bwp@ Spezial PH-AT2 - April 2023

Diversität in der Berufsbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz - Perspektiven aus Forschung, Entwicklung und Bildungspraxis

Hrsg.: Sabine Albert, Karin Heinrichs, Ingrid Hotarek & Sabine Zenz

„Warum sollten wir Kartoffeln und Trauben zeichnen?“ Herausforderungen und Möglichkeiten für eine Begabtenförderung an Berufsschulen. Ein Fallbeispiel.

Beitrag von Mario Vötsch & Günter Schneider
Schlüsselwörter: Begabtenförderung, Berufsbildung, Lehr- und Lernarrangements

Begabtenförderung hat in der Berufsbildung seit Jahren an Relevanz und Dringlichkeit zugenommen, wenngleich es noch wenig empirische Untersuchungen über konkrete Bedingungen und Möglichkeiten an beruflichen Schulen gibt. Der vorliegende Beitrag untersucht am Fallbeispiel einer Berufsschule in Bregenz, welche Elemente der schulischen Lernumgebung begabungsförderliche Wirkung haben. Faktoren wie schulische Rahmenbedingungen, die Rolle der Lehrperson sowie Lehr- und Lernarrangements werden aus mehreren Perspektiven analysiert, einmal aus Sicht der Lernenden und einmal aus Sicht der Lehrenden. Ziel ist es, einen Befund über die wesentlichen Themen, Probleme und Herausforderungen zu erhalten, mit denen leistungsstarke Schüler*innen in der Berufsschule konfrontiert sind und die es ermöglichen oder aber erschweren, ihre Begabungspotentiale in schulische Leistungen umzusetzen. Die Ergebnisse zeigen, dass es von Seiten der Schüler*innen den Wunsch nach einer Lernumgebung gibt, die soziale Begegnungen ermöglicht und Anreize für Lern- und Entwicklungsaufgaben setzt. Gleichzeitig geht hervor, dass der Aufwand für eine Begabtenförderung in heterogenen Klassen für einzelne Lehrkräfte nur schwer zu bewältigen ist.

“Why should we draw potatoes and grapes?” Challenges and opportunities for talent development in vocational schools. A case study.

English Abstract

The promotion of giftedness has become more relevant and urgent in vocational education for years, although there is still little empirical research on concrete conditions and possibilities at vocational schools. Exploring a vocational school in Bregenz as a case study, this paper examines which elements of the school’s learning environment affect promoting giftedness. Factors such as organizational conditions, the role of the teacher, and teaching and learning arrangements are being analyzed from several perspectives, once from the learners’ point of view and once from the teachers’ point of view. The aim is to obtain findings on the main issues, problems, and challenges that high-achieving students face in vocational schools and that make it possible or difficult for them to transform their gifted potential into performance. The results show that there is a desire on the part of the students for a learning environment that enables social encounters and provides incentives for learning and development tasks. At the same time, it emerges that the effort required to promote giftedness in heterogeneous classes is difficult for teachers to manage.

1 Einleitung: Begabtenförderung an Berufsschulen

Die Begabtenförderung hat im Rahmen der deutschsprachigen Berufsbildungsforschung einen überschaubaren Stellenwert. Während es für die Schweiz mehrere umfassende Längsschnittstudien zum Ausbildungsbereich gibt (vgl. Stamm 2006; Stamm et al. 2009; Stamm 2013), bleibt die empirische Forschung darüber hinaus weitgehend auf Phänomene wie hochbegabte „Underachiever“ (vgl. Badel 2017) sowie Berufsinteressen (vgl. Sparfeld 2006) und Berufsbiografien (vgl. Schlegler et al. 2018) von Hochbegabten begrenzt. Im österreichischen Kontext tun sich insbesondere im Bereich der dualen Ausbildung Forschungslücken auf, die auf das Fehlen belastbarer empirischer Studien verweisen (vgl. Kempter/Uhl 2013). Eine Folge davon ist, dass der gezielten Förderung von Potentialen in der konkreten Unterrichtspraxis an Berufsschulen nach wie vor relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird (vgl. Percht 2021; Uhl/Kempter 2020). Umgekehrt hat die Begabtenförderung spätestens seit Einführung der Integrativen Berufsausbildung im Jahr 2003 an Dringlichkeit gewonnen, denn seitdem nimmt die Heterogenität in den Klassenzimmern der österreichischen Berufsschulen kontinuierlich zu (vgl. Auinger-Pfund 2018). „Integrative Berufsausbildung“ bezeichnet die im österreichischen Berufsausbildungsgesetz (BAG) gesetzlich verankerte Möglichkeit, Jugendlichen mit benachteiligten Einstiegschancen zu einer Berufsausbildung zu verhelfen. Dies erfolgt entweder über eine verlängerte Lehrzeit (§ 8b Abs. 1 BAG) oder in Form einer Teilqualifizierung (§ 8b Abs. 2 BAG). Mit diesen Möglichkeiten werden auch Auszubildende mit erhöhtem Förderbedarf in die duale Ausbildung und den berufsschulischen Unterricht integriert. Dies hat zur Konsequenz, dass sich die Schüler*innen in Bezug auf Leistungsvermögen, Motivation und sozialen Hintergrund teils beträchtlich unterscheiden (vgl. Dornmayer 2012). Die Förderung individueller Bedarfe und Begabungen fokussiert dabei oftmals Schüler*innen mit Defiziten oder Lernschwierigkeiten; leistungsstarke Auszubildende bleiben hingegen tendenziell unbeachtet, unerkannt oder unterfordert (vgl. Badel 2017). Dieser Befund verweist auch auf das gut belegte Phänomen der Minderleistung, also der Diskrepanz zwischen individuellem Begabungspotential und tatsächlich erbrachter Leistung (vgl. Müller-Opplinger 2017). Gerade in der Berufsbildung zeigt sich, dass überdurchschnittlich begabte Auszubildende nicht notwendig zu den besten Schüler*innen zählen, sondern häufig eher schwache oder mittelmäßige Schulleistungen erbringen (vgl. Stamm 2007; Stamm/Kost 2010). Daraus lässt sich die Forderung ableiten, dass nicht nur benachteiligte oder normal begabte Schüler*innen Unterstützung etwa durch Förder- und Einzelunterricht erhalten sollten, sondern auch besonders Begabte in ihren Talenten erkannt und gezielt gefördert werden müssen. Diese Forderung wird schon seit mehreren Jahren von vielen professionellen Praktiker*innen der dualen Ausbildung, also von Berufsschulpädagog*innen einerseits und von Ausbilder*innen andererseits, bekräftigt (vgl. etwa die Praxisberichte aus den Lernorten Schule und Betrieb in Kempter/Uhl 2013, 159-234). Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag die Möglichkeiten und Herausforderungen für eine Begabtenförderung an Berufsschulen. Gefragt wird, welche konkreten Elemente der schulischen Lernumgebung die Entwicklung von Talenten fördern oder aber erschweren. Dazu werden Faktoren wie schulische Rahmenbedingungen, die Rolle der Lehrperson sowie Lehr- und Lernarrangements aus mehreren Perspektiven analysiert, einmal aus Sicht der Lernenden und einmal aus Sicht der Lehrenden. Ziel ist es, Einblicke in wesentliche Themen, Probleme und Herausforderungen zu erhalten, mit denen Schüler*innen in der Berufsschule konfrontiert sind, wenn es darum geht, ihre Begabungspotentiale in schulische Leistungen umzusetzen. Anhand eines qualitativ erforschten Fallbeispiels im Fachbereich Einrichtungsberatung an einer Berufsschule in Bregenz sollten die Möglichkeiten der Begabtenförderung beleuchtet, gleichzeitig die Schwierigkeiten in der Umsetzung aufgezeigt werden. Inwiefern diese exemplarischen Einsichten auch auf andere Fachbereiche, Berufsschulen und generell berufliche Ausbildungskontexte übertragen werden können, muss an dieser Stelle weitgehend offenbleiben, auch wenn wir am Ende unseres Beitrags einige Implikationen diskutieren. Zumindest aber lässt sich aus den Ergebnissen auf die Relevanz und Akzeptanz der Begabtenförderung aus Sicht der betroffenen Akteur*innen schließen.

2 Theoretische Grundlagen

2.1 Begabung: mehrdimensional und unsichtbar

Als theoretische Basis dient unserem Beitrag ein multidimensionaler Begriff von Begabung, der „das gesamte Leistungspotential eines Menschen in verschiedenen (auch nicht-kognitiven und nicht-schulischen resp. nicht betrieblichen) Leistungsbereichen umfasst“ (Stamm 2013, 33). Begabung ist demnach nicht auf einen einzelnen Faktor – wie etwa Intelligenz – zu reduzieren, sie kann entwickelt werden und manifestiert sich auf unterschiedenen Ebenen. Sternberg/Zhang (1995, 88ff.) definieren fünf Kriterien für (Hoch-)Begabung, die inzwischen als Grundkonsens in der Forschung gelten (vgl. Ziegler 2018):

  • Exzellenz: Begabte sind leistungsmäßig Anderen in mindestens einem Gebiet voraus.
  • Seltenheit: Die hohe Ausprägung der besonderen Eigenschaft ist sehr selten.
  • Produktivität: Begabte bringen besondere Leistungen hervor.
  • Beweisbarkeit: Die Begabung kann (z. B. durch Tests) unter Beweis gestellt werden.
  • Wert: Die Begabung ist gesellschaftlich relevant.

Diese Kriterien definieren Begabung als mehr oder weniger sichtbares Ergebnis, sagen aber noch wenig über ihre Entfaltungsbedingungen aus. Dazu braucht es den Blick auf unterschiedliche Lern- und Entwicklungsprozesse, die in der Begabungsforschung im Rahmen von mehrdimensionalen Modellen als Wechselwirkung von Anlage und Umwelt beschrieben werden (vgl. z. B. Renzulli/Reis 2009). Ob sich eine Begabung entfalten kann, hängt nicht von einem inneren Kern ab, sondern von äußeren Möglichkeiten. Gagné (2010) definiert Begabungen als natürliche Fähigkeiten, die abhängig von äußeren Umweltfaktoren, inneren Persönlichkeitsdispositionen und entsprechenden Fördermöglichkeiten entwickelt werden. Begabungen selbst sind nicht sichtbar, sondern nur das daraus hervorgehende Talent bzw. die dadurch erbrachte Leistung. So gesehen gleicht das Konstrukt der Begabung jenem der Kompetenz, denn auch diese ist nicht als solche, sondern erst durch ihre Performanz sichtbar (vgl. Reiber 2006). Und ähnlich wie eine Kompetenz ist die Begabung primär als Möglichkeit zu denken, ein nie abgeschlossenes Potential, das es zu realisieren und weiterzuentwickeln gilt. Die zentralen Ressourcen einer Begabung sind Fähigkeiten wie Intelligenz, Kreativität sowie bestimmte physische Fähigkeiten. Zu ihrer Entfaltung braucht es spezifische „Katalysatoren“, das sind intrapersonale Faktoren wie Motivation, Persönlichkeit oder Willenskraft, zudem umweltbezogene Faktoren wie Familie, Milieu, Schule oder auch förderliche Infrastrukturen (vgl. Hoyer et al. 2013, 69). Die Katalysatoren geben Auskunft über die soziale Einbettung und die Beziehungen einer begabten Person und somit auch über die Möglichkeiten der Talententwicklung. Die oben genannten Kriterien der Sichtbarkeit (Exzellenz, Seltenheit etc.) sowie der beschriebene Entfaltungsprozess machen es allerdings nicht immer einfach, eine Begabung eindeutig als solche festzustellen. Zum einen zeigt sie sich nur über eine ausgewiesene Leistung, zum anderen verweist nicht jede Leistung bereits auf eine Begabung. Das ist der Grund, warum im Kontext der Berufsbildungsforschung öfter von beruflichem Talent anstatt von beruflicher Begabung gesprochen wird, da das Talent viel konkreter auf die Expertise, Exzellenz und Produktivität hinweist (vgl. Stamm 2007, 40). Aber auch der Talentbegriff bleibt in der empirischen Beobachtung oft schwer fassbar, weshalb wir in der vorliegenden Untersuchung nicht von begabten oder talentierten, sondern von leistungsstarken Schüler*innen sprechen und daraus Rückschlüsse auf deren Talent und Begabung anstellen. In den Begriffen von „Hoch- oder Minderleister“ ausgedrückt, beschränken wir uns auf „Hochleister“, da unsere Fallauswahl auf ausgezeichneten schulischen Leistungen beruht. Andere Ausprägungen wie z. B. hochbegabte „Minderleister“ (vgl. Badel 2017; Müller-Opplinger 2017; Stamm 2007) bleiben unberücksichtigt.

2.2 Merkmale einer begabungsfördernden Lernumgebung

Im Folgenden untersuchen wir umweltbezogene Katalysatoren der schulischen Lernumgebung, die Einfluss auf die Entfaltung von Begabung, deren Entwicklung als Talent sowie deren Sichtbarmachung als Leistung haben. Dabei betrachten wir sowohl Faktoren auf der Mikroebene des Unterrichtshandelns (Lehrperson, Lehr- und Lernarrangements) als auch auf der Mesoebene der Schulorganisation (materielle Rahmenbedingungen). Bislang gibt es in der deutschsprachigen Berufsbildungsforschung zu solchen begabungsfördernden Einflussfaktoren der schulischen Lernumgebung relativ wenige empirische Forschungsergebnisse. Eine große Längsschnittstudie zur beruflichen Grundbildung in der Schweiz untersucht das Verhältnis von Begabung und Leistungsexzellenz und kommt zum Schluss, dass überdurchschnittlich Begabte aus allen Berufsfeldern kommen und folglich eine „soziale Tatsache“ sind (vgl. Stamm et al. 2009). Gleichzeitig bestätigen die Ergebnisse, dass überdurchschnittliche Leistungen nicht ausschließlich von natürlichen Anlagen und Begabungen abhängen, sondern von Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten, die nicht allen in gleichem Maße zur Verfügung stehen. In einer anderen mehrjährigen Studie wird ein Förderprojekt zur Identifikation und Förderung talentierter Auszubildender evaluiert (vgl. Krüger et al. 2014). Auch hier wird gezeigt, wie wirksam begabungsfördernde Maßnahmen in der beruflichen Erstausbildung sind und entscheidend zur Potentialentfaltung beitragen.

Unser Beitrag möchte an diese Untersuchungen anschließen und zeigen, welche Bedingungen und Herausforderungen der Begabtenförderung es an österreichischen Berufsschulen gibt. Dabei unterscheiden wir zwischen drei wesentlichen Einflussdimensionen (vgl. Bräu 2006; Preckel/Vock 2013): schulische Rahmenbedingungen, Lehr- und Lernarrangements sowie die Rolle der Lehrperson. Die schulischen Rahmenbedingungen beschreiben die begabungsförderliche Infrastruktur der Lernumgebung Schule. Sie verweisen auf personelle und zeitliche Ressourcen, auf die materielle Ausstattung und Gestaltung von Lernräumen sowie auf die inhaltliche Ebene der Lehrpläne und Unterrichtseinteilung. Die Lehr- und Lernarrangements zeigen, inwiefern das konkrete Unterrichtsgeschehen begabungsförderlich ausgerichtet ist. Das lässt sich an folgenden Kriterien festmachen (vgl. Müller 2016):

  • Differenzierung und Individualisierung der Lehr- und Lernarrangements
  • Förderung von selbstbestimmtem Lernen und Autonomie
  • Entwicklungsmöglichkeiten für das Selbstkonzept und die Motivation der Lernenden

In den Strategien der Differenzierung und Individualisierung sind auch diagnostische Verfahren enthalten, die den Lernstand und die Lernorientierung der Lernenden erfassen und damit Potentiale der Talententwicklung ausloten. Die dritte Dimension ist die Rolle der Lehrperson, von der zunächst maßgeblich abhängt, ob die schulischen Rahmenbedingungen sowie die Lehr- und Lernarrangements zur Wirkung kommen. Zudem aber kann die Lehrperson durch ihre persönliche Haltung und das Klassenmanagement die Entfaltungsmöglichkeiten der Schüler*innen vorantreiben. Abbildung 1 fasst die drei Dimensionen nochmals zusammen, in denen schulische Katalysatoren Einfluss auf die Begabtenförderung haben. Da diese Dimensionen sowohl die Mikro- als auch die Mesoebene ansprechen, sind unterschiedliche Akteur*innen in den Prozess involviert. Begabtenförderung in der schulischen Lernumgebung hängt demnach nicht nur von der verantwortlichen Lehrperson ab, sondern auch vom Kollegium (z. B. bei der gemeinsamen Umsetzung von Lehr- und Lernarrangements) sowie der Schulleitung (Ressourcen, Führung, Schulkultur), ferner von weiterem pädagogischem oder fachlichem Personal, das Einfluss auf die schulischen Lernprozesse hat (z. B. Coaching). Bei alledem müssen wir vorsichtig mit voreiligen Kausalzuschreibungen bleiben: Nicht jedes sichtbare Ergebnis dieser mehrdimensionalen schulischen Förderprozesse muss bereits auf eine zugrundeliegende Begabung und ein entsprechend entfaltetes Talent schließen lassen, sondern kann auch das Resultat kompetenten und leistungsstarken Handelns sein.

Abbildung 1: Katalysatoren der Begabtenförderung in der schulischen Lernumgebung (eigene Darstellung)Abbildung 1: Katalysatoren der Begabtenförderung in der schulischen Lernumgebung (eigene Darstellung)

3 Forschungsdesign

3.1 Untersuchungskontext

Die schulischen Katalysatoren der Begabtenförderung werden im Kontext einer qualitativen Fallstudie erforscht, die im Fachbereich Einrichtungsberatung an der Landesberufsschule Bregenz 3 (LBSBR) durchgeführt wurde. Einrichtungsberatung ist einer von 15 Schwerpunkten des Lehrberufs Einzelhandelskauffrau/-mann. Weitere an der LBSBR unterrichtete Schwerpunkte sind z. B. Allgemeiner Einzelhandel, Baustoffhandel, Eisen- und Hartwaren, Feinkostfachverkauf, Gartencenter, Kraftfahrzeuge und Ersatzteile, Lebensmittelhandel, Parfümerie, Uhren- und Juwelenberatung. Die LBSBR wird als Jahresschule geführt – das heißt, der Unterricht findet nicht in lehrgangsmäßigen oder saisonalen Blöcken statt, sondern durchgehend das ganze Schuljahr für mindestens einen vollen Schultag oder zwei halbe Schultage pro Woche. Gegenwärtig hat die LBSBR rund 370 Schüler*innen, der überwiegende Teil davon ist weiblich (knapp drei Viertel). Eine Lehre als Einrichtungsberater*in absolvieren rund 60 Jugendliche, also insgesamt zwischen 15 und 20 Prozent. Seit Einführung der integrativen Berufsausbildung im Jahr 2003 kann an der LBSBR ein kontinuierlicher Anstieg an Jugendlichen verzeichnet werden, die entweder in einer verlängerten Lehrzeit (§ 8b Abs. 1 BAG) oder in Form einer Teilqualifizierung (§ 8b Abs. 2 BAG) ausgebildet werden. Dabei erhalten leistungsschwache Schüler*innen im Rahmen von Förderunterricht, teilweise auch im Einzelunterricht, Unterstützung durch fixe Stundenkontingente. Darüber hinaus gibt es für alle von einem Leistungsabfall betroffenen Schüler*innen Förderkurse in den sprachlichen, betriebswirtschaftlichen und fachtheoretischen Unterrichtsgegenständen. Vergleichbare Förderangebote für leistungsstarke Schüler*innen gibt es bislang nicht. Allerdings wird motivierten und leistungsstarken Jugendlichen im Rahmen des Lehrlingsmodells Lehre und Matura die Möglichkeit eröffnet, sich während der Lehrausbildung auf die Berufsreifeprüfung vorzubereiten. Die Berufsreifeprüfung entspricht einer vollwertigen Matura („Abitur“) und berechtigt zum Hochschulzugang. Sie besteht aus vier Teilprüfungen (Deutsch, Mathematik, Lebende Fremdsprache, Fachbereich). Zudem haben Lehrlinge mit dem Schwerpunkt Einrichtungsberatung seit einigen Jahren die Möglichkeit einer gezielten Vorbereitung zur Lehrabschlussprüfung. Diese ursprünglich für leistungsschwache Schüler*innen gedachte Unterstützung wird auch von leistungsstarken angenommen.

Die vorliegende Untersuchung fokussiert den Fachbereich Einrichtungsberatung, der an der LBSBR in der Regel sehr heterogene Klassen aufweist. In Bezug auf Lern- und Leistungsvermögen bestehen unterschiedliche Voraussetzungen, Ansprüche und Bedarfe unter den Auszubildenden. Manche weisen bereits eine abgeschlossene Vorausbildung (z. B. an einer berufsbildenden mittleren Schule oder in einem anderen Lehrberuf) oder Matura auf, für sie ist die Anrechnung eines Lehrjahrs möglich. Andere kommen aus problematischen Familienverhältnissen oder haben Migrationshintergrund, was zu kommunikativen oder sozialen Einschränkungen führen kann. Generell variieren die sozioökonomischen Kontexte der Jugendlichen relativ stark, weshalb die Anforderungen an das Lehrpersonal in Bezug auf Diversitätskompetenz und Inklusionsstrategien hoch und die Herausforderungen eines möglichst individualisierten und differenzierten Unterrichts offenkundig sind.

3.2 Fallauswahl und Methode

Generell gestaltet sich eine plausible und ausreichende Fallauswahl zum Thema Begabtenförderung eher schwierig, da es in der Natur der Sache liegt, dass die Zielgruppe (in dem Fall leistungsstarke Auszubildende) vergleichsweise klein und nicht immer einfach auszumachen ist. Für die vorliegende Untersuchung wurden sechs ehemalige Schüler*innen aus dem Fachbereich Einrichtungsberatung befragt, die sich durch besondere schulische Leistungen (ausgezeichneter Erfolg bei der Lehrabschlussprüfung, Teilnahme an regionalen Wettkämpfen) ausgezeichnet haben. Darüber hinaus wurde eine zweite Gruppe an Proband*innen herangezogen, die aus drei Lehrpersonen bestand, die jene Auszubildenden in den fachtheoretischen und fachpraktischen Fächern unterrichteten. Mit diesen beiden Gruppen folgen wir dem Design einer Einzelfallstudie, die auf wenigen Personen beruht, diese allerdings detailliert und aus verschiedener Perspektive analysiert. Im Zentrum stehen die Handlungen und Interaktionen eines spezifischen „sozialen Aggregats“ (Lamnek/Krell 2016, 306), in unserem Fall einer kleinen Gruppe begabter bzw. leistungsstarker Schüler*innen. Die Erhebungsmethode waren qualitative, leitfadengestützte Einzelinterviews, die konkret auf den individuellen Fall einzugehen versuchten und den Proband*innen größtmöglichen Raum zur Darlegung ihrer eigenen Sichtweisen und Erfahrungen ließen. Der Leitfaden der Interviews wurde entlang der oben ausgeführten schulischen Katalysatoren entworfen und mit den drei Dimensionen – schulische Rahmenbedingungen, Lehr- und Lernarrangements, Rolle der Lehrperson – zugrunde gelegt (vgl. Abb. 1). Dabei wurden in weitgehend offen-narrativer Gesprächsführung die einzelnen begabungsförderlichen Einflussfaktoren diskutiert. Die Proband*innen, Lernende wie Lehrende, wurden zudem gebeten, konkrete Unterrichtssituationen zu schildern, in denen es Herausforderungen in der Lernförderung gab. Dies konnten Probleme der Unter- oder Überforderung ebenso sein wie Fragen der Leistungsbeurteilung und Diagnostik. In einem weiteren Teil wurden konkrete Maßnahmen und Möglichkeiten der Begabtenförderung diskutiert, etwa spezielle didaktische Methoden und Lernmaterialien, durch die leistungsstarke Schüler*innen gefördert werden sollen. Hier wurden auch pädagogische Leitsätze zur Diskussion gestellt, z. B. die Aussage, dass jede*r Schüler*in nach ihren und seinen Fähigkeiten gefördert und gefordert werden soll. In einer abschließenden Fragerunde wurden die Möglichkeiten, Grenzen und Probleme dieser Förderpraktiken im Rahmen des Fachunterrichts thematisiert.

3.3 Analyse

Die Datenanalyse der transkribierten Interviews erfolgte theoriegeleitet durch eine qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018). Da die Forschungsfragen auf eine Exploration von Einflussfaktoren und Möglichkeiten der Begabtenförderung abzielen, wurde die Form der inhaltlich strukturierenden Analyse gewählt (Kuckartz 2018, 97ff.). Hier wird das empirische Material nach thematischen und formalen Inhalten ausgewertet, gleichzeitig bietet die Methode genug Flexibilität zur Generierung induktiver Kategorien. Zunächst wurden die deduktiv postulierten Hauptthemen (schulische Rahmenbedingungen, Lehrperson, Lehr- und Lernarrangements) und eine Reihe von Subthemen (Ressourcenknappheit, Klassenmanagement, Fördermöglichkeiten, diagnostische Verfahren etc.) einzelnen Textpassagen zugeordnet. Dabei wurden die Subthemen und deren Kategorien bei Bedarf induktiv angereichert, d. h. inhaltlich ausdifferenziert oder überhaupt durch neue Kategorien erweitert. Um die Zuverlässigkeit der Codierungen zu gewährleisten, wurde das Kategoriensystem nach einem ersten Durchlauf durch konsensuelles Codieren getestet (Kuckartz 2018, 105). Insbesondere die Hauptthemen Lehr- und Lernarrangements sowie Lehrperson zeigten Überschneidungen und Mehrfachcodierungen, die zu klären waren. Die nachstehende Tabelle führt exemplarisch einige zusammengefasste Subkategorien an, die im Analyseprozess präzisiert wurden.

Tabelle 1: Subkategorien inkl. Beschreibung und Themen (Auszug)

Subkategorie

Beschreibung

Themen im Material

Ressourcenknappheit (Hauptthema „Schulische Rahmenbedingungen“)

Knappheit an zeitlichen, räumlichen und personalen Ressourcen, die für Begabtenförderung notwendig sind.

Stundenplan, Gruppen- und Klassenschülerzahl, Praxisraum, Lehrpersonal

Fördermöglichkeiten (Hauptthema „Lehr- und Lernarrangements“)

Möglichkeiten und Probleme in Bezug auf Differenzierung und Individualisierung im Unterricht.

Einzelförderung, Leistungsgruppen, themenzentrierte Förderung, Kreativität, Arbeitsaufträge

Diagnostische Verfahren (Hauptthema „Lehr- und Lernarrangements“)

Methoden und Instrumente zur Feststellung von Begabungen und Leistungspotentialen.

Zeugnisse, Gutachten, Diagnoseverfahren, Tests, Beobachtungen

Die Ergebnisse der Analyse werden in Folge nach inhaltlich zusammengefassten Themenblöcken entlang der Subkategorien dargestellt, wobei sowohl die Perspektiven der Lernenden als auch jene der Lehrenden miteinander in Bezug gesetzt werden. Generell sollten durch diese Form der Darstellung allgemeine, personenübergreifende Aussagen generiert werden, die auf die Relevanz einzelner Themen verweisen.

4 Ergebnisse

4.1 Begrenzte Rahmenbedingungen: die Ressourcen Zeit, Raum und Personal

Die schulischen Rahmenbedingungen werden im Material durch die Subkategorien Zeit, Raum und Personal erfasst, wobei sich von Seiten der Lehrpersonen der nahezu durchgängige Befund einer Ressourcenknappheit zeigt. Zeit, Klassengröße und Heterogenität werden als wesentliche Faktoren dafür angegeben, warum leistungsstarke Auszubildende im Fachunterricht nicht oder nur wenig gefördert werden können. Je größer und heterogener die Klassen sind, desto mehr Zeit braucht die gezielte Förderung. Wenn es aber nicht möglich ist, auf Einzelne einzugehen, dann „müssen eigentlich Begabte und Unbegabte (…) in der Masse mitschwimmen“ (01L1, 1). Dass die knappe Ressource Zeit die Theorie und Praxis der Begabtenförderung oft auseinanderklaffen lässt, zeigt der exemplarische Fall einer Lehrperson. Sie hat selbst eine Bachelorarbeit über individuelle Fördermöglichkeiten durch Lernaufgaben verfasst, klagt aber in der Praxis darüber, welche „wahnsinnige Vorbereitungszeit“ diese erforderten. Am Ende kommt in ihrem Unterricht ein „Mittelweg“ heraus, auf dem allerdings „die Guten“ auf der Strecke blieben: „(…) und ich weiß, dass ich da meistens den Mittelweg fahre und es eher so ist, dass ich auf die Schwächeren schaue und die Guten sich teilweise dann fadisieren, langweilen“ (02L2, 1).

Auch die befragten Schüler*innen sehen im Zeitfaktor einen wesentlichen Grund für die begrenzten Fördermöglichkeiten. Wenn sie im Anschluss an den Fachunterricht ein persönliches Gespräch mit den Lehrenden gesucht hatten, war dafür aufgrund des sofortigen Stundenwechsels in der Regel keine Zeit. Zugleich gibt es durchaus Verständnis für die Ressourcenprobleme, mit denen Lehrpersonen im Fachunterricht konfrontiert sind. Als weiteres Problem wird die Gruppengröße genannt, die meist, etwa bei kommunikativen Trainings (Übung von Verkaufsgesprächen) oder bei Vorträgen zu warenkundlichen Themen, zu groß ist. Außerdem werden Gruppen bei verschiedenen Vorträgen zusammengelegt, was Platzmangel sowie Störungen im Unterricht verursacht.

Konkrete und unmittelbare Lösungen sehen die Lehrpersonen in der Gestaltung des Stundenplans sowie in der Raumeinteilung. In parallelen Fachfächern derselben Schulstufe könnten Gruppenteilungen stattfinden und damit interessierte Schüler*innen aus zwei Klassen zusammengelegt werden. Zusätzlich könnten durch die räumliche Nähe thematische Inhalte je nach Interesse und Begabung in Gruppen aufgeteilt werden. Aktuell liegen die Stunden oft versetzt und machen eine Zusammenlegung nicht möglich.

Ein weiteres Thema, das Relevanz für individuelle Fördermöglichkeiten hat, ist die Gestaltung eines sogenannten Praxisraums. Per definitionem sollte er ein Raum für praktische, kreative Tätigkeiten sein, dafür bedarf es aber einer angemessenen Größe und Ausstattung. Eine Lehrperson dazu: „Ich würde mit ihnen [den Schüler*innen] töpfern, ich würde mit ihnen flechten, ich würde ihnen Materialien der Natur nahebringen.“ (03L3, 9) Auch aus Sicht der Schüler*innen werden solche kreativen oder auch praktischen Tätigkeiten wie das Zusammenbauen eines Schranks oder das Verlegen eines Laminatbodens begrüßt. Sie bieten Gelegenheit, theoretisches Wissen anzuwenden und dabei praktische Herausforderungen zu erfahren. Eine Schülerin erklärt dies beispielhaft am Aus- und Einhängen von Plissees: „(…) wie jetzt beim Plissee, ich habe dazu nur die Theorie gehört und ich habe es jetzt doch selber rausziehen müssen. Und eben erfahren müssen, wie das wirklich ist.“ (01S1, 2)

4.2 Diagnostische Verfahren: Voraussetzungen, Bedarfe und Potentiale der Schüler*innen

Eine zentrale Subkategorie der Lehr- und Lernarrangements sind diagnostische Verfahren als Teil des Unterrichts. Sie können zu einem Teil auch auf die schulorganisatorische Ebene verweisen, sofern es an der Berufsschule übergreifende Methoden zur Feststellung von Leistungspotentialen im Fachunterricht gibt. In unserem Fall geben sie aber vor allem Auskunft über Lehr- und Lernarrangements, da sie zeigen, wie unterschiedliche Lernvoraussetzungen im Unterricht berücksichtigt werden und wie differenziert Lehrpersonen auf die jeweilige Bedarfe der Schüler*innen eingehen. Aus Sicht der Lehrpersonen zeigen sich dabei unterschiedliche Befunde. So gibt es abweichende Meinungen zur Relevanz der Einsicht in Zeugnisunterlagen der letztbesuchten Schule. Damit könne, so ein Argument dafür, ein erster Überblick über das Leistungsvermögen der Jugendlichen, ihre Stärken und Schwächen, gewonnen werden. Zumindest bei leistungsschwachen Schülern und Schülerinnen erfüllten Gutachten und Zeugnisse daher sehr wohl einen diagnostischen Zweck. Andere Lehrpersonen machen von dieser Möglichkeit hingegen kaum Gebrauch, wie ein konkreter Fall schildert, für den bei Schulbeginn zunächst einmal alle gleich sind – „im Sinne von Chancengleichheit“ (03L3, 2). Relevanter für die Einschätzung einer Klasse sind dagegen Diagnosetests, durch die man rasch wüsste, wie „das Ganze“ dann ausschaue (02L2, 2). Solche Diagnoseteste können bei Quereinsteigern mit Vorausbildung entfallen, denn:

„(…) da frage ich bloß einmal nach, welche Schule sie besucht haben, welche Motivation sie jetzt haben, im Einrichtungsbereich zu arbeiten. (…) Meistens, aber nicht immer, sind das aus meiner Erfahrung die besseren Schüler.“ (02L2, 3)

Eine wichtige diagnostische Methode ist die Beobachtung, weil dadurch sprichwörtlich mit eigenen Augen auf Begabungen, zumindest auf Leistungspotentiale, rückgeschlossen werden kann. Einer Lehrperson fiel wiederholt auf, dass Schüler*innen, die Schwächen im Rechnen und Schreiben haben, umgekehrt oft sehr kreativ sind (02L2, 3). Das zeigt sich z. B. im Fachunterricht beim Konstruieren von Plänen oder beim Gestalten von Plakaten und Mindmaps. Solche Beobachtungen sind mitunter Anlass zu weiteren Gesprächen, in denen die Schüler*innen gezielt, teils unter vier Augen, auf ihre Interessen und Vorkenntnisse angesprochen werden.

Umgekehrt führen die Auszubildenden an, dass weder ihre Begabungen noch ihr Interesse am Fachunterricht von den Lehrpersonen konsequent berücksichtigt oder bemerkt worden wären. Auch werden konkrete Maßnahmen vermisst, die über das bloße Beobachten und Feststellen von Begabungen hinausgehen und eine gezielte Förderung beinhalten „Na ja, also ich glaube, manche Lehrer haben das wahrgenommen, aber nicht wirklich viel umgesetzt. Sie haben halt gewusst, dass ich das gut mache – und dass das halt gepasst hat.“ (03S3, 5)

Interessant ist, dass sich keine Schüler*innen daran erinnern, je hinsichtlich ihrer Begabungen und Interessen getestet worden zu sein. Lehrende würden ihre Einschätzungen in Bezug auf Fähigkeiten und besondere Interessen teils auf Vermutungen gründen, teils auf Beobachtungen im Unterricht (z.B. rasches und korrektes Lösen von Aufgaben, Mitarbeit, mündliche und schriftliche Überprüfungen). Die Schüler*innen beschreiben ihr eigenes Verhalten im Unterricht – wie im folgenden Zitat – als ruhig und konzentriert. Man möchte zügig arbeiten und meist nicht weiter stören.

„(…) mit meiner Geschwindigkeit [habe] ich meistens zu den Ersten gehört, die fertig waren. Und [dass] nicht immer alles korrekt war, aber die meisten Sachen schon. Mitarbeit war auch immer da und ich habe eher zu den ruhigeren Schülern gehört.“ (02S2, 4)

Während des Schuljahres erfolgten Leistungsfeststellungen mittels schriftlicher und mündlicher Überprüfungen. Im Fachgegenstand gab es jedes Semester eine Schularbeit. Die befragten Schüler*innen haben sich auf solche Leistungsfeststellungen in der Regel vorbereitet und konnten dadurch gute Noten erzielen. Die Aufgabenstellungen waren grundsätzlich für alle gleich, manchmal gab es Zusatzaufgaben – eine wirkliche Herausforderung wurde darin aber nicht gesehen. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Lernstoff war somit meist nicht notwendig war: „Ich habe mir leicht getan, ich habe es mir einmal angeschaut und dann hat das gepasst.“ (05S5, 4) Ein anderer Proband berichtet, nie gelernt zu haben, und dennoch waren die Noten gut.

4.3 Differenzierung im Unterricht: Klassenführung und die Rolle der Lehrperson

Die hier zusammengefasste Subkategorie der Differenzierung im Unterrichtshandeln verweist einerseits auf das Hauptthema der Lehr- und Lernarrangements, andererseits sind damit auch Fragen des Klassenmanagements und der Klassenführung angesprochen, die mit der Rolle der Lehrperson zu tun haben. Grundsätzlich bestätigen alle Proband*innen die Relevanz und Notwendigkeit einer bewussten Begabtenförderung im Fachunterricht, sehen aber gleichzeitig große Herausforderungen in der Umsetzung. Es herrscht Skepsis darüber, ob der Anspruch nach differenzierter und individueller Unterstützung tatsächlich erfüllt werden kann. Eine gleichzeitige Förderung von leistungsschwachen und leistungsstarken Jugendlichen erscheint kaum möglich, weil dazu die Niveaus in den Fachklassen zu unterschiedlich, die Unterschiede im Verhalten der Jugendlichen zu groß, schließlich die notwendigen Ressourcen (Klassengröße als entscheidender Faktor) zu begrenzt sind. Gerade die in Kapitel 4.1 ausgeführten zeitlichen und personellen Engpässe werden oft als Grund vorgebracht, warum es „der Alltag“ nicht zulasse, dass man jeden fördern und fordern kann. (01L1, 1)

Eine zentrale Herausforderung in der Klassenführung ist die Heterogenität der Auszubildenden. Aus Sicht der Lehrpersonen sind viele Probleme im Fachunterricht auf die Zusammensetzung der Klassen zurückzuführen. Regelmäßig auftretende Störungen wie mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Verhaltensunterschiede oder erhöhter Bedarf an Aufmerksamkeit werden daraus erklärt. Gleichzeitig bleiben leistungsstarke Schüler*innen oft unterfordert, fühlen sich gelangweilt und stören dann ihrerseits den Unterricht. Aus den unterschiedlichen Bedarfen ergeben sich schwierige soziale Dynamiken, die es zu managen gilt: „Man benötigt immer einen Plan B für die schnellen Schüler, um vor allem aber keine Spaltung zu erzeugen.“ (03L3, 1)

Eine konkrete Ursache für Störungen im Unterricht ist das mangelnde Interesse mancher Schüler*innen, das wiederum mit den unterschiedlichen psychosozialen Entwicklungsständen zusammenhängen kann. So wollten sich gerade junge Männer oftmals einfach nur profilieren: „Gerade bei den Jungs ist es halt so, sich in der Klasse zu behaupten und den Mädels zu imponieren.“ (02L2, 6) Die Reaktionen der Lehrpersonen auf solche Störungen fallen aus Sicht der leistungsstarken Schüler*innen nicht immer streng und konsequent genug aus. Dabei zeigen sich dann auch die Grenzen des Verständnisses für die eigenen Klassenkolleg*innen, etwa wenn wiederholt gestört und vom Arbeiten abgelenkt wird oder durch vieles „unnötiges“ Nachfragen die Konzentration leidet. Solche Missstände werden indirekt an die Lehrperson und ihr Klassenmanagement adressiert: „Sie [Mitschüler*innen] haben mich gefragt und das hätten sie eigentlich die Lehrperson fragen können, anstatt meine Zeit zu brauchen.“ (01S1, 6) Angesprochen auf die Gründe für ein solches Verhalten, führen die befragten Schüler*innen die Heterogenität innerhalb der Klasse an. Das störende Verhalten mag insbesondere an unterschiedlichen Entwicklungsständen liegen, aber auch an mangelndem Interesse am Beruf und an der falschen Berufswahl.

Ein weiterer Aspekt, bei dem sich Spannungen zwischen der Heterogenität in der Klasse und den Ansprüchen nach Diversität im Unterricht zeigen, sind konkrete Lernaufgaben. Diese sind in der Regel für alle konzipiert und müssten daher individuell angepasst werden, um allen gerecht zu werden. Das wiederum ist aus Sicht der Lehrpersonen im Alltag nicht zu schaffen. Zudem ist es schwierig, ein richtiges Maß zwischen Unter- und Überforderung zu finden. Entweder verlangen Lernaufgaben „zu viel auf einmal“ und führen zu vielen, die Lernatmosphäre störenden Nachfragen. (02L2, 4) Oder aber die Aufgaben sind für leistungsstarke Schüler*innen schlicht zu einfach oder gar „kindisch“, weil jeglicher Bezug zur Praxis fehlt: „Warum sollten wir Kartoffeln und Trauben zeichnen? (…) Stattdessen hätten wir vielleicht ein Produkt aus unserer Abteilung zeichnen sollen, (…) auf unseren Job bezogen.“ (02S2, 7-8) Umgekehrt betrachten Lehrpersonen jene Arbeitsaufträge als besonders förderlich, in denen Schüler*innen sich selbstständig organisieren und termingerechte Abgaben einhalten müssen. (02L2, 3) Dabei sollten sie Aufgabenstellungen eigenständig erarbeiten (Lesen, Strukturieren, Lösungen finden) und im Anschluss präsentieren. Auch aus Sicht der Schüler*innen wird das selbständige und ungestörte Arbeiten hervorgehoben, sofern die Aufgabenstellungen angemessen und herausfordernd sind.

Ein weiterer Aspekt der Unterrichtsgestaltung liegt in der Breite und Vielfältigkeit der Themensetzung. Viele Auszubildende mögen zwar Spezialisten in ihrem Betrieb sein, wo sie in der Regel in einer, vielleicht zwei Abteilungen tätig sind. Es gilt aber, im Unterricht auch die wesentlichen Inhalte aus anderen Arbeitsbereichen in komprimierter Form zu erhalten. Dies allerdings führt dann oftmals zur Überforderung, weil es „unglaublich viele unterschiedliche Themen sind, auf die sie sich konzentrieren müssen und die sie auch können müssen, obwohl sie im Betrieb nicht in diesen Abteilungen arbeiten.“ (03L3, 3) Dazu passt, dass aus Sicht der Schüler*innen insbesondere solche Inhalte und Zusatzangebote als förderlich wahrgenommen werden, die über die Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten der jeweiligen Ausbildungsbetriebe hinausgehen. Ein Beispiel ist die Ausbildung am Zusatztag und die dabei ermöglichte Verknüpfung von Theorie und Praxis sowie die Vertiefung in Materialienkunde. Positiv hervorgehoben wird ferner das Planen von Einrichtungsideen – auch das eine Tätigkeit, die man in den Betrieben so nie gelernt hätte. Gerade wenn es um abteilungsfremde Einrichtungsideen geht, die ein abteilungsübergreifendes Fachwissen erfordern, stellten diese Planungen eine anspruchsvolle Herausforderung dar.

Für ein erfolgreiches Klassenmanagement, das eine gezielte Begabtenförderung unterstützt, braucht es die entsprechende Haltung und Motivation von Seiten der Lehrperson. Aus den Interviews mit den Lehrpersonen geht hervor, dass eine der wichtigsten Eigenschaften die Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber den Jugendlichen ist. Dabei ist entscheidend, „dass die Lehrenden wirklich auch mit einer Motivation und mit einer Freude in die Klasse reingehen.“ (01L1, 9) Eine andere Frage ist, ob man in der pädagogischen (Mehr-)Arbeit einer gezielten Begabtenförderung auch vom Kollegium, insbesondere von der Schulleitung, unterstützt wird.

4.4 Individualisierung und Motivation: selbstbestimmtes Lernen und Teamarbeit

In Folge werden didaktische Möglichkeiten der Begabtenförderung im Unterricht angeführt, die inhaltlich und methodisch als besonders zielführend wahrgenommen werden. Es sind Ergebnisse, die wir unter den Subkategorien Individualisierung, Motivation, selbstbestimmtes Lernen und Teamarbeit analysiert haben und die dem Hauptthema der Lehr- und Lernarrangements zuzuordnen sind. Eine erste Gruppe an individuellen Fördermöglichkeiten umfasst Arbeitsaufträge auf unterschiedlichen Niveaus sowie schriftliche Zusatzaufgaben in Form von Arbeitsblättern. Darin sehen beide Proband*innengruppen eine wichtige Maßnahme, ansonsten würden sich die leistungsstarken Schüler*innen umso mehr langweilen oder aber ihren Vorsprung vergrößern, indem sie mit den nächstanstehenden Aufgaben fortfahren: „Ich war immer ein Stück weiter.“ (01S1, 4) Während die Lehrpersonen im Unterrichtsalltag oft mit leistungsschwächeren Schülern und Schülerinnen beschäftigt sind, hinterlässt die ausbleibende individuelle Förderung bei den anderen mitunter Langeweile, Desinteresse oder auch Ärger: „(…) und du bist dagesessen und hast die Arbeit schon lange fertiggehabt, (…) also da war ich gelangweilt und es hat mich gestört.“ (03S3, 4) Diese Wirkungen verstärken sich bei Themen, die bereits ein- oder mehrmals im Unterricht durchgearbeitet wurden. Als Lösung schlagen die betroffenen Schüler*innen Klassenteilungen in Vertiefungs- und Normgruppen vor. Dadurch wäre eine individuellere, auf das jeweilige Arbeitstempo angepasste Förderung im Fachunterricht möglich. So ist es etwa ein Anliegen, bei verschiedenen Themen im warenkundlichen Bereich tiefer in die Materie einzutauchen, die oftmals lediglich an der Oberfläche gekratzt würde. Umgekehrt wünschen sich einige, dass der abteilungsübergreifende Unterricht früher einsetzt. Generell, so eine Aussage der Auszubildenden, könnte das Niveau im Fachbereich gehoben werden: „Ich würde den Standard, den wir an der Schule haben, allgemein etwas höher setzen.“ (02S2, 7) Das zeigt sich etwa darin, dass sich die befragten Schüler*innen mehr „knifflige“ Aufgaben wünschen, deren Lösungen sie dann vor der Gruppe präsentieren können. Sie wollen gefordert werden, aber auch Fehler machen dürfen, und dann die Lösungswege gemeinsam diskutieren: „(…) und auch, dass es wirklich schwierige Aufgaben sind, wo man auch mehr nachdenken und man auch mal die Lehrperson was fragen muss und darüber dann auch diskutiert.“ (02S2, 9)

Eine weitere Fördermöglichkeit ist das Arbeiten und Lernen in Teams. Informationen austauschen, Inhalte gemeinsam erarbeiten, miteinander und voneinander lernen – das sind Erfahrungen, die manche Schüler*innen sehr begrüßen, die für andere aber auch sehr fordernd sind. Unter den befragten Schüler*innen wünscht man sich einerseits mehr Austausch mit Gleichgesinnten im Rahmen von Projektarbeiten (im Tandem oder in Gruppen). Andererseits sind sie auch offen für die Zusammenarbeit mit leistungsschwächeren Schülern und Schülerinnen und bringen die Bereitschaft, anderen zu helfen, deutlich zum Ausdruck: „Ja, das finde ich gut, so hat man doch ein bisschen eine Aufgabe, sein Wissen weiterzugeben. Ich fühle mich dann halt auch gebraucht.“ (03S3, 5) Zudem wird angeführt, dass man dadurch auch von den Anderen lernen kann – jede Person habe ihre Stärken, von denen man profitieren kann. Umgekehrt betrachten auch die Lehrpersonen gerade den Aspekt der gegenseitigen Unterstützung als wichtige pädagogische Dimension und begrüßen neben individuellen Aufgabenstellungen solche, bei denen Lernende andere Lernende oder auch die Lehrperson unterstützen: „Der Begabte kann den Schwächeren unterstützen und der Schwächere profitiert ganz extrem vom Stärkeren und kann sich was abschauen.“ (03L3, 6)

Unter den Lehrenden herrscht Konsens darüber, dass es im Fachunterricht kleinere Gruppen geben sollte, um die Schüler*innen insbesondere im praktischen Bereich besser fördern zu können. Räumliche und stundenplantechnische Ressourcen sollten nach Möglichkeit (von der Schulleitung) optimiert werden, sodass Gruppenteilungen nach Interessen, Themen und Begabungen vorgenommen werden können. Dementsprechend wären auch die Unterrichtsmaterialien und Diagnoseinstrumente anzupassen. Hierin sehen die befragten Lehrpersonen einen enormen Arbeitsaufwand, da nicht nur individuelle Arbeitsunterlagen, sondern auch individuelle Überprüfungen (z.B. Schularbeiten) vorbereitet werden müssen. Eine gemeinsame Forderung ist das Beschulen aller in diesem Bereich tätigen Lehrpersonen. Es sollten Spezialisten für einzelne Bereiche ausgebildet werden, da es unrealistisch ist, als Einzelperson sämtliche Inhalte im Fachbereich abzudecken. Zudem könnten innerhalb des Kollegiums Teams gebildet und einzelne Bereiche thematisch besser abgedeckt werden. Auch das fächerübergreifende Arbeiten wird eingebracht, weil es leistungsstarken Schüler*innen zusätzliche Möglichkeiten bieten würde. Dies wiederum erfordert zusätzliche Absprachen innerhalb des Kollegiums und mit der Schulleitung. Schließlich sollten auch vermehrt externe Fachleute zu verschiedenen Themen unterrichten – etwa im Rahmen zusätzlicher Unterrichtseinheiten für leistungsstarke Auszubildende.

5 Diskussion

Im vorliegenden Beitrag fragen wir, welche Herausforderungen und Möglichkeiten Auszubildende in der Berufsschule vor dem Hintergrund unterschiedlicher Einflussfaktoren haben, um ihr Begabungspotential in schulische Leistungen umzusetzen. Wie die Ergebnisse zeigen, ergeben sich aus der Befragung der Lernenden und Lehrenden sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede, von denen wir ein paar auffallende herausgreifen wollen. Übereinstimmungen finden sich, wenn es um die Wahrnehmung der schulischen Rahmenbedingungen (Ressourcenknappheit) und davon abgeleitete Wunschvorstellungen (z.B. mehr kreative Freiräume) geht. Unterschiede sowohl innerhalb als auch zwischen den Gruppen zeigen sich in der Beurteilung diagnostischer Verfahren, wobei relativ klar hervorgeht, dass sich die Lernenden in ihren Interessen und Stärken zu selten und zu wenig wahrgenommen fühlen. In Bezug auf das Klassenmanagement sehen die Lehrenden die Heterogenität der Zusammensetzung als schwer bewältigbare Herausforderung, während die Lernenden oft mehr Autorität und Führung von ihnen verlangen. Bei den Lernaufgaben wird der Befund der Überforderung eher von Seiten der Lehrenden geteilt, die leistungsstarken Schüler*innen hingegen wünschen sich ein höheres Anspruchsniveau und mehr (Heraus-)Forderung. Durchaus erwartbar sind Synergien hinsichtlich der Einschätzung von Fördermöglichkeiten, beide Seiten unterstreichen die Bedeutung von individuellen Aufgaben, selbständigem Lernen und dem Arbeiten in Teams.

Mit diesem kompakten Befund wollen wir abschließend einige Implikationen diskutieren, die unsere Ergebnisse nahelegen, und sie theoretisch rückführen. Unsere Analyse zeigt, wie wichtig organisatorische Rahmenbedingungen sind, insbesondere zeitliche und räumliche Ressourcen (und damit indirekt immer auch personelle und finanzielle Ressourcen). Synergieeffekte könnten durch eine gezieltere Fächer- und Stundenplanung erreicht werden, sodass durch die Parallelität von Fachklassen mehr Durchlässigkeit zwischen einzelnen Gruppen entsteht. Eine solche Unterrichts- und Förderstruktur würde eine zentrale Stammklasse mit Durchgangsmöglichkeiten zu Leistungs- und Begabungsgruppen aufweisen. Renzulli (2002) bezeichnet solche Begabungsgruppen als Förderateliers. Demnach findet Begabungsförderung an verschiedenen Orten statt: Es braucht die Stammklasse, um besondere Leistungen im Vergleich zu Gleichaltrigen festzustellen. Dadurch können sich leistungsstarke Schüler*innen in einer sozialen Gemeinschaft zurechtfinden und gleichzeitig die Option offenhalten, innerhalb einer Bezugsgruppe mit besonders hohen Leistungsansprüchen zu interagieren (Müller-Oppliger 2014, 255). Ein solcher Unterricht ermöglicht es, die Schüler*innen zeitlich begrenzt und nach verschiedenen Themen, Interessen und Begabungen zu fordern und zu fördern.

Eine weitere Voraussetzung für individuelle Förderung stellen modern ausgestattete Praxisräume dar, die groß genug sind, um praktische Arbeiten zu ermöglichen. Im Fall des Fachbereichs Einrichtungsberatung sind diese Räume idealerweise mit aktuellen Mustern und Proben sowie Schauräumen (Küche, Schlafzimmer etc.) ausgestattet, die flexibel umgestellt werden können. Kreativ gestaltete Räumlichkeiten regen die Jugendlichen an, mit verschiedenen Materialien zu arbeiten. Solche Lernumgebungen ermöglichen Begegnungen und bieten Handlungsimpulse. Ziel der Praxisräume wäre es im konkreten Fall, Interesse an neuen Produkten und Einrichtungsideen zu wecken. Das darin erlebbare Umfeld könnte motivierend wirken und helfen, Situationen im Berufsalltag in Form von Rollenmodellen (z.B. Verkaufsgespräche) nachzustellen. In der Begabtenforschung (vgl. Gagné 2010, Renzulli 2002) herrscht Konsens darüber, wie wichtig solche lernförderlichen Umwelten für die Entfaltung von Begabungen sind.

Auch wenn die Relevanz diagnostischer Verfahren im vorliegenden Fall von den Befragten unterschiedlich bewertet wird, betrachten wir es als entscheidend, dass Begabungen mittels diagnostischer Instrumente nicht nur erkannt, sondern auch gezielt gefördert werden (Hascher 2003). Damit verbunden ist das Abstimmen von Unterrichtsmethoden auf die Lernvoraussetzungen der Auszubildenden. Allerdings hat sich aus der Befragung der Lehrpersonen deutlich gezeigt, dass der Aufwand für entsprechende Maßnahmen oftmals zu groß ist. Hier würde Unterstützung durch zusätzliche Lehrkräfte helfen, um Diagnosetests, individuelle Unterrichtsmaterialien, Lerntagebücher, Förderpläne etc. zu entwickeln.

Die Ergebnisse unserer Einzelfallstudie legen den Schluss nahe, dass es im Unterrichtsalltag der untersuchten Berufsschule keine oder zu wenige gezielte Fördermöglichkeiten für leistungsstarke Auszubildende gibt. Dies zeigt sich offenkundig in standardisierten Lernaufgaben, in denen die Betroffenen in der Regel früher fertig sind als andere, sich langweilen und unterfordert fühlen. Grundsätzlich ist der Lehrplan für alle gleich, für leistungsstarke Schüler*innen könnten aber die Lern- und Übungszeiten im Sinne einer Lehrplanstraffung verkürzt werden. Die freiwerdende Zeit ließe sich dann für vertiefende Inhalte oder zur Aufarbeitung von Defiziten nutzen. Sinnvolle Alternativen wie komplexere Aufgabenstellungen oder anspruchsvollere Anwendungen sind notwendig, um Warteräume zu vermeiden (Müller-Oppliger 2014, 257f.). Es geht darum, über den regulären Lehrplan hinaus Vernetzungen und Anwendungen auf verschiedenen Anspruchsebenen zu schaffen.

Je nach Kontext können Förderungen bei individuellen Aufgabenstellungen oder bei Gruppenarbeiten ansetzen, sie können im Regelunterricht oder außerhalb der Schulzeit stattfinden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass leistungsstarke Auszubildende durchaus geneigt sind, ihr Wissen und Können zu teilen. Sie fühlen sich dadurch gebraucht und akzeptiert, sind aber darüber hinaus auch bereit, mehr zu leisten und ihre Leistungen zu präsentieren. Dass Anstrengungsbereitschaft und Lernmotivation bei leistungsstarken Auszubildenden höher sind als bei anderen, ist eines der zentralen Ergebnisse der Studie von Krüger et al. (2014, 453). Gleichzeitig fühlen sie sich, so geht aus unserer Untersuchung hervor, durch leistungsschwächere Schüler*innen in ihrem Fortkommen auch gestört. Wir sehen dabei unterschiedliche, oft widerstrebende soziale Interaktionsmuster zwischen Kollegialität und Autonomie, die mitunter in Rollenkonflikte (Mitschüler*in, Freund*in, Helfer*in etc.) münden können. Deshalb bietet sich an, leistungsstarke Schüler*innen aus höheren Klassen als Expert*innen in niederen Klassen einzusetzen, z.B. für Fachseminare. Enrichment-Programme zur Anreicherung von Lerninhalten über den regulären Lehrplan hinaus können helfen, eigenständige Projekte allein oder in Kleingruppen zu realisieren. Eine solche qualitative Anreicherung grenzt sich ab vom rein quantitativen more of the same durch bloße Arbeitsblätter oder Beschäftigungsaufgaben. Stattdessen stehen Grundfertigkeiten des entdeckenden und forschenden Lernens im Mittelpunkt, Jugendliche sollten in ihren Strategien des selbstgesteuerten Lernens gestärkt werden (Fischer 2008).

6 Fazit

Unser Beitrag zeigt die Möglichkeiten und Herausforderungen der Begabtenförderung am Beispiel einer Berufsschule in Bregenz auf. Dabei handelt es sich um exemplarische Einsichten, die in erster Linie für den konkreten Schulstandort und nur bedingt für andere sprechen. Aufgrund der kleinen Fallauswahl bleiben die vorgestellten Ergebnisse sehr an den Kontext und die handelnden Akteur*innen gebunden, manche Themen sind womöglich nur auf einzelne Proband*innen zurückzuführen. Neben dieser quantitativen Limitierung gibt es auch eine qualitative. Aufgrund der begrenzten Materialbasis erschien im vorliegenden Untersuchungsdesign die Auswertung von übergreifenden Mustern sinnvoller als die Analyse von individuellen Fällen. Dennoch könnte es sein, dass gerade die Identifizierung subjektiver Perspektiven dem Phänomen Begabung in seiner je individuellen Ausprägung sowie spezifischen Entstehungs- und Entwicklungsdynamik noch angemessener entgegenkommt. Das zeigt sich überall dort, wo die erfassten Wahrnehmungen und Erfahrungen der Lernenden auf unterschiedliche Weise interpretiert werden können und nicht notwendig auf eine Begabung schließen lassen. Die Gefahr, von einzelnen Aussagen vorschnell auf Ursache-Wirkungszusammenhänge zu schließen, ist gerade bei diesem Untersuchungsgegenstand nicht zu unterschätzen. Oder anders gesagt: Auch leistungsschwache Schüler*innen können das Zeichnen von Kartoffeln „kindisch“ finden. Die vorliegenden Ergebnisse können daher keine fallbezogene Tiefenanalyse bieten, sehr wohl aber ein Spektrum an Themen, Problemen und Herausforderungen, das in anderen Fachbereichen, Berufsschulen und, noch genereller, beruflichen Ausbildungskontexten Relevanz hat. Vor diesem Hintergrund wäre ein nächster Forschungsschritt, etwa anhand der dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2003), noch stärker in die individuelle Fallrekonstruktion zu gehen und anhand einer Typenbildung zu zeigen, wie und warum Einflüsse in schulischen Lernumgebungen auf leistungsstarke Schüler*innen begabungsförderlich wirken.

Auf einer bildungspraktischen Ebene wird es in Zukunft entscheidend sein, die strukturellen Bedingungen der Begabtenförderung noch stärker in den Fokus zu nehmen. Eine Möglichkeit wäre es, unterschiedliche Bezugspersonen wie Eltern, Lehrpersonen, Ausbilder*innen und Schulleitungen noch stärker in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. So wurden im vorliegenden Fall die Interview-Ergebnisse auch der Schulleitung vorgelegt, die sich sehr offen für das Thema und dessen Notwendigkeit zeigte. Ein Fazit aus dieser Diskussion ist, dass die Schulleitung damit noch deutlicher eigene Handlungsspielräume wahrnehmen und akzentuieren kann, insbesondere wenn es um konkrete Verbesserungsmöglichkeiten geht. Gleichzeitig wurden dabei auch strukturelle Grenzen und Schwierigkeiten aufgezeigt, etwa bei personellen und materiellen Ressourcen, die über den Entscheidungsbereich der Schulleitung hinausgehen. Das unterstreicht, dass die in diesem Beitrag fokussierte Mikro-Ebene des Handelns (Unterrichtshandeln) nur eine von mehreren Dimensionen der Begabtenförderung ist, die im Idealfall auf einer Meso-Ebene durch entsprechende organisatorische Maßnahmen und auf Makro-Ebene durch politische Strategien komplementiert wird. Auf all diesen Ebenen gibt es noch viel zu tun für eine empirisch fundierte Begabtenforschung.

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Zitieren des Beitrags

Vötsch, M./Schneider, G. (2023): „Warum sollten wir Kartoffeln und Trauben zeichnen?“ Herausforderungen und Möglichkeiten für eine Begabtenförderung an Berufsschulen. Ein Fallbeispiel. In: bwp@ Spezial PH-AT2: Diversität in der Berufsbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz – Perspektiven aus Forschung, Entwicklung und Bildungspraxis, hrsg. v. Albert, S./Heinrichs, K./Hofer, K./Hotarek, I./Zenz, S., 1-20. Online: https://www.bwpat.de/spezial-ph-at2/voetsch_schneider_bwpat-ph-at2.pdf (19.04.2023).