- bzw. Vertiefungsoptionen verfügen. An dieser Stelle sei auch auf Ausbildungsberufe hingewiesen, die dabei eine besondere regionalspezifische Prägung und Ausgestaltung erfahren (vgl. hierzu ausführlicher Kalisch 2011). Untersucht man, inwiefern jene Berufe – ohne Einbezug der dezidierten Fachrichtungsoptionen – bundesweit ausgebildet werden, ergibt sich bereits ein räumlich recht differenziertes Systemgeschehen. Analysiert wurden hierzu die Daten der „Datenbank Auszubildende“ des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) im Berichtsjahr 2017. Eingeflossen sind demnach die Meldungen der betrieblichen Ausbildungsplätze, der berufsschulische Ausbildungsstandort bleibt hier unberücksichtigt. Es ergibt sich, dass im Jahr 2017 nur ein gutes Drittel (123) aller Ausbildungsberufe in allen Ländern ausgebildet wurden (s. Tab. 3). 16 Ausbildungsberufe hingegen wurden nur in einem einzigen Land ausgebildet. Häufig weisen die Berufe, die nur in einzelnen Ländern ausgebildet werden, auch niedrige Auszubildendenzahlen auf.
Die Berufe, die nur an wenigen Standorten und nur mit einer kleinen Anzahl an Auszubildenden ausgebildet werden, stehen in der Kritik, die „Berufe-Landschaft“ unübersichtlich zu machen. In der Kritik wird jedoch nicht unterschieden zwischen „kleinen Berufen“, die aufgrund eines zu engen ‚Berufe-Schnitts’ entstanden sind oder jenen, die auf eine enge Verflechtung mit regionalen, standortspezifischen Wirtschaftsstrukturen hindeuten und das regionale Berufsspektrum erweitern.
Tabelle 3: Übersicht über Zahl der dualen Ausbildungsberufe, die in einem oder mehreren Bundesländern ausgebildet wurden sowie über die Anzahl der Auszubildenden in den jeweiligen Berufen
Untersuchungsaspekt |
… in einem Bundesland ausgebildet werden |
… 2-9 Bundesländern ausgebildet werden |
… in 10-15 Bundesländern ausgebildet werden |
… in allen 16 Bundesländern ausgebildet werden |
Anzahl der Ausbildungsberufe, die … |
16 |
79 |
100 |
123 |
prozentualer Anteil der Ausbildungsberufe, die … |
5,0 % |
24,8 % |
31,5 % |
38,7 % |
Anzahl der Auszubildenden, die ihre Ausbildung in einem Beruf absolvieren, der … |
105 |
13.125 |
83.004 |
1.205.580 |
prozentualer Anteil der Auszubildenden, die ihre Ausbildung in einem Beruf absolvieren, der … |
0,01 % |
1,0 % |
6,4 % |
92,6 % |
Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Daten aus der „Datenbank Auszubildende“ des Bundesinstituts für Berufsbildung auf Basis der Daten der Berufsbildungsstatistik der statistischen Ämter des Bundes und der Länder. Berichtsjahr 2017. In die Analyse sind die Daten von 321 dualen Ausbildungsberufen nach BBiG/HwO eingeflossen, wobei drei Ausbildungsberufe im Berichtsjahr in keinem Bundesland ausgebildet wurden.
3.3.2 Disparitäten des Dualen Systems auf der Aggregatebene siedlungsstruktureller Kreistypen
Unterschiede in der beruflichen Erstausbildung zeigen sich ebenfalls, wenn man Räume wiederum nach unterschiedlicher Bevölkerungsdichte in den Blick nimmt (siehe Tab. 4):
- Industrie- und Handelsberufe, Berufe des Öffentliches Dienstes sowie Freie Berufe werden vor allem in den Großstädten ausgebildet.
- Handwerks- und Landwirtschaftsberufe hingegen werden am häufigsten in den dünn besiedelten ländlichen Kreisen ausgebildet.
Tabelle 4: Ausbildungsbereichsquoten des Dualen Systems nach siedlungsstrukturellen Kreistypen (2015) in Prozent
Siedlungsstruktureller Kreistyp |
Industrie/ |
Handwerk |
Land- |
Öffentlicher |
Freie |
Haus |
Kreisfreie Großstädte |
63,7% |
20,8 % |
1,2 % |
3,7 % |
10,0 % |
0,4 % |
städtische Kreise |
58,1 % |
28,6 % |
2,6 % |
2,3 % |
7,9 % |
0,5 % |
ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen |
56,8 % |
30,8 % |
3,3 % |
2,3 % |
6,4 % |
0,5 % |
dünn besiedelte ländliche Kreise |
54,4 % |
32,0 % |
4,1 % |
2,4 % |
6,5 % |
0,6 % |
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Werten der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Deutschland, 2018 (bildungsmonitoring.de) (Kreise und kreisfreie Städte der Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und dem Saarland konnten aufgrund fehlender Werte zum Zeitpunkt der Datenerhebung nicht berücksichtigt werden.)
Die Verteilung verweist ebenso auf die enge Verflechtung von Wirtschaftsstrukturen und Ausbildungsangebot. Sie veranschaulicht jedoch auch, dass Jugendliche – sofern sie spezifische Ausbildungs-/Berufswünsche haben – mobil sein müssen, um diese Wünsche realisieren zu können.
3.4 Disparitäten in der vollschulischen Berufsausbildung
Die vollschulische Berufsausbildung umfasst ein heterogenes Feld unterschiedlich geregelter Bildungsgänge: (a) Bildungsgänge an Berufsfachschulen nach Berufsbildungsgesetz (BBiG) bzw. Handwerksordnung (HwO), (b) Bildungsgänge an Berufsfachschulen nach Landesrecht, (c) doppelqualifizierende Bildungsgänge mit Erwerb einer Hochschulzugangsberechtigung nach Landesrecht sowie (d) Bildungsgänge des Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesens nach Bundes- oder Landesrecht. Die Mehrheit der schulischen Berufsausbildungen unterliegt der Kulturhoheit der Länder und ist entsprechend landesrechtlich geregelt (vgl. BIBB 2020: 86, 175).
Bundesweit betrachtet haben im Jahr 2019 rund 223.000 junge Menschen eine vollzeitschulische Berufsausbildung begonnen (ebd.176).[4] Die schulischen Ausbildungen im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen stellten mit rund 186.000 Anfängerinnen und Anfängern den am stärksten besetzten Bereich dar (ebd.). Wenig überraschend ist, dass in diesem Bereich der Anteil der Frauen besonders hoch ist (rd. 76 Prozent) (ebd. 178).
In den letzten 15 Jahren haben sich die Einmündungsquoten in die einzelnen Bereiche der schulischen Berufsausbildungen verändert. Auffällig sind wiederum deutliche regionale Unterschiede. Die ostdeutschen Länder weisen einen sehr starken Zugang bei den Einmündungen in die Ausbildungen im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen auf (von 59,7 % im Jahr 2005 auf 91,1 % im Jahr 2019). Der Anstieg fiel in den westdeutschen Ländern geringer aus (von 68,6 % im Jahr 2005 auf 81,5 % im Jahr 2019). Parallel hierzu sanken in den ostdeutschen Ländern die Einmündungsquoten in die schulischen Bildungsgänge nach BBiG/HwO sowie Landesrecht, während sie in den westdeutschen Ländern weitgehend stabil blieben bzw. nur mäßig sanken (ebd. 180).
4 Diskursive Spiegelung disparater Berufsbildungsbedingungen an gerechtigkeitstheoretischen Ansätzen
In den vorangegangenen Abschnitten wurden der Übergang Schule-Beruf, die duale Berufsausbildung und die schulische Berufsausbildung in den Blick genommen und untersucht, inwiefern sich in einzelnen Teilräumen die Einmündungsquoten und das Berufsbildungsangebot sowie deren Nachfrage unterscheiden. Es zeigten sich z.T. erhebliche Unterschiede – und zwar auf allen untersuchten Raumebenen. Mit anderen Worten: raumbezogene Disparitäten scheinen ein immanenter Bestandteil des (Berufs)Bildungssystems zu sein. Hierbei können allerdings weder dichotome Stadt-Land-Muster noch andere Strukturierungen durchgängigen Deutungsgehalt erzielen, was aufgrund der methodologischen Überlegungen allerdings auch nicht zu erwarten war. Es ist also nicht das „Städtische“, „Ländliche“ oder „Östliche“ „an sich“ mit dem sich Zusammenhänge konstitutiv rekonstruieren lassen und aus dem heraus Disparitäten zu erklären sind. Mit Werlen gesprochen ist daher nach alternativen Erklärungsmustern zu suchen, denn „weil die räumlich beobachtbare Äußerungsform des Sozialen nicht der Grund oder gar die Ursache eines gesellschaftlichen Prozesses sein kann, darf sie auch nicht zum zentralen Element einer sozialen Erklärung gemacht werden.“ (vgl. Werlen 2005 18). Für den vorliegenden Beitrag stellt sich jedoch vorrangig die Frage, ob sich dieses „Hier so. Dort anders!“ als problematisch in Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit erweist.
Während sich im Kontext des allgemeinbildenden Schulsystems – nicht zuletzt angetrieben durch Large-Scale-Assessments wie PISA, IGLU und TIMMS – eine gewisse Regelmäßigkeit der Auseinandersetzung mit Fragen von Bildungs- und Chancengerechtigkeit etabliert hat, ist dergleichen bislang für die Berufsbildung nicht zu beobachten. Deshalb ist zunächst zu klären, was unter Bildungsgerechtigkeit verstanden werden kann und welche Dimensionen, Kriterien und Maßstäbe daraus erwachsen. Nachfolgend werden drei Gerechtigkeitsansätze, die im bildungswissenschaftlichen Diskurs besondere Aufmerksamkeit erfahren, kurz skizziert, um dann auf disparate Berufsbildungsaspekte projiziert zu werden. Dabei handelt es sich um Bildungsgerechtigkeit im Sinne von:
- Verteilungs- und Chancengerechtigkeit,
- Anerkennungsgerechtigkeit und
- Befähigungsgerechtigkeit.
An dieser Stelle kann keine ausführliche Darstellung der Ansätze erfolgen (siehe hierzu die jeweiligen Vertreter*innen bzw. vergleichend u.a. te Poel 2019, 38 ff.). Anhand der – zugegebenermaßen verkürzten – Darstellung soll aufgezeigt werden, dass Gerechtigkeitsurteile auf der Basis normativ-theoretischer Grundlagen keineswegs eindimensional erfolgen können, sondern dass unterschiedliche Bewertungsdimensionen und -kategorien herangezogen werden müssen, um zu beurteilen, was – vor dem jeweiligen Hintergrund – als (un)gerecht anzusehen ist. Die Befunde aus Abschnitt 3 dienen nachfolgend als Reflexionsfolie für unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte.
- (a) Bildungsgerechtigkeit im Sinne von „Verteilungs- und Chancengerechtigkeit“
Bekannte Vertreter dieses Gerechtigkeitsverständnisses sind John Rawls (vgl. Rawls 1975) und Ronald Dworkin (vgl. Dworkin 2000). Im Mittelpunkt steht die zentrale Grundannahme, dass ein Bildungssystem dann gerecht ist, wenn begrenzt verfügbare Güter und Ressourcen (z.B. Bildungsangebote) gerecht verteilt werden bzw. der Zugang zu diesen Gütern für alle gleich möglich ist. Allerdings besteht keine Einigung bzgl. geeigneter Verteilungs- (z. B. Zufall oder Leistung) oder Zustandskriterien (z. B. Gleichheit oder Bedürftigkeit). Ungleichheiten aufgrund von persönlichen Entscheidungen werden innerhalb der Ansätze als gerecht angesehen, jene, die nicht selbst zu verantworten sind hingegen als ungerecht. Da sich (subjektive) Bildung – anders als beispielsweise Geld – nicht verteilen lässt, wird Bildungsgerechtigkeit primär als Chancengleichheit ausgelegt (vgl. Giesinger 2007). Bildungsgerechtigkeit ist danach erreicht, wenn alle Menschen gleiche Chancen auf Bildungserfolg bzw. gesellschaftlichen Aufstieg haben. Erreicht werden kann dies, in dem u.a. benachteiligte Menschen Kompensationsleistungen erhalten (Stichwort: Benachteiligungsausgleich) (vgl. u.a. Sauerwein/Vieluf 2021, 104).
Ein solches Gerechtigkeitsverständnis liegt u.a. dem – im Grundgesetz (Art. 72 Abs. 2 GG) und dem Raumordnungsgesetz – verankerten Anspruch der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse zugrunde. Dieser ist handlungsleitend für Raum- und Regionalplanung, wenn es um die Absicherung der öffentlichen Daseinsfürsorge geht (vgl. Herbrechter 2011). Auch die international und national viel beachteten Bildungsstudien (PISA, IGLU etc.) fußen mit ihrem kompetenzbasierten Leistungsbezug auf diesem Gerechtigkeitsverständnis (vgl. te Poel 2019, 21f./Stojanov 2011, 113f./Heinrich 2010, 125f.). Der „PISA-Schock“ offenbarte, dass in Deutschland ein engerer Zusammenhang zwischen der Leistungsfähigkeit von Lernenden und ihrer sozialen Herkunft existiert als in vielen anderen Staaten. Dies wurde und wird gemeinhin als ungerecht aufgefasst.
Für die berufliche Bildung existieren so umfangreiche Studien zur Chancengerechtigkeit nicht. Auch ist hier bislang noch weitgehend ungeklärt, ob – angesichts der sehr disparaten Berufsbildungslandschaft – noch von gleichwertigen Lebensbedingungen gesprochen werden kann bzw. in welchem Maße dem Auftrag der öffentlichen Daseinsfürsorge (noch) nachgekommen wird. Nachfolgend werden mit Blick auf die im Abschnitt 3 dargelegten Befunde Impulse für diesen noch ausstehenden Diskurs gegeben:
Mit Blick auf die raumbezogenen Disparitäten in der beruflichen Erstausbildung lässt sich feststellen, dass einzelne Ausbildungsberufe nur in bestimmten Regionen Deutschlands erlernbar sind (vgl. Abschnitte 3.3.1 und 3.4). Die Frage, welchen (dualen bzw. schulischen) Beruf man erlernen kann, ist damit (auch) eine Frage des Wohnortes. Dieser Umstand lässt sich – v.a. aus der Perspektive von Jugendlichen, die sich im Berufswahlprozess befinden und die nicht frei über ihren Wohnort entscheiden bzw. die aufgrund ökonomischer Rahmenbedingungen nicht umziehen bzw. pendeln können – als berufsbezogene Verteilungsungerechtigkeit bezeichnen. Angesichts der Studien, die aufzeigen, wie klein der Aktivitätsradius von Ausbildungsplatzsuchenden ist – über drei Viertel realisieren ihre Berufsausbildungssuche in einem Radius von unter 20km um den Wohnort (vgl. Beicht/Eberhard 2009, 85) – wird deutlich, wie groß die Interdependenz von Wohnort und Berufswahloptionen ist.
Für eine differenziertere Bewertung müsste genauer untersucht werden, in welchen Teilräumen der Zugang zu einer beruflichen Erstausbildung unzumutbar erschwert wird. Zumindest in den Regionen (Nord- und Ostdeutschlands), in denen aus bildungsökonomischen Begründungen heraus seit etlichen Jahren eine Strategie der „Konzentration der Schulstandorte“ verfolgt wird, die mit einer Schließung und Zusammenlegung von berufsbildenden Schulen einhergeht (vgl. u.a. Haase 2015), darf jedoch angezweifelt werden, dass die Verhältnisse aus der Perspektive der Verteilungsgerechtigkeit noch als unkritisch angesehen werden können.
Die Tatsache, dass Unternehmen als „ortsbezogene Gatekeeper“ über berufliche Teilhabechancen (Ausbildungsplatzzusage) Einzelner entscheiden, verstärkt die beschriebenen Tendenzen, denn die Verteilungs- bzw. Vergabekriterien sind keineswegs klar bzw. gerecht: Angesichts der hohen branchen-, betriebs- und konjunkturbezogenen Schwankungen im Ausbildungsplatzangebot, kann angezweifelt werden kann, dass die Leistungsfähigkeit der Bewerbenden das ausschlaggebende Kriterium ist. In dem hier betrachteten Verständnis, müsste dies jedoch konsistent der Fall sein, um von „gerechter“ Ungleichheit sprechen zu können. Spannend an dieser theoretisch hergeleiteten Einschätzung ist, dass diese Ansicht im öffentlichen Diskurs nicht geteilt wird. Regionale Disparitäten des Berufsbildungssystems werden auf die erwünschte enge Kopplung von Wirtschaft- und Berufsbildungssystem zurückgeführt und primär als Kennzeichen von Vielfalt, Stärke und Flexibilität wahrgenommen.
Auch die regional unterschiedlichen Einmündungsquoten in die drei Sektoren des Berufsbildungssystems (vgl. Abschnitt 3.2), die auf bildungspolitische Steuerungsmechanismen zurückzuführen sind, machen es schwer, von verteilungsgerechten Bedingungen und Chancengleichheit auszugehen. Der normative Anspruch auf „gleichwertige Lebensverhältnisse“ wird –- angesichts der unterschiedlichen Bildungskarrieren, die mit einzelnen Bildungsgängen (nicht) möglich sind (Stichwort: „Sackgassencharakter des Übergangssystems“) – nicht eingelöst.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Im gegenwärtigen Diskurs um Bildungsgerechtigkeit ist der normative Bezug auf Verteilungs- und Chancengerechtigkeit als diskursdominierend zu bezeichnen. Auch für die Beurteilung der regionalen Disparitäten in der beruflichen Bildung erweist sich dieses Verständnis als anschlussfähig, um beispielsweise Teilhabechancen genauer zu betrachten und Benachteiligungsrisiken ausfindig zu machen. Es hat sich gezeigt, dass sich der Wohnort negativ auf Teilhabechancen auswirken kann. Als Schlussfolgerung ließe sich hier über geeignete Formen des Nachteilsausgleiches (Stichwort: Erstattung von Fahrt- und Unterbringungskosten) nachdenken. Zu identifizieren wären darüber hinaus jedoch auch noch andere mögliche Verteilungs- und Zustandskriterien.
Eine Ausrichtung an Aspekten der Verteilungs- und Chancengerechtigkeit ist allerdings nicht ausreichend, denn diese führt dazu, dass vor allem Input- und Output-Faktoren des (Berufs)Bildungssystems in den Blick genommen, Prozessqualitäten hingegen nicht betrachtet werden. Nachfolgend werden daher weitere Betrachtungsmöglichkeiten von Bildungsgerechtigkeit kurz skizziert und auf ihre Relevanz für die Berufsbildung geprüft.
- (b) Bildungsgerechtigkeit im Sinne von „Anerkennungsgerechtigkeit“
Dieses Verständnis baut auf der Anerkennungstheorie von Axel Honneth (vgl. Honneth 1992) auf. Sie wurde vor allem von Stojanov für Bildungsfragen fruchtbar gemacht (vgl. Stojanov 2011). Ein Bildungssystem ist jener Konzeptualisierung nach dann gerecht, wenn Anerkennungsformen wie Empathie, Respekt, Wertschätzung institutionalisiert und handlungsleitend für die pädagogische Praxis sind (vgl. Maritzen/Tränkmann 2015, 239). Das bedeutet, dass Lernende – unabhängig ihrer Herkunft, ihrer Fähigkeiten, Interessen, Begabungen usw. – uneingeschränkte Anerkennung und Wertschätzung ihrer Person erfahren sowie eingebettet in förderliche Sozialbeziehungen ihre Autonomie entfalten können (vgl. te Poel 2019, 69). Eine zentrale Prämisse dieses Ansatzes ist, dass sich die Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von der Qualität ihrer zwischenmenschlichen Erfahrungen entwickelt und dass Individuen – durch optimale zwischenmenschliche Beziehungen – über sich (ihre Herkunft und momentane Leistungsfähigkeit) hinauswachsen können (ebd., 70).
Dieses Gerechtigkeitsverständnis findet im öffentlichen Diskurs um Bildungsgerechtigkeit weit weniger Beachtung als die Teilhabe- und Chancengerechtigkeit. Die hohe Bedeutung von Beziehungsqualitäten in schulischen und außerschulischen Kontexten (auch in Hinblick auf Bildungserfolg), wird jedoch zunehmend thematisiert (vgl. u.a. Prengel 2019, Herrmann 2019). Insbesondere im Kontext von Fragen zur Realisierung von Inklusion kann sich die Position, Bildungsgerechtigkeit an der Qualität sozialer Beziehungen festzumachen, als vielversprechend erweisen.
Mit Blick auf raumbezogene Phänomene des Berufsbildungssystems muss jedoch festgestellt werden, dass die bislang durch die öffentliche Hand erhobenen und im dritten Abschnitt dargestellten Daten bezüglich der Anerkennungsgerechtigkeit keine Auskunft geben. Um Beziehungsqualitäten sowie Möglichkeiten der Autonomie-Entfaltung in Berufsbildungsinstitutionen in verschiedenen Teilräumen nachvollziehen zu können, müsste zunächst geklärt werden, welche Parameter hierfür genauer untersucht und in welcher Form sie erhoben werden sollen. Dem vorausgehend müsste zudem der Autonomiebegriff sinnhaft auf Kontexte beruflicher Bildung gewendet werden. In Summe würde eine neue Form des Bildungsmonitorings benötigt. Darüber hinaus bietet dieses Gerechtigkeitsverständnis interessante Anknüpfungspunkte zu Fragen der Ausbildungsqualität sowie der Sicherung des Fachkräftebedarfes an.
- (c) Bildungsgerechtigkeit im Sinne von „Befähigungsgerechtigkeit“
Dieses Verständnis fußt auf den Arbeiten von Martha C. Nussbaum (vgl. Nussbaum 1998) und Amartya Sen (vgl. Sen 2010), die den so genannten „Capability Approach“ entwickelt haben (vgl. zusammenfassend te Poel 2019, 64). Im deutschsprachigen Raum wird dieser Ansatz vor allem durch den Bildungsphilosophen Johannes Giesinger vertreten (vgl. Giesinger 2007).
Ein Bildungssystem ist im Rahmen des Konzeptes dann gerecht, wenn alle Menschen die Möglichkeit haben, ein bestimmtes Set an Capabilities auszubilden, das hinreichende Bedingung ist, um ein würdevolles, menschliches Leben führen zu können. Nussbaum hat zehn universell gültige Capabilities identifiziert. Bildungsgerechtigkeit ist demnach erreicht, wenn das Erreichen eines Mindestmaßes dieser Fähigkeiten sichergestellt wird. Diejenigen Personen, die diese Ziele aufgrund eingeschränkter Ressourcen nicht erreichen, erhalten Unterstützung. Dieses Gerechtigkeitsverständnis spiegelt sich u.a. in der Erhebung des Human Development Indexes wieder (vgl. Sauerwein/Vieluf 2021, 107).
Inwiefern „Befähigungsgerechtigkeit“ am Übergang Schule-Beruf sowie in der schulischen und dualen Berufsausbildung erreicht wird, kann mit den im Abschnitt 3 dargelegten Daten und Befunden nicht beurteilt werden. Auch hierfür wäre ein eigenes Bildungsmonitoring aufzubauen, für das zunächst geklärt werden müsste, welche Capabilities betrachtet werden sollen (vgl. Sauerwein/Vieluf 2021) und wie diese in Berufsbildungskontext zu operationalisieren sind. Dieser Ansatz erscheint für die Berufliche Bildung insofern als vielversprechend, als dass mit stärker praxis- und handlungsbezogenen Konzepten gearbeitet werden kann und somit eine eigenständige Rahmung erreicht werden könnte, die bestehende Potenziale zur Verwirklichung eines guten Lebens auch im Vergleich zu Angeboten der höheren Allgemeinbildung eröffnet.
5 Fazit
In diesem Beitrag wurden raumwissenschaftliche und berufsbildungsphilosophische Fragestellungen mit einander verknüpft. Dabei wurde das Anliegen verfolgt, die Existenz regionaler Disparitäten am Übergang Schule-Beruf sowie in der Berufsausbildung sichtbar zu machen und zu diskutieren, inwiefern diese wahrgenommenen Unterschiede als kritisch in Hinblick auf die Realisierung von Bildungsgerechtigkeit angesehen werden müssen.
Mit Blick auf die Daten der (amtlichen) Berufsbildungsstatistik, die für eigene Berechnungen herangezogen wurden, wurden forschungsmethodologische Herausforderungen aufgezeigt: zum einen werden durch das gegenwärtige Berufsbildungsmonitoring nur wenige Indikatoren auf allen Aggregatebenen für das gesamte Bundesgebiet erhoben, zum anderen findet hier das im Fachdiskurs inzwischen etablierte Verständnis vom relationalen Raum noch keine Berücksichtigung. Unabhängig von diesen Einschränkungen konnte herausgearbeitet werden, dass das Berufsbildungssystem z.T. erhebliche regionale Disparitäten im Sinne von „Hier so, dort anders.“ aufweist.
In einem weiteren Schritt wurden drei verschiedene Ansätze zur Interpretation von Bildungsgerechtigkeit skizziert. Auch in diesem Kontext wurde deutlich, dass das bisherige Berufsbildungsmonitoring Grenzen aufweist: vorhanden sind primär Indikatoren, die eine Analyse gemäß „Verteilungs- und Chancengerechtigkeit“ ermöglichen; Indikatoren hingegen, die für eine Beurteilung nach „Anerkennungsgerechtigkeit oder „Befähigungsgerechtigkeit“ relevant wären, fehlen bislang.
Diese Ausführungen machen deutlich, dass es bei der hier behandelten Thematik noch etliche Forschungs- und Diskursbedarfe bestehen, die zumindest kurz benannt seien:
- Es erscheint sinnvoll, für die Berufliche Bildung in einen Diskurs über ein Bildungsgerechtigkeitsverständnis zu kommen, das unterschiedliche Gerechtigkeitsperspektiven (Verteilungs-, Anerkennungs- und Befähigungsgerechtigkeit) miteinander verknüpft. Hierfür wäre es erforderlich, die o.g. aufgeführten Ansätze weiter auszudifferenzieren und nach Möglichkeiten ihrer empirischen Erfassung zu suchen.
- Offensichtlich ist es so, dass v.a. die ‚klassische‘, absolutistisch konnotierte Raum- und Regionalforschung zu Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeitsanalysen führt. Inwiefern es sinnvoll ist, die anderen Gerechtigkeitsperspektiven auch unter einer raumbezogenen Perspektive zu beleuchten, müsste genauer geprüft werden.
- Angeraten erscheint es zudem, das gegenwärtige Bildungsmonitoring in seinen Raumbezügen zu überdenken. Sowohl dessen implizite Ausrichtung auf Verteilungsgerechtigkeit als auch die bislang unzureichende Berücksichtigung relationaler Raumkonzepte verweisen auf Handlungsbedarfe. Die Berufsbildungsforschung müsste hierzu zunächst einen theoretischen Bezugsrahmen bereitstellen.
- Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich fragen, ob das Ziel Bildungsgerechtigkeit herzustellen nicht stärker präventiv als Planungs- und Konzeptionsgrundlage für Berufsbildungsinstitutionen und -prozesse fruchtbar zu machen sei. Anders als bisher würde Gerechtigkeit dann als integral zu verwirklichender Bestandteil des Bildungssystems erachtet, und nicht als etwas, dass gesellschaftlich, wissenschaftlich und politisch vor allem dann diskutiert wird, wenn ein empirischer Nachweis von Ungerechtigkeit erbracht wurde. Einer Verschränkung der vorgestellten Gerechtigkeitskonzeptionen würde aus dieser Perspektive nichts entgegenstehen.
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[1] Die aufgeführten Kreistypen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bevölkerungsdichte sowie ihrem „städtischen“ Bevölkerungsanteil. Eine dezidierte Erläuterung des Indikators findet sich beim BBSR, z.B. unter https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/forschung/raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/kreise/siedlungsstrukturelle-kreistypen/kreistypen.html.
[2] Während in den (Berufs-)Bildungsberichten jeweils die Neuzugänge in die einzelnen Teilbereiche untersucht werden, können nachfolgend ausschließlich Relationen der Gesamtzahlen von Personen in den Teilsystemen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Unstrittig ist, dass die Daten der Neuzugänge einen stärkeren Aktualitätsbezug aufweisen und präzisere Aussagen zulassen. Für eine Analyse auf Kreisebene waren diese Daten jedoch nicht verfügbar.
[3] Vgl. Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1976, Teil I, Nr. 2658.
[4] Zum Vergleich: Ebenfalls im Jahr 2019 wurden 525.081 neu abgeschlossene (duale) Ausbildungsverträge gemeldet (vgl. BIBB 2020: 42). Der vollzeitschulischen Berufsausbildung kommt in Deutschland eine deutlich geringe Bedeutung zu.
Zitieren des Beitrags
Hjelm-Madsen, M./Kalisch, C. (2022): Regionale Disparitäten in der Berufsbildungsforschung: Deutungsmuster und Bewertungsansätze zwischen Vielfalt und Ungerechtigkeit. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 42, 1-20. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe42/hjelm-madsen_kalisch_bwpat42.pdf (30.06.2022).