bwp@ 42 - Juni 2022

Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Marcus Eckelt & Franz Kaiser

Habituelle Passung im Studium. Herausforderungen und Problemlagen im beruflichen Lehramtsstudium

Beitrag von Christian Stoll
Schlüsselwörter: Habitussensible Lehre, Habitus, Kompetenzentwicklung, gewerblich-technische Lehrkräftebildung

Studien des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zeigen, dass es eine ausgeprägte Chancenungleichheit innerhalb des Bildungssystems in Deutschland gibt und dies insbesondere bezogen auf den Zugang zu einem Studienplatz. In diesem Beitrag wird auf Grundlage von Bourdieus Habituskonzept gezeigt, wie die Erforschung der Bildungsbiografie dazu beitragen kann, dass angehende Lehrkräfte im Hochschulstudium eine habitussensible Lehrkompetenz entwickeln. Als Ansatzpunkt dient hierfür neben Bourdieus Habitustheorie insbesondere die Forschung zu Bildungsaufsteiger:innen von Lange-Vester. Empirische Grundlage des Beitrags ist eine laufende Interviewstudie im Rahmen des Lehramtsstudiums der beruflichen Fachrichtungen Elektro- und Informationstechnik an der Technischen Universität Berlin. Mittels leitfadengestützter Interviews wurden Studierende bezüglich ihrer Bildungsbiografie und Erfahrungen im Lehramtsstudium befragt. Die Interviews wurden in diesem Zusammenhang genutzt, um eine fachdidaktische Lehrveranstaltung an die habituellen Vorlieben der Studierenden anzupassen.

Toward a habitus-sensitive teaching competency. A perspective on teacher education for vocational schools.

English Abstract

Studies by the German Center for Higher Education Research and Science Studies show that there is a pronounced inequality of opportunity within the educational system in Germany, especially with regard to access to a study place. Based on Bourdieu's concept of habitus, this paper shows how research on educational biographies can contribute to the development of habitus-sensitive teaching skills. In addition to Bourdieu's habitus theory and Lange-Vester's research on educational climbers in particular serves as a starting point for this. The empirical basis of the article is an ongoing interview study in the context of the teacher training program in the vocational fields of electrical engineering and information technology at the Technical University of Berlin. By means of guided interviews, students were questioned regarding their educational biography and experiences in the teaching degree program. The interviews were used in this context to adapt a didactic course to the habitual preferences of the students.

1 Einleitung

Der Lehrkräftemangel ist seit Jahren ein chronisches Problem des deutschen Bildungssystems. Hierbei ist die berufliche Bildung keine Ausnahme, sondern besonders stark betroffen (Klemm 2018, KMK 2019). Die Lehrkräftebildung an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) hat in den letzten Jahren besonders in den beruflichen Fachrichtungen Elektro-, Informations- und Metalltechnik mit geringen Studierenden- und Absolvent:innenzahlen zu kämpfen. Laut der Studierendenstatistiken der TU Berlin waren von 2015 bis 2020 bspw. im grundständigen Lehramtsstudium Fachrichtung Elektrotechnik im Bachelor im Durchschnitt lediglich 12 Personen immatrikuliert, im Master im Durchschnitt drei Personen – Tendenz fallend (siehe Tabelle 1, im Anhang). Es gibt jedoch kein generelles Desinteresse an einem ingenieurswissenschaftlichen Studium. Im WiSe 2019 im Mono-Studiengang Elektrotechnik im Bachelor 820 und im Master 555 Personen immatrikuliert (TU Berlin, 2019). Der Mangel an Studierenden ist ein spezifisches Problem des Lehramtsstudiums.

Zu den geringen Immatrikulationszahlen im grundständigen Lehramtsstudium Fachrichtung Elektrotechnik kommt erschwerend hinzu, dass von den wenigen Studierenden im Bachelor weniger als ein Viertel in den Master wechselt (siehe Tabelle 1, im Anhang). Die TU Berlin ist in der Region Berlin-Brandenburg die einzige Hochschule, die Lehramtsstudierende in den genannten gewerblich-technischen Fachrichtungen ausbildet. Allerdings gelingt es der TU Berlin aktuell nicht, den Bedarf an Lehrkräften auf Grundlage des grundständigen Lehramtsstudiums in diesen Fachrichtungen zu decken.

Wenn die Versorgung der beruflichen Schulen mit fachlich qualifizierten Lehrkräften sichergestellt werden soll, stellt sich also zunächst die Frage, wie sich die Immatrikulationszahlen in den genannten Fachrichtungen erhöhen lässt, und im weiteren, wie sich die Übergangsquote vom Bachelor in den Master verbessern lässt bzw. wie Abbrüche verhindert werden können.

Ein erster Lösungsansatz der TU Berlin war die Etablierung des sogenannten Quereinstiegsmaster für die berufliche Fachrichtung Elektrotechnik. Studierende mit einem fachwissenschaftlichen Bachelor von einer Universität oder Hochschule erhalten die Möglichkeit, direkt in den Master des Lehramtsstudiums quereinzusteigen. Die Studierenden belegen hierbei entweder das Zweitfach Informationstechnik oder Mathematik. Durch diese Maßnahme konnte die Anzahl immatrikulierter Personen in der beruflichen Fachrichtung Elektrotechnik im Wintersemester 2020/2021 von einer (sic!) Person auf insgesamt 16 Personen erhöht werden. Zwar ist dieser Anstieg von immatrikulierten Personen in dieser Fachrichtung erfreulich, deckt aber den Bedarf bei weitem nicht (Klemm 2018, 21). Zudem ist auch diese Gruppe vom Problem des Studienabbruchs im Master betroffen. Es stellt sich also grundsätzlich die Frage, welche Problemlagen angehender Berufsschullehrer:innen im Studium dazu führen, dass sie ihr Studium nicht erfolgreich beenden.

Vor diesem Hintergrund wurde eine Interviewstudie initiiert, welche aktuell sukzessive erweitert wird. Die Interviewstudie konzentrierte sich zunächst auf die beruflichen Fachrichtungen Elektro- und Informationstechnik an der TU Berlin. Mittels leitfadengestützter Interviews wurden Studierende im Masterstudium bezüglich ihrer Bildungsbiografie, ihrer Erfahrungen und Problemlagen im Lehramtsstudium befragt. Die transkribierten Interviews wurden auf Grundlage der Grounded Theorie codiert und ausgewertet (Strauss 1998). Im Zeitraum von 2017 bis 2020 wurden insgesamt 20 Personen interviewt. Dies waren alle aktiv auf Lehramt studierenden Personen im Master der beruflichen Fachrichtung Elektrotechnik in diesem Zeitraum.

In den Interviews wird deutlich, dass die Studierenden im Lehramtsstudium Fachrichtung Elektrotechnik auf Grundlage ihrer sozialen Herkunft, ihrer bisherigen Sozialisation und durch den bisherigen beruflichen Hintergrund in zweit Typen einteilen lassen. Der eine Teil der Studierenden sind Teil eines ingenieurstechnisch -geprägten Milieus. Der andere Teil kommen aus einem Milieu, welches durch ein Arbeiter- und Angestelltendasein geprägt ist. Gerade bei diesen Studierenden besteht das Problem, dass die milieubedingten Erwartungen an Lehr-, Lern- und Verwaltungsprozesse nicht denen der Institution Universität entsprechen. Daraus ergeben sich Konflikte und Problemlagen auf unterschiedlichen Ebenen, die zu Frustration, Verunsicherung und Studienabbruch führen können. Die Ergebnisse dieser Studie bestätigen und ergänzen Befunde aktueller Studien aus der Hochschulforschung (Haslinger & Patek 2007; Ebert/Heublein 2017; Heublein et al. 2017) und der Wirtschaftspädagogik (Grunau/Petzold-Rudolph 2021). Aktuelle Studien befassen sich nur selten mit Lehramtsstudierenden der beruflichen Bildung. Insbesondere scheinen Lehramtsstudierende aus dem gewerblich-technischen Bereich in der aktuellen Forschungslage einen „weißen Fleck“ darzustellen.Ein Teil der interviewten Personen lässt sich als typische Bildungsaufsteiger:innen (First Generation Students) bezeichnen. Sie stammen aus Familien mit einer langen Arbeitertradition, haben innerhalb der Universität mit Habituskonflikten zu kämpfen. Durch den Bildungsaufstieg entfernen sie sich schrittweise von ihrem Ursprungsmilieu, was zu unterschiedlichen Problemlagen führt. Demgegenüber kommt ein anderer Teil der Personen aus einer (ingenieurs-)technisch geprägten sozialen Milieu. Sie müssen sich innerhalb des Lehramtsstudiums mit geisteswissenschaftlich geprägten Themen und Personen auseinandersetzen. Hierbei treffen unterschiedliche, durch das Herkunftsmilieu geprägte, Vorstellungen vom Lehren und Lernen aufeinander. Daraus ergeben sich Habituskonflikte und eine innere Zerrissenheit in unterschiedlichen Lebensbereichen. Hierbei lassen sich grob drei Bereiche unterscheiden. Zunächst bezogen auf die Institution Universität und den damit verbundenen institutionellen, kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen. Zudem bezogen auf das Herkunftsmilieu und das stückweise Infragestellen der dort vorherrschenden Handlungsweisen und Distinktionsmerkmalen. Des Weiteren bezogen auf die eigenen fachlichen Kompetenzen und damit verbunden das Infragestellen der eigenen Identität und Handlungsweisen.

Lehramtsstudierende im gewerblich-technischen Bereich verfügen häufig über berufliche Vorerfahrungen und gehören bestimmten sozialen Milieus an. Dies unterscheidet sie von anderen Studierenden bezüglich ihrer Erwartungen und Vorstellungen von Lehr-Lernprozessen. Da Lehramtsstudierende der beruflichen Fachrichtung Elektrotechnik – und vermutlich grundsätzlich aller beruflichen Fachrichtungen – im Studium von ausgeprägten Habituskonflikten betroffen sind, liegt hier ein Ansatzpunkt, um mehr Berufsschullehrkräfte erfolgreich auszubilden bzw. die Studierendenzahlen langfristig zu erhöhen. Wenn es gelingt, eine habitussensible Lehrkräftebildung bzw. eine habitussensible Lehrkompetenz auf Seiten der Lehrenden und auch auf Seiten der Studierenden (als zukünftige Lehrende) aufzubauen, kann hiermit ein Beitrag geleistet werden, die Studierbarkeit zu verbessern und die Zahl der Abbrüche zu senken.

Die soziale Herkunft und der damit verbundene Habitus darf nicht als Defizit betrachtet werden, welcher für den erfolgreichen Studienabschluss transformiert werden muss. Habitussensibel ist Hochschullehre, wenn sie den Habitus als einen Faktor des Lernerfolgs wahrnimmt, gesellschaftliche Herrschaftsmechanismen und deren Auswirkungen auf das Bildungssystem reflektiert und etwaige habituelle Transformationsprozesse von Studierenden sensibel wahrnimmt und unterstützt den eigenen Habitus zu reflektieren. Didaktisch bedeutet das, Lehr-/Lernarrangements zu arrangieren, die auf die habituellen Prägungen der Studierenden Rücksicht nehmen. Ein weiteres Ziel besteht bei Lehramtsstudierenden darin, die Studierenden für diese Aspekte so zu sensibilisieren, dass sie später auch ihren eigenen Berufsschulunterricht diesbezüglich reflektieren können und die habituellen Prägungen von Schüler:innen und Auszubildenden Berücksichtigung finden.

Im folgenden Beitrag wird dieser Gedanke systematisch entwickelt und begründet: Zunächst werden die soziologische Konzepte eingeführt und relevante Forschungsergebnisse referiert. Darauf aufbauend wird die Methodik der Interviewstudie erläutert und es werden Ergebnisse aus den Interviews präsentiert. Davon ausgehend wird zum Abschluss der Begriff der habitussensiblen Hochschullehre entwickelt und es wird skizziert, wie ein solcher didaktischer Zugang zu einer offeneren – und gerechteren – Hochschule beitragen könnte.

2 Theoretischer Hintergrund

Um die Habituskonflikte der Lehramtsstudierenden zu verstehen, wird in diesem Kapitel die theoretischen Konzepte des Habitus und des sozialen Milieus erläutert, zudem wie aus dem Zusammenwirken dieser Konzepte das berufliche Aspirationsfeld einer Person erklärt werden kann. Außerdem wird dargestellt, wie die Herkunft von Studierenden aus gesamtgesellschaftlichen sozialen Milieus zu verschiedenen Studierendentypen führt, die sich hinsichtlich der Vorstellungen und Ansprüche von/an Lehr- und Lernprozesse sowie Bildungserfolg unterscheiden.

2.1 Habitus, sozialer Raum und das berufliche Aspirationsfeld

Habitus ist ein zentrales Konzept der Soziologie von Pierre Bourdieu. Allgemein umfasst der Habitus die Haltung eines Menschen in der sozialen Welt und die damit verbundenen dauerhaften Dispositionen, Gewohnheiten, Lebensweisen, Einstellungen, Moralvorstellungen bzw. Wertvorstellungen. Die Ausbildung des Habitus beginnt dabei schon in der Kindheit und vollzieht sich durch eine Einverleibung der Einflüsse des sozialen Milieus. Der Habitus zeigt sich deshalb unter anderem in körperlichen Praktiken – in der Art und Weise wie ein Mensch redet, sich bewegt, lacht, liest, isst –, aber auch daran wie er wohnt, an den jeweiligen Interessen und auch am Freundeskreis (Bourdieu 1979, 165; 1992a, 32; Fuchs-Heinritz/König 2011, 89; Lempert 2011, 60f.; Rehbein et al. 2015, 29f.).

Neben Sprache, Köperhaltung und Bewegungsabläufen ist die Interaktion im sozialen Raum bzw. im sozialen Feld der in der Forschung am stärksten analysierte Aspekt des Habitus. Gesellschaft wird dabei als eine Vielzahl sozialer Felder konzipiert. Personen befinden sich je nach Situation in einem sozialen Feld, in dem bestimmte Regeln gelten und in dem bestimmte Distinktionsmerkmale von anderen im gleichen sozialen Feld anerkannt werden und andere nicht. Dies kann sich je nach sozialem Feld stark unterscheiden, so gelten in einem Betrieb bzw. Unternehmen andere Regeln und Werte als in einer Universität. Der individuelle Habitus bestimm, in welchen sozialen Feldern bzw. konkret: in welchen Situationen und Institutionen sich eine Person wohl fühlt bzw. wo sie aufgrund ihrer Körperhaltung, Gesten oder Sprechweisen auffällt (Bourdieu 1987, 195ff.; Fuchs-Heinritz/König 2011, 107).

Der Habitus funktioniert wie ein sozialer Schmierstoff. Er sorgt dafür, dass Personen in einem Feld quasi unbewusst wissen, was von anderen zu erwarten ist. In Situationen jedoch, in denen Personen mit unterschiedlichen Habitus-Typen aufeinandertreffen, kann es zu Missverständnissen und Konflikten kommen. Da sich der Habitus durch eine Trägheit auszeichnet, können sich Personen nicht beliebig und vor allem nicht schnell in ein neues soziales Feld habituell einfügen. Sie tendieren dazu, Situationen zu suchen, zu erhalten bzw. wiederzugewinnen, in denen ihre gewohnten habituellen Verhaltensweisen ohne Probleme funktionieren. Dieses träge Verhalten oder auch Delay bezeichnet Bourdieu als Hysteresis-Effekt. Diesen Effekt sieht Bourdieu als Grund für Konflikte, bspw. zwischen Generationen (Genrationskonflikt) oder unterschiedlichen sozialen Schichten (Bourdieu 1979, 168; Fuchs-Heinritz/König 2011, 95f.).

Der Habitus und der soziale Raum sind verknüpft mit dem beruflichen Aspirationsfeld eines Menschen. Ob bestimmte Berufe bzw. Studiengänge Teil dieses Aspirationsfeldes sind oder nicht, hängt unter anderem davon ab, ob eine Person über entsprechendes Wissen bzw. Informationsquellen verfügt, aber auch ob sie sich mit einem Beruf bzw. Studiengang identifizieren kann und wie ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen in diesem Zusammenhang sind (Steinritz/Kayser/Ziegler 2012). Eine Bildungsinstitution, eine dort tätige Person oder auch Informationsmaterial kann dazu beitragen, dass ein Berufswunsch in Form eines Studienganges Teil des beruflichen Aspirationsfeldes wird.

Neben dem Habitus und dem sozialen Raum haben auch die zu Verfügung stehenden Kapitalien Einfluss auf das berufliche Aspirationsfeld einer Person. Als Kapital bezeichnet Bourdieu gespeicherte und akkumulierte Arbeit in materieller oder verinnerlichter (inkorporierter) Form, die er auch als "soziale Energie" bzw. "Energie der sozialen Physik" bezeichnet. Kapital ist auf bestimmte Weisen übertragbar oder auch vererbbar. Es lassen sich verschiedene Kapitalsorten unterscheiden: Die wichtigen sind ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital und symbolisches Kapital. Einzelne Kapitalien erzeugen innerhalb bestimmter sozialer Felder eine Ökonomie, wodurch Akteure handeln und Gewinne erzeugen (Bourdieu 1983, 183ff.; Bourdieu 1985, 10f.).

Die Sozialisation bzw. der Habitus einer Person wird stark durch das Elternhaus und dem Umfang der zur Verfügung stehenden einzelnen Kapitalsorten geprägt. Das soziale Milieu der Eltern ist das Herkunftsmilieu der Kinder und prägt dabei stark die Bildungsbiografie einer heranwachsenden Person. Es überrascht dabei nicht, dass sich ebenfalls Zusammenhänge der Berufswahl über mehrere Genrationen hinweg nachweisen lassen. Ein Grund für die Tendenz bei der Vererbung von Berufsklassen ist u. a. die Wahl der Partnerin oder des Partners. Etwa die Hälfte der Berufstätigen wählen eine Partnerin oder einen Partner aus der selben Berufsklasse und dem gleichen oder einem ‚nahen‘ sozialen Milieu. Bei gelernten Arbeiter:innen ist dieser Effekt stärker ausgeprägt als bei Angestellten oder Akademiker:innen (Rehbein et al. 2015, 19ff.; Vester 2006, 92ff.).

2.2 Studierenendentypen

Grundlegend wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung zwischen zwei Typen von Studierenden unterschieden: Studierende als „Kinder von Akademiker:innen“ und Studierende als „Kinder von Nicht-Akademiker:innen“. In einer Studie des Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) wird deutlich, dass Kinder von Akademiker:innen, wenn sie die Sekundarstufe II erreichen, überwiegend ihre Hochschulzugangsberechtigung auf einem Gymnasium erhalten und im Anschluss ein Hochschulstudium aufnehmen. Kinder, deren Eltern keine Akademiker:innen sind, erhalten seltener ihre Hochschulzugangsberechtigung an einem Gymnasium und von diesen beginnt wiederum eine kleinerer Anteil im Anschluss ein Studium. Im Ergebnis ist der Anteil von Kindern aus Akademikerhaushalten, die ein Studium aufnehmen, mit 79 Prozent zu 27 Prozent der Kinder von Nicht-Akademiker:innen] fast dreimal so hoch. Dies führt dazu, dass Kinder von Akademiker:innen im sozialen Feld der Hochschule überrepräsentiert sind (Kracke/Middendorff/Buck 2018, 4f.).

Dieser starke Unterschied lässt sich nicht allein auf die schulischen Leistungen zurückführen. Selbst mit sehr guten Abschlussnoten nehmen Personen, deren Eltern keine Akademiker:innen sind seltener ein Studium auf. Bei schlechteren Leistungen wird dieser Unterschied noch deutlicher, d. h. Personen mit schlechten schulischen Leistungen aus den oberen sozialen Schichten nehmen eher ein Studium auf als Personen aus den unteren sozialen Schichten (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2016, 186). Dies steht im Zusammenhang mit Habitus, Herkunftsmilieu und beruflichem Aspirationsfeld. Dieser Komplex wird bei der Studienwahl bezogen auf eine fachkulturelle Passung wirksam bzw. kann dafür sorgen, dass die Studienberechtigung nicht eingelöst wird (Brändle 2016, 182; Sinnreich 2007, 137).

In einer weiteren Studie der DZHW wurden exmatrikulierte Personen zu den Ursachen und Motiven des Studienabbruchs befragt. Ergebnis dieser Studie ist eine Übersicht über vorhochschulische Merkmale, die das Risiko erhöhen, ein Studium vorzeitig abzubrechen. Diese sind nicht-akademische Bildungsherkunft, keine allgemeine Hochschulreife, schlechtere Schulabschlussnote und eine vor Studienbeginn abgeschlossene Berufsausbildung. Außerdem gibt es verschiedenen Bedingungen und Merkmale von denen eine abbruchfördernde Wirkung ausgeht: geringes Maß an Eigenaktivität im Studienverhalten, ungenügende soziale und akademische Integration an der Hochschule, schlechtere Studienleistungen, stark durch extrinsische Motive und den Rat anderer geprägte Studienfachwahl, Studienfach, das nicht dem Wunschfach entspricht, sowie ungesicherte Studienfinanzierung und zu wenig finanzielle Mittel. Diese Merkmale treffen besonders auf Personen zu, deren Eltern keine Akademiker sind (Ebert/Heublein 2017: IIIf.).

Zusammengefasst kommen die Studien zu dem Ergebnis, dass Personen, deren Eltern keine Akademiker:innen sind, beim Übergang zu einem Hochschulstudium und auch innerhalb des Studiums strukturell benachteiligt werden. Insbesondere sind Personen betroffen, die den (Fach-)Arbeitermilieus zuzuordnen sind – das ist jedoch die Kernzielgruppe des beruflichen Lehramts.

Die Einteilung der Studierenden in Kinder von Akademiker:innen und Nicht-Akademiker:innen ist sehr grob. Genauer wird die Einteilung, wenn Studierende ihren sozialen Herkunftsmilieus zugeordnet werden. Dann wird sichtbar, dass Studiengänge bzw. Fakultäten durch Personen aus bestimmten sozialen Schichten geprägt sind. Die Hochschulbildung stellt sich so als ein sozialer Raum dar, der zur Schichtung der Gesellschaft beiträgt bzw. diese reproduziert. Personen aus den mittleren und unteren sozialen Schichten wählen häufiger naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Studiengänge häufig an (Fach-)Hochschulen. Personen aus den oberen sozialen Schichten entscheiden sich tendenziell für Studiengänge, die mit den Zentren gesellschaftlicher Macht im Zusammenhang stehen, bspw. Jura oder Medizin (Bourdieu 1992b, 91ff.). Im Ergebnis entstehen spezifische Fachkulturen in den Studiengängen. Diese "bilden sich als Korrelat aus dem Habitus der Studierenden (und Lehrenden) eines Faches […] und können mittel- bis langfristig zu einer Transformation der Habitus der Studienanfängerinnen und Studienanfänger führen.“ (Brändle 2016, 182)

Der eigene Habitus und dessen jeweilige Passung in das soziale Feld Universität bzw. die Fachkultur des gewählten Studienfachs ist ein wichtiger Faktor für den erfolgreichen Studienabschluss. Ist der eigene Habitus nicht ‚richtig‘ bzw. nicht ‚angemessen‘, kommt es zu Habituskonflikten, dann fühlen sich Personen nicht zugehörig bzw. fehl am Platz (Hysteresis-Effekt). In der Wahrnehmung der betroffenen Personen führt das zu einem unbestimmten Überforderungsgefühl und zu Unsicherheiten. Verstärkt werden kann das, wenn solchen Personen von Lehrenden oder anderen Studierenden mit dem ‚richtigen‘ Habitus mit Geringschätzung, Arroganz oder Distanz begegnet wird und damit das Gefühl der Nichtzugehörigkeit verstärken. Personen, die unter Habituskonflikten leiden, neigen dazu, sich ‚aus dem fremden Umfeld‘ zurückzuziehen. Dies kann zu Folge haben, dass Studierende den Studiengang oder die Institution wechseln. Es kann so auch zur Selbstselektion trotz guter Leistungen kommen (Halsinger/Patek 2007, 150f.).

Die Transformation des Habitus der Studierenden – der durch das Studieren angestoßenen Akkulturationsprozesse – kann bei größerer sozialer Distanz des Herkunftsmilieus zu akademischer Bildung zu einer Entfremdung vom Herkunftsmilieu führen, was wiederum zu neuen Habituskonflikten und persönlichen Krisen führen kann (Halsinger/Patek 2007, 152). Im Zusammenspiel mit Habituskonflikten mit Lehrenden und Studierenden an Hochschulen kann dazu führen, dass Personen aus den unteren sozialen Schichten sich weder im alten Herkunftsmilieu wohl fühlen noch im ‚neuen‘ Milieu Anschluss finden.

Dazu kommt, dass es aufgrund fehlender Erfahrungen schwierig ist, das eigene Verhalten im ‚neuen‘ sozialen Feld zu beurteilen. Da sich Lehrende und auch Bildungsinstitutionen dieser Problemlage selten bewusst sind, werden die Anforderungen und Beurteilungskriterien nicht transparent gemacht. Sie werden als informelles Wissen vorausgesetzt. Defizite werden dann als vermeintlich selbstverschuldete Nachteile angesehen. Bspw. haben Studierende aus den unteren Milieus häufig Hemmungen, Fragen zu stellen oder sich an Diskussionen zu beteiligen, weil sie Angst haben sich bloßzustellen. Sie haben Angst, dass es sichtbar wird, dass sie ‚nicht hier her gehören‘. Sie versuchen anonym zu bleiben und nicht aufzufallen. Das kann außerdem zu einer Angst führen, andere Studierende anzusprechen und an Lerngruppen teilzunehmen. Dies erschwert wiederum, Anschluss zu finden und sich im sozialen Feld zu integrieren. Es kann ebenfalls zu einer Überschätzung von Kommeliton:innen aus höheren sozialen Schichten und einer übertriebenen Vorstellungen von den notwendigen Leistungen kommen (Halsinger/Patek 2007, 154).

Die unterschiedlichen sozialen Milieus lassen sich entlang von zwei Achsen bestimmen. Für die deutsche Gesellschaft hat Michael Vester (2006) unterschiedliche Milieus voneinander abgrenzen können. Darauf aufbauend lassen sich ebenfalls verschiedene milieubezogene Studierendentypen unterscheiden, die lose mit den Herkunftsmilieus gekoppelt sind. In einer Studie von 2002 bis 2004 wurden an der Universität Hannover Einzel- und Gruppeninterviews mit Studierenden aus den Fachrichtungen Politische Wissenschaften, Soziologie und Sozialpsychologie durchgeführt. Die Interviews wurden habitushermeneutisch ausgewertet. Hierbei wurden acht unterschiedliche Studierendentypen identifiziert (siehe Abbildung 1) (Lange-Vester 2015, 105ff.):

Abbildung 1: Traditionslinien und Studierendentypen (Lange-Vester 2015)Abbildung 1: Traditionslinien und Studierendentypen (Lange-Vester 2015) 

An dieser Stelle werden die für den weiteren Verlauf relevanten Studierendentypen, die aus den unteren und mittleren sozialen Milieus stammen, kurz vorgestellt.

Die Prestige- und Aufstiegsorientierten verfolgen in erster Linie das Ziel mittels eines Studiums beruflich erfolgreich und wohlhabend zu werden. Sie orientieren sich hauptsächlich an ökonomischen und sozialen Kapital. Wichtig sind ihnen akademische Abschlüsse, Status und Ansehen. Dies ist meist mit einem konventionellen Lebensentwurf mit Familiengründung verknüpft. Innerhalb von Bildungsprozessen streben sie besonders nach Kompetenzen, mit denen sie auf dem Arbeitsmarkt konkurrenzfähig sein können (Lange-Vester, 2015, 108f.).

Für effizienzorientierte Studierende zählt ebenfalls wie für Aufstiegsorientierte im Wesentlichen die eigene Leistung. Der soziale Status und das gesellschaftliche Ansehen sind hierbei aber keine primären Ziele. Studierende dieses Typus haben oft keine geradlinige Bildungsbiografie. Sie sind häufig über den zweiten Bildungsweg und mit mehrjähriger Berufserfahrung an die Universität gekommen. Wichtig sind Studierenden dieses Typs eine transparente Studienstruktur, die ein effektives, zielstrebiges Studium ermöglicht (Lange-Vester 2015, 109f.).

Ganzheitlich orientierte Studierende sind durch ein intrinsisch motiviertes und stark auf Selbstbestimmung ausgerichtetes Studienverhalten geprägt. Die Entwicklung beruflicher Kompetenzen und die Horizonterweiterung sind ihnen dabei besonders wichtig. Sie versuchen dabei verschiedene Lebensbereiche (Familie, Freunde usw.) in Einklang zu bringen. Deshalb sind sie nicht bereit, ihr Privatleben den Anforderungen des Studiums unterzuordnen. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Studierendentypen steht hier der soziale Aufstieg weniger im Vordergrund. Stattdessen zielen sie auf spätere berufliche Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit (Lange-Vester 2015, 110f.).

Bildungsunsichere Studierende haben zumeist Eltern, die keine Akademiker sind. Die Eltern verfügen teilweise über eine Berufsausbildung, sind aber häufig auch geringqualifiziert bzw. angelernt tätig. Diese Studierende hatten bisher keinerlei Berührung mit Hochschulen und ihnen fehlen daher diesbezügliche Vorkenntnisse bzw. informelles Wissen. Im Studium fällt das bspw. bei der Präsentation von Referaten, dem Umgang mit Begrifflichkeiten, Fremdwörtern bzw. abstrakten Sprachgebrauch auf. Bildungsunsichere Studierende erleben mit großer Wahrscheinlichkeit eine deutliche Distanz zwischen sich und anderen Studierenden bzw. Dozierenden. Sie können sich häufig nicht mit der Bildungsinstitution bzw. mit dem Studiengang identifizieren. Hauptsächlich wird versucht, anonym zu bleiben und nicht aufzufallen. Es besteht eine diffuse Angst davor ‚aufzufliegen‘. Diese Angst kann dazu führen, dass Sprechstunden von Dozierenden nicht wahrgenommen und Probleme unter Umständen nicht kommuniziert werden. Dies hat wiederum zur Folge, dass diese Studierenden mit ihren Problemen von den Lehrenden nicht wahrgenommen bzw. leicht übersehen werden. Diese fehlende soziale Integration in den sozialen Raum der Hochschule kann im Zusammenhang mit frustrierenden Erfahrungen innerhalb des Studiums dazu führen, dass sich Studierende in andere Lebensbereiche (Familie, Freizeit...) zurückziehen und unter Umständen das Studium vorzeitig abbrechen. Innerhalb dieses Prozesses stellen Bildungsunsichere auch ihre gesamte Lebensweise und Überzeugungen der Herkunftsmilieus in Frage und zeichnen sich durch eine starke innere Zerrissenheit aus (Lange-Vester 2015, 105f.).

Diese unterschiedlichen Studierendentypen bzw. die soziale Herkunft von Studierenden im Lehramt und die damit verbundenen Habitusformen wirken sich wiederum auf das Bildungssystem allgemein aus und auf die Absolvent:innenzahlen. Lehramtsstudierende wie auch Lehrkräfte neigen dazu, sich entsprechend ihrer eigenen sozialen Herkunft dem entsprechenden Schultyp zuzuordnen. Hier wird im Wahlverhalten im Wesentlichen ein Streben nach sozialer Passung vermutet (Neugebauer 2013, 160). So stammen Studierende für höhere Lehrämter tendenziell aus gehobenen und mittleren konservativen Milieus. Lehramtsstudierende der beruflichen Bildung stammen hingegen vorwiegend aus mittleren Milieus der Facharbeit und der praktischen Intelligenz (Lange-Vester/Teiweis-Kügler 2014, 178ff.; Lange-Vester 2019, 30).

Nicht-gymnasiale Lehramtsstudiengänge werden im Vergleich zum Gymnasiallehramt vermehrt von weiblichen Studierenden, von Studierenden aus Familien mit geringerem kulturellem Kapital und von Studierenden mit schlechteren Abiturabschlussnoten besucht. Allen Lehramtsstudierenden ist die berufliche Sicherheit wichtiger als Karriereziele und soziales Prestige. Nicht-gymnasiale Lehramtsstudierende haben tendenziell eher ein soziales Interesse als ein fachliches/wissenschaftliches Interesse bezogen auf den Studiengang und ihre Unterrichtsfächer. Gymnasiallehramtsstudierenden geben eher an, dass das fachliche/wissenschaftliche Interesse höher als das soziale Interesse sei (Neugebauer 2013, 176f.).

Lehramtsstudierende bzw. Lehrkräfte neigen dazu, sich nach der eigenen sozialen Herkunft einem bestimmten Schultyp zuzuordnen, überwiegend nehmen Personen aus den oberen sozialen Schichten ein Studium auf und diese Personen möchten tendenziell am Gymnasium unterrichten. So erklärt sich unter anderem, dass der Gymnasialbereich der einzige Bereich ist, der über Bedarf ausbildet, während in allen anderen Bereichen ein Mangel besteht (KMK 2019).

3 Methodik/Studiendesign

Im Verlauf dieses Kapitels werden die Zielgruppe und das Studiendesign näher betrachtet. Im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrkräftebildung wurde an der TU Berlin das Projekt TUBteaching durchgeführt, mit dem Ziel die Lehrkräftebildung zu verbessern. Innerhalb dieses Projektes wurden Interviews mit allen 20 im Sommersemester 2018, 2019 und 2020 immatrikulierten Studierenden der beruflichen Fachrichtungen Elektrotechnik und Informationstechnik durchgeführt. Diese Studiengänge zeichnen sich durch eine sehr geringe Studierendenzahl und eine relativ hohe Abbruchquote aus. Mit den Interviews sollte herausgefunden werden, welche Erfahrungen die Studierenden im Lehramtsstudium gemacht haben, wie dies wiederum im Kontrast zur bisherigen Bildungsbiografie steht und wie sich die Situation der Studierenden verbessern lassen könnte. Die Interviews waren leitfadengestützte, biografische Interviews. Ein Fokus lag auf den gemachten Erfahrungen in den bisher besuchten Bildungsinstitutionen. Die Fragen bezogen sich auf die Schullaufbahn, die familiären Hintergründe, Verlauf des Studiums, Vorlieben beim Lernen/Lehren und Ideen zur Verbesserung des Studienverlaufs. Die Interviews wurden auf Grundlage der Grounded Theorie codiert und ausgewertet (Strauss 1998).

Die Methodik wurde zunächst sehr explorativ angesetzt, da nur wenige Informationen und Vorannahmen bezüglich der Problemlagen und Abbruchgründe bei der genannten Zielgruppe existierten. Nachdem die Interviews zunächst offen kodiert und die ersten Kategorien gebildet wurden, zeigten sich Überschneidungen bei der Sozialisation, familiären Hintergrund und ähnliche Erfahrungen und Problemlagen im Studium im Zusammenhang mit unterschiedlichen Vorstellungen bzw. Erwartungen von Lehr- und Lernprozessen. Diese Vorstellungen sind geprägt von der Bildungsbiografie und damit auch von der sozialen Herkunft bzw. vom sozialen Milieu. Dies war der Grund den Fokus des Forschungsvorhabens im weiteren Verlauf auf die Zusammenhänge von Bildungsprozessen und sozialer Herkunft bzw. Habitus zu legen.

Im grundständigen Lehramtsstudium an der TU Berlin belegen die Studierenden als Erstfach eine berufliche Fachrichtung (hier also Elektrotechnik oder Informationstechnik) und ein allgemeinbildendes Zweitfach (bspw. Sozialkunde/Politik, Deutsch oder Mathe). Das Zweitfach wird an einer anderen Universität in Berlin studiert (Humboldt Universität Berlin kurz HU, Freie Universität Berlin kurz FU oder Universität der Künste Berlin kurz UdK). Neben dem Haupt- und Zweitfach werden zusätzlich noch Lehrveranstaltungen der Erziehungswissenschaft und der Fachdidaktik besucht. Alle genannten Bereiche – besonders an anderen Universitäten – haben jeweils unterschiedliche Fachkulturen und unterschiedliche Ansätze bei der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen. Die Studierenden stehen also vor der Herausforderung, zwischen unterschiedlichen Fachkulturen hin und her zu wechseln und dies mit dem eigenen Habitus in Einklang zu bringen.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die befragten 20 Studierenden:

Geschlecht

4 weiblich, 16 männlich

Alterspanne

26-45

Grundständig Studierende

4

Quereinstiegsmaster

16

Abitur nicht an einem Gymnasium absolviert

14

Abgeschlossene Berufsausbildung

12

Abgeschlossenes duales Studium

2

Beide Eltern Arbeiter/Angestellte

12

Mind. ein Elternteil Abschluss als Ingenieur an (Fach-)Hochschule

5

Mind. ein Elternteil mit universitären Hochschulabschluss

3

Eigene Kinder

5

Neben dem Studium erwerbstätig

19

Die ausgewerteten Interviews zeigen, dass ein Teil der Studierenden eher aus einem Arbeiter/Angestelltenmilieu kommen. Der milieugeprägte Habitus erforderte merkliche Akkulturationsprozesse während des Studiums. Der andere Teil sind überwiegend Fachhochschulingenieur:innen. Hier zeig die Interviews, dass die erlebten und gelebten Fachkulturen dieser Personen sich tendenziell von universitär-geisteswissenschaftlich geprägten Personen unterscheiden, die im Nebenfach und in den erziehungswissenschaftlichen Studienanteilen dominieren.

Die Studierenden verfügen überwiegend über Merkmale von bildungsunsicheren, ganzheitlich und effizienzorientierten Studierenden. Am häufigsten lassen sich Merkmale von ganzheitlichen und effizienzorientierten Studierenden identifizieren. Die meisten bildungsunsicheren Merkmale sind mit dem Bachelorstudium der grundständig-studierenden Personen verbunden.

Die Elternhäuser aller befragten Studierenden (16 männlich, 4 weiblich) sind bis auf eine Ausnahme technisch geprägt. D. h. es gibt mindestens eine männliche Bezugsperson (bspw. Vater, Großvater und/oder auch Onkel) die stark mit Technik (Elektrotechnik, Metalltechnik und/oder IT) verbunden ist. Die Väter sind in der Regel Facharbeiter oder Ingenieure. In manchen Fällen gilt das für beide Elternteile. Arbeiten die Mütter nicht in einem technischen Bereich, arbeiten sie häufig im pädagogischen oder sozialen Bereich (Erzieherin, Pflegerin, Lehrerin). Entweder spielt Technik im Hobby-Bereich eine wichtige Rolle (bspw. PC/IT) oder Technik ist Schwerpunkt in der Erwerbstätigkeit (bspw. Elektriker, Fachhochschulingenieur).  

Technik spielt während der gesamten Sozialisation der Studierenden eine wichtige Rolle und ist der Hauptgrund, warum die berufliche Orientierung in diese Richtung ging. Auch die eigenen Hobbys sind technikgeprägt. Dies reicht von der Tätigkeit in der freiwilligen Feuerwehr, über Amateurfunk, die Arbeit als DJ, das Betreiben eigener Webserver bis hin zum Durchführen von Arduino/RapsberryPi-Projekten in der Freizeit.

Bei Betrachtung der sozialen Hintergründe der Studierenden zeigt sich, dass viele vorhochschulische und studienbegleitende Merkmale, die zu einem Studienabbruch führen können (siehe Kapitel 2.2), auf diese Studierenden zutreffen. Besonders die Merkmale nicht-akademische Bildungsherkunft, eine vor Studienbeginn abgeschlossene Berufsausbildung, ungenügende soziale und akademische Integration an der Hochschule, ungesicherte Studienfinanzierung bzw. wenig finanzielle Mittel (unter anderem bedingt durch eigene Kinder). Gerade das Merkmal einer zuvor abgeschlossenen Berufsausbildung und daraus resultierende Berufserfahrung als Facharbeiter:in, Meister:in, Techniker:in oder Ingenieur:in ist ein Merkmal, welches den Habitus stark prägt und im Kontrast zum sozialen Feld der Universität stehen kann, aber gleichzeitig ein gewünschtes Merkmal bei Lehrkräften für berufsbildende Schulen darstellt. Dieses Merkmal wird sogar bei der Studienzulassung indirekt eingefordert: Studierende die keine Berufsausbildung haben, müssen nämlich als Ausgleich ein 26-wöchiges Betriebspraktikum (Vollzeitpraktikum 35-40 Arbeitsstunden pro Woche) bis zum Ende des Studiums absolvieren (Setub 2021).

Die durchgeführten Interviews wurden in diesem Zusammenhang genutzt, um eine fachdidaktische Lehrveranstaltung an die lernbiografischen und habituellen Vorlieben der Studierenden anzupassen. Die Lehrveranstaltung wurde jeweils im Sommersemester durchgeführt. Die Studierenden wurden zum Ende des Semesters interviewt. Im Anschluss wurden die Interviews ausgewertet, die Durchführung reflektiert und die Ergebnisse in die Planung des nächsten Durchlaufs einbezogen. Dieses Vorgehen orientiert sich stark an der Handlungsorientierung und ist mit Aktionsforschung oder Participatory Action Rese-arch and Evaluation (PAR) vergleichbar (Wadsworth, 1998).

Bei der Analyse der Interviews konnten bestimmte Wünsche/Präferenzen bezogen auf Lehren und Lernen innerhalb des Studiums identifiziert werden. Diese wurden sukzessive bei der Planung der Lehrveranstaltung berücksichtigt:

  • Praxisbezug: Die Studierenden wünschen sich im Studium mehr Beispiele aus der Praxis.
  • Digitale Medien: Die Studierenden wollen mehr über den Einsatz digitaler Unterrichtstools erfahren.
  • Technikbezug: Die Studierenden wollen mehr darüber erfahren, wie man bestimmte Fachinhalte konkret unterrichtet.
  • Praktische Auswirkungen: Die Studierenden wollen weniger über Theorien sprechen, sondern wissen, was dies für ihr Handeln als Lehrer:in bedeutet.
  • Werkzeuge: Die Studierenden wünschen sich Inhalte/Methoden/Tools, die sie konkret in ihrem zukünftigen Unterricht einsetzen können.
  • Berufsausbildung: Die Studierenden haben die Erwartung, für einen konkreten Beruf ausgebildet zu werden. In Seminaren, in denen sie Theorien diskutieren müssen, fehlt ihnen der Praxisbezug.

Die genannten Punkte lassen sich den didaktischen Grundfragen nach Klafki (Meyer & Meyer, 2007) zuordnen, die aber zum jeweiligen Zeitpunkt der Befragung in den didaktischen Seminaren noch nicht thematisiert wurden. Gerade die Grundfragen Exemplarische Bedeutung, Gegenwartsbedeutung und Zukunftsbedeutung eines Themas spielten für die Befragten eine besondere Rolle.

Neben der Verknüpfung von fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Inhalten werden ebenfalls mediendidaktische bzw. medienpädagogische Inhalte und Fragestellungen thematisiert (vgl. Tpack-Modell nach Schmidt et al., 2009). Außerdem setzen sich die Studierenden in einer Sitzung mit sozialer Ungleichheit im Bildungssystem auseinander und reflektieren die eigenen eventuell milieubedingten Vorlieben im Zusammenhang mit dem Lehren und Lernen. Als Abschluss und zur Bewertung erhalten die Studierende die Aufgabe, ihre Unterrichtsplanung innerhalb eines Unterrichtsentwurfes zu dokumentierten und die gemachten Erfahrungen bzw. den Arbeitsprozess schriftlich zu reflektieren.

4 Habituskonflikte und innere Zerrissenheit von Studierenden der beruflichen Fachrichtung Elektrotechnik

Habituskonflikte und eine daraus entstehende innere Zerrissenheit führen zu einer Infragestellung der eigenen Persönlichkeit bzw. der eigenen Identität und Handlungsweisen. Habituskonflikte von Studierenden betreffen unterschiedliche Lebensbereiche. In diesem Kapitel werden drei besonders relevante Bereiche näher betrachtet. Diese drei Bereiche wurden als die relevantesten Kategorien bei der Analyse der Interviews identifiziert: (1) die innere Zerrissenheit bezogen auf die Institution Universität, (2) bezogen auf fachlichen Kompetenzen, (3) bezogen auf das Herkunftsmilieu. Im weiteren Verlauf wird versucht diese drei Bereiche anhand von Beispielen aus den Interviews zu illustrieren.

Die Studierenden treffen innerhalb ihres Studienverlaufs auf stark unterschiedliche Fachkulturen, die wiederum unterschiedliche Prüfungsformen und auch unterschiedliches informelles Wissen bzw. informelle Kompetenzen fordern. Dies trifft besonders auf grundständig-studierende Personen im Bachelor-Studium zu, deren Eltern keine Akademiker:innen sind. Ihr Habitus ist zunächst noch ausschließlich durch voruniversitäre/nicht-akademische Erfahrungen, insbesondere durch die berufliche Tätigkeit geprägt. Auch der Altersunterschied kann, neben dem Habitus dafür sorgen, dass eine Person im Studium auffällt und sich unwohl fühlt.

Kon: Das größte Problem war glaube ich der Bachelor. Ich hatte halt Kommilitonen im Lehramt, die waren bspw. älter und sahen halt anders aus als so nen Durchschnittsstudent. Wir wurden manchmal gefragt, ob einer von uns der Dozent ist. Im Erstfach also Elektrotechnik sind wir nicht aufgefallen. Da waren 100, 200 Leute im Vorlesungssaal. Das hat niemanden interessiert. Aber in Ewi [Erziehungswissenschaft] hatten wir Arbeitslehre oder Mono-Erziehungswissenschaftler und im Zweitfach Sozialkunde hatten wir Mono-Politikwissenschaftler überwiegend im Raum sitzen. Und die Lehrämter, die da saßen, waren Gymnasial- oder Grundschullehramtsleute. Das waren größtenteils Leute, die direkt vom Gymnasium an die Uni gegangen sind. Da wurden wir manchmal sogar von der Dozentin komisch angeschaut, als wir zu dritt am ersten Tag in den Seminarraum reingekommen sind. […] Da hab ich mich auf jeden Fall häufiger unwohl gefühlt.

Hier bestätigt sich der in Kapitel 2.2 Forschungsbefund, dass Studierende mit bildungsunsicheren Merkmalen dazu neigen, sich eher zurückzuhalten und nicht weiter auffallen zu wollen. Aufgrund des Herkunftsmilieus sind die Studierenden gerade zu Beginn ihres Studiums mit der Universität nicht vertraut und unsicher. Dieses Unsicherheitsgefühl wird in solchen Situationen verstärkt, wenn die Studierenden zusätzlich aufgrund ihres Aussehens, Alters bzw. ihres Habitus auffallen – insbesondere, wenn sich die Studierenden in einer neuen Fachrichtung bewegen, die sich stark von ihrer eigenen unterscheidet und wo Lehr- und Lernprozesse anders ablaufen.

Kon: Wir saßen dann da [Seminar Politikwissenschaften], die haben 30, 40 Minuten über unterschiedliche Sachen diskutiert, haben Namen gedroppt, von denen ich noch nie was gehört hatte und ich kam mir vor wie der letzte Vollidiot.

Das Elektrotechnikstudium, aber auch eine Berufsausbildung in diesem Bereich, ist tendenziell autoritär bzw. durch Frontalunterricht und Vorlesungen geprägt. Fachinhalte stehen nicht zur Disposition und Inhalte werden in der Regel nicht diskutiert. Das Lesen von Fachtexten und die anschließende Diskussion innerhalb von seminaristischen Lehrveranstaltungen stellt für die Studierenden eine komplett neue Form von Lehr-Lernarrangement da, in das sie nicht eingeführt werden. Hier fehlt den Studierenden informelles Wissen bezogen auf die institutionellen Abläufe von geisteswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen.

Kon: Im Master war das dann nicht mehr so, da wusste man ja dann wie‘s läuft. Man hat den Leuten einfach erklärt, was man studiert und die waren dann auch interessiert, die hatten ja alle, inklusive der Dozenten, noch nie was von Elektrotechnik oder Bautechnik auf Lehramt gehört. Man muss den Sonderstatus dann auch einfach zelebrieren.

Dieses Zitat zeigt, dass die Herausforderungen im Bachelor-Studium als größer wahrgenommen werden. Bis zum Eintritt ins Masterstudium haben sich die grundständig Studierenden an ihre Rolle gewöhnt (wenn sie das Studium nicht abgebrochen haben), können mit ihrem Sonderstatus umgehen und verstehen, was es mit ihrem Sonderstatus auf sich hat. Unwohlsein wurde im Zusammenhang mit dem Masterstudium hier nicht beschrieben. Der Student hat einen Gewöhnungsprozess durchgemacht, der sich auch auf seinen Habitus ausgewirkt hat.

Studierende, die ihren Bachelor an einer (Fach-)Hochschule absolviert haben und dann ins Lehramt quereingestiegen sind, haben im Bachelorstudium keine vergleichbaren Erfahrungen beschrieben. Allerdings stehen grundständige Lehramtsstudierende im Bachelorstudium an der TU Berlin vor einem anderen Problem. Das Bachelorstudium ist in erster Linie geprägt durch das fachwissenschaftliche Studium der Elektrotechnik. Dieses stellt für die Studierende eine fachliche Herausforderung dar, weil sie bei weniger Stundenpensum bezogen auf die Fachwissenschaft die gleichen Klausuren bestehen müssen, wie Mono-Studierende. Es gibt keine angepassten Klausuren für Lehramtsstudierende.

Lub: Aber so ganz leicht hatte man immer im Hinterkopf, es könnte sein, dass ich das nicht schaffe. Wenn man jetzt irgendwie erziehungswissenschaftliche Module hört, oder auch didaktische Module gehört hat, dann weiß man, man geht da rein, man lernt was, man schließt das ab. Man verschwendet überhaupt keinen Gedanken daran, dass man das nicht schaffen könnte. Aber bei diesen fachwissenschaftlichen Modulen bekommt man häufiger den Gedanken, es könnte sein, dass ich das nicht hinkriege. Und was hätte es dann zur Folge, es könnte sein, ich könnte exmatrikuliert werden. Dann habe ich irgendwie vier Jahre oder länger studiert und das ist alles für die Katz.

Das Bachelorstudium ist verbunden mit konkreten Ängsten zu scheitern. Diese Ängste spielen im Zusammenhang mit erziehungswissenschaftlichen oder fachdidaktischen Anteilen des Studiums keine Rolle, auch nicht beim Zweitfach. Auch hier zeigt sich eine Verknüpfung mit der vorherrschenden Fachkultur. Dies fördert die innere Zerrissenheit bezogen auf das Studieren bzw. die Institution Universität. Es trägt dazu bei, dass die Studierenden sich nicht mit der Universität identifizieren können und sich unwohl fühlen. Die anderen Bereiche werden als „machbar“ und in anderen Interviews auch als „entspannter Gegenpol“ zur Belastung im Hauptfach angesehen. Das Problem was sich hieraus ergibt ist folgendes: Gerade die Studierenden, die vorher eine Berufsausbildung in einem technischen Bereich gemacht haben und auch in dem Bereich gearbeitet haben, hatten bisher eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung bezogen auf die Elektrotechnik. Die Elektrotechnik stellte eine besondere Kompetenz oder auch kulturelles Kapital dar, mit der Geld verdient werden kann, mit der man anderen helfen kann und für die man im eigenen sozialen Milieu Anerkennung erhält. Dieser Teil des Habitus, dieser Teil der eigenen Identität bildet den Kern beim Wechsel vom Facharbeitenden hin zum Studierenden bzw. Akademiker:in in diesem Bereich. Allerdings wird Elektrotechnik plötzlich im Bachelorstudium nicht mehr als eine Stärke, sondern als eine Schwäche erlebt, die zur Exmatrikulation führen kann. Das stellt das Selbstbild grundlegend in Frage und führt zu einem Zweifel bzw. einer inneren Zerrissenheit bezogen auf die eigenen Kompetenzen.

Kra: Ich hatte Angst, den Bachelor nicht zu schaffen. Das wäre schon ein ganz schönes Loch gewesen. Normale Versagensängste. […] Ich hatte ja auch nur so eine letzte Prüfung, Halbleiterbauelemente im dritten Versuch, also mündliche Prüfung. Alles andere hatte ich schon fertig, inklusive Bachelorarbeit. Und das war eine sehr sehr große Stresssituation. An der Stelle würde ich sagen. Wenn du das jetzt nicht schaffst, hast du wirklich nichts mehr […].

Ein besonderer Stressfaktor ergibt sich aus der Tatsache, dass alle anderen Module im Bachelor bestanden sein können, die Bachelorarbeit bereits abgegeben und bewertet sein kann und trotzdem noch ein im dritten Versuch nicht bestandenes Modul in Elektrotechnik zur Exmatrikulation führen kann. Mit einer Exmatrikulation aufgrund des Nicht-Bestehens eines Moduls ist ebenfalls verbunden, dass dieser Studiengang so auch an einer anderen Universität in Deutschland nicht noch einmal studiert werden kann. Zusätzlich muss die Person sich unverzüglich in einen neuen Studiengang einschreiben, um den Studierendenstatus nicht zu verlieren, an dem wiederum die Erwerbsarbeit, gegebenenfalls Unterkunft und BAföG-Zahlungen gekoppelt sein können. Es geht hier also nicht nur um die Beendigung einer akademischen Laufbahn, sondern um konkrete Existenzängste. So eine Exmatrikulation kann ohne familiäre Unterstützung oder anderweitiges soziales Kapital nicht ohne weiteres aufgefangen werden. Jeder Modulabschluss ist bei einigen Studierenden deshalb mit der Angst verbunden, dass bei nicht erfolgreichen Abschluss nach drei Versuchen die Exmatrikulation droht. Diese Versagens- und Existenzängste werden für diese Personen zum Dauerzustand und charakterisieren damit das gesamte universitäre Studium.

In keinem der Interviews wurde dieses System jedoch als unfair wahrgenommen. Die Studierenden akzeptieren das vorherrschende meritokratische System und sehen sich selbst in der Verantwortung.

Kra: Und HLB war so Auswendiglernen. Es hat auch nicht viel mit Elektrotechnik zu tun. Es ist mehr so Chemie, Physik bzw. Atom-Physik und Statistik. Ich war in den ersten drei Vorlesungen und dachte mir so ... nee in nem Jahr. […] Ohne meine Kommilitonin [Name], die ist jetzt Doktorantin, hätte ich das nicht geschafft. Ich habe das sogar so geschafft, dass ich eine Stelle bei denen angeboten bekommen habe [als studentische/r Beschäftigte/r mit Lehraufgaben]. Also ich habe dann auch alles einfach gut präsentiert. Ich habe eine 1,7 bekommen. Also ich hab mich halt so vorbereitet, dass da egal was passiert, da einfach wirklich nichts schiefgehen kann. Also ich bin da zweimal durchgefallen und am Ende steht auf dem Zeugnis eine 1,7. Da steht nicht daneben, dass es der dritte Versuch war. Das ist eigentlich ein bisschen unfair, gegenüber den Leuten, die es beim ersten Versuch geschafft haben. Also ich persönlich finde, dass der dritte Versuch einfach immer nur mit einer Vier bestanden werden kann. Das finde ich auch vollkommen in Ordnung so von der Idee her. Auf der anderen Seite hat das meinen Bachelor-Schnitte richtig gut nach oben gerissen. Die einzige andere 1,-Note in E-Technik war im Projektlabor. Sonst natürlich nur dreien und vieren.

Das praktische Wissen und die Kompetenzen aus der beruflichen Tätigkeit kann im stark theoretischen Elektrotechnikstudium an der TU Berlin nicht eingesetzt werden. Hinzu kommt die Problematik der theoretisch-abstrakten Darstellung der Inhalte, die für den Befragten nicht viel mit Elektrotechnik zu tun haben und der fehlende Anwendungsbezug. Um dieses Modul trotzdem erfolgreich abzuschließen, musste der Student Kra besonderen Aufwand betreiben, was mit viel Stress verbunden war. Die Bewältigung dieser Situation traut er sich nicht allein zu. Deshalb hat er neben hohem Zeiteinsatz fürs Lernen sein soziales Kapital aktiviert und sich Hilfe von einer Bekannten geholt. Auffällig ist nun, dass Kra sich trotz des hohen Aufwands und der am Ende sehr guten Note diese Leistung nicht selbst zuschreibt. Stattdessen wird die eigene Leistung als unfair bzw. unverdient bezeichnet. Die vorherrschenden universitären meritokratischen ‚Spielregeln‘ werden hier als gegeben hingenommen, aber eine Anpassung des Selbstbildes scheint (noch) nicht zu gelingen. Die Rolle als Außenseiter und Underdog wird trotz Erfolg nicht abgelegt.

Im Elektrotechnikstudium ist die Prüfungsform Klausur die vorherrschende Prüfungsform. Sie zeichnet sich bei den Grundlagenmodulen durch eine hohe Durchfallquote aus.

Kon: Das schöne war, dass man bei Politik an der FU in den Modulen sich aussuchen konnte, ob man in der Vorlesung ‘ne Klausur schreiben wollte um das Modul abzuschließen oder in ‘nem Seminar ‘ne Hausarbeit. Und ich hab mich dann da für die Hausarbeit entschieden, weil in E-technik schon genug Klausuren schreiben musste. Bei diesen Hausarbeiten gab es auch nicht Gefahr durchzufallen. Die schlechteste Note in Politik war eine 2,7. In der E-Technik ging es nur darum, mit 4 zu bestehen.

Es stellt sich die Frage, inwiefern auch bestimmte Prüfungsformen bzw. die fehlende Wahlmöglichkeit bei Prüfungsformen zur institutionellen Benachteiligung beitragen. Es zeigt sich außerdem, dass auch die Vergabe von Noten von der Fachkultur abhängig ist. Das stellt die Vergleichbarkeit von Noten und Abschlüssen stark in Frage.

Um diese Klausuren bestehen zu können, müssen die Studierenden viel Zeit für die Vorbereitung investieren. Wenn die Studierenden eine Klausur nicht bestehen, müssen sie zusätzliche Kapazitäten bzw. Zeit aufbringen, um diese Prüfungsleistung entsprechend den gesetzten Fristen erneut abzulegen. Dadurch, dass viele Module nur jeweils im Sommer- oder im Winter stattfinden, kann es sein, dass die Studierenden ein Jahr warten müssen, um die Prüfung erneut ablegen zu können. Dies ist einer der Hauptgründe, warum die Studierenden des beruflichen Lehramts an der TU Berlin die Regelstudienzeit nicht einhalten können. Weitere Faktoren, die die Studienzeit verlängern, sind bspw. eigene Kinder, Pflegen von Angehörigen und Erwerbsarbeit. Die Nicht-Einhaltung der Regestudienzeit führt zum Verlust der BafoeG-Berechtigung, was wiederum zur mehr Zeitaufwand bei der Erwerbstätigkeit und wiederum zur Verlängerung der Studienzeit führt. Eine lange Studienzeit wird jedoch im Herkunftsmilieu kritisch betrachtet und kann zu Konflikten mit Familie und Freunden führen.

Mue: Gespalten. Würde ich jetzt sagen. Die, die das jetzt negativ sehen, sprechen es nicht wirklich aus. Aber wie gesagt, ich komme aus [Bundesland] und vom Land und bin mittlerweile durch meinen beruflichen Werdegang vorher [ca. Mitte 30]. […] Und ich glaube, dieser Tatsache mit [ca. Mitte 30] noch zu studieren, die schlägt halt vielen übel auf. Also man hört schon mal: Willst du denn nicht irgendwann mal arbeiten? Obwohl ich ja die Arbeitszeit halt schon vorher geleistet hab, was Leute schon vorher machen. Und neben dem Studium ja auch. […] Aber ich habe bis vor einem Semester nebenbei die ganze Zeit weitergearbeitet. Und aber meine Schwestern also, das ist halt auch ein Hauptbezugspunkt in der Familie, sag ich jetzt mal. Die respektieren das. Aber ich glaube, so Freundeskreis, auch die trotzdem gute Freunde sind, die halt aus diesem Ding kommen: Da musst du ein Haus haben, da musst du ein Kind haben, da musste vom, ich sage immer ländlichen her. In der Großstadt ist es anders. Ich habe genug Leute kennengelernt hier, da juckt das keinen, da studierst du halt, bis so und so lange und dann gehste arbeiten. Ich finde, da muss man auch immer ein bisschen die Person kennen, und jeder hat auch schon mitbekommen aus meinem Bereich, dass ich eigentlich schon trotzdem schnell fertig werden will, weil ich auch immer zu Leuten sag die arbeiten, und es soll gar nicht fies klingen, dass ich froh bin, wenn ich wieder arbeiten gehe, weil ich studieren stressiger finde als arbeiten. Muss ich ganz ehrlich sagen. Man hat zwar viel Freiheiten, aber es ist heftig. Es wird schon viel verlangt, so.

Die befragte Person beschreibt zwei unterschiedliche soziale Milieus, in denen sie sich bewegt. Die Frage, wie lang ein Studium dauern darf, führt bei ihr zu einer inneren Zerrissenheit. Die Person unterscheidet hier zwischen einem sozialen Milieu Stadt – das neue Umfeld an der Universität – und einem sozialen Milieu Land – das Herkunftsmilieu. Im Herkunftsmilieu werden ein eigenes Haus und Kinder als wichtige Distinktionsmerkmale genannt. Ein langes Studium gilt in Bezug auf diese Ziele als Zeitverschwendung. Die mehr oder weniger offen geäußerte Vorwürfe aus dem Herkunftsmilieu beschäftigen die Person offensichtlich. Zudem scheint hier fehlende Anerkennung für die Leistung des Studierens ein Thema zu sein. Die Schwierigkeiten und die Anstrengungen, die mit einem Studium verbunden sind und die Erwerbsarbeit, die neben dem Studium geleistet werden muss, werden vom Herkunftsmilieu nicht anerkannt. Ein Wechsel in das neue großstädtisch-akademische Milieu scheint jedoch auch nicht gewünscht zu sein. Studieren wird schließlich als stressig und anstrengend wahrgenommen. Wieder arbeiten zu gehen, ist der Wunsch.

Ganz ähnlich wird in den Interviews eine Skepsis von durch Technik geprägten Menschen (Facharbeiter:innen/Ingenieure:innen) gegenüber dem Lehramt sichtbar, mit der die Lehramtsstudierenden umgehen müssen.

Kon: Für meinen Vater waren eigentlich Studenten Leute, die sich vor körperlicher Arbeit drücken, faul sind und den ganzen Tag kiffen und sich nur von Pizza ernähren. Das ist, glaube ich, dieses mediale Bild vom Studieren. Das ich irgendwie zwei Monate für eine Klausur gelernt hab, von der ich wusste dass die eine 80% Durchfallquote hat, durch die ich auch schon einmal durchgefallen bin und dieses Damoklesschwert der Exmatrikulation die ganze Zeit im Nacken, dass hat niemand für voll genommen. Ich kann mich noch erinnern, es waren Osterfeiertage und ich war auf dem Weg zum [Gebäude an der TU], weil wir uns da zum Lernen getroffen haben und meine Mutter hat mich angerufen und mir Vorwürfe gemacht, warum ich nicht nach [Herkunftsort] gekommen bin. Sie wollte mir nicht glauben, dass ich an ‘nem Feiertag in der Uni bin und für ‘ne Klausur lerne. Das Frustrierende dabei war eigentlich immer, dass wenn man dann Erfolgsmomente hatte und ich das dann meinen Eltern erzählt hab, wurde das nicht für voll genommen, es kam dann immer die Frage: Ja, wann verdienst du denn jetzt endlich Geld? Ich hab dann auch mit meinen Eltern nicht mehr über solche Sachen gesprochen, weil ich gemerkt hab, die verstehen das einfach nicht mehr.

Wie schon in den Zitaten davor zeigt sich hier die Angst vor der Exmatrikulation und in diesem Zusammenhang die fehlende Anerkennung für die Leistung im Studium durch die eigene Familie bzw. das Herkunftsmilieu. Die Frustration darüber, besondere Momente nicht mehr mit Menschen, die einem wichtig sind, teilen zu können, führt zu Resignation und einer Entfremdung. Der Habitus hat sich durch die Bildungsbiografie geändert und das bedingt einen Konflikt mit dem Herkunftsmilieu. Dem Herkunftsmilieu fehlt Empathie für den Lebensweg bzw. Lebensbedingungen und die Problemfelder der Studierenden. Die befragte Person hat das Gefühl, nicht (mehr) unterstützt zu werden. Im Extremfall verliert die Person soziales Kapital oder fürchtet zumindest unterbewusst es zu verlieren.

Nicht nur die Studiendauer und Studienleistung sondern auch die Studienwahl wird vom Herkunftsmilieu in Frage gestellt.

„Bol: Berufswunsch sonst so, ich wusste nicht so genau. Lehramt war für mich schon immer eine Option, weil ich ehrenamtlich tätig bin in der Jugendarbeit und hab mich dann aber dagegen entschieden, weil zum einen hatte ich so das Gefühl ich möchte mal was Neues lernen, ich möchte nicht die Schulfächer machen, die ich jetzt schon in der Schule hatte. Zum anderen hab ich in meiner Familie eine Lehramtsperson, die ich nicht mehr leiden kann, deswegen war das für mich so raus und deswegen habe ich mit E-Technik angefangen. Dann habe ich das auch ziemlich straight durchgezogen die ersten drei Semester und dann habe ich angefangen, in der allgemeinen Studienberatung zu arbeiten. Und man mag es kaum glauben, aber ich erfuhr dort, dass es tatsächlich Elektrotechnik auf Lehramt gibt und dachte so: Krass, es gäbe die Möglichkeit was Neues zu lernen und trotzdem einen Lehrberuf zu machen. Hab mich dann quasi im vierten Semester mit dem Gedanken auseinandergesetzt und hab dann ziemlich gehadert, weil ich bisher in meinem Leben der Meinung war, wenn man was anfängt, muss man es auch durchziehen und zu Ende machen. War also eigentlich der Meinung, wenn Lehrer, dann später vielleicht irgendwann. Aber dann war ich so schlau mal selber einen Beratungsgespräche in meiner eigenen Studienberatung zu machen. Und nach einer Stunde und mit vielen Tränen war ich dann der Überzeugung, dass es doch gar nicht so notwendig ist, das durchzuziehen, denn wenn man halt Lehrer wird, dann kann man auch den Studiengang wechseln und hab mich dann nach reiflicher Überlegungen mit verschiedenen Personen dazu entschieden, zum Lehramt zu wechseln. In meiner Familie, von der väterlichen Seite, hätte man lieber gesehen, wenn ich Ingenieurin werde, aber dann habe ich mich dazu entschieden das Lehramt doch ganz gut ist und war bisher auch ganz glücklich mit meinem Leben, weil ich wusste was auf mich zukommt und dass ich mich darauf freue und wusste dass es besser zu mir passt, als später im Labor zu sitzen.“

Auch hier zeigt sich eine Ablehnung „väterlicherseits“ gegenüber dem Lehramt. Das berufliche Aspirationsfeld ist hier geprägt durch das Ingenieursdasein der Eltern. Durch die milieugeprägte Vorstellung, nicht abbrechen zu dürfen und alles zu Ende zu bringen, musste die innere Zerrissenheit diesbezüglich zunächst aufwendig überwunden werden. Ebenfalls musste auch die Tätigkeit der Berufsschullehrerin erst Teil des beruflichen Aspirationsfeldes werden, da der Lehrberuf zunächst durch die allgemeine Bildung geprägt war.

„Nea: Ich hatte dann im Studium schon verschiedene Tutorien für erste und dritte Semester gegeben, wo ich dann schon selbst unterrichtet habe, und bin da recht gut reingewachsen und hat dann schon gemerkt, dass sich die Fähigkeiten habe, zu einem guten Lehrer schon habe. Dann ist mir auch ganz schnell klargeworden, nach dem sechsten Semester, jetzt musst du wechseln. Gerade Elektroingenieur den Rest deines Lebens so machen, wirst du auch nicht richtig froh. Gerade weil ich wusste, was Ingenieure halt machen, weil ich ja aus dem Berufsbereich komme.“

Wie auch im Zitat zuvor wird deutlich, dass pädagogische Vorerfahrung stark auf das berufliche Aspirationsfeld einwirken können, was dann die Studienwahlentscheidung für das berufliche Lehramt positiv beeinflusst. Andersherum zeigt sich in den Interviews, dass das Studium auch die Wahl der Erwerbstätigkeit neben dem Studium beeinflusst. Alle Befragten waren neben dem Studium als Lehrperson tätig, bspw. in der Nachhilfe, als Tutor:in oder als Aushilfslehrkraft an einer Berufsschule.

Die hier exemplarisch eingeführten Zitate zeigen die Zerrissenheit der Befragten auf. Sie setzten sich intensiv mit der Frage auseinander, wie sie sich bisher ihr berufliche Zukunft vorgestellt hatten und wie sie auch anders aussehen könnte. Die Betrachtung der eigenen beruflichen Zukunft und dessen, was später den beruflichen Alltag und die eigentlichen beruflichen Handlungen darstellen, ist hier das zentrale Merkmal des Entscheidungsprozesses. Dieses Merkmal lässt sich in allen Interviews identifizieren.

Ökonomische Gründe, soziales Ansehen, sozialer Aufstieg, der hohe Bedarf an Lehrkräften oder auch (positive) Bestärkung durch das Herkunftsmilieus spielen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Zwei Befragte hätten die Möglichkeit gehabt, in einem Familienunternehmen „Karriere zu machen“. Bei einer Person gab es den Wunsch seitens der Eltern, dass sie irgendwann das Handwerksunternehmen der Familie leiten solle. Beide Personen haben sich dagegen entschieden, mit der Begründung, dass das nicht die Tätigkeit sei, die sie mit ihrer beruflichen Zukunft verbinden. Es zeigt sich in diesem Merkmal eine ganzheitliche Orientierung, die Studierenden könnten aber auch als „Handlungsorientierte“ bezogen auf die Berufswahlmotivation bezeichnet werden.

Die Vorstellungen der Eltern bzw. des Herkunftsmilieus, was akzeptablerweise zum beruflichen Aspirationsfeld einer Person zählen sollte und was nicht, kann sich auch auf einen einzelnen Aspekt wie die Wahl des Zweitfaches beziehen und zur inneren Zerrissenheit beitragen.

Lub: Und dann war ich eigentlich damals schon mit dem Abitur der Meinung, ich mache jetzt Mathe so im Nebenfach. Und dann hat man meine Mutter mit der wieder reingeredet: Das ist total schwer und so. Und dann hab ich Sozialkunde angefangen, und da habe ich aber nach zwei Semestern gemerkt, im zweiten Semester, wo ich dann Grundlagen des politischen Systems Bildungsrepublik Deutschland gehört habe. Das erste Semester, war noch entspannt, weil ich keine Klausur schreiben musste. Im zweiten Semester musste ich die Klausur schreiben. Ich konnte mich keinster Weise dazu motivieren. […] Es war einfach nicht mein Stil. Da hab ich kein Bock drauf gehabt. Und dann habe ich mir gesagt: So, pass auf ey, du hast jetzt hier schon alles neu angefangen, du studierst jetzt, komm du versuchst einfach Mathe, du machst das jetzt einfach, du hast da Bock drauf, und es war eigentlich immer schon dein Wunsch, seit dem Abitur. Und dann habe ich mich einfach für Mathe eingeschrieben, hab mein Zweitfach gewechselt. Und habs dann auch durchgezogen. Es war zwar anstrengend und ich hatte zum Glück gute Kommilitonen kennengelernt hier. […] Und das war auch super, dass wir da so eine Gruppe waren genau. Es war einfach so ein innerer Drang. Ich wollte es einfach. So was Inneres. Du wolltest Mathe machen, dann mach das jetzt.

Personen aus dem familiären Umfeld bzw. Herkunftsmilieu können starken Einfluss auf Studienwahlentscheidungen nehmen. Auch hier zeigen sich milieubedingt Vorurteile gegenüber bestimmten Studiengängen, fehlendes Vertrauen und fehlende Unterstützung bzw. Zweifel an den Fähigkeiten. Es liegt die Vermutung nahe, dass Eltern ihren Kindern abraten, gewisse Studiengänge oder Fachrichtungen zu wählen, wenn diese nicht Teil ihres eigenen beruflichen Aspirationsfeldes sind. Teilweise wird dann auch aktiv versucht, die eigenen Kinder davon abzubringen, eine bestimmte Bildungslaufbahn einzuschlagen.

Dies gilt allgemein für Entscheidungen in der Bildungslaufbahn, bei denen die Eltern Einfluss nehmen können. Der Habitus und das damit verbundene berufliche Aspirationsfeld kann auf die eigenen Kinder projiziert werden.

Lub: Also ich hatte eine Gymnasialempfehlung in der Grundschule, hätte ich schon machen können. Aber ich weiß, dass meine Eltern gesagt haben, sie denken, dass ist nicht das richtige für mich. Im Grunde haben Sie bewusst entschieden, dass ich auf die Realschule gehe. Und ich hatte dann auch nicht mit zwölf Jahren die entscheidende Kraft mich da durchzusetzen. Und es war ja auch gut. Es war ja auch keine schlechte Zeit. Und ich war auch nie der Schüler, der super gut war.

Wie aus den im Kapitel 2 dargestellten Studien bekannt, führen Bildungsentscheidungen an den Selektionsstufen dazu, dass Personen ohne akademischen Bildungshintergrund aufgrund ihrer sozialen Herkunft bzw. der Bildungsaspiration der Eltern häufiger nicht auf ein Gymnasium wechseln. So kommt es tendenziell zu einem nicht vollständig durch Leistungen begründbaren Ausschluss von Kindern aus unteren Milieus von höheren Bildungsinstitutionen.

Auffällig an dieser Zitatstelle ist, dass die interviewte Person die elterliche Entscheidung – trotz des Widerspruchs zur Empfehlung durch die Lehrkraft – als letztlich leistungsadäquat darstellt. Die anerkannte verinnerlichte Perspektive, dass die eigenen Leistungen der entscheidende Faktor für einen erfolgreichen Abschluss des Gymnasiums sei, wird so verteidigt. Die tatsächlich stattgefundene Benachteiligung wird nicht erkannt oder zumindest nicht offen benannt. In 14 Fällen haben die Befragten entweder keine Gymnasialempfehlung bekommen oder haben trotz Gymnasialempfehlung nicht auf einem Gymnasium die allgemeine Hochschulreife absolviert. Trotzdem fühlte sich keine dieser Personen diesbezüglich ungerecht behandelt (Die Ergebnisse dieser qualitativen Studie bestätigen Eins-zu-Eins die Ergebnisse der DZHW-Studien (siehe Kapitel 2.2): Die Personen, deren Eltern akademisch geprägt sind, haben ein Gymnasium besucht. Die Personen, deren Eltern nicht akademisch geprägt sind, waren auf einer Realschule, Gesamtschule oder haben das Abitur nach der Berufsausbildung nachgeholt.)

5 Fazit

Die hier vorgestellte Studie bietet bisher einen kleinen Einblick in die Problemlagen von Lehramtsstudierenden im gewerblich-technischen Bereich an der TU Berlin. Bisher lag der Fokus lediglich auf Masterstudierende aus dem Bereich Elektro- und Informationstechnik. Es erscheint sinnvoll, den Fokus auch auf die anderen beruflichen Fachrichtungen aus dem gewerblich-technischen Bereich an der TU Berlin zu erweitern (bspw. Medien-, Metall-, Kraftfahrzeug-, Bautechnik). Hier wäre interessant, wie heterogen sich diese Gruppen darstellen und wie sich die Konflikte und Problemlagen zwischen diesen Studiengängen eventuell unterscheiden. Darüber hinaus wäre es wünschenswert auch an anderen Universitäten Untersuchungen diesbezüglich durchzuführen, um auf einer solideren Datengrundlage argumentieren zu können. Außerdem wären Interviews mit Bachelorstudierenden sinnvoll, da gerade innerhalb der Bachelorphase die häufigsten Studienabbrüche zu verzeichnen sind. Leider war es bisher nicht möglich, Studierende für ein Interview zu gewinnen, die ihr Lehramtsstudium in den genannten Studiengängen abgebrochen haben. Des Weiteren würden Interviews mit den Dozierenden eine enorme Bereicherung des Forschungsvorhabens darstellen. Gerade bei der Frage, wie Habituskonflikte in Lehrveranstaltungen entstehen bzw. vermieden werden können, ist die Perspektive der Lehrpersonen von wesentlicher Bedeutung.

Im Zusammenhang mit der Zerrissenheit gegenüber der Institution Universität und dem damit verbundenen Unwohlsein gibt es natürlich noch bestimmte Aspekte, die eine wichtige Rolle spielen können, aber innerhalb der Interviews so nicht zur Sprache gekommen sind. Unter anderem können hierbei bspw. Geschlecht, politische Orientierung, Nationalität bzw. Migrationserfahrung und in diesem Zusammenhang auch Diskriminierungserfahrungen eine Rolle spielen. Diskriminierungserfahrungen wurde in den Interviews bisher nicht explizit thematisiert.

Aufgrund unterschiedlicher Prozesse in unserer Gesellschaft werden Personen aus den unteren sozialen Milieus innerhalb des Bildungssystems benachteiligt. Auch die Ausgestaltung von Lehr-Lernprozessen und Prüfungsformaten kann Personen aus bestimmten Milieus bevorzugen oder benachteiligen. Es stellt sich deshalb die (hochschul-)didaktische Frage, wie Lehr-Lernprozesse gestaltet werden können, die unterschiedliche milieubedingte Bildungsbiografien und den daraus resultierenden Habitus berücksichtigen.

Voraussetzung dafür ist, dass sich Bildungsinstitutionen bzw. die Lehrenden das Problem habitusbedingter Benachteiligung bewusst machen. Nur so können sie bewusst dazu beitragen, soziale Ungleichheit nicht zu reproduzieren. Die innere Zerrissenheit bezogen auf die Institution Universität, das Herkunftsmilieu, die eigene Person und damit auch die eigenen fachlichen Kompetenzen beeinflussen die Selbstwirksamkeitserwartung bzw. -überzeugung einer Person. Dies kann einem Abbruch des Studiums führen. Im Lehramtsstudium für beruflichen Fachrichtungen ist dies ein verbreitetes Phänomen.

Die Frage ist, wie Bildungsinstitutionen dieser Problematik etwas entgegensetzen und zur sozialen Öffnung beitragen können. Die Reflexion des eigenen Habitus muss Teil der Bildungsprozesses werden. Hochschuldozierende, Studierende und auch Lehrkräfte müssen sich vergegenwärtigen, wie ihr sozialer/familiärer Hintergrund sich auf ihre Bildungsbiografie auswirkt bzw. ausgewirkt hat. Gerade in der Lehrkräftebildung ist es wichtig, dass Hochschullehrende und Lehramtsstudierende in die Lage versetzt werden, zu reflektieren aus welchem sozialen Milieu sie kommen, in welchem sozialen Milieu sie sich aktuell bewegen, wie der Habitus eines Menschen entsteht und wie er sich milieubedingt unterscheidet. Des Weiteren muss thematisiert werden, wie das Herkunftsmilieu und der Habitus sich auf die Bildungsbiografie bzw. die Bildungsaspiration eines Menschen auswirken. In diesem Zusammenhang sollte ebenfalls thematisiert werden, wie dies mit gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen zusammenhängt, wie das Bildungssystem soziale Ungleichheit reproduziert und wie dies innerhalb von Lehr-Lernprozessen vermieden werden kann. Ebenfalls sollte die habituelle Passung bzw. fehlende habituelle Passung zur vorherrschenden Fachkultur aufgezeigt werden und wie dies mit eventuell vorherrschendem Unwohlsein bzw. Distanz zur Bildungsinstitution zusammenhängen kann. Alle beteiligten Akteure müssen diesbezüglich sensibilisiert werden und im Idealfall auch institutionelle Prozesse und Gegebenheiten erkennen, die soziale Ungleichheit hervorrufen können. Eine fehlende habituelle Passung darf keinen Nachteil im Studium darstellen. Personen dürfen nicht aufgrund ihres Habitus bzw. einer fehlenden habituellen Passung (institutionell) diskriminiert werden.Es stellt sich die Frage, wie der Prozess der Reflexion des eigenen Habitus und des Herkunftsmilieus am besten moderiert und angeleitet werden könnte, ohne Personen zu stigmatisieren. Gerade bildungsunsichere Personen neigen dazu, nicht auffallen zu wollen und sich auch nicht in irgendeiner Form ‚outen‘ zu wollen (siehe Kapitel 2.2).

Ein weiterer in den Interviews häufig genannter Punkt ist die fehlende Vernetzung der Studierenden untereinander und damit einhergehend die fehlende Identifikation mit dem Studiengang und der Bildungsinstitution. Es macht also Sinn, Lehrveranstaltungen methodische so auszugestalten, dass diese auch einen Beitrag dazu leisten, Studierende miteinander zu vernetzen bspw. über Gruppen- und Projektarbeit, Think-Pair-Share-Methode, Mentoring-Programme, Stammtische, Semesterabschlussveranstaltungen oder studiengangsspezifische Vernetzungstreffen. Dies lässt sich zudem durch die Sozialkompetenzentwicklung begründen, zu denen ein Hochschulstudium laut Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse und dem deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen beitragen soll (DQR 2011; KMK 2017, 4). Auch Seminar-, Arbeits- und/oder Pausenräume, die von den Studierenden mitgestaltet werden, können helfen, einen Identifikationsrahmen im Bezug auf die jeweilige Bildungsinstitution aufzubauen (Hübner 2016).

Um Habituskonflikte mit dem Herkunftsmilieu abzubauen wären Versuche notwendig, das Herkunftsmilieu einzubeziehen. Hierfür könnte sich Veranstaltungen eignen, in denen die Familie und Freunde der Studierenden gezielt eingeladen werden, um die Institution kennenzulernen, bspw. Studienauftaktveranstaltungen, Studienabschlussveranstaltungen, Semesterabschlussveranstaltungen, Lange Nacht der Wissenschaften oder spezielle Informationsveranstaltungen.

Des Weiteren stellt sich die Frage nach einer habitussensiblen Hochschuldidaktik, also Lehr-Lernarrangements, die so konzipiert sind, dass sie den habituellen Prägungen der Studierenden gerecht werden. Hierfür eignen sich als Grundlage Konzepte, die praktisches Lernen mit konkreten persönlichen Erfahrungen und konzeptuelle theoretische Auseinandersetzung anbieten, insbesondere handlungsorientierte Ansätze (Gudjon, 2014) bspw. das strukturierte Forschende Lernen (Huber, 1970), fallbasiertes bzw. problemorientiertes Lernen (Weber, 2004) sowie Projektorientierung im Sinne Freys (Frey, 2005).

Neben der Verminderung der Abbruchquote im beruflichen Lehramt könnte eine habitussensible Öffnung von Hochschulen ein effektives Mittel darstellen, um ein universitäres Hochschulstudium zum Teil des beruflichen Aspirationsfeldes von Personen aus dem (Fach-)Arbeitermilieu werden zu lassen. So könnten langfristig die Immatrikulationszahlen in den gewerblich-technischen Lehramtsstudiengängen erhöht werden.

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Anhang

Tabelle 1: Immatrikulationszahlen Studierende der Fachrichtung Elektrotechnik Lehramt TU Berlin (2021)

WiSe

Anzahl Personen immatrikuliert Bachelor Lehramt Elektrotechnik grundständig

Anzahl Personen immatrikuliert Master Lehramt Elektrotechnik grundständig

Anzahl Personen immatrikuliert Master Lehramt Elektrotechnik Quereinstieg

2015/2016

18

5

 

2016/2017

13

5

 

2017/2018

15

3

4

2018/2019

11

4

18

2019/2020

10

2

20

2020/2021

6

1

15

Zitieren des Beitrags

Stoll, Christian (2022): Habituelle Passung im Studium. Herausforderungen und Problemlagen im beruflichen Lehramtsstudium. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 42, 1-28. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe42/stoll_bwpat42.pdf (30.06.2022).