bwp@ 42 - Juni 2022

Soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit in der Berufsbildung

Hrsg.: Karin Büchter, H.-Hugo Kremer, Marcus Eckelt & Franz Kaiser

‚Microaggressions’ als Herausforderung für geschlechteruntypische Auszubildende: Anwendungsmöglichkeiten des Erklärungsansatzes im Kontext von Bildungs(un)gerechtigkeit in Ausbildungsverläufen

Beitrag von Timm Kroeger, Frank Meng, Ruth Müntinga & Jakob Stephan
bwp@-Format: Forschungsbeiträge
Schlüsselwörter: Mikro-Aggressionen, Ausgrenzungserfahrung, Ausbildungsverläufe, Berufsbildung, Geschlecht

Nach wie vor sind viele Berufe geschlechterblockiert. Die Zahl der Zugänge und der Verbleib von geschlechteruntypisch ausgebildeten Personen stagniert besonders im Handwerk, trotz zahlreicher Bemühungen vieler Akteur:innen. Genderbezogene ‚Microaggressions‘ in der Maler- und Lackiererinnen-Ausbildung bieten eine erweiterte Sicht auf die Mechanismen, mit denen bestehende Machtverhältnisse und Geschlechterblockaden reproduziert werden. Sie können dazu beitragen, die (angesichts hoher Bildungsabschlüsse) relativ vielen vorzeitigen Vertragslösungen und verbreitete Berufswechsel in frauendominierte oder Mischberufe zu erklären. Die Anwendung des ‚Microaggressions‘-Theorieansatzes bringt neue Perspektiven im Bereich der Berufsbildung und zeigt – hier exemplarisch anhand von Interviews mit Frauen in der Maler- und Lackiererinnen-Ausbildung – wie geschlechterbezogene Stereotype und subtile bis offene Diskriminierungsformen während der Ausbildung negativ das weitere Berufsleben der Betroffenen beeinflussen. Darüber hinaus werden im Artikel perspektivisch (Handlungs-)Empfehlungen für Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe skizziert, um den Befunden entgegenzuwirken.

‘Microaggressions’ as a challenge for gender atypical vocational trainees: Possible applications of the explanatory approach in the context of educational (in)equity in vocational training

English Abstract

There is still a barrier faced by certain genders for many professions. Both access numbers and continuance of vocationally trained persons remain static especially in craft business despite the efforts of multiple stakeholders. Gender Microaggressions in vocational training for professional painters offers an enhanced view of mechanisms by which existing power relations and gender blockades are reproduced. This can go some way towards explaining the relatively high number of premature contract terminations (in regard to high educational qualifications) and commonplace occupational changes towards female dominated or mixed gender professions. Applying the Microaggression-Theory offers new perspectives in the field of vocational training and shows, based on interviews with women receiving vocational training to become professional painters, how gender stereotypes and subtle, as well as open, types of discrimination during such training further negatively impacts the professional life of those affected. Furthermore, this article provides an alternative perspective and recommends a possible course of action for professional schools and training companies to implement in order to address the findings.

1 Einleitung

Die Öffnung geschlechterblockierter Berufe insbesondere für Frauen ist seit Jahrzehnten regelmäßiger Gegenstand bildungspolitischer Interventionen. Trotz der kritischen Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen in Kinderbüchern und Lehrmaterial, Bemühungen um den Ausbau der Genderkompetenz in allen Institutionen der Bildung und Berufsorientierung sowie vieler Kampagnen zur Ansprache der Minderheit für geschlechterblockierte Berufe, hat sich an der Situation kaum etwas verändert (Busch-Heinzmann 2015, 571).[1]

Seltsam unterbelichtet in der Auseinandersetzung mit Geschlechterblockaden sind die Erfahrungen von geschlechteruntypischen Auszubildenden in ihrem Berufsalltag, denen in der Kampagnenpraxis zugleich aber eine hohe Relevanz als ‚Role Models‘ zugewiesen wird. Zudem wird auf überproportional hohe Quoten vorzeitiger Vertragslösungen hingewiesen (zuletzt BMBF 2021, 80). Auch bilden geschlechteruntypisch Ausgebildete aufgrund institutioneller Barrieren und spezifischer Erfahrungen relativ häufig keine stabile berufliche Identität aus und wechseln in geschlechtertypische oder -offene Berufstätigkeiten („Drehtür“; Jacobs 1989; für Deutschland: Erlemann 2002). Dies deutet darauf hin, dass die Erfahrungen während der Ausbildung im Kontext der Reproduktion von beruflichen Geschlechterblockaden relevant sind.

Um eine möglichst große Bandbreite an Ausgrenzungserfahrungen in die Analyse aufnehmen zu können, wird in dieser Untersuchung der Ansatz der ‚Microaggressions’ herangezogen. Der in Europa wenig rezipierte Ansatz fokussiert folgenreiche Ausgrenzungen, ohne offene Formen der Diskriminierung zu vernachlässigen. Er tritt an, das erfasste Spektrum an interpersonalen Ausgrenzungen zu erweitern und deren Folgen umfassender beschreiben zu können.

Im vorliegenden Beitrag wird eine Interviewreihe mit weiblichen Auszubildenden aus dem Malerhandwerk entsprechend ausgewertet.[2] Nach Vorstellung und Diskussion des Ansatzes gilt es, die Auswertungsmethode vorzustellen, ehe abschließend die empirischen Befunde referiert werden. Hier fließen auch einige Befunde aus ergänzenden Interviews mit Lehrkräften und einer Ausbilderin aus dem Malerhandwerk ein. Abschließend erfolgt ein Fazit, in welchem einige Handlungsoptionen bezüglich ‚Microaggressions’ kursorisch vorgestellt werden.

2 ‚Microaggressions‘ als Theorie- und Methodenansatz

Der Begriff ‚Microaggressions‘ wurde in den 1970er Jahren von Pierce in den wissenschaftlichen Rassismus-Diskurs eingeführt. Ihm ging es um die Bewusstwerdung von unterschwellig kommunizierten Entwertungen der schwarzen Bevölkerung in Fernseh-Werbespots, die zur Reproduktion des Rassismus beitragen würden (Pierce et al. 1977). Er zielte auf eine Pädagogik ab, die sensibel für die oft unbewussten Formen der Diskriminierung sein solle. Bei der Definition der ‚Microaggressions‘ greift er noch nicht auf alle Formen interpersonaler Diskriminierung zurück, sondern beschränkt sich auf die – von der weißen Mehrheitsgesellschaft kaum zur Kenntnis genommenen – subtilen, oft unbewussten Herabsetzungen (Pierce et al. 1977, 65).

Es dauerte weitere 30 Jahre, bis der Begriff von der psychologischen Rassismusforschung erneut aufgegriffen und konzeptionell entfaltet wurde. Weiterhin mit einem aktivistischen Fokus auf die Mehrheitsgesellschaft, gingen Sue et al. (2007) in ihrer Begriffsbestimmung nun über subtile Formen der Herabsetzung hinaus. Sie integrieren diese vielmehr in ein mehrstufiges Konzept zur Erfassung jedweder interpersonalen Diskriminierung (siehe Abb. 1). Allerdings gehen sie davon aus, dass mit der zunehmenden Tabuisierung von offener Diskriminierung unterschwellige Herabsetzungen und Ausgrenzungen an Relevanz für die Absicherung von (männlichen oder weißen) Machträumen und der Reproduktion von Ungleichheit gewinnt. Als Forschungsansatz erlebte das Konzept in den USA große Aufmerksamkeit, sah sich aber auch heftiger Kritik ausgesetzt. Laut Sue und Spanierman (2020, XII) wurden in den USA zwischen 2010 und 2020 etwa 20.000 Publikationen zum Thema ‚Microaggressions’ veröffentlicht. Dabei wurde auch das Spektrum an analysierten Ausgrenzungsmerkmalen um das Merkmal Geschlecht erweitert. Auch die Wirkungen unterschwelliger Herabsetzung gerieten nun mit Hilfe des Konzeptes stärker in den Blick. In Europa dagegen fand der Ansatz bislang wenig Beachtung.

2.1 Begriffsdefinition

Sue und Spanierman (2020, 8) definieren ‚Microaggressions’ als „verbal and nonverbal interpersonal exchanges in which a perpetrator causes harm to a target, whether intended or unintended.” Es handelt sich um kurze und alltägliche Erniedrigungen, die ablehnende, abfällige und/oder negative Kränkungen gegenüber einer unterdrückten Gruppe (hier: Frauen in Männerberufen), vermitteln (z.B. Merriam-Webster Collegiate Dictionary; Sue/Spanierman 2020, 8; Torino et al. 2018, 3). Der Begriff ‚alltäglich‘ bezieht sich hierbei auf gewöhnlich erscheinende Interaktionen, die unterschiedlichen Personen widerfahren oder widerfahren können. Es beschränkt sich aber nicht nur auf unterschwellige Herabsetzungen, sondern integriert auch sehr offensive Formen der Diskriminierung einschließlich offene (sexuelle) Belästigung und Gewalt. Sue und Spanierman beschreiben drei Dimensionen der ‚Microaggressions’ (2020, 41ff.):

  • ‚Microinvalidation‘ (Mikro-Entwertungen) sind oftmals unbewusste Aussagen oder Verhaltensweisen, welche die Gedanken, Gefühle oder Alltagserfahrungen einer Minderheit ausschließen, negieren oder nicht ernst nehmen.
  • ‚Microinsult‘ (Mikro-Beleidigungen) sind oft unbeabsichtigte verbale und non-verbale Verhaltensweisen, die Unhöflichkeit sowie Insensibilität beinhalten und u.a. die Geschlechteridentität erniedrigen, bzw. dieser weniger Wertigkeit zusprechen.
  • ‚Microassault‘ (Mikro-Angriffe) sind offensichtliche verbale oder non-verbale Angriffe und Gewalt, mit dem Ziel Diskriminierungen und voreingenommene Haltungen zu vermitteln.

Abbildung 1: Darstellung der drei Unterformen von ‚Microaggressions‘ – von subtil bis sichtbar/bewusst (Eigene Darstellung in Anlehnung an Sue/Spanierman (2020))Abbildung 1: Darstellung der drei Unterformen von ‚Microaggressions‘ – von subtil bis sichtbar/bewusst (Eigene Darstellung in Anlehnung an Sue/Spanierman (2020))

Insbesondere bei ‚Microassaults‘, aber auch bei bewusst vorgetragenen ‚Microinsults‘, die auf eine offene Brüskierung der Rezipient:innen abzielen (Torino et al. 2018, 4f.), ist zu beachten, dass sie aufgrund einer gestiegenen gesellschaftlichen Tabuisierung meist nur unter mindestens einer von drei Bedingungen ausgelebt werde, nämlich wenn…

  1. ein gewisser Grad der Anonymität gesichert ist;
  2. die Anwesenheit anderer gegeben ist, die ihre Vorurteile (Einstellungen und Handlungen) teilen oder tolerieren;
  3. die Angreifenden die Kontrolle über ihre Gefühle und Handlungen verlieren.

In der Kategorie der ‚Microinvalidation‘ dagegen, wird in Abgrenzung zu den beiden anderen Kategorien vor allem auf das Negieren von Ausgrenzungserfahrungen fokussiert. Auch sehr subtile und unbewusste Ausdrucksformen von Diskriminierung fallen darunter.

Der ‚Microaggressions’-Ansatz eignet sich besonders gut, um die anhaltende Evidenz des Sexismus (inkl. benevolenter Sexismus oder Kavalierstum sowie positive Diskriminierungen) in westlichen Gesellschaften und die Reproduktion der Geschlechterungleichheit – auch in der Berufsbildung – ein Stückweit zu erklären (Basford/Offermann/Behrend 2014, 340). Er bietet die Möglichkeit, Diskriminierungen von ihrer subtilsten bis zur offensten Form zu beleuchten und so die volle Bandbreite von Sexismen und deren Auswirkungen zu verstehen. „[…] because explicit sexism still exists as well, applying the construct of gender microaggressions – examining discrimination from its most subtle to most overt manifestations – is necessary to understand the full range and effects of sexism that are currently confronting women“ (ebd., 344f.).

2.2 Abgrenzung zu ‚Macroaggressions‘ bzw. struktureller Diskriminierung

Trotz der naheliegenden Assoziation, die ursprünglich noch bei Pierce tatsächlich im Begriff ‚Microaggressions´ angelegt war, darf „micro“ keinesfalls als „geringfügige“ Herabsetzung in sozialen Handlungen verstanden werden. Wenn Sue und Spanierman (2020, 7f.) jegliches verbale und non-verbale Verhalten im Aufeinandertreffen von Personen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung von ‚Microaggressions’ stellen, wäre jede interpersonale Herabsetzung bis hin zur offenen Diskriminierung und Gewalterfahrung als solche zu deuten. Es handelt sich also um diskriminierendes Verhalten zwischen Akteuren auf der soziologischen Mikroebene. Allerdings findet bei ‚Microaggressions’ eine Abgrenzung von singulären Situationen statt und es wird auf kontinuierliche und wiederkehrende Handlungen abgehoben, die in ihrer Kumulation Wirkung entfalten. Dabei können die Ausübenden wechseln (Torino et al. 2018, 9). ‚Microaggressions‘ spiegeln bestehende Machtstrukturen (hier nach Geschlecht) und Unterdrückung wider (ebd., 10). Damit wird auf ein naheliegendes Wechselverhältnis von institutioneller und struktureller Diskriminierung (‚Macroaggressions‘) einerseits und ‚Microaggressions‘ andererseits verwiesen.

Strukturelle Diskriminierung umfasst alle Sachverhalte, die eine Herabsetzung von Menschen aufgrund eines besonderen Merkmals begründet. Im Kontext Geschlecht stehen formal-rechtliche Barrieren etwa beim Zugang zu Institutionen, Berufen oder Tätigkeiten heutzutage weniger im Fokus als vielmehr Normen, Regeln, Routinen und Begründungen in gesellschaftlichen Institutionen, die Ungleichheiten erzeugen und reproduzieren („institutionelle Diskriminierung“). Allerdings wirken frühere auch formale und berufsbezogene Diskriminierungen von Frauen bis in die Gegenwart hinein.

Dass ‚Microaggressions’ in ‚Macroaggressions’ eingebettet und von diesen gewissermaßen legitimiert sind, liegt auf der Hand. Institutionelle Arrangements und Abläufe sowie einsozialisierte Deutungsmuster, prägen bewusst und vorbewusst unser soziales Handeln, selbst wenn staatliche Institutionen eine Politik der Antidiskriminierung betreiben und diese sogar als Querschnittaufgabe (gender mainstreaming) wahrnehmen. Neben emanzipativen Programmen und Institutionen (z.B. Gleichstellungsbeauftragte) gibt es in Deutschland und Europa zahlreiche Gesetze, die Diskriminierung verbieten und zu einer aktiven Gleichstellungspolitik in allen Institutionen auffordern.[3] All dies hat bei Weitem nicht dazu geführt, dass geschlechterbezogene Barrieren sowie offener und subtiler Sexismus in der Arbeitswelt erodiert wären.

2.3 Kritik am theoretischen Ansatz

Der ‚Microaggressions’-Ansatz ist nicht unumstritten. Insbesondere wird die Tragweite von ‚Microaggressions’ als empirisch nur schwer überprüfbar kritisiert, weil die subjektive Rezeption von Handlungen zum entscheidenden Indikator gemacht werde. „Ob etwas als Mikro-Aggression gewertet wird oder nicht, hängt entscheidend vom Erleben der betroffenen Personen ab“ (Wolf 2021; siehe auch Lilienfeld 2017, 178). Auch Il-Tschung Lim problematisiert die Deutungshoheit des Rezeptierenden. Dadurch sei die Intention des Senders unerheblich. Doch nicht alle mehrdeutigen Äußerungen dürften pauschal als ‚Microaggressions’ gewertet werden (Wolf 2021). Bisherige Arbeiten zu ‚Microaggressions’ nehmen diese explizit in den Fokus, sei es weil bereits bei der Gewinnung von Interviewpartner:innen explizit zum Austausch über solche Erfahrungen eingeladen wird oder weil die Fragen vornehmlich derartige Erfahrungen fokussieren.

Für die Erhebungen in diesem Forschungsprojekt gelten diese kritischen Bedingungen jedoch nicht: In der Einladung für Interviews an Auszubildende wurden die Themen Ausbildungsverläufe und Geschlecht allgemein angesprochen. Auch die Interviewfragen zielten nicht primär auf ‚Microaggressions’-Erfahrungen. Erst durch Nachfragen im Interview wurde auf Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen eingegangen. Hier zeigt sich: Viele geschlechteruntypisch ausgebildete Auszubildende erleben subtile Herabsetzungen nicht bewusst als geschlechterbezogene Diskriminierung. In vielen Fällen werden soziale Geschlechterkonstruktionen und ihnen zugrunde liegende Machtverhältnisse nicht als solche reflektiert. Da junge Frauen und Männer gleichwohl als „untypische“ Auszubildende angesprochen sind, scheinen sie häufiger (gerade in der Beschreibung von Binnenverhältnissen im Betrieb) intuitiv die damit verbundene, natürlich nicht insinuierte Exotisierung zurückweisen zu wollen. Häufiger werden bestimmte als unangenehm erlebte Verhaltensmuster, als „nicht sexistisch gemeint“ eingeordnet.

Gleichwohl ist der Kritikpunkt unbedingt ernst zu nehmen. Aufgrund unterschiedlicher Geschlechtersozialisationen wäre es interessant zu untersuchen, inwieweit Frauen und Männer bestimmte geschlechterbezogene Zuschreibungen als Herabsetzung wahrnehmen. Um der Gefahr einer zu starken Subjektivierung methodisch zu begegnen, wurden für die Sonderauswertung, die diesem Artikel zugrunde liegt, analog zu Friedlander (2018, 9) nur solche berichteten Phänomene als ‚Microaggression’ bestimmt, die über die oben angeführte Definition hinaus zudem folgende Bedingung erfüllen: „If we determine that a particular act is a microaggression by linking it to an objectively existing form of structural oppression, then it also follows hat microaggressions and their harm exist objectively, not subjectively“ (ebd.). Durch diesen Bezug wird die Identifizierung einer Mikro-Aggression objektiviert; sie existiert ohne Validierung von Ausübenden oder Betroffenen (ebd., 10).

Die weitere Methodenkritik reicht vom Mangel an Daten und intensiver Prüfung (Lilienfeld, 2017, 178), bis hin zur Kritik, dass in einer Reihe amerikanischer Studien die Standards wissenschaftlicher Forschung nicht hinlänglich angewandt worden seien (z.B. Nagai 2017). Weitere Kritikpunkte, wie die Verbreitung von Suggestivfragen in mancher Studie oder das Machtgefälle zwischen Interviewer:in und Interviewten (ebd., 51, 53), betreffen allgemeine Standards professioneller Sozialforschung, die immer zu berücksichtigen sind. Nicht zuletzt werden die häufig geringen Fallzahlen in den Studien kritisiert, doch auch in der critical (race) theory wird das Storytelling Einzelner als legitime wissenschaftliche Methode eingesetzt, weshalb eine Fokusgruppe wie hier (16 Interviewpartnerinnen) ausreichend sein kann. Zudem geht es in diesem explorativen Vorgehen nicht um den Nachweis statistisch exakter Bedeutungsgehalte bestimmter Erfahrungen, sondern um die Beleuchtung relevanter Erfahrungen junger Frauen in männlich dominierten Umfeldern. Schließlich kritisiert wiederum Nagai, dass bisher in keiner Studie Ergebnisse repliziert wurden, bzw. dies aufgrund der jungen Forschung bislang möglich war (Nagai, 2017, 55).

Bei aller angebrachten und nachvollziehbaren Kritik, die sicherlich zur Verbesserung des Theorieansatzes beitragen kann, sollte anerkannt werden, dass die Debatte allein bereits ein Bewusstsein dafür schafft, dass in der Gesellschaft auch subtile und versteckte Formen von Diskriminierung existieren und wirken, die im wissenschaftlichen Diskurs jedoch noch unterbelichtet sind. Darüber hinaus muss das generelle Problem der Sozialforschung angemerkt werden, dass jedwede Form von Beobachtung durch die beobachtende Person beeinflusst und gar verfälscht werden kann.

3 ‚Microaggressions‘ in Bezug auf Ausbildung und Berufsbiografien

Geschlechterbezogene Diskriminierungen haben negative Auswirkungen auf Arbeitsergebnisse, Zufriedenheit im Beruf, Selbstverpflichtung gegenüber den Arbeitgebenden und Wechselabsichten (Foley/Hang-Yue/Wong 2005). Die Anwendbarkeit des Theorieansatzes wird exemplarisch ausgeführt, um auch die Relevanz des Themas für geschlechteruntypische Auszubildende zu beleuchten. Welche Rolle spielen ‚Microaggressions‘? Welche Auswirkungen werden erlebt? Wo liegen Herausforderungen und Chancen des Theorieansatzes?

Das oftmals mangelnde Bewusstsein, insbesondere der Ausübenden, die ihre Aussagen oder ihr Verhalten als harmlos oder vernachlässigbar bezeichnen, macht es für Betroffene besonders schwer, subtile Formen der ‚Microaggressions‘ als solche zu benennen. Anders als bei offenen Diskriminierungsformen, z.B. ‚Microassaults', die mittlerweile häufiger gesellschaftlich verurteilt werden, dürfen diejenigen, die unterschwelligen ‚Microaggressions‘ ausgesetzt sind, oft nicht reagieren. „In turn, targets are faced with the additional burden of not overreacting to the seemingly innocuous situation because the perpetrator likely had no awareness that the behavior was hurtful“ (Wang/Leu/Shoda 2011, 1666). Männer und Frauen nehmen zudem ‚Microaggressions‘ unterschiedlich wahr. Frauen tendieren dazu Diskriminierungen stärker als Männer wahrzunehmen, insbesondere wenn diese subtil sind. (Basford/Offermann/Behrend 2014, 340). Im Kontext Arbeit ist zudem bekannt, dass ein Bewusstsein über ein negatives Arbeitsklima insbesondere Frauen belastet (Miner-Rubino/Settles/Stewart 2009, 472).

Treiber für die Wahrnehmung von ‚Microaggressions‘ ist die subjektive Situierung der Betroffenen in einer Minderheitenrolle. Sollte angenommen werden, dass eine Person der dominanten Gruppe (im Fall der Geschlechter-,Microaggressions‘ in beinahe allen Kontexten Männer) der Auslöser ist, können ‚Microaggressions‘ in Situationen gesehen werden, die ansonsten harmlos erscheinen (Torino et al. 2018, 5). Dies wird bei der Auswertung der Interviews dahingehend berücksichtigt, dass zunächst die Wahrnehmung des Minderheitenstatus der Interviewten im beruflichen Kontext erfragt wird.

Zu beachten ist weiterhin, dass die aktuellen Machtverhältnisse so wirken, dass das Verhalten der Ausübenden gerechtfertigt erscheint und der Blick auf Betroffene gerichtet wird. Beides wird in der hier vorgestellten empirischen Auswertung bestätigt: Betroffene verzeihen den Ausübenden oft oder rechtfertigen deren Verhalten.[4]

Die Erforschung von ‚Microaggressions‘ ist eine komplexe wissenschaftliche Herausforderung, da

  • mit expliziten und impliziten Vorurteilen umgegangen werden muss;
  • die Erfahrungen marginalisierter Gruppen erforscht wird;
  • mikro-aggressive Dynamiken in die Interaktion zwischen Täter, Betroffene und externer Umgebung eingefasst sind;
  • Emotionen der Involvierten angesprochen werden;
  • es schwer ist, diese von umfassenden sozialen Dimensionen der Ungleichheit, wie Macht und Privilegien zu trennen.

Die Schwierigkeit liegt zudem darin, dass ‚Microaggressions‘ auf erfahrener Realität beruhen und es dabei stets darum geht, den Stimmen der Unterdrückten, Ignorierten und den zum Schweigen gebrachten, zuzuhören (Sue 2017, 171).

4 Empirische Befunde zu ‚Microaggressions‘ in der Ausbildung zur Malerin/Lackiererin

Die empirische Grundlage dieses Beitrags sind Interviews mit 16 weiblichen Auszubildenden zum Beruf der Maler- und Lackiererin.[5] Es wurden neben Erfahrungen aus der Ausbildungspraxis auch Sozialisationsfragen und die biographischen Wege in den geschlechteruntypischen Ausbildungsberuf thematisiert. Um ein umfassenderes Bild über die Ausbildungsverhältnisse gewinnen zu können, wurden über die Auszubildenden hinaus drei Lehrkräfte und eine Ausbilderin interviewt.

4.1 Weibliche Auszubildende im Malerhandwerk: Statistik und die Befragtengruppe

Frauen besetzen gut 15 Prozent der Ausbildungsplätze im Gewerk der Maler- und Lackierer:innen. 2020 waren 16,2 Prozent oder 1.035 der insgesamt 6.375 Neuzugänge in Deutschland weiblich. Der Anteil der Frauen an den vorzeitigen Lösungen der Ausbildungsverträge entspricht in etwa ihrem Anteil an allen Auszubildenden.[6] Allerdings hätten einige sozialstrukturelle Merkmale einen deutlich unterproportionalen Anteil vermuten lassen, da Lösungsquoten mit Bildungsabschlüssen korrelieren. Laut Berufsbildungsbericht 2021 brechen Auszubildnede ohne Abschluss (39,4 %) und mit Hauptschulabschluss (38,9 %) ungleich häufiger die Ausbildung ab als Menschen mit Realschulabschluss (25,3 %) oder Hochschulzugangsberechtigung (16,1 %) (BMBF 2021, 97). Frauen im Malerhandwerk haben tendenziell höhere Schulabschlüsse, so dass eine höhere Lösungsquote bei den Männern erwartbar gewesen wäre.[7]

Der Feldzugang wurde insbesondere über Lehrkräfte an den Berufsschulen hergestellt. Bezogen auf die Maler- und Lackierer:innen als einem relativ kleinen Gewerk war für das erste Ausbildungsjahr in Bremen eine Totalerhebung geplant, die nicht ganz eingelöst wurde. Teilweise flossen Interviews mit Auszubildenden aus dem zweiten Ausbildungsjahr und aus Bremerhaven mit in das Sample ein. Die Lehrkräfte stellten sich auch selbst für problemzentrierte Interviews zur Verfügung. Die Interviews selbst wurden individuell verabredet und fanden meist in der Berufsschule, in Bremerhaven auch bei einem Bildungsträger statt. Mittels leitfadengestützter, biographischer und problemzentrierter Interviews konnte in vertrautem Rahmen über die individuellen Erfahrungen der Auszubildenden vor und während der Ausbildung gesprochen werden.

Insgesamt basiert diese Studie auf einer recht homogenen Gruppe: Zum Erhebungszeitpunkt waren die Frauen zwischen 16 und 31 Jahren alt, kommen überwiegend aus sozialstrukturell marginalisierten Quartieren und zeigen kreative Neigungen. Vier der Auszubildende definieren sich nicht als heterosexuell, wobei die genaue sexuelle Orientierung unklar bleibt. Bei der Orientierung zum Beruf spielen bei auffällig vielen Frauen Bezugspersonen aus dem näheren familiären Umfeld eine prägende Rolle. Zwei der 16 Befragten haben zwischenzeitlich ihre Ausbildungsverträge gelöst und das Berufsbild verlassen.[8]

4.2 Auswertungsverfahren

In unserem Kontext erscheinen uns zwei, für die Analyse von ‚Microaggressions‘ bereits erprobte, Auswertungsverfahren sinnvoll: (1) Der an die „Consensual Qualitative Research Method“ (CQR) orientierte Ansatz der Psychologin Hill (2012) sowie die „Thematische Analyse“, wie sie von den feministischen Psychologinnen Braun und Clarke (2006) für die Analyse von ‚Microaggressions‘ fruchtbar gemacht wurde.[9] In unserem explorativen Vorgehen wurden die Methoden in Verbindung mit der Grounded Theory angewandt.

Nach einer freien Interpretation der einzelnen transkribierten Interviews im Forschungsteam wurden Auffälligkeiten, wiederkehrende Phänomene und relevante Querschnittsthemen identifiziert. Zusammen mit einigen aus dem Stand der Forschung abgeleiteten Hypothesen, bildete dieser Arbeitsschritt die Grundlage für die Entwicklung von Codes, die wie im CQR vorgesehen, sukzessive durch Testen und Verbesserung überprüft und angepasst wurden, bis sie ein fertiges Kategoriensystem ergaben. Beim Vergleich der Markierungen, Interpretationen und Themen konnte eine hohe Übereinstimmung festgestellt werden, nur vereinzelt wurden Codierungen uneinheitlich gesetzt (max. zwei pro Interview) oder Themen nicht einheitlich eingestuft.

Abbildung 2: Auswertungsverfahren für ‚Microaggressions‘ nach Hill in Anlehnung an die CQR-Method (Eigene Erstellung in Anlehnung an Hill (2012) sowie Braun/Clarke (2006))Abbildung 2: Auswertungsverfahren für ‚Microaggressions‘ nach Hill in Anlehnung an die CQR-Method (Eigene Erstellung in Anlehnung an Hill (2012) sowie Braun/Clarke (2006))

Um eine vergleichbare Codierung aller Interviews mit den Maler- und Lackiererinnen abzusichern und damit eine Objektivierung des subjektiv Erlebten zu ermöglichen, wurden sämtliche Interpretationen zu den verschiedenen Untertypen der ‚Microaggressions‘ von mindestens drei wissenschaftlichen Mitarbeitenden unabhängig vorgenommen.

Die Zuordnung der Zitate zu einer der drei Kategorien innerhalb des theoretischen Ansatzes der ‚Microaggressions‘ (‚Microinvalidation‘, ‚Microinsult‘, ‚Microassault‘) stellte sich insgesamt nach den Codierungsschleifen der CQR als relativ unkompliziert dar, was zeigt, dass eine Objektivierung von subjektiven Erlebnissen möglich und belegbar ist.

Folgendes Zitat dient exemplarisch der Veranschaulichung der teilweise gleichwohl anspruchsvollen Interpretationsleistungen bei der Zuordnung:

„…da war so ein komischer Hilfsarbeiter von so Gerüstbauern und der war/ hat uns immer ganz, ganz komisch und auch/ Das Ding ist bei Männern, Männer, perverse Männer haben dieses Perverse in ihren Augen, wenn die eine Frau sehen. [...] Und der war dann auch immer so: „Jaa, ich freue mich so, dass ihr da seid und jetzt, da wir mal alleine sind…“ und immer so/ Du hast an einem Fenster gearbeitet und er stand an der anderen Seite und hat dann die ganze Zeit [...] ans Fenster geklopft und wollte unbedingt deine Aufmerksamkeit und wollte unbedingt mit dir reden und wollte unbedingt was mit dir machen und mit dem wolltest du einfach nicht alleine sein.“ (A02).

In der subjektiven Wahrnehmung der Auszubildenden sind die „perversen Blicke“ im Fokus. In Verbindung mit dem konstanten Suchen von Aufmerksamkeit impliziert sie sexuelle Absichten des Mannes, die sie auf Männer allgemein überträgt[10]. Nimmt man allein ihre Wahrnehmung als Grundlage, ist von ‚Microassaults‘ zu sprechen, da von einer bewussten Absicht ausgegangen wird.

Allein auf Basis dieser Aussage lässt sich festhalten, dass es Blicke eines Mannes gibt, der sie – als Frau – in bestimmter Weise betrachtet und zudem aktiv ihre Aufmerksamkeit, aufgrund ihres Geschlechts sucht. Nimmt man gesamtgesellschaftliche Machtstrukturen, hier männliche Dominanz, mit in den Fokus, kann anhand der zitierten Aussage und dem „alleine“ sein, eine Objektivierung der Frau festgestellt werden. D.h. in der individuellen Interaktion wird eine bestehende gesamtgesellschaftliche Machtstruktur gelebt. Auch eine sexuelle Absicht ist daher nicht auszuschließen, bzw. wahrscheinlich. Unbekannt bleibt die Bewusstseinsebene: agiert der Mann unreflektiert anhand stereotyper Geschlechterrollenbilder (aktiver Mann sucht passive Frau), kann die Aussage auch als ‚Microinsult‘ interpretiert werden, da verdeckte beleidigende Botschaften vermittelt werden (beleidigend im Sinne einer sexuellen Objektifizierung der Frau). Es lässt sich diskutieren, dass es sich um eine bewusste, diskriminierende Handlung im Sinne sexueller Belästigung handelt. Damit wäre das Zitat der Kategorie ‚Microassault‘ zuzuordnen.

Abgesehen von wenigen Aussagen, wie genanntes Beispiel, lassen sich die erfassten ‚Microaggressions‘ einer der drei Hauptkategorien zuordnen. Aussagen über Frauenfeindlichkeit im Handwerk allgemein wurden keiner Kategorie zugeordnet, sondern als unspezifische ‚Microaggressions‘ mitberücksichtigt.

4.3 Ergebnisse

Die Bereitschaft über unangenehme Erfahrungen zu berichten, ist bei den Interviewten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Herabsetzungen finden sich teilweise beiläufig in Nebensätzen, werden in anderen Fällen offen angesprochen und als solche reflektiert. Bisweilen wirkt das Gesprächsangebot regelrecht befreiend.

Mit Rückgriff auf den ‚Microaggression‘-Ansatz lässt sich die Hypothese belegen, dass trotz des Wunsches vieler Handwerksbetriebe verstärkt Frauen als Arbeitskräfte zu gewinnen, ‚Microaggressionen‘ im Arbeitsalltag verbreitet sind. Immerhin, so erfahrene Lehrer:innen, haben sich offensive Angriffe reduziert.

„Der Ton ist einfach auch ein bisschen weniger schroff geworden, weniger heftig, generell muss man auch sagen, das Malerhandwerk, zumindest das was ich jetzt in den 14 Jahren erlebt habe“ (L03)

Trotz dieser Einschätzung wird Frauen weiterhin (subtil) vermittelt, der Ort Baustelle, bzw. das Maler- und Lackiererhandwerk, sei nichts für sie.

Innerhalb der drei Kategorien: ‚Microinvalidation‘, ‚Microinsult‘ und ‚Microassault‘ wurden folgende Themen identifiziert:

Tabelle 1:     Themen – zugeordnet zu den drei verschiedenen Arten von ‚Microaggressions‘

Tabelle 1

Die Untersuchung von ‚Microaggression‘ macht zusätzlich zu offenen Diskriminierungsformen, wie sexuelle Belästigung, auch subtile Formen sichtbar, die dazu beitragen, dass Frauen in diesem Beruf ausgegrenzt werden. Herabsetzungen finden in allen Bereichen ihres Lebens statt – in der Familie, aber insbesondere im Betrieb durch Kolleg:innen und Vorgesetzte, auf (Groß-)Baustellen, im Kontakt mit Kund:innen sowie in der Berufsschule durch Mitschüler:innen und Lehrer:innen.

Im Folgenden werden zwei Themen exemplarisch hervorgehoben, die in nahezu allen Interviews mit den angehenden Malerinnen Erwähnung finden.

  1. Aussage: Es ist ein Männerberuf, Thema „Männerberuf“
  2. Aussage: Frauen sind zu schwach, Thema „Körperlichkeit“

Zu a): In Tabelle 3 wurden dem Thema „Männerberuf“, die verschiedenen Zitate aus den Interviews zugeordnet, die nahezu alle Auszubildenden erlebt haben.

Tabelle 2:     Erscheinungsform des Themas „Männerberuf“ mit Zitaten

Tabelle 2

Tabelle 2

Es zeigt sich, dass viele Frauen die bestehende Machtstruktur internalisiert haben und dazu beitragen, diese Machtstrukturen zu reproduzieren. Auch sie können im Sinne Friedlaenders (2018, 9) zu einer objektiv existierenden Form struktureller Benachteiligung beitragen.

„Bei einem Mann kann ich drüber hinweggucken (…), aber wenn mir eine Frau sagen würde, Frauen gehören nicht auf den Bau, oder nicht ins Handwerk, da bin ich halt richtig verletzt, denn das heißt für mich so, sie zweifelt gleichzeitig an ihrem handwerklichen Können, und zweifelt auch daran, ob sie es schaffen könnte, und dann zerstört dann auch wieder so meine kleine Welt.“ (A09)

Zu b): Ein weiteres Beispiel – ebenfalls aus der Kategorie ‚Microinsults‘ – sind Aussagen, die Frauen vermitteln, dass sie zu schwach für den Beruf seien.

Tabelle 3:     Erscheinungsform des Themas „Körperlichkeit“ – Aussagen

Tabelle 3

4.4 Auswirkungen von ‚Microaggressions‘

Die in den Interviews genannten Auswirkungen von ‚Microaggressions‘ in ihrer Gesamtheit sind unterschiedlich gravierend und vielfältig, jedoch noch nicht vollumfänglich analysiert. Sie lassen sich jedoch wie folgt in drei Kategorien unterteilen:

Tabelle 4:     Auswirkungen ‚Microaggressions‘ – Maler- und Lackiererinnen

Tabelle 4

Ein Zitat sei hier exemplarisch genannt, um zu zeigen wie differenziert ‚Microaggressions‘ wahrgenommen werden und welche Auswirkungen diese haben können:

„Dann macht man automatisch Fehler oder wird langsamer oder so, weil diese Blicke, die spürt man. Sprüche, wie gesagt, vergisst man, aber diese Blicke, die spürt man, gefühlt 24/7, teilweise noch am nächsten Tag, je nach dem was für ein Blick das war. Das ist teilweise richtig schlimm, das verfolgt einen richtig.“ (A10)

Zudem sind die hier erhobenen Auswirkungen zusätzlich zu den bereits in anderen Studien belegten zu sehen:

Abbildung 3: Auswirkungen von ‚Microaggressions‘ (Eigene Darstellung in Anlehnung an University of New Hampshire (o. J.))Abbildung 3: Auswirkungen von ‚Microaggressions‘ (Eigene Darstellung in Anlehnung an University of New Hampshire (o. J.))

In der Konsequenz zeigt sich, dass sich weibliche Auszubildende mehr Frauen im Beruf bzw. ihrem Arbeitsumfeld wünschen. Wichtig ist ihnen zum einen der Austausch mit Gleichgesinnten, zum anderen die Hoffnung auf Unterstützung im Falle von Diskriminierung. Auch zu ihren Rechten wünschen sie sich Informationen, z.B. bezüglich des Rechts auf eine Frauentoilette. Es gibt zudem einen klaren Wunsch nach Akzeptanz und Respekt. Darüber hinaus wird in fast allen Interviews der Wunsch geäußert, dass die Themen Geschlecht und Umgang miteinander, Teil des Curriculums im Berufsschulalltag würden.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass in allen Gesprächen ‚Microaggressions‘-Erfahrungen direkt und indirekt Erwähnung finden, ebenso die Einschätzung persönlicher Folgen. Bezüglich der Auswirkungen lässt sich zusammenfassen, dass sich vor allem Gefühle wie Unwohlsein oder gar Angst am Arbeitsplatz bei den Betroffenen ergeben – auch wenn Frauen die ‚Microaggressions‘ nicht selbst erfahren. Auch wenn einzelne aktiv Unterstützung suchen, zeigt sich, dass klare Ansprechpersonen notwendig sind. Nicht nur in ihrer Funktion, sondern auch in ihrer Einstellung bzw. Offenheit gegenüber der Problematik.

„(…) ich kenne halt so die Pappenheimer von den Lehrern her. Und da habe ich mich dann auch wieder an den Richtigen gewandt und die hat dann noch einen anderen Lehrer mit dazu genommen und dann wurde der [frauenfeindliche Mitschüler] halt auch nochmal klargestellt, zur Rede gestellt.“ (A06)

4.5 Mangelnde berufliche Identifikation und Abbrüche

Sowohl bei einer bewussten Entscheidung für den Ausbildungsberuf als auch bei einer Berufswahl aus vermeintlicher Alternativlosigkeit, finden sich Gedanken zu Ausbildungsabbrüchen. Es lässt sich ein direkter Bezug zu ‚Microaggressions’ feststellen – sowohl in den Aussagen der Auszubildenden, als auch seitens der Lehrkräfte und Ausbilder:innen, wie folgende Beispiele belegen:

„(…) also dass da wirklich noch ein so krasses Ablehnungsbild oder so ein Klischeebild einfach vorhanden ist, dass sich viele Frauen das vielleicht auch einfach gar nicht geben wollen, also ich bewerbe mich ja nicht in einem Betrieb, wo ich von Anfang an merke, dass ich da nicht erwünscht bin, oder dass ich eine Sonderrolle habe“ (L05)
„Also wir hatten zum Glück erst einmal einen Abbruch aus diesem Grunde, dass eine weibliche Auszubildende aufgehört hat, weil sie gesagt hat: „das ist mir einfach zu blöd hier mit den Männern, das will ich nicht mehr“. Ähm, aber, ich glaube auch häufig ist das ein Grund für Frauen, die die Ausbildung erfolgreich zu Ende gebracht haben zu sagen „Ne also als Malergesellin ey, das tu ich mir nicht an, das geb ich mir nicht.“ Erstmal mit den Kollegen (…)“ (Ausbilder:in A01)

Weiterhin lässt sich anhand dieser Arbeit ein direkter Bezug zwischen ‚Microaggressions’ und „Drehtüreffekt“ herstellen, also dem Wechsel vom Malerhandwerk in geschlechtertypische oder Mischberufe: (auch) aufgrund von diskriminierenden Herabsetzungen richten Frauen ihren Blick auf berufliche Veränderung nach der Ausbildung. Die gilt allerdings nicht unbedingt für die unmittelbare Zukunft; so sprechen einige davon, immerhin einige Jahre im Beruf bleiben zu wollen.

Jedoch weisen andere Befragte darauf hin, dass der antizipierte – und auch real erfahrene – Umgang mit Frauen, sie abhält oder abhalten kann, den Beruf überhaupt zu ergreifen:

„Und das gibts genug. Und es gibt auch genug Mädchen, nicht speziell ich, die eben sexuell belästigt werden auf Baustellen und es gibt so wenig Mädchen auf Baustellen, genau weil sie Angst davor haben, dass das passiert. Und es wird sich auch nicht ändern, dass so wenig Mädchen auf den Baustellen ist, bis sowas nicht mehr passiert, bis man garantieren kann, dass das nicht passiert, bis eine Frau keine Angst haben muss, alleine mit Männern auf einer Baustelle zu sein.“ (A02)

4.6 ‚Macroaggressions‘

Interviewte sprechen insbesondere über (eigene) Erfahrungen; an strukturellen Aspekten von Ausgrenzung entlang des Geschlechts (‚Macroaggressions‘) finden sich in den Diskursen insbesondere drei Themen:

  • Fehlende Sanitäranlagen und/oder Umkleiden für Frauen als Grund für die nicht-Einstellung oder Unwohlsein auf (Groß-)Baustellen.
  • Ungeeignete Arbeitsbekleidung für Frauen, die zu Unwohlsein am Arbeitsplatz oder Mehrausgaben führen, da eigenständig geeignete Arbeitskleidung angeschafft wird.
„Du kannst nichts außer weiße Unterwäsche darunter tragen und dann Halleluja, wenn du mal deine Tage hast.“ (A02)
  • Gender-Pay Gap im Handwerk, der zu (weiterer) Demotivation führt.

Die in 2.2 genannte Wechselwirkung zwischen Struktur- und interpersoneller Ebene, bzw. ‚Macro-‘ und ‚Microaggressions‘, findet sich ebenfalls wieder. Im Fall der Berufsbekleidung wird davon berichtet, dass Frauengrößen u.a. zu eng geschnitten sind, um darin bequem arbeiten zu können, zu dünn sind und daher eher reißen und dadurch auch durchsichtig sind, was besonders unangenehm ist, wenn Frauen menstruieren. Kommt es z.B. bei letzterem zu Unverständnis bzgl. der Berufskleidung führt die ‚Macroaggression‘ zur ‚Microinvalidation‘:

„Ja dann: ‚Deine wievielte Hose ist das eigentlich? Du musst doch bestimmt schon zehn zu Hause haben?!“ (A02)

Über Wunsch-Äußerungen lassen sich weitere ‚Macroaggressions‘ identifizieren. Z.B. zeigen sich fehlende Unterstützungsstrukturen darin, dass diese eingefordert werden. Im Wunsch nach Thematisierung von Geschlecht in der Berufsschule, wird die generelle Diskriminierung als Frau deutlich.

4.7 Fehlendes Bewusstsein für die Problematik

Der Fokus dieser Arbeit liegt auf den Erfahrungen von weiblichen Auszubildenden. Daher ist die Datenlage bzgl. weiterer Personen im Ausbildungskontext gering. Folgende Rückschlüsse bedürfen daher einer erweiterten Untersuchung. In den Interviews mit vier Berufsschullehrer:innen finden sich Beispiele von ‚Microaggressions‘ aus der eigenen Ausbildung, der Ausbildung von Freund:innen und Bekannten, aus der Lehrtätigkeit und von ihren Schülerinnen. Das Ausmaß und die Auswirkungen sind jedoch nicht bewusst. Allerdings werden – trotz eigener Erfahrung – ‚Microaggressions‘ auch von Lehrpersonen ausgeübt:

„Also das kenne ich aus meiner Ausbildung ja auch, da muss man ja auch schlagfertig sein, also man muss es auch irgendwo schon so ein bisschen genießen, dass man diese Aufmerksamkeit kriegt, sonst hält man das glaube ich auch nicht aus.“ (L04)

Auch besteht eine Einschätzung gegenüber den Schülerinnen, die von einer bestehenden Resilienz ausgeht, die sich nicht mit den Aussagen der interviewten deckt. Beispiel ‚Microinvalidation‘:

„Also wenn sie den Schritt schon geschafft haben, zu uns in die Ausbildung zu kommen, dann sind sie meistens schon, dass sie eine Grundfestigkeit sage ich mal mitbringen. Und eine Belastbarkeit körperlicher Art und eine Grundbelastbarkeit auch psychischer Art.“ (L03)

Sue und Spanierman (2020, 16) fokussieren bei der Identifikation von unterschwelligem und vorbewusstem Sexismus vor allem ‚moderne‘ Männer. Hier lässt sich mit Blick auf unser Material ergänzen, dass sich ähnliche Muster auch bei wohlmeinenden Lehrerinnen finden.

‚Microassaults‘ werden gesamtgesellschaftlich und so auch durch Lehrkräfte bewusst wahrgenommen und verurteilt. Die Lehrkräfte geben an, bei entsprechenden Vorfällen einzugreifen. Es stellt sich die Frage, ob subtile Ausgrenzung im interpersonellen Kontext (‚Microinvalidations‘ und ‚Microinsults‘) überhaupt durch eine breite Gesellschaft verurteilt werden kann, solange diese nicht in Bewusstsein rücken.

„Wie verzweifelt man als Frau ist, wenn sowas passiert und einem nicht geglaubt wird, das versteht kein Mann auf dieser ganzen Welt. Und das werden die auch nie verstehen können, weil die eben nicht in so einer Situation sind und auch nie in so einer Situation waren.“ (A02)

4.8 Mögliche Ansatzpunkte für Transformationen

Ein häufiges Reaktionsmuster auf Ausgrenzung, sind erwidernde Beleidigungen und ‚Microassaults‘, die zum Erhalt einer hostilen Arbeitsumgebung beitragen. Muster werden kopiert. So auch das Verhalten von Frauen, die länger in dem Beruf sind und willentlich oder unwillentlich Vorbilder darstellen. Doch gibt es nur die eine Variante Handwerkerin zu sein? Tough, männlich-stark, nichts an sich heranlassend und austeilend? Es ist bekannt, dass ein Wohlfühlen am Arbeitsplatz zu besseren Ergebnissen, beruflicher Identifikation und mehr Produktivität führt. Diese Dinge sollten in Zeiten des Fachkräftemangels nicht unterschätzt werden. Eine generelle Sensibilisierung des Personals in Betrieben, Berufsschulen und weiteren Akteuren im Ausbildungskontext ist notwendig – zum Verständnis der Problematik und übergeordneter Herausforderungen mit positivem Blick auf Vorteile eines Kulturwandels.

Über den ‚Microaggressions‘-Theorieansatz lässt sich, wie angenommen, zunächst die große Bandbreite von Ausgrenzungsmechanismen darstellen – vom (subtilen) Unverständnis für Menstruationssituationen (‚Microinvalidation‘), bis hin zu offensichtlichem, wie sexueller Belästigung und Gewalt (‚Microassaults‘). Auch die Orte, an denen diese Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen wirken sind vielfältig – von der eigenen Familie, über Berufsschule hin zu Betrieb und (Groß-)Baustelle. Zieht Mensch zudem auch strukturelle Hürden für eine berufliche Identifikation (‚Macroaggressions‘) in Betracht, gilt es integral oder holistisch Transformationsprozesse anzustoßen.

Bei allen Interviewten sind ‚Microaggressions‘-Erfahrungen vorhanden, auch wenn diese verdrängt oder als nicht relevant eingestuft werden.

„(…) aber bis jetzt ist es mir aber halt noch nicht so aufgefallen, dass das so schlimm mit, also so krass, also mir ist jetzt nichts Auffälliges aufgefallen, was den Umgang angeht“ (A13)

Auch diese Betroffene (A13) ist aktiv in ihrem Umgang mit den Erfahrungen, denn selbst mitlachen oder „es nicht schlimm“ finden, sind Verarbeitungsformen. Es gilt, dieses aktive Handeln als solches anzuerkennen und sie in der Verarbeitung und hinsichtlich Reaktionsmöglichkeiten zu unterstützen, auch wenn Handlungs- oder besser Veränderungsmöglichkeiten auf individueller Ebene gering sind. Zudem ist das ohnehin geschlechtsunabhängige starke Machtgefälle im Ausbildungsbetrieb zu beachten. Auf individueller Ebene von Betroffenen könnten sogenannte ‚Microintervention-Programs‘, wie an US-Hochschulen bereits im Einsatz, greifen, um die Resilienz zu steigern.

Peer-Austausch und Unterstützungsprogramme sind ebenfalls denkbar – sowohl in Berufsschulen als auch Betrieben. Beispiele finden sich in der Förderung von Frauen in MINT-Studiengängen. Als Beispiel sei hier die Carnegie Mellon University genannt, die es mit gezielt niedrigschwelligen Angeboten für Frauen geschafft hat, ein attraktives Lernumfeld zu schaffen.

Betriebe können relativ einfach einen positiven Unterschied für Frauen herstellen, indem ihren Bedarfen und Wünschen entsprochen werden.

  • Wunsch nach Respekt / Anerkennung als gleichwertig.
„Ich möchte auch, dass man mich respektiert, und was weiß ich was alles und dass man mich nicht einfach als Frau abstempelt.“ (A06)
  • Ansprechpersonen benennen und Zeit- und physische Räume für Beratungsgespräche bieten – bereits das Signalisieren von Unterstützung, z.B. durch wiederholte Einladung zum Gespräch oder klarer Ansagen über Konsequenzen für Ausübende kann positives bewirken (siehe auch: Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2021, 15f.)
  • Informationen über betriebliche Unterstützungsstrukturen bieten, z. B.:
„(…) beim Kunden habe den Boden gelegt, sauber gemacht, alles Drum und Dran und der Kunde fasst mir dann an den Arsch. Keiner hat es gesehen, also hätte ich etwas gesagt, hätte mir das keiner geglaubt in dem Sinne.“ (A01)

Bei betrieblichen Maßnahmen ist zudem zu beachten, dass geschlechterübergreifende Solidarität, die möglicherweise unter Auszubildenden auf einer Hierarchieebene herrscht, nach der Ausbildung umschlagen kann:

„Wir haben ja auch einige, die bei uns gelernt haben, die wir ja übernehmen und die teilweise auch schon seit Jahren hier sind die haben vielleicht n bisschen mehr Feingefühl, die sind n bisschen sensibilisierter aber, es passiert dann doch auch schon leicht, dass sie sich vereinnahmen lassen… So, ah, jetzt bin ich Geselle, jetzt gehör ich zu dem Haufen da mit der großen Klappe, jetzt mach ich da mal mit, um mit dazu zu gehören. Also die Gefahr ist dann schon da, auch von unseren selbstausgebildeten Gesellen.“ (Ausbilder:in 01)

Berufsschulen können das Thema Geschlecht(-ergleichstellung) im Beruf zum Inhalt machen und so Transformationsprozesse anstoßen. Lehrer:innen ist meist nicht bewusst, wie vorzugehen ist und die oft begrenzte Unterrichtsvorbereitungszeit reicht nicht aus, um selbst etwas zu entwickeln. Dafür gilt es niedrigschwellige Formate zu entwerfen und zu vermitteln, damit diese Anwendung finden.

Zudem können Berufsschulen offene oder methodisch strukturierte Räume zum (Erfahrungs-)Austausch für weibliche Auszubildende schaffen. Eine Testveranstaltung im Oktober 2021 hat gezeigt, wie wichtig Austausch zu ‚Microaggression‘-Erfahrungen für Auszubildende ist.

Da (Groß-)Baustellen ein Ort des Unwohlseins und der Angst sind, auf denen sich auch Arbeiter:innen anderer Unternehmen befinden, können hier gezielt betriebsübergreifende Sensibilisierungskampagnen zum Einsatz kommen, z.B. mit visuellen Medien (Postern, Bannern, etc.) die eine Sexismus-Freie-Baustelle o.ä. signalisieren und klare Regeln zum Umgang miteinander aufzeigen.

Ungeachtet dessen, dass alle Beschäftigten ein (Grund-)Recht auf ein Arbeitsumfeld besitzen, das frei von Diskriminierung entlang des Geschlechts ist, können nicht zuletzt auch Männer in männlich dominierten Räumen von einem Kulturwandel profitieren. Diskriminierungsfreiheit bedeutet in unserem Kontext eben auch eine Befreiung aus einem engen Korsett traditioneller Männlichkeit, welche die Zufriedenheit am Arbeitsplatz trotz aller denkbaren Abwehrhaltungen letztlich zu befördern vermag.

5 Fazit

Die Erfahrungen weiblicher Auszubildender zeigen, dass (auch) das Malerhandwerk von einer Gleichbehandlung der Geschlechter noch weit entfernt ist. Zahlreiche, oft subtile Herabsetzungen und Ausgrenzungen, die mit Hilfe des ‚Microaggression‘-Ansatzes sichtbar werden, zeigen die Notwendigkeit umfassender Interventionen, um das Berufsfeld auch für Frauen nachhaltig zu öffnen. Die umfassende Reflexion dieser geschlechterbezogenen ‚Microaggressions‘ und der ihnen zugrunde liegenden Motive bei allen an der Ausbildung beteiligten Personen sind unerlässlich, um sukzessive egalitäre, geschlechtergerechte Arbeitskulturen etablieren zu können.

Aufgrund der dargestellten Ausgrenzungsmechanismen lässt sich erklären, dass eine berufliche Identität für Frauen in männerdominierten Berufen schwer zu erreichen ist, selbst dann, wenn sie ein großes intrinsisches Interesse und eine gewisse Resilienz mitbringen. Die kontinuierliche Erfahrung von subtilen (und weiterhin auch offenen) Diskriminierungen und Exotisierungen sowie die konstante Antizipation solchen ‚Microaggressions‘ jederzeit ausgesetzt sein zu können, führt zu Unwohlsein bis hin zu Angst und Verzweiflung im Beruf. Ausbildungsabbrüche sowie Berufswechsel im Anschluss an die Ausbildung sind mögliche Konsequenzen. Weiterhin zeigen die Berichte der Interviewten, dass auch die Arbeitsergebnisse nicht zufriedenstellend sein können, wenn emotional belastende (potenzielle) Herabsetzungen als Frau die Konzentrationsfähigkeit und das Selbstbewusstsein beschädigen.

Widerstand gegen Frauen im Beruf zeigt sich nicht nur durch Mitschüler:innen, Kolleg:innen und Vorgesetzte, sondern auch seitens der Kund:innen. Aufgrund der bestehenden Machtverhältnisse kann von den weiblichen Auszubildenden nicht erwartet werden, dass sie proaktiv und in geeigneter Form gegen die ‚Microaggressions’ intervenieren. Neben ihrer Stellung im Setting und den notwendigen Kompetenzen, fehlen hierzu im Übrigen organisierte Räume zum Erfahrungsaustausch und die notwendige Unterstützung für die Themensetzung. Gerade Letzteres ist relevant, weil häufig noch jedes Bewusstsein für die Problematik fehlt. Allein schon die Vermittlung von Informationen zu ‚Microaggressions’ können hier ein erster Schritt sein. Auch der sich bei einigen Auszubildenden entwickelnde Ehrgeiz aus Trotz heraus, kann nur bedingt positiv gesehen werden, da auch durch negative Emotionen langfristig gravierende psychische und körperliche Schäden entstehen können.

Letztendlich sind es sind die Strukturen, die sich ändern müssen. Betriebe – wollen sie dem drohenden Fachkräftemangel begegnen – müssen eine unterstützende Struktur bieten. Arbeitsorte wie Baustellen können mit Hilfe von Kampagnen zumindest wichtige Akzente setzen. Für ein diskriminierungsarmes Miteinander in den Berufsschulen wäre es wichtig, dass Lehrpersonal entsprechend zu sensibilisieren und pädagogisch fortzubilden, wobei in den Lehrplänen dann auch genügend Raum für die Vermittlung von Genderkompetenz vorhanden sein müsste. Räume für Frauen zum Austausch und zur gegenseitigen Unterstützung sind zu schaffen und zu bewerben, Sicherheit und Vertrauen darin und dafür ist zu schaffen. Diese Ideen sind sicherlich noch zu ergänzen und auszuarbeiten, können aber erste Richtungshinweise sein.

6 Ausblick und Grenzen

Ein zusätzlicher Forschungsfokus sollte sich auf die Perspektive der Ausübenden richten, um mehr über die Ursachen, Motive und Auslöser von ‚Microaggressions’ zu erfahren. Es ist davon auszugehen, dass die Folgen nicht nur weibliche Auszubildende treffen, sondern auch diejenigen, die auf den ersten Blick Teil der dominanten Strukturen sind – ein Blick auf Männlichkeitsbilder im Kontext von ‚Microaggressions’ kann herausarbeiten, welche Erfahrungen die Männer machen, die nicht dem dominierenden Männlichkeitsideal entsprechen (wollen) und welche Folgen bestehende Strukturen für sie haben.

„Ich glaube auch bei psychischen Problemen, also wir haben ja auch oft welche, die dann irgendwie über den Bildungsträger kommen und dann psychische Probleme haben und die kriegen auch öfter mal einen Spruch“ (L04)
„(…) ich finde auch, dass sich das nicht mehr nur auf die Geschichte Frauen und Männer bezieht, sondern auch, ich sag jetzt mal ganz salopp, vielleicht nicht ganz so männliche Männer, die sich in der Klasse befinden, die kriegen auch durchaus mal den ein oder anderen Spruch gedrückt.“ (L05)

Generell wäre es sicherlich sinnvoll auch die Motive von ‚Microaggressions‘ stärker in den Blick zu nehmen. So könnte beispielsweise im Anschluss an Ruhne (2017) überprüft werden, inwieweit Frauen als eindringende Konkurrenz zum Beispiel im Baugewerbe wahrgenommen werden und ‚Microaggressions‘ entsprechend eine Antwort auf bedrohte männliche Machträume darstellen. Dazu allerdings müsste die Perspektive der Männer deutlich systematischer erhoben werden, als dies in unserem Forschungskontext möglich war.

Dass die „Berufs-Kultur“ auch Auswirkungen auf die Branche an sich hat, ist in dieser Erhebung mehrfach angedeutet worden. So wird zum Beispiel betont, wie bedeutend der Dienstleistungsgedanke und die Arbeitsqualität in einem umkämpften Markt sind. Gleichzeitig wird konstatiert, dass mehrheitlich Frauen oder vielmehr weibliche konnotierte Eigenschaften – nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis – bessere Arbeitsergebnisse erzeugen und, obwohl Ablehnungserfahrungen gemacht werden, auch Kund:innen mehr Zufriedenheit melden.

Ein Weg, Auswirkungen auf Betriebe zu messen, wären z.B. Kostenstudien zu ‚Microaggressions’, wie es sie insbesondere in der lateinamerikanischen Forschung im Bereich der „Gewalt gegen Frauen“ gibt (Vara-Horna 2019). Darüber kann erhoben und den Unternehmen gespiegelt werden, wie teuer sie ‚Microaggressions’ zu stehen kommen. Dies sollte Geschäftsführungen motivieren das Problem in ihren Betrieben ernst zu nehmen und anzugehen.

Der ‚Microaggression’-Theorieansatz bietet also nicht nur eine vertiefende Erklärung für geschlechterbezogene Bildungs(un)gerechtigkeit bis hin zu Ausbildungsabbrüchen und Berufswechseln, sondern auch Anknüpfungsmöglichkeiten für die Diskussion vieler weiterer Herausforderungen in der Arbeitswelt. Dabei steht die Anwendung des Ansatzes in den europäischen Bildungs-, Arbeits- und Sozialwissenschaften noch ganz am Anfang.

Literatur

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[1] Exemplarisch sei hier auf ein großes Interventionsprogramm des Bundeswirtschaftsministeriums („Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschafts des 21. Jahrhunderts“) verwiesen, mit dem der Frauenanteil bei den IT-Berufsausbildung von 1999 bis 2005 auf dann 40 Prozent steigern wollte (Deutscher Bundestag 2000, 14). Im Dezember 2020 lag der Frauenanteil bei den Auszubildenden aus der Fachinformatik laut der Datenbank „DAZUBI“ des BIBB (2022) bei unter acht Prozent. Ähnlich beharrliche Gräben zwischen Anspruch und Wirklichkeit finden sich in vielen Berufen des Handwerks und der Industrie. Lange Reihen verweisen gerade in einigen Berufen des Handwerks auf weitere Verfestigungen bestehender Geschlechterblockaden.

[2] „Geschlechteruntypische Ausbildungsverhältnisse“ (GunA) ist ein ESF-finanziertes Forschungs-, Bildungs- und Beratungsprojekt, in dem u.a. geschlechteruntypische Auszubildende aus fünf unterschiedlichen Berufen über drei Jahre hinweg befragt und begleitet werden. Auch die Erfahrungen und Dispositionen von Ausbilder:innen und Lehrkräften werden in den Blick genommen. Das Projekt hat im Dezember 2020 begonnen und läuft bis Ende 2023. Es wird am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen durchgeführt.

[3] Verwiesen sei hier für unser Forschungsfeld (Geschlechterdiskriminierung in der Berufsausbildung) etwa allgemein auf das Grundgesetz (Art. 3) und das AGG, konkreter aber auch auf das Betriebsverfassungsgesetz (u.a. §§15, 47 u. 75) oder das Bremische Schulgesetz von 2021 (§§4, 5 u. 47).

[4] Im Forschungsprojekt, dem dieser Artikel zugrunde liegt, werden ergänzend auch die Erfahrungen von männlichen Auszubildenden in weiblich dominierten Berufen in den Blick genommen. Die Frage ist hier, inwieweit Männer als gesellschaftlich dominante Machtgruppe ähnliche Ausgrenzungserfahrungen (auch in Form von ‚Microaggressions‘ erleben wie umgekehrt Frauen in männlich dominierten Berufsfeldern.

[5] Im Projektverlauf werden die Auszubildenden analog zu den Ausbildungsjahren noch zu zwei weiteren Zeitpunkten befragt, so dass die hier referierten Befunde nur vorläufigen Charakter haben.

[6] Frauen stellten Ende 2020 15,5 % aller Auszubildenden im Malerhandwerk, ihr Anteil an den vorzeitigen Vertragslösungen in 2020 betrug 15,8 %.

[7] Die männlichen Neuzugänge im Malerhandwerk haben zu zwei Dritteln maximal einen Hauptschulabschluss, die weiblichen dagegen nur zu knapp 45 Prozent. Hinzu kommt der strukturelle Risikofaktor Migrationsgeschichte, den Männer im Malerhandwerk stark überproportional häufig aufweisen.

[8] Leider konnte trotz intensiver Versuche keine der beiden Frauen für ein Gespräch zu den Gründen für den Abbruch gewonnen werden.

[9] Das dritte, im Kontext ‚Microaggressions‘ häufiger genutzte Verfahren, die „Interpretative Phenomenological Analysis“, weist wegen des offensiven Subjektivitätsfokus in der Erhebung (explizite Aufforderung über Diskriminierungserfahrungen zu referieren) Fragen nach der Einhaltung wissenschaftlicher Standards auf. Sie wird auch deshalb nicht weiterverfolgt.

[10] Interessant ist hier die (auch anderen Interviews vorzufindende) Herabsetzung des Aggressors über eine stigmatisierende Zuweisung ins Subproletariat, also entlang des Diskriminierungsmerkmals ‚class‘ und in Abgrenzung zu ihr als angehende Fachkraft („komischer Hilfsarbeiter von so Gerüstbauern“). Siehe 4.8.

Zitieren des Beitrags

Kroeger, T./Meng, F./Müntinga, R./Stephan, J. (2022): ‚Microaggressions’ als Herausforderung für geschlechter-untypische Auszubildende: Anwendungsmöglichkeiten des Erklärungsansatzes im Kontext von Bildungs(un)gerechtigkeit in Ausbildungsverläufen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 42, 1-26. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe42/kroeger_etal_bwpat42.pdf (30.06.2022).