bwp@ Spezial PH-AT2 - April 2023

Diversität in der Berufsbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz – Perspektiven aus Forschung, Entwicklung und Bildungspraxis

Hrsg.: Sabine Albert, Karin Heinrichs, Ingrid Hotarek & Sabine Zenz

Tageslernsituationen (TLS) als Praxisinnovation in der Ausbildungsvorbereitung – Einblicke in die schulische Curriculumarbeit

Beitrag von Petra Frehe-Halliwell & H.-Hugo Kremer
Schlüsselwörter: Didaktik der Ausbildungsvorbereitung, Tageslernsituationen, schulnahe Curriculumarbeit, curriculare Prinzipien, Subjektorientierung, Innovationen in der Berufsbildungspraxis

Der Beitrag richtet den Blick auf didaktische Gestaltungsprozesse in berufs- und ausbildungsvorbereitenden Bildungsgängen an Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen (NRW). Tageslernsituationen (TLS) stellen eine Praxisinnovation dar, anhand derer Lehrkräfte versuchen, den heterogenen Lernvoraussetzungen durch innovative curriculare, didaktische und organisatorische Angebote bzw. Strukturen zu begegnen. Der Beitrag basiert auf einer qualitativen Interviewstudie und hat zum Ziel, das Praxiskonzept TLS explorativ zu ergründen, Eckpunkte der Gestaltung zu identifizieren sowie wissenschaftlich diskutier- und reflektierbar zu machen. Die Auswertung führt zu fünf Standortkonzepten, die einen gemeinsamen Entwicklungskorridor erkennen lassen und sich dennoch in sehr spezifischen Ausprägungsformen zeigen. Die Standortkonzepte legen dabei in einer Gesamtbetrachtung Entwicklungsbedarfe und Herausforderungen in der Ausbildungsvorbereitung (AV) offen: Über zusammenführende Thesen werden diese Aspekte für einen Diskurs zur didaktischen Gestaltung berufs- und ausbildungsvorbereitender Bildungsgänge aufbereitet.

‚Day by Day Learning Provisions‘ (DDLP): An Innovation from Pre-Vocational Practice – Insights into School-based Curriculum Development

English Abstract

This article focuses on didactic developments in pre-vocational education at vocational schools in North Rhine-Westphalia. In this educational setting, teachers work with extremely heterogeneous learning groups. ‘Day by Day Learning Provisions’ (DDLP) are an innovation with which teachers attempt to tackle the challenges involved using innovative organizational, curricular as well as didactic/instructional approaches and structures. This contribution draws on a qualitative interview study and aims to explore the DDLP as a practice phenomenon, to identify its cornerstone characteristics, and thereby enable the academic discussion and reflection of DDLP. The analysis results in five site-based concepts that share a common corridor of development but also appear in very different specific arrangements. From an overall perspective, the site-based concepts reveal both the development requirements as well as the challenges embedded in pre-vocational education. These aspects are presented at the end of the article by summarizing the key theses to contribute to the discourse on pre-vocational learning pathways.

1 Hintergrund und Hinführung: Innovationsbedarf in der Ausbildungsvorbereitung

Verschiedenste Gründe führen dazu, dass Jugendliche die erste Schwelle in die berufliche Ausbildung nicht bewältigen. Diese Jugendlichen werden häufig als ‚benachteiligt‘ gekennzeichnet und ihnen wird ein besonderer Förder- und Unterstützungsbedarf aufgrund von ‚Multiproblemlagen‘ attestiert. Geprägt durch Misserfolgserlebnisse am Ausbildungs-/Arbeitsmarkt, negative Schulerfahrungen und Defizitzuschreibungen (vgl. Bohlinger 2004; Niemeyer 2005; Euler 2011; Baethge/Baethge-Kinsky 2012) nehmen diese Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen (NRW) eine neue Bildungsetappe an Berufskollegs auf, wo sie in den einjährigen Bildungsgang der Ausbildungsvorbereitung (AV) einmünden. Die Bildungsgänge der AV in NRW werden in beruflichen Fachbereichen angeboten und orientieren sich an „überschaubaren, klar strukturierten Tätigkeitsbereich[en] […], die teilweise selbstständig, aber weitgehend unter Anleitung ausgeführt werden können“ (MSW 2015, 8), zu Ausbildungsreife führen, und damit die Grundlage zur Aufnahme einer beruflichen Ausbildung schaffen sollen. Daneben soll der Erwerb einer dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Qualifikation (Abschluss nach Klasse 9, HS ) ermöglicht werden (ebd.).

Unsere gemeinsamen Forschungs- und Entwicklungsprojekte der vergangenen Dekade am Standort Paderborn haben gezeigt, dass sich die stark berufs- und ausbildungsbezogenen curricularen Grundlagen in der AV nur bedingt in den vor Ort entwickelten Bildungsgangkonzepten wiederfinden und umgesetzt werden (können). Zum einen werden die curricularen Vorgaben von den Lehrpersonen als zu anspruchsvoll eingeschätzt und zum anderen verfügen die Jugendlichen überwiegend noch nicht über eine ausreichende Berufsorientierung (vgl. Frehe 2015). Einblicke in verschiedene berufliche Bereiche und Perspektiven erscheinen erforderlich, was ein auf ein konkretes Berufsfeld zugeschnittenes Curriculum nicht zulässt. Es kann festgestellt werden, dass eine Orientierung am Lern- und Entwicklungsbedarf der Individuen (Subjektorientierung) eine feste und zentrale Größe für die Unterrichts- und Bildungsgangarbeit vor Ort in der AV darstellt (vgl. Frehe/Kremer 2018).

Vor dem Hintergrund hoher Abbruchquoten, Schulabsentismus, begrenzter Lernbereitschaft und von Lehrkräften wahrgenommene Perspektivlosigkeit der Lernenden konnten in jüngerer Vergangenheit in den ausbildungsvorbereitenden Bildungsgängen in nordrhein-westfälischen Berufskollegs vermehrt Umstrukturierungsprozesse unter dem gemeinsamen begrifflichen Rahmen ‚Tageslernsituationen‘ wahrgenommen werden: Lehrkräfte suchten nach Wegen, um die Lernenden wieder neu für das Lernen und die Teilnahme an Schule zu gewinnen. Im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprogrammen zur ‚Individuellen Förderung in ausbildungsvorbereitenden Bildungsgängen‘ sind wir auf dieses Praxisphänomen aufmerksam geworden, das sich rasant in der berufsvorbereitenden Bildungslandschaft etabliert und verbreitet hat und der beschriebenen Problematik begegnen soll (vgl. Frehe-Halliwell/Kremer 2020).

Dieser Beitrag hat zum Ziel, das Praxiskonzept TLS explorativ zu ergründen, Eckpunkte der Gestaltung zu identifizieren und es damit einer wissenschaftlichen Diskussion und Reflexion zugänglich zu machen. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Dem in diesem Kapitel aufgenommenen Problemaufriss folgt in Kapitel 2 zunächst die Darstellung des Erkenntnisinteresses und des methodischen Vorgehens. Daran schließt sich in Kapitel 3 die Ergebnisdarstellung auf zwei Analyseebenen (3.1 fallbezogen und 3.2 fallübergreifend) an. Kapitel 4 nimmt schließlich einen übergreifenden Ausblick auf: Aus Perspektive der Gestaltung von TLS werden Grundfragen und Herausforderungen der didaktischen Gestaltung berufs- und ausbildungsvorbereitender Bildungsgänge erkennbar, die hier nochmals zusammenführend betrachtet werden.

2 Erkenntnisinteresse und methodischer Zugang: TLS – Eine Praxisinnovation unterhalb des ‚wissenschaftlichen Radars‘

TLS sind Praxisinnovationen. Sie wurden von Lehrkräfteteams entwickelt und von ihnen in die Bildungspraxis gestreut. Lange Zeit unterhalb des ‚wissenschaftlichen Radars‘ haben sich TLS an vielen Standorten der AV in NRW etabliert und weiter ausdifferenziert. Als treibende Kraft ist insbesondere ein Berufskolleg bzw. Bildungsgangteam zu identifizieren, das TLS einen konzeptionellen Rahmen gegeben hat und diesen in regelmäßig stattfindenden Workshops an andere Berufskollegs weitergibt. Parallel hat sich eine cloudbasierte Materialsammlung entwickelt, auf die Berufskollegs bzw. AV-Bildungsgangteams des sich entwickelten Netzwerkes zugreifen und gleichsam ihre Materialien zur Verfügung stellen können (vgl. Frehe-Halliwell/Kremer 2020, 2f.).

Im Rahmen verschiedener kooperativer Forschungs- und Entwicklungsprojekte der Autor*innen zur Didaktik der AV am Standort Paderborn wurden wir als wissenschaftliche Begleitung immer wieder mit dem, uns bis dahin unbekannten Konzept der TLS konfrontiert. So reagierten beispielsweise Lehrkräfte auf die Gestaltungsaufgabe ‚Inklusiver Qualifizierungsbausteine‘ mit der klaren Idee, diese über TLS auszugestalten und zu sequenzieren. Das Konzept TLS schien unter den Praxisakteur*innen bekannt – für die wissenschaftliche Begleitung ergab sich jedoch die projektbezogene Notwendigkeit und infolgedessen auch das forschungsgeleitete Interesse, das Praxiskonzept TLS nachzuvollziehen und verstehen zu können.

In einem explorativ-qualitativen Zugang wurde daher über ein kooperatives, mehrschrittiges und multi-modales Verfahren versucht, das Praxisphänomen der TLS zu ergründen und insbesondere die mit ihnen verbundenen Gestaltungseckpunkte zu identifizieren. Zielsetzung der Analyse ist es, TLS so einer wissenschaftlichen Diskussion und Reflexion im Kontext schulnaher Curriculumarbeit und individualisierter Bildungsgangarbeit zugänglich zu machen.

Vor dem Hintergrund verschiedener, dokumentierter Praxiskonzeptionen zu TLS, denen wir im Rahmen unseres Forschungsprogrammes zur ‚Individuellen Förderung in ausbildungsvorbereitenden Bildungsgängen‘ begegnen konnten (u. a. Projekte InLab, InBig, 3i, QBi) (siehe auch die Informationen zu den Projekten und Publikationen: https://www.uni-paderborn.de/cevet/forschung/abgeschlossene-projekte., wurde an einem exemplarischen Standort mit TLS-Erfahrung zunächst eine Forschungshospitation mit anschließendem Gruppeninterview durchgeführt. Um im Weiteren die Bedeutung von TLS zu validieren, wurde einerseits eine Internetrecherche durchgeführt, um die Verbreitung des Konzepts einordnen zu können (vgl. Frehe-Halliwell/Kremer 2020), andererseits wurden Akteur*innen der Bildungsadministration zur Relevanz, Verbreitung und Tragfähigkeit von TLS befragt. Daran schlossen sich fünf Tiefeninterviews mit Bildungsgangteams unterschiedlicher Regionen und Berufsfelder an, die einen Experten-Status in Bezug auf TLS aufweisen. Damit kam für die Interviewstudie das Verfahren der qualitativen theoretischen Stichprobenbildung zum Einsatz: Die Fallauswahl erfolgte schrittweise im Zuge der Datenerhebung und Datenauswertung. Der Forschungsprozess wurde anhand des sich sukzessive zuspitzenden Erkenntnisinteresses phasiert: (1) Entdecken, (2) Erkunden und (3) Analysieren. Auf Basis der nach jedem Schritt vorliegenden Ergebnisse wurde entschieden, welche weiteren Fälle (hier: Institutionen bzw. Bildungsgangteams) aufgenommen werden sollten. Fallauswahl, Datenerhebung und Datenanalyse wurden entsprechend nicht linear, sondern mehrfach zirkulär aufgenommen (vgl. Döring/Bortz 2016, 302). Die Internetrecherche, die Netzwerkstrukturen der befragten bildungsadministrativen Stellen sowie das im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprogramms entwickelte Netzwerk aus Berufskollegs erleichterte hier den Feldzugang. Das Feld wurde von innen heraus erschlossen, ausgehend von besonders entwickelten (d. h. in Bezug auf TLS erfahrenen) Standorten; daneben waren jedoch auch Kriterien wie die regionale Streuung und die Differenzierung in den zugrundeliegenden Berufsfeldern ausschlaggebend (vgl. Flick 2010).

Dieser Beitrag bezieht sich auf die geführten Tiefeninterviews, die als einer grundlegenden themenbezogenen Durchdringung und Aufnahme der Sichtweisen der Akteur*innen dienten und aus dem Kontext der vorhergehenden Studien durch einen Leitfaden und ein halbstrukturiertes Format konzipiert wurden. Auf dieser Basis möchten wir in diesem Beitrag die Praxisinnovation TLS weiter aufarbeiten, Hintergründe der Curriculumentwicklung aufdecken und Fragen zur Gestaltung der AV thematisieren und damit eine Basis schaffen, um grundlegende Muster, Strukturen und Gestaltungsmomente hinterfragen zu können. Die Tiefeninterviews wurden von einem zweiköpfigen Forschenden-Team durchgeführt und analysiert. Als Gütekriterium der vorliegenden Studie weisen wir auf das kooperative und mehrstufige Format der Datenerhebung und -auswertung hin, das im Weiteren genauer beschrieben wird.

Pandemiebedingt erfolgte die Durchführung der Interviews in Form von Video-Konferenzen, die aufgezeichnet, transkribiert und für die computergestützte Datenauswertung (MAXQDA) aufbereitet wurden. Im Rahmen einer kooperativ-diskursiven Interpretation wurden einerseits analytische Auswertungsmethoden im Sinne der kategorienbasierten Inhaltsanalyse (vgl. Kuckartz 2012) herangezogen, andererseits wurden die Transkripte in einer ganzheitlichen Perspektive gesichtet und analysiert. Dies ermöglichte, die analytisch-getrennte Betrachtung einzelner Sinnabschnitte in Kategorien durch eine Analyseperspektive zu ergänzen, die den gesamten Gesprächsaufbau und -verlauf berücksichtigt und damit einen holistischen Blick auf das Datenmaterial ergänzt. In den nachfolgenden Analyseschritten wurden vertikale (fallbezogene) und horizontale (fallübergreifende) Analyserichtungen aufgenommen (vgl. Kuckartz 2012; Rädiger/Kuckartz 2019). Im Ergebnis konnten erste, deskriptive Standortkonzepte generiert und miteinander gespiegelt werden. Vor diesem Hintergrund konnten wiederum zentrale Gestaltungseckpunkte von TLS je Standort herausgearbeitet werden. Aus fallbezogener Perspektive wurde versucht, die standortspezifischen Besonderheiten/Profilierungen tiefergehend herauszuschälen. Dies wurde über die Formulierung alternativer, profilbildender Slogans/Überschriften je Standort aufgenommen, die im Forschenden-Team diskursiv ausgehandelt und bestimmt wurden. Sie werden in diesem Beitrag jeweils als ergänzende Überschriften zur Beschreibung der Standortkonzepte eingebunden (siehe Kapitel 3.1.1 bis 3.1.5).

Die fallübergreifende Perspektive wurde unter Aufnahme folgender Oberkategorien durchgeführt: (1) TLS und Bildungsgang; (2) TLS und Organisation; (3) TLS und Curriculum sowie (4) TLS und Didaktische Ausdifferenzierung/Interaktion. Im Ergebnis konnte ein gemeinsamer (wenn auch schmaler) Entwicklungskorridor herausgearbeitet werden, sowie verschiedene Ausdifferenzierungsformate von TLS.

3 Erkenntnisse zum ‚Praxisphänomen‘ Tageslernsituationen

Tabelle 1 ermöglicht einen Überblick zu den befragten Standorten und dem generierten Datenmaterial. Nachfolgend werden alle Standorte in den Eckpunkten ihrer Entwicklungsarbeit zu TLS kurz beschrieben. Vorangestellt werden jeweils die in der kooperativ-diskursiven Auswertung entwickelten ‚Slogans bzw. Überschriften‘ je Standort.

Tabelle 1:     Übersicht befragte Berufskollegs

Abkürzung Standort /BK*

BK1

BK2

BK3

BK4

BK5

Befragte Lehrkraft

B1; B2

B3; B4

B5; B6

B7

B8

Daten-grundlage

Transkript_BK1

Transkript_BK2

Transkript_BK3

Transkript_BK4

Transkript_BK5

Beruflicher Fachbereich in der AV

Gesundheit/
Erziehung und Soziales

Ernährungs- und Versorgungs-management

Technik/Natur-wissenschaften im Berufsfeld Metall

Ernährungs- und Versorgungs-management

Wirtschaft und Verwaltung

*BK = Berufskolleg

3.1 Erste Analyseebene: Eckpunkte der Standortkonzepte (fallbezogen)

3.1.1 BK1: Tages-Lernsituationen – Berufsbezogene Fächer im neuen Gewand

TLS am BK1 sollen eine motivierende Wirkung haben, die Bereitschaft zur Teilnahme am Unterricht verbessern und eine handelnde, selbsttätige Auseinandersetzung mit den Themengebieten unterstützen. Die Entwicklung und Umsetzung von TLS erfolgt am BK1 begrenzt auf den berufsbezogene Lernbereich. Die Grenzen der drei, im Bildungsplan adressierten berufsbezogenen[1] Fächer werden aufgelöst und es erfolgt eine Neustrukturierung in Form von TLS. TLS werden damit zu curricularen Elementen, die in einen ‚Jahresplan‘ (Z. 535) eingehen – dieser umfasst am BK1 mittlerweile knapp 40 TLS. Die Entwicklung dieses TLS-Curriculums wird als ‚sehr arbeitsintensiv‘ (Z. 118; 597) beschrieben, gleichzeitig wird positiv herausgestellt, dass gerade durch die kooperative Entwicklungsarbeit das kreative Potenzial des Lehrkräfteteams genutzt werden konnte – es habe zudem ‚Spaß gemacht‘ (Z. 605). Die lehrplanaffine Entwicklung von TLS wird am BK1 betont: „die Lehrpläne müssen umgesetzt werden, da gibt‘s eigentlich gar keine Diskussion“ (Z. 586-587). Ebenfalls erfolgt eine starke Orientierung an berufspädagogischen Prinzipien wie Situierung, Handlungsorientierung und Selbststeuerung. Mitunter verwenden die Lehrkräfte für TLS auch das Synonym ‚Lernsituation‘. Für die Leistungsbewertung bzw. Notenfindung aus TLS heraus wurde ein eigenes System (‚Leistungskarte‘) entwickelt. B1 weist jedoch darauf hin, dass es ‚sehr kompliziert ist‘ aus TLS fachbezogene Noten zu generieren (Z. 132f.). Auch wenn es sich am BK1 um lehrplanaffine, berufsbezogene TLS handelt, betont B1, dass TLS durchgehend durch (sonder-)pädagogische Maßnahmen ‚flankiert werden MÜSSEN‘ (Z. 785f.), um insbesondere der begrenzten Konzentrations- und Belastungsfähigkeit der Schüler*innen zu begegnen. In den TLS werden den Lernenden sehr differenzierte Materialien angeboten (Strukturierungshilfen für den eigenen Lernweg, niveaudifferenzierte Lernaufgaben, Selbsteinschätzungsbögen etc.), um die Heterogenität der Lernenden aufzunehmen und individualisierte Lernwege zu eröffnen. Daneben wird die Bedeutung von Beziehungsarbeit herausgestellt: ‚Nah an den Schülern zu sein‘ (Z. 487; 1134), insbesondere durch ‚feste Bezugspersonen‘ (Z. 1136), ‚ist einfach wichtig‘ (ebd.). TLS werden am BK1 themenbezogen gestaltet und im Klassenverband durchgeführt. Sie schließen innerhalb einer Schulwoche ab und erstrecken sich auf vier Unterrichtsstunden an zwei aufeinanderfolgenden Schultagen. Für jede TLS sind zwei Kolleg*innen zuständig, die sich in der Betreuung – gestützt durch ein Übergabeprotokoll – jeweils auf die zwei Schultage verteilen. Für die Zukunft werden Teile der Bildungsgangentwicklung in den Strukturen von TLS weitergedacht (Entwicklung sprachsensibler TLS und TLS zu ‚Digitalisierung‘). Dies weist auf eine gewisse Etablierung des TLS-Konzepts am Standort hin.

3.1.2 BK2: Innovation der AV mittels TLS braucht ein ‚ausgefeiltes System‘

TLS haben am BK2 eine lange Tradition und Innovationskraft. Sie sind zentraler Bestandteil der Bildungsgangarbeit. Ausgangspunkt war eine hohe Unzufriedenheit mit der Bildungsarbeit in der AV, was sich auch in der unregelmäßigen Teilnahme der Schüler*innen zeigte: „An einem Tag sind hier 15, am nächsten fünf andere und […] kontinuierlicher Unterricht ist gar nicht möglich.“ (Z. 29f.). TLS tragen dazu bei, dass Unterricht für alle Beteiligten wieder als ‚sinnvoll‘ erlebt wird, Lerneinheiten überschaubar bleiben und abgeschlossen werden können. Als übergreifende Zielsetzung wird neben der ‚Rückgewinnung der Schüler*innen für Schule‘ (Z. 257f.) formuliert, die Lernenden „zu lebenstaugliche[n], selbstdenkenden Menschen [zu] machen“ (Z. 248). Im TLS-Konzept des BK2 wird der berufsbezogene Lernbereich insbesondere auf das Praktikum bzw. den fachpraktischen Unterricht ausgelagert und schlägt sich daher sehr begrenzt in den TLS nieder. Dies wird mitunter durch die noch nicht ausreichende berufliche Orientierung der Schüler*innen begründet, die eine gewisse Offenheit erforderlich mache. Entsprechend weisen die Themen von TLS stärkere Bezüge zu allgemeinbildenden (Deutsch, Mathematik, Wirtschaft) und fachübergreifenden Themen (Ausbildungsreife) auf. Bezeichnend für das Konzept ist in diesem Zusammenhang, dass Lehrkräfte sich gut in die Entwicklungsarbeit einbringen können, indem sie TLS zu Themen erarbeiten, die sie selbst interessieren (z. B. Imkerei oder Computerführerschein): „[…] wenn der Lehrer dafür brennt, dann brennen die Schüler auch, also fangen die auch eher Feuer.“ (Z. 222-224; 849ff.). Für die Entwicklung, Durchführung und Evaluation der TLS sind jeweils einzelne Lehrkräfte verantwortlich (‚alles aus einer Hand‘). Jede entwickelte TLS wird bis zu viermal im Jahr angeboten. Dies entlaste einerseits in organisatorischer und arbeitsökonomischer Hinsicht, andererseits werden die personalisierten TLS gewissermaßen zu einer ‚Black-Box‘: Qualitätsunterschiede bei verschiedenen TLS seien durchaus erkennbar (Z. 838f.). Für das TLS-Konzept am BK2 ist weiter bezeichnend, dass es mit einem ‚ausgefeilten System‘ hinterlegt ist. Jede TLS wird zwar als ‚eigenständige, in sich geschlossene Einheit betrachtet‘ (Z. 462f.), eine Verbindung erfolgt jedoch auf Basis verschiedener Kompetenzraster im Hintergrund. So kann für jede TLS ausgewiesen werden, welches Unterrichtsfach beteiligt ist und welcher Kompetenzbereich in der TLS adressiert wird. Dies erleichtere wiederum die Generierung von Fachnoten aus den TLS. Ermöglicht werde dieser komplexe Vorgang jedoch nur durch die Nutzung eines ‚eigens konzipierten Programms im Hintergrund‘ (Z. 70f.). Das ‚ausgefeilte System‘ führt dazu, dass Abläufe schematisiert und technisiert werden: So werden bspw. Leistungsbewertungen und Kompetenzzuschreibungen am BK2 mitunter automatisiert bzw. ‚einem Algorithmus folgend‘ vergeben (Z. 276; 749). Die Schüler*innen können an jedem Schultag aus mehreren TLS wählen und verlassen dabei den Klassenverband. Ihnen steht ein individualisiertes Kompetenzraster zur Verfügung, das Aufschluss über Art, Umfang und Leistung zu den bereits belegten TLS gibt. Auch der Ablauf eines Schultages folgt einer festen Strukturvorgabe: Die TLS umfassen jeweils sechs Unterrichtsstunden. Den TLS vorgeschaltet wird eine 30-minütige ‚Förderschiene‘ (Z. 307), die von festen ‚Bezugslehrern‘ (Z. 1001) betreut werden. Hier findet zum einen Förderplanarbeit zu allgemeinbildenden Fächern statt. Zum anderen werden die Lernenden zu ihren Praktika befragt und es findet eine Beratung bzgl. der noch zu belegenden TLS statt. Noch vor Unterrichtsbeginn um 08:30 Uhr findet sich das Bildungsgangteam als ‚Erziehungsteam‘ (Z. 404) zusammen: Besprochen wird, ob es ‚auffällige Schüler gab oder irgendwas nicht funktioniert‘ (Z. 404ff.). Ein Teil der Bildungsgangarbeit wird so in die Schultagesstruktur integriert. Sowohl die individuelle Betreuung innerhalb der ‚Förderschiene’ als auch die konstante Schüler*innen-Lehrer*innen-Interaktion innerhalb einer sechsstündigen TLS ermöglichten es aus Sicht von B3, eine ‚intensivere Beziehungsarbeit‘ aufzubauen bzw. zu leben, als dies im ‚klassischen Unterricht‘ möglich sei (Z. 1002f.).

3.1.3 BK3: TLS – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Das BK3 weist bereits eine mehrjährige Erfahrung in Bezug auf TLS auf, die hier als Modultage gekennzeichnet werden. Ausgangspunkt war die Entwicklungsarbeit in einem kleinen Bildungsgangteam (drei Personen), in die sich eine Lehrkraft mit sonderpädagogischem Hintergrund besonders eingebracht hatte. Als Zielsetzung wird ausgewiesen, die Jugendlichen wieder für Schule zu gewinnen und ihnen Perspektiven für die Zukunft zu eröffnen. In den vergangenen Jahren konnte vor diesem Hintergrund ein ‚großer Fundus‘ (Z. 383) an Modultagen entwickelt werden, der ein ‚weites thematisches Spektrum‘ umfasst (Z. 151-154) (z. B. Erste Hilfe, Drogen, Kaffee, Fair Trade). Als Zielgruppe für Modultage gelten am BK3 die Schüler*innen der sogenannten ‚niedrigschwelligen Angebote‘ (Z. 62 u. a.) – gemeint sind damit zwei Lerngruppen der AV-Teilzeit[2], die nach Einschätzung der Lehrenden einer besonderen individuellen Förderung bedürfen und für die der Abschluss auf Ebene des HS9[3] kaum zu erreichen ist. Für die anderen Lerngruppen der AV am BK3 spielt das TLS-Konzept keine Rolle. Die Modultage wurden noch vor wenigen Schuljahren unter Einbezug begrenzter Unterrichtsfächer und mit einem verringerten Stundenvolumen von vier Unterrichtsstunden pro Tag unterrichtet. Dies ermöglichte den eingebundenen Lehrkräften im Team-Teaching zu agieren. An einem Schultag konnte ein gemeinsames Thema im Klassenverband aufgenommen und abgeschlossen werden. In der Themenwahl sah man sich zu dieser Zeit noch ‚recht frei‘ (Z. 143 u. a.) und setzte insbesondere auf lebensweltorientierte Themen, wenn möglich mit Berufsbezug, die für die Schüler*innen interessant waren und keine Gefahr für ‚negative Berührungspunkte‘ (Z. 839f.) darstellten. Methodisch lag der Schwerpunkt auf schüleraktivierenden und praktisch-partizipativen Methoden sowie anschaulichen Materialien. Damit wurde ganz bewusst ein Gegenentwurf zum ‚klassischen, fachsystematischen Unterricht‘ angeboten, welcher sich zumeist auf die ‚rein intellektuellen Fähigkeiten‘ (Z. 476) der Schüler*innen beziehe. In den Modultagen wurde auf eine lernprozessbegleitende, wertschätzende Rückmeldung wertgelegt, ‚ohne Leistungsdruck und Zwang‘ (Z. 670f.). Die Lehrkräfte des BK3 sehen in Modultagen einen Ort, in dem Beziehungsarbeit tatsächlich stattfinden kann – im fachsystematischen Unterricht ginge diese ‚verloren‘ (Z. 461ff.). Den Stellenwert von Beziehungsarbeit am BK3 verdeutlicht nochmals die Aussage von B6: „[…] da steht sozusagen die […] Beziehungsarbeit eigentlich fast noch höher als sozusagen das theoretische Vermitteln.“ (Z. 1248-1250). Personelle wie institutionelle Entwicklungen der letzten Schuljahre am BK3 haben jedoch dazu geführt, dass der Unterricht in Modultagen zunächst eingestellt wurde. Insbesondere die ‚von außen‘ (Z. 741 u. a.) an das BK herangetragene Vorgabe, auch den Schüler*innen der AV in den ‚niedrigschwelligen Angeboten‘ den Abschluss auf Ebene des HS9 zu ermöglichen, führte zu internen Umstrukturierungsprozessen: Es kam zu einer Rückkehr zur Fachsystematik, einer der Stundentafel der AV entsprechenden Aufstockung des Stundevolumens, der Einbindung weiterer Schulfächer (insbes. Politik, Englisch, Wirtschaftslehre, Sport) und damit der Erweiterung des Lehrkräfteteams. Das für die Modultage noch ‚typische‘ Team-Teaching konnte nach diesem Stundenplanmodell nicht weiter aufrechterhalten werden. Im aktuellen Schuljahr (= Zeitpunkt der Befragung) zeigt sich aber: „DAS […] führt zu GAR nichts, weil die Schüler uns so wegbrechen im normalen Unterricht“ (Z. 450-451). Aktuell versuchen die Lehrkräfte, die aus ihrer Sicht wesentlichen Elemente der Modultage in einem neuen Rahmen – dem Werkstattunterricht/Fahrradwerkstatt – wieder aufzunehmen. Insgesamt wird anhand dieses Standortkonzepts die Fragilität von TLS/Modultagen und ihre Abhängigkeit von persönlichem Engagement, der Notwendigkeit einer abgestimmten Entwicklung und Teamarbeit zwischen den Lehrkräften erkennbar.

3.1.4 BK4: TLS sollen ‚Spaß‘ und ‚fit für das Leben‘ machen

Am BK4 spielen TLS mit Blick auf das Bildungsgangkonzept eine eher kleine Rolle. TLS werden gewissermaßen in die bereits bestehenden Strukturen und Maßnahmen integriert, die insbesondere die Beziehungsarbeit und die individuelle Entwicklung der Schüler*innen ins Zentrum rücken – die Stärkung der Beziehungsarbeit wird als Schlüssel für eine gelingende Bildungsarbeit betrachtet. Umgesetzt wird dies insbesondere durch das standortspezifische Fach ‚Fit für das Leben‘ sowie durch die sogenannte ‚Lern- und Lebenswegberatung‘: Hier führt eine Lehrkraft mit psychotherapeutischem Professionshintergrund Einzelgespräche mit den Lernenden. TLS sind am BK4 insbesondere in das Fach „Fit für das Leben“ eingebettet und werden alternativ als ‚Lernmodule‘ gekennzeichnet. Das Bildungsgangteam befindet sich noch in der Entwicklungsphase und plant für die Zukunft fünf TLS pro Schuljahr anzubieten. Eine TLS erstreckt sich auf zwei bis drei Schultage im Umfang von etwa sechs Unterrichtsstunden. Lernmodule werden gerade für die Bereiche etabliert, die aus Sicht der Lehrenden im Lehrplan unzureichend abgedeckt sind: „Aber für uns war wichtig, dass die Schüler und Schülerinnen anhand dieser Tageslernmodule […] Sachen lernen, die vielleicht nicht in [der] didaktische[n] Jahresplanung verankert sind oder nicht in diese[n] bildungsorientierte[n], handlungsorientierte[n] Bildungspläne[n] sind, dass sie brauchbare Sachen für ihr LEBEN lernen. Und sie entwickeln sich wirklich, sie haben richtig Spaß am Lernen“ (Z. 441-446). In den (geplanten) Lernmodulen werden folgenden Themenbereiche aufgenommen: (a) Ich bin wertvoll; (b) Leben Lernen (Wochenpläne, Schlafzeiten etc.); (c) Meine erste eigene Wohnung; (c) Geld und (Un-)Abhängigkeit vom Staat; (e) Schritt für Schritt meine eigene berufliche Zukunft gestalten. Die Themen generieren sich dabei aus verschiedenen Quellen: Zum einen ergeben sie sich aus den Einzelgesprächen der Lern- und Lebenswegbegleitung („Themen, die die Schüler und Schülerinnen bewegen“ (Z 748-749)). Zum anderen werden Themen auch ganz bewusst von den Lehrkräften gesetzt. Dies betrifft insbesondere das Lernmodul ‚Ich bin wertvoll‘, mit dem den Schüler*innen eine wertschätzende und stärkenorientierte Haltung entgegengebracht und eine neue Perspektive auf Schule eröffnet werden soll (Z. 763-769). Doch auch die Schüler*innen können Themenvorschläge einbringen, die dann im Bildungsgangteam auf ihren Bildungsgehalt hin reflektiert werden (Z. 922-927). Das Prinzip der Lebensweltorientierung erscheint für die curriculare Ausrichtung der Lernmodule am BK4 daher prägend (Z. 205-219). Daneben sollen die Lernmodule jedoch auch übergreifende Kompetenzbereiche adressieren wie etwa Medienkompetenz, selbstgesteuertes Lernen, kooperatives Lernen und „persönliche Kompetenzen“ (Z. 920). Im Lernmodul-Konzept des BK4 wird die ‚Tageslern-Idee‘ aufgehoben, da TLS sich auf mehrere Schultage erstrecken. Der Problematik ‚Schulabstinenz‘ wird hier also durch die Eröffnung von für die Schüler*innen interessanter Themen begegnet, weniger durch zeitlich-organisatorische Veränderungen von Schultagen: „Das Ziel dieser Lernmodule ist, […] in erster Linie, dass die Schüler und Schülerinnen Spaß haben, ja? Und, dass sie etwas lernen, was sie für ihr Leben brauchen. Und ich muss ehrlich sagen, wenn wir […] Lernmodule haben, […] die [Schüler*innen; Autoren] sind alle da.“ (Z. 399-402). Die Lernmodule nehmen dabei unterschiedliche Fachbezüge auf (z. B. Religion, Politik) – B7 nennt dies ‚interdisziplinäres Arbeiten‘ (u. a. Z. 252). Die Lehrkräfte unterrichten im Lernmodul jedoch entsprechend ihrer Unterrichtszeiten nach Stundenplanung und nicht als Fach-Lehrkraft: Daraus ergibt sich ein ‚Staffel-Stab-Prinzip‘ und die Erfordernis, dass die Materialien der Lernmodule so gut vorbereitet sein müssen, „[…] dass egal, welcher Fachkollege drin ist […] [er/sie; Autoren] in der Lage ist, dieses Lernmodul durchzuführen“ (Z. 330-331). B7 geht davon aus, dass die Motivation der Schüler*innen in den Lernmodulen eine ‚Strahlkraft‘ auf die anderen Lernbereiche hat. So könne bspw. eine Auseinandersetzung mit Vorstellungen und Wünschen zur eigenen ersten Wohnung im Lernmodul dazu führen, die Bedeutung des HS9 in einen subjektiv relevanten Bezug zu bringen. Gleichzeitig führt B7 Zweifel an, inwiefern ein ‚tiefgehendes Lernen‘ in TLS möglich ist (Z. 137f.) – möglicherweise ein weiterer Grund, warum TLS schwerpunktmäßig im außercurricularen Bereich aufgenommen werden.

3.1.5 BK5: TLS als didaktisch-curriculare Reduktion des Lernens in Lernsituationen

Das kaufmännisch ausgerichtete BK5 hat bereits einige Schuljahre Erfahrung mit TLS, die mitunter auch als Lernsituationen gekennzeichnet werden. Der vollzeitschulische Bildungsgang AV zum Fachbereich Wirtschaft und Verwaltung umfasst seit Längerem lediglich eine Schulklasse mit circa 15 Schüler*innen. Das Bildungsgangteam umfasst i. d. R. vier Lehrkräfte und wird durch den/die Schulsozialarbeiter*in unterstützt. Zwei von insgesamt drei Schultagen werden in TLS angeboten, wobei die Schüler*innen nicht aus mehreren TLS auswählen können und im Klassenverband verbleiben. TLS ermöglichten insbesondere schulabstinenten Schüler*innen zu jedem Zeitpunkt den gleichberechtigten Wiedereinstieg und die Teilnahme am Unterrichtsgeschehen ‚auf Augenhöhe‘ mit den anderen Schüler*innen. Dies ließen die klassischen, linear und konsekutiv ausgerichteten Unterrichtssequenzierungen nicht zu. TLS eröffneten den Schüler*innen zudem die Möglichkeit, eine ‚andere Art Schule‘ kennenzulernen, als sie sie bisher erfahren haben. Das TLS-Verständnis am BK5 kann auf eine einfache Formel gebracht werden: Beschäftigung mit einem Thema über einen gesamten Schultag in der Struktur der vollständigen Handlung (Z. 874f.). Diese durchgängige Strukturierung sei auch für die Schüler*innen orientierungsstiftend und hilfreich: „[…] ich setze die auf die Gleise und dann schnurren die […] erstmal los.“ (Z. 513-514). Die TLS entstehen im Kontext von jeweils klar voneinander abgegrenzten Fächergruppen. Dies bedeutet auch, dass unterschiedliche Lehrkräfte(-gruppen) beteiligt sind, was dazu führt, dass am BK5 zwei TLS-Konzepte unterschieden werden können: Zum einen werden an einem Tag sechsstündige TLS angeboten, die die drei berufsspezifischen Fächer (das BK5 nennt diese ‚Wirtschaftsfächer‘ (Z. 122)) zusammenführt und von einer einzigen Lehrkraft geplant und durchgeführt werden (‚alles aus einer Hand‘). Hier gelingt eine starke Lehrplananbindung sowie eine Orientierung am Berufsfeld ‚Einzelhandel‘, daneben wird auch eine sinnvolle inhaltlich-thematische Reihung der TLS intendiert. Abstimmungsprozesse mit anderen Lehrkräften erscheinen kaum notwendig, auch wenn versucht wird eine ‚Fächervernetzung‘ (Z. 867) aufzunehmen. Die TLS am zweiten Tag speisen sich aus ausgewählten Fächern des berufsübergreifenden Lernbereichs: Politik, Religion und Sport. Für diese TLS sind die drei Fachlehrkräfte eingebunden. Nach einem rotierenden System bereitet immer eine Lehrkraft eine fachbezogene TLS vor. Das jeweilige Unterrichtsfach ist für die TLS dominierend, doch auch hier wird ‚Fachvernetzung‘ sowie eine Anbindung an die Wirtschafts-TLS umzusetzen versucht. Die TLS wird federführend von einer Lehrkraft grob geplant – die Phasen der vollständigen Handlung werden dabei als Planungshilfe herangezogen: (1) Informationsphase, (2) Planungs- und Organisationsphase, (3) Präsentationsphase mit anschließender Reflexion und Bewertung. Materialien werden den Kolleg*innen über die genutzte Lernplattform zugänglich gemacht. Die drei Lehrkräfte sind auf Basis der schulübergreifenden Stundenplanung immer im gleichen Zeitfenster eingeteilt und übernehmen daher in den TLS in jeder Woche die Betreuung der gleichen Phase. Dieses ‚Staffel-Stab-Prinzip‘ eigne sich für die Umsetzung dieser TLS, da die inhaltliche Vorbereitung, Einarbeitung und der kollegiale Austausch für TLS auf Niveau des HS9 als überschaubar eingeschätzt werden könne und es jeder Lehrkraft einen einfachen Einstieg ermögliche. Übergreifend orientiert sich das BK5 bei der Ausdifferenzierung ihrer TLS an den Gestaltungsprinzipien für Lernsituationen aus dem Lernfeldkonzept (insbes. Problemorientierung, Situierung, kooperatives Lernen, selbstgesteuertes Lernen): „Also wir bauen unsere Tageslernsituationen eigentlich auf, wie Lernsituationen.“ (Z. 105f.). Den Schüler*innen werden in den TLS ‚größere Freiheitsgrade‘ (Z. 293) zugestanden (Planung und Strukturierung längerer, kooperativer Lernphasen; Pausenplanung; Einbezug von Praxis-Explorationen etc.) als im klassischen, fächerorientierten Unterricht. Das BK5 sieht das Potenzial von TLS vor allem darin, dass die Lernenden an einem Tag und bezogen auf ein Thema den Prozess der vollständigen Handlung ununterbrochen durchlaufen. Dies führe bei den Lernenden zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand. Die Lehrenden wiederum profitieren davon, mehr effektive Unterrichtszeit zur Verfügung zu haben, da typische ‚Rüstverluste‘ (Z. 515) wie sie beim Übergang von klassischen Unterrichtsstunden entstünden (z. B. Motivation, Wiederholung, ‚alle auf einen Stand bringen‘, Herstellung eines ‚Arbeitsmodus‘), in TLS lediglich zu Tagesbeginn anfielen. TLS werden am BK5 jedoch nicht als ultimative Lösung für alle Herausforderungen in der AV betrachtet. TLS am BK5 erforderten einen hohen Grad der Selbststeuerung – dies könne gewisse Lernende durchaus überfordern. Zudem eigneten sich TLS weniger, die Lernenden gezielt auf den HS9 Abschluss vorzubereiten. Hier sei ein fachsystematischer Unterricht notwendig, der Gelegenheit zur individuellen Förderung und Übung bietet. Vor diesem Hintergrund werden die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch ebenfalls auf einen Schultag gebündelt und aus dem TLS-Konzept ‚ausgelagert‘ (Z. 262).

3.1.6 Zusammenfassende Betrachtung

Abbildung 1:   Gemeinsamer Entwicklungskorridor von TLS [*SuS = Schüler*innen]Abbildung 1:   Gemeinsamer Entwicklungskorridor von TLS [*SuS = Schüler*innen]

In der Zusammenschau der Standortkonzepte zeigt sich, dass in Bezug auf TLS nur vordergründig von einer Konzeptkonformität gesprochen werden kann. Unsere Untersuchungen zeigen, dass sich lediglich ein sehr schmaler, gemeinsamer Entwicklungskorridor ausmachen lässt: Ein tragender Ausgangspunkt für alle Konzepte ist das Problem der ‚Schulabstinenz‘ bzw. der unregelmäßigen Teilnahme am Unterricht, was konsekutiv aufgebaute Unterrichtskonzepte an deren Grenzen bringt. Die Schulabstinenz wird darüber hinaus in Zusammenhang mit den ‚Multiproblemlagen‘ (Transkript_BK1, Z. 810) der Schüler*innen sowie mit den anspruchsvollen und auf konkrete Berufsfelder zugeschnittene Bildungspläne in der AV in Verbindung gebracht. Alle Berufskollegs eint dabei, dass sie eine Ausdifferenzierung von TLS vor dem Hintergrund der eigenen Standortbedingungen und Zielgruppe vornehmen: „Jede Schule ist eine Welt. Und jede Schule, jedes Berufskolleg, hat andere Schüler“ (Transkript_BK4, Z. 167-168). Subjektorientierung kann damit als durchgehendes Gestaltungsprinzip vor Ort herausgestellt werden. Zudem zeigen sich weitere gemeinsame Stellschrauben in der Konzeption von TLS, die jedoch von Standort zu Standort mit unterschiedlicher Intensität bedient werden: Beziehungsarbeit, zeitlich-organisatorische Umstrukturierung, interessante/motivierende Themenauswahl und den Lernort Schule für die Zielgruppe anders erfahrbar machen. Abbildung 1 verdeutlicht den gemeinsamen Entwicklungskorridor von TLS nochmals grafisch.

3.2 Zweite Analyseebene: Fallübergreifende, kategorienbasierte Betrachtung

3.2.1 TLS und Bildungsgang

Übergreifend zeigt sich, dass TLS keinesfalls als ein ‚Allheilmittel‘ betrachtet werden kann, das in der Lage wäre, alle Herausforderungen und Bedarfe der AV zu lösen. Sie können jedoch durchaus als ein prägendes Element und wichtiger Gestaltungsbaustein der Bildungsgangarbeit in der AV beschrieben werden, auch wenn sich der quantitative Anteil des in TLS angebotenen Unterrichts standortspezifisch unterscheidet (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2:     Quantitativer Anteil von TLS am Schulunterricht in der AV

 

Anteil des TLS-Unterrichts am Gesamtunterricht [%]

Berechnungsgrundlage

BK1

bis zu etwa 75 %

Orientiert an der Rahmenstundentafel AV mit bis zu 1.040 Stunden in den bereichsspezifischen Fächern bei einem Stundengesamtumfang von mindestens 1.360 Stunden

BK2

über 90 %

Kernunterrichtszeit in TLS am BK2 beträgt 6 Unterrichtsstunden, 30 min (~ 8 %) davon werden für die ‚Förderschiene‘ zu Beginn aufgewendet

BK3

etwa 30 %

3 bis 4 Unterrichtsstunden in Tageslernstrukturen von insgesamt 12 Unterrichtsstunden/Woche in der AV-Teilzeit

BK4

zwischen 5 % und 7,5 %

Fünf Lernmodule pro Jahr, die je 2 – 3 Schultage umfassen à bis zu 15 Schultage in TLS à bezogen auf 200 Schultage/Jahr = 7,5 %

BK5

etwa 65 %

Am BK5 finden 3 Schultage statt, 2 davon werden in TLS unterrichtet

TLS zeigen sich für die Mehrheit der Standorte als strukturgebendes Element für das Bildungsgangkonzept, die auch in die didaktische Jahresplanung eingehen (BK1; BK2; BK5). Dies kann sich organisatorisch dann durchaus unterschiedlich zeigen. BK4 zeigt hingegen, dass TLS in bestehende Maßnahmen integriert und somit nach außen (z. B. im Rahmen des Stundenplans) nicht erkennbar werden. Übergreifend lässt sich feststellen, dass die Standorte TLS mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen und Funktionszuschreibungen einsetzen:

Zunächst konnte festgestellt werden, dass das TLS-Konzept überwiegend begrenzt auf ausgewählte Lerngruppen in der AV eingesetzt wird. So begrenzt sich BK3 in seinem TLS-Konzept auf zwei Lerngruppen in der AV-Teilzeit, denen ein geringes Leistungsniveau zugesprochen wird und wo die Erreichung des Abschlusses auf Niveau des HS9 als unwahrscheinlich eingeschätzt wird. In BK1 und BK5 hingegen kommen TLS insbesondere für die leistungsstärkeren Lerngruppen zum Einsatz, die den HS9 ‚mit Sicherheit erreichen werden‘ (Transkript_BK1, Z. 1155ff.) bzw. die den Übergang in Ausbildung und Arbeit anstreben. Eine ‚Zielgruppenverschiebung‘ an BK5 hin zu mehr Schüler*innen von Förderschulen hat dazu geführt, dass der Umfang an Unterricht in TLS eingeschränkt wurde (von drei Schultagen in TLS zu zwei Schultagen in TLS + ein Tag zum fächerorientierten ‚Üben‘) (Transkript_BK5, Z. 204-226). Lediglich BK2 scheint TLS für alle Lerngruppen der AV anzubieten.

Weiter werden standortspezifisch bestimmte Lernbereiche, die sich mit TLS aufnehmen lassen, ein- bzw. ausgeklammert. BK4 weist Zweifel aus, dass TLS ein tiefgreifendes Lernen ermöglichen können (Z. 136ff.) und beschränkt sich auf insbesondere außercurriculare Lernbereiche, die in Form von TLS adressiert werden. BK3 begrenzt sich ebenfalls auf lebensweltbezogene Thematiken jedoch mit einer Anbindung an berufspraktische Formate (Werkstattunterricht). Hier könnten alternative, wertschätzende Rückmeldeverfahren besser angewendet werden – die geforderten Klausuren und Notenvergabe in den ‚klassischen Fächern‘ führten zu Schulabstinenz (Z. 658-672). BK1 beschränkt sich in der TLS-Konzeption auf die berufsbezogenen Fächer wohingegen BK2 diese weitestgehend ausklammert. BK5 wiederum bietet TLS im berufsbezogenen Fächern (‚Wirtschaftsfächer‘) und in berufsübergreifenden Fächern (Religion, Sport, Politik) an. Allerdings werden hier entsprechend des/der zuständigen Lehrenden zwei unterschiedliche TLS-Konzepte gefahren (siehe 3.1.5). Fallübergreifend zeigt sich jedoch, dass insbesondere die Fächer, die zum Erreichen des Abschlusses auf Niveau des HS9 führen (Deutsch, Mathematik, Englisch) einem gewissen ‚Bestandschutz‘ unterliegen und für das TLS-Konzept ‚außen vor‘ stehen: „Also […] für Deutsch, Mathematik, Englisch […] da sind wir gar nicht erstmal dran gegangen, muss ich offen gestehen“ (Transkript_BK1, Z. 406-409). BK2 bietet zwar explizit TLS mit Fachbezug zu Deutsch und Mathematik an, führte aber parallel zu den TLS eine ‚Förderschiene‘ ein, in der die Lernenden eine Fördermappe zu den Fächern Deutsch, Mathe und Englisch bearbeiten (Transkript_BK2, Z. 306-318).

Die Standortkonzepte lassen nur an der Oberfläche erkennen, inwiefern TLS und Praxisformate zueinanderstehen. Es lässt sich aber zumindest feststellen, dass Formate wie betriebliche Praktika oder fachpraktischer Unterricht als Anknüpfungspunkt für TLS betrachtet werden. So versucht BK3 gegenwärtig, TLS-Elemente in den Werkstattunterricht zu integrieren, ebenso wurden am BK4 Lernmodule an den ‚Praxistagen‘ erprobt. Begründet wird dies an beiden Standorten aus einer überwiegend organisatorischen Perspektive, wonach sich TLS hier einfacher einbinden ließen (z. B. größeres Zeitfenster, Arbeitsplatz-Atmosphäre, Doppelbesetzung durch Lehrende). Am BK2 werden die betrieblichen Praktika durch spezifischen TLS vorbereitet und begleitet (Boxenstopp Praktikum). Das BK5 ermöglicht den Lernenden innerhalb der TLS regelmäßig ‚Praxiserkundungen‘ und Exkursionen. Am BK1 begrenzt sich der Bezug von TLS und Praktikumsformat darauf, dass die Praktikumsnote ebenfalls in die Notengebung für ein berufsspezifisches Fach einfließt. Möglicherweise besteht in der Zusammenführung von TLS und Praxisformaten ein bisher noch nicht voll ausgeschöpftes Gestaltungspotenzial.

3.2.2 TLS und Organisation

Die organisatorischen Aspekte der TLS-Konzeption werden in Tabelle 3 zum besseren Überblick zunächst zusammengeführt.

Tabelle 3:     Übersicht zu organisatorischen Aspekten von TLS

 

BK1

BK2

BK3

BK4

BK5

Umfang TLS

8 U-Std.

verteilt auf 2 aufeinander-folgende Schultage

6 U-Std.

Abschluss an einem Tag

3-4 U-Std.

Abschluss an einem Tag

ca. 4-6 U-Std.

1 TLS umfasst
2-3 Schultage

6-7 U.-Std.

Abschluss an einem Tag

Verankerung im wöchentlichen Stundenplan

an allen Schultagen

an allen Schultagen

an 1 von 2 Schultagen

nicht im Stundenplan sichtbar da projektförmig

an 2 von 3 Schultagen

Parallel angebotene TLS bzw. Wahloption für SuS*

nein

ja

nein

nein

nein

TLS im Klassenverband

ja

nein

ja

ja

ja

Einsatz Lehrkräfte (LK) in TLS

2 LK/TLS

Übergabe nach einem Schultag

‚Staffel-Stab-Prinzip‘

1 LK/TLS

Verantwortet gesamte TLS

‚alles aus einer Hand‘

2 LK/TLS

gemeinsame Durchführung

‚Team-Teaching‘

LK werden nach Stundenplan ‚fachfremd‘ eingesetzt

‚Staffel-Stab-Prinzip‘

Wirtschafts-TLS:

1 LK/TLS

‚alles aus einer Hand‘

TLS zu Politik, Religion, Sport:

LK werden nach Stundenplan ‚fachfremd‘ eingesetzt

‚Staffel-Stab-Prinzip‘

*SuS = Schüler*innen

TLS umfassen mehrere Unterrichtsstunden im Rahmen von drei bis sieben zusammenhängenden Stunden an einem Schultag. Bis auf BK4 verankern alle Berufskollegs ihre TLS im wöchentlichen Stundenplan. Dabei lässt sich jedoch erkennen, dass die ‚Tageslern-Idee‘, also der Abschluss einer Lerneinheit an einem Tag, durchaus aufgebrochen wird (BK1; BK4). Dies wird an BK1 mit der begrenzten Konzentrationsfähigkeit der Schüler*innen begründet – ein bis zu acht Stunden umfassender Schultag in TLS überfordere die Zielgruppe. Zudem lassen sich Hinweise bei BK2 und BK4 finden, dass einige Thematiken es erforderten, aufeinander aufbauende TLS zu entwickeln (z. B. Wohnung Teil I und Teil II (BK2); ‚sinnvolle Reihung‘ in Wirtschafts-TLS am BK5). Nur BK2 bietet den Schüler*innen eine Wahloption aus einem Parallelangebot an TLS an und löst damit den Klassenverband auf. Dies ist sicherlich auch auf die damit verbundenen organisatorischen Hürden und zur Verfügung stehenden Ressourcen an den Standorten zurückzuführen.

Betrachtet man den Lehrkräfteeinsatz in TLS, zeigt sich hier ein sehr differenziertes Bild: An BK2 und BK5 (bei BK5 jedoch nur in den Wirtschafts-TLS) sind Einzel-Lehrkräfte für die TLS zuständig (‚Alles aus einer Hand‘). Dies geht mit einer Expertise für das TLS-Thema einher. An BK1, BK4 und BK5 (bei BK5 jedoch nur in den TLS zu Politik, Religion, Sport) kommt ein ‚Staffel-Stab-Prinzip‘ zum Einsatz, d. h. es kommt zu einer stundenweisen Zuständigkeit von Einzellehrkräften in der TLS und zu Übergangsszenarien. Während am BK1 beide Lehrkräfte auch als Fachlehrkräfte in den TLS agieren, betreuen am BK4 und BK5 Lehrkräfte unabhängig ihres Faches die TLS-Phasen, zu denen sie entsprechend geltender Stundenplanung eingeteilt sind. Am BK3 kann im kleinen Bildungsgangteam eine enge Abstimmung erfolgen und das reduzierte Stundenvolumen macht eine Doppelbesetzung möglich. Insgesamt zeigt sich, dass die zeitliche und personelle Organisation in TLS kaum mit den Strukturen und Prozessen der schulorganisatorischen Planung vereinbar sind. Es müssen gangbare Lösungswege gesucht und durchaus Kompromisse eingegangen werden. Das Format des Lehrkräfteeinsatzes wird aber auch aus Perspektive der Lehrenden und Lernenden betrachtet. So weisen insbesondere BK2; BK3, BK4 und BK5 auf den ‚hohen Leidensdruck‘ der Lehrenden in der AV hin. Die Bewältigungsstrategien sind jedoch sehr unterschiedlich: Am BK2 ist man der Auffassung, „ein Tag hält eigentlich jeder gut durch“ (Transkript_BK2, Z. 189-190). Am BK4 und BK5 wird betont, dass ein Wechsel der Lehrkräfte innerhalb von TLS unbedingt notwendig sei („man hat nur eine Gesundheit“ (Transkript_BK4, Z. 980)) und auch die Lernenden sich einen Lehrkräftewechsel wünschten.

3.2.3 TLS und Curriculum

Zur Entwicklung eines ‚TLS-Curriculums‘ werden an den Standorten verschiedene curriculare Referenzen herangezogen. Für BK2, BK3 und BK4 steht die Frage im Zentrum: ‚Was brauchen unsere Schüler*innen‘. Subjektorientierung kann hier als curriculare Leitlinie für die Bestimmung von TLS-Themen identifiziert werden. Für BK3 und BK4 scheinen weiter lebensweltorientierte Thematiken eine bedeutende Rolle einzunehmen. Dies wird auch aus den in den Interviews exemplarisch angeführten TLS-Themen deutlich (siehe Standortkonzepte 3.1.3 und 3.1.4). Es müsse sich um Themen handeln, die die Schüler*innen interessieren bzw. die sie gerade bewegen (BK3 und BK4). BK3 betont ergänzend, dass es sich um ‚positiv belegte Themen‘ für die Lernenden handeln müsse, die durch aktiv-praktische Auseinandersetzung erschlossen werden können. BK1 und BK5 versuchen hingegen Lebensweltorientierung stärker auf Ebene der didaktischen Interaktion umzusetzen (BK1: Integration von Jugendsprache in die Lernmaterialien; BK5: Perspektivwechsel Lernende – Betriebliche Perspektive z. B. beim Thema Abschreibungen) und sehen hier weniger einen curricularen Referenzpunkt. BK2 verdeutlicht, dass die Interessen der Lehrenden eine hohe Bedeutung haben (‚Themen, für die die Lehrkraft brennt‘). Außerdem werden hier die aktuellen Bewältigungssituationen der Schüler*innen in der AV zum Anlass genommen, um TLS-Thematiken zu generieren (TLS Rechtschreibung; TLS Bewerbungsprozess/Berufsorientierung; TLS Prüfungsvorbereitung).

In den Standortkonzepten hat sich bereits angedeutet, dass die Berufskollegs recht unterschiedlich mit den gegebenen curricularen Vorgaben umgehen. Die fallübergreifende Analyse zeigt jedoch, dass alle Standorte eine Strategie der ‚pragmatischen Curriculumrezeption‘ wählen. Dies soll im Folgenden weiter erläutert werden: BK1 und BK5 weisen in Bezug auf die berufsspezifisch profilierten TLS große Überschneidungen auf. Beide verweisen auf eine ‚hohe Lehrplananbindung‘ ihres Konzepts, das auch die im Lehrplan adressierten berufspädagogischen Prinzipien wie Handlungsorientierung, Situierung und Selbststeuerung aufnimmt. Die pragmatische Lehrplanrezeption zeigt sich vorliegend in der deutlichen Abgrenzung zu den anderen Lernbereichen: Die fachübergreifenden oder allgemeinbildenden Fächer werden für die TLS-Konzeption ausgeblendet. Auch die eher fachübergreifend und allgemeinbildend profilierten TLS-Konzepte, wie sie an BK2 und BK5 umgesetzt werden, nehmen diese Abgrenzungstendenzen auf. Am BK5 agieren die Lehrkräfte vor dem Hintergrund ihres Fachbezuges (‚jede TLS hat ein dominierendes Fach‘) und zwar auf einem Niveau, das die anderen Lehrkräfte ohne größere Einarbeitungszeit ‚fachfremd‘ in die TLS einsteigen lässt. Eine kooperative Lehrplanrezeption scheint nach diesem Modell nicht erforderlich zu sein. Auch bei BK2 wird die Abgrenzungsstrategie erkennbar, wenn der berufsspezifische Lernbereich überwiegend in die Praxisformate verlagert wird. Am BK2 zeigt sich zudem eine weitere Strategie im Rahmen der Lehrplanrezeption: BK2 hat ein standortspezifisches Kompetenzverständnis entwickelt. Aus einer wissenschaftlichen berufs- und wirtschaftspädagogischen Perspektive betrachtet, bestehen Kompetenzformulierungen stets aus einer Inhalts- und einer Handlungskomponente, die jedoch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können und sich auf eine konkrete berufliche Handlungssituation beziehen (vgl. u. a. Wilbers 2020, 49ff.). Das BK2 löst diesen Zusammenhang jedoch auf und beschränkt sich auf die Betrachtung der Handlungskomponente – diese fasst es unter den Begriff ‚Kompetenzen‘ und grenzt sie von ‚Inhalten‘ ab: „Da haben wir es so gemacht, dass wir […] alle Kompetenzen in Kompetenzraster eingepflegt [haben; die Autoren] […] und haben uns nur bei den INHALTEN, wie wir diese Kompetenzen vermitteln, DA haben wir […] uns ein bisschen Flexibilität sozusagen verschafft. Also wir vermitteln die Kompetenzen, so wie sie im Lehrplan sind, aber die […] inhaltliche Anknüpfung, (.) die […] ist vielleicht nicht IMMER genau das, was der Lehrplan (.) sich wünscht […]“ (Transkript_BK2, Z. 266-272). Die Standorte lassen jedoch durchaus auch eine kritische Auseinandersetzung mit den curricularen Vorgaben erkennen. BK5 weist aus, dass sie bei der Konzeption von TLS nicht versucht haben, den Lehrplan 1:1 umzusetzen. Wenn dann festgestellt wurde, dass einige, im Lehrplan adressierten Inhalte nicht aufgenommen werden konnten, ginge dies mit einem ‚gewissen aber vertretbaren Unwohlsein‘ einher (Z. 170ff.). BK2 und BK3 weisen sehr deutlich aus, dass einige, im Lehrplan adressierte Ziele und Kompetenzbereiche für die Zielgruppe nicht erreichbar seien – insbesondere nicht im Rahmen lediglich eines zur Verfügung stehenden Schuljahres. Gleichzeitig weisen insbesondere BK3 und BK4 darauf hin, dass gewisse Kompetenzbereiche, die für die Lernenden sehr bedeutsam seien, nicht im Lehrplan aufgeführt sind. Dies beziehe sie insbesondere auf Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung und die Vorbereitung/Ermöglichung (auf) eine(r) gesellschaftliche(n) Teilhabe.

Insgesamt können damit die folgenden Fragestellungen zusammengeführt werden, die die schulische Curriculumentwicklung in Bezug auf die Gestaltung von TLS leiten:

  • Was gibt der Lehrplan vor? (BK1 und BK5)
  • Was leistet der Lehrplan? (BK2)
  • Welche Bereiche des Lehrplans sind für die Schüler*innen nicht leistbar (BK3; BK5) bzw. können auch von den Lehrkräften im vorgegebenen Rahmen nicht umgesetzt bzw. aufgeholt werden? (BK2; BK3; BK5)
  • Welche Lernbereiche deckt der Bildungsplan nicht ab, obwohl diese für die Zielgruppe zentral sind? (BK3 und BK4)

Insgesamt zeigt sich, dass alle Standorte nach Strategien suchen, die curricularen Vorgaben, die Besonderheiten der Zielgruppe und die standortspezifischen Gegebenheiten miteinander in Einklang zu bringen. Die schulische Curriculumarbeit kann dabei als pragmatisch, jedoch keinesfalls als trivial gekennzeichnet werden. Es wird erkennbar, dass sehr reflektierte und abwägende Überlegungen und Entscheidungsprozesse das jeweilige Vorgehen untermauern. Jeder Standort kann vor dem Hintergrund des mitgeführten Kontextes und Verständnisses sehr nachvollziehbare Begründungsmuster anführen.

3.2.4 TLS und Didaktik/Interaktion

Es wurde bereits angeführt, dass Subjektorientierung und Beziehungsarbeit tragende Prinzipien des TLS-Konzeptes vor Ort darstellen. Dies zeigt sich übergreifend auch auf Ebene der didaktischen Interaktion. TLS eröffnen zudem an allen Standorten Freiräume, die verschiedene methodische Zugänge, inhaltliche Vertiefungen/Erweiterungen sowie flexible Phasierungen der Lernumgebung zulassen. Individuelle Förderung und Begleitung erscheint in diesem Rahmen gut umsetzbar. BK5 und BK3 betonen, dass dieser Freiraum von den Lehrenden eine gewisse Flexibilität und auch Bereitschaft erfordere, sich auf die kaum antizipierbare ‚Dynamik in der TLS‘ einzulassen BK4 und BK5 geben mit Blick auf die Lernenden zu bedenken, dass (einige) Schüler*innen ggf. zunächst auf die ‚neu gewährten Freiräume‘ vorzubereiten seien, damit es nicht zu Überforderungen komme.

In der direkten Interaktion spielen sowohl die Vorgabe transparenter klarer Regeln (insbesondere im Umgang mit Unterrichtstörungen) (BK1; BK2; BK3) eine Rolle als auch eine wertschätzende und stärkenorientierte Haltung den Lernenden gegenüber (BK1; BK3; BK4).

Übergreifend wird der Umgang mit Feedback und Leistungsbeurteilung in TLS als Herausforderung thematisiert. Dabei wurden anspruchsvolle, schematische Bewertungsverfahren entwickelt (BK1; BK2; BK5), die z. T. jedoch als ‚zu kompliziert‘ eingeschätzt werden (BK1). Andere Standorte haben sich von der Notengebung in TLS ganz gelöst (BK3; BK4) und setzen hier vermehrt auf formative, stärkenorientierte und wertschätzende Formate, die die aufgebauten Beziehungsstrukturen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen nicht gefährden (insbesondere BK3).

3.3 Diskussionsthesen: Gestaltungsfragen zu TLS

Zusammenführend versuchen wir über die Formulierung von Diskussionsthesen nochmals grundlegende Fragen zur Gestaltung von TLS aufzunehmen und damit auch den Blick auf Herausforderungen der Bildungsarbeit in der AV zu verdichten. Die Auseinandersetzung mit TLS hat dazu beigetragen, dass wir nochmals einen anderen Zugang zur Bildungsarbeit in der AV erhalten haben und die eigenen Positionen reflektieren konnten. Methodisch treten wir damit aus dem Format der beschreibenden und analysierenden Auswertung heraus und versuchen im Folgenden, unsere Erkenntnisse und Positionen in Auseinandersetzung mit dem ‚Praxisphänomen TLS‘ darzulegen.

Wir haben bereits im Anschluss an die Fallbeschreibungen dargelegt, dass TLS beanspruchen, die besonderen Herausforderungen in der AV aufzunehmen und Jugendliche zur Teilnahme an Bildung und Unterricht zu bewegen. Es soll der besonderen Problematik begegnet werden, den Jugendlichen auch bei unregelmäßiger Teilnahme angemessene Entwicklungsangebote zu eröffnen. Daneben ist auch die hohe Heterogenität der Zielgruppe mit sehr unterschiedlichen Lernerfahrungen, -potenzialen, aber auch Problemlagen und Perspektiven in den Blick zu nehmen. TLS sind aus unserer Sicht ein Ausdruck, diesen Herausforderungen in der schulischen Bildungsarbeit zu begegnen. Die folgenden Diskussionsthesen versuchen diese Aspekte zu umreißen:

1.      Tageslernsituationen zeigen sich als Organisations- und Curriculumkonzept auf schulischer Ebene im Umgang mit der Heterogenität, den spezifischen Problemlagen, aber auch Entwicklungspotenzialen der Jugendlichen in der Ausbildungsvorbereitung.

2.      Tageslernsituationen drücken die Notwendigkeit einer Eröffnung individueller Entwicklungswege auf und bieten hierfür einen curricularen Rahmen vor Ort.

3.      Tageslernsituationen heben die Ausrichtung der Bildungsarbeit am Subjekt hervor – dies zeigt sich in der aufgenommenen Perspektive im Rahmen der curricularen Analyse.

Daneben decken TLS auch gewisse Ambivalenzen und Ambiguitäten in der Bildungsarbeit der AV auf (vgl. Kremer 2017). Die Verschränkung des Erwerbs beruflicher Kenntnisse und Fähigkeiten mit dem Erwerb des Hauptschulabschlusses zeigt sich als besondere Herausforderung und ist für einige Jugendliche kaum erreichbar. Der Erwerb des HS9 scheint jedoch eine besondere Bedeutung zu haben, wobei die Standortkonzepte durchaus unterschiedliche Wege zum Erwerb der erforderlichen Kompetenzen erkennen lassen. Dabei stellen TLS das Zusammenspiel beruflicher und allgemeiner Bildungsziele nicht in Frage, es zeigt sich jedoch als herausfordernd, diese Korridore in TLS zusammenzuführen. In diesem Kontext konnte festgestellt werden, dass versucht wird, die Bildungspläne durch eine pragmatische Curriculumarbeit handhabbar zu machen. TLS decken sehr deutlich eine gewisse Ohnmacht in Bezug auf eine tradierte Curriculumrezeption auf und scheinen als Weg im Umgang mit den benannten Herausforderungen betrachtet zu werden. Dies führt zu den folgenden Thesen:

4.      Tageslernsituationen bieten die Möglichkeit, neue Wege im Umgang mit den Zielen der Ausbildungsvorbereitung (berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten, Hauptschulabschluss Klasse 9, Vorbereitung auf eine Ausbildung etc.) aufzunehmen.

5.      Tageslernsituationen decken die Ambiguitäten in der Bildungsarbeit von Lehrkräften in der Ausbildungsvorbereitung auf. Aus Perspektive von TLS können die mit dem System Ausbildungsvorbereitung verbundenen Unsicherheiten und Widersprüche nochmals bestätigt werden. Diese zeigen sich in Unsicherheiten bzgl. der Erreichung von (z. T. als widersprüchlich wahrgenommenen) Zielen, der eingeschränkten Realisierbarkeit von Durchlässigkeit und Übergängen sowie in Problemen, die sich aus der Rezeption der Anforderungen der angrenzenden Systeme (Allgemeinbildung – Duales System) ergeben. Tageslernsituationen sind so Ausdruck einer erforderlichen Ambiguitätstoleranz auf Seiten des Bildungspersonals in der Ausbildungsvorbereitung.

6.      Tageslernsituationen zeigen sich als eine pragmatische Curriculumrezeption und
-produktion vor Ort und werden dementsprechend auch mit unterschiedlichen Annahmen, Setzungen und Verständnissen verbunden.

Wir konnten unterschiedliche Ausprägungsformen von TLS aufzeigen, die sich insbesondere auf die unterschiedlichen Standortspezifika an den Berufskollegs zurückführen lassen. So konnten deutliche Unterschiede in der Organisation und Anbindung der AV im Kontext der Schulstruktur festgestellt werden. Auch die Schüler*innengruppen unterscheiden sich mitunter deutlich. In Bezug auf die an TLS beteiligten Lehrkräfteteams lässt sich ebenfalls ein sehr heterogenes Bild nachzeichnen: Die Akteur*innen verfügen hier über unterschiedliche Kompetenzen und Vorstellungen. So ist denkbar, dass Schwerpunktsetzungen zur TLS – insbesondere zur beruflichen Anbindung und der Ausrichtung an beruflichen Handlungsfeldern – auch im Zusammenhang mit den Profilen und Professionshintergründen der Lehrkräfte stehen könnten. Dies konnte vorliegend jedoch noch nicht in ausreichendem Maße untersucht werden.

7.      Tageslernsituationen stellen ein ‚Sonderformat‘ dar, das ausgehend von den spezifischen Bedingungen in der AV konzipiert wird. Sie erfordern veränderte schulorganisatorische Strukturen und weisen eine jeweils spezifische Anbindung an die berufskollegübergreifenden Ordnungsgrundlagen auf.

8.      Tageslernsituationen bieten Lehrkräften die Möglichkeit, eigene Lern- und Entwicklungsvorstellungen einzubringen und sind gleichermaßen auch Ausdruck des Professionalitätsverständnisses vor Ort.

9.      Tageslernsituationen zeigen unterschiedliche Verständnisse auf das Berufliche in der Ausbildungsvorbereitung auf und fordern dazu auf, die Stellung und Bedeutung des Beruflichen in der Ausbildungsvorbereitung in den Blick zu nehmen.

Die Thesen lassen erkennen, dass TLS durchaus sehr grundlegend die Gestaltung der AV in den Blick nehmen und aus unserer Sicht auch geeignet sind, die Diskussion um die curriculare und didaktisch-methodische Gestaltung der AV nochmals aufzunehmen. TLS verdeutlichen, dass ein anforderungsorientiertes Kompetenzverständnis in der AV an Grenzen stößt und die Bestimmung der Kompetenzen und Ausrichtung der Bildungsarbeit sowohl auf curricularer als auch auf didaktisch-methodischer Ebene an den Entwicklungsmöglichkeiten auszurichten ist. Hier kann dann in Anlehnung an die Reetz’schen Gestaltungsprinzipen (Wissenschafts-, Situations- und Persönlichkeitsprinzip) zur Curriculumentwicklung (Reetz 1984) gefragt werden, welche Bedeutung berufliche Situationen und Wissensbestände haben und wie diese mit einer Ausrichtung am Subjekt verschränkt werden können. TLS deuten hier darauf hin, dass die bestehenden Curricula, die sich an beruflichen Anforderungssituationen ausrichten, einer didaktisch-methodischen Anpassung an die Subjekte bedürfen.

10.  Tageslernsituationen richten sich an einem subjektorientierten Kompetenzverständnis aus – es ist eine Bedeutungsverlagerung vom Situationsprinzip zum Subjekt – respektive Persönlichkeitsprinzip zu erkennen.

4 Ausblick: Zur Bedeutung der Subjektorientierung in beruflichen Curricula

Wir konnten in diesem Beitrag das Phänomen der TLS aufarbeiten und hier die Bildungsarbeit in der AV an Berufskollegs beleuchten. Unabhängig von einer qualitativen Einschätzung zu TLS verweist diese Praxisinnovation sowohl auf eine Gestaltungsnotwendigkeit als auch auf eine Gestaltungsbereitschaft der Bildungsakteur*innen. Die Entwicklungsarbeit vor Ort ist zunächst als große Stärke zu würdigen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Praxisinnovation TLS tatsächlich für die Verbesserung der AV genutzt werden kann. Kritisch gewendet könnte die Frage aufgeworfen werden, ob durch TLS nicht der Aufbau eines Sondersystem verstärkt wird. Dies kann dann – zwar im gut gemeinten Bemühen um die Bedarfe der Jugendlichen – zu einer weiteren Stigmatisierung und Exklusion führen. Dies fordert dazu auf, die AV in Verschränkung zu beruflichen Bildungsgängen zu betrachten und hier ggf. auch die Potenziale für berufliche Bildung hervorzuheben.

Gerade die Ausrichtung an einem subjektorientierten Kompetenzverständnis scheint aus unserer Sicht durchaus grundlegend für die Berufsbildung und nicht auf den Bereich der Berufs- und Ausbildungsvorbereitung beschränkt zu sein. Es kann die Frage gestellt werden, inwiefern das Subjektprinzip bereits im Rahmen der Curriculumgestaltung berücksichtigt werden kann. Dies könnte z. B. bedeuten, dass sich das Curriculum an individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und -korridoren ausrichtet und berufliche Anforderungssituationen als Referenz- und Orientierungspunkt herangezogen werden.

Die Entwicklung individueller beruflicher Kompetenzprofile kann zudem auch im Zuge gesellschaftlicher (insbesondere digitaler) Transformationsprozesse an Bedeutung gewinnen. Berufliche Tätigkeiten unterliegen zunehmend einem Wandel und erfordern dementsprechend eine Überprüfung der erforderlichen Kompetenzen. Es ist durchaus fraglich, ob berufliche Handlungsfelder mit einem vorgegebenen Set an Kompetenzen bewältigt werden können oder ob berufliche Situationen zunehmend so gestaltet sind, dass sie sich durch eine Offenheit und einen Neuigkeitsgrad ausweisen, der im Rahmen der Bewältigung der beruflichen Aufgaben die Suche nach Lösungsansätzen und ggf. im Rahmen des Arbeitsprozesses den Erwerb neuer Kompetenzen erfordert. Dies würde bedeuten, dass Arbeitsprozesse sich zunehmend auch als Lern- und Entwicklungsprozesse zeigen. Damit wäre es erforderlich, die Kompetenzen verstärkt aus Sicht der Subjekte zu betrachten und auf die Entwicklung neuer Lösungswege im Rahmen beruflicher Problemstellungen vorzubereiten. Genau dies ist aus unserer Sicht auch Aufgabe der AV: Jungen Menschen, die gesellschaftliche Teilhabe über die (weitgehende) Mitgestaltung der Lebenswelt zu eröffnen. Zumindest für die Berufs- und Ausbildungsvorbereitung erfordert dies ein Nachdenken über eine Einbindung der Lernenden in die Curriculumrezeption und -entwicklung, was wiederum hohe Anforderungen an die Curriculumarbeit vor Ort stellt. Inwiefern dies auch eine Bedeutung für andere berufliche Bildungsgänge hat, wäre weiter zu untersuchen.

Abschließend stellen wir nochmals in Bezug auf Curriculum, Organisation und Unterrichtsarbeit ausgewählte Fragen zur Gestaltung der AV zusammen, die sich in der Auseinandersetzung mit TLS verdeutlicht haben (Tabelle 4):

Tabelle 4:     Gestaltungsfragen für die AV im Kontext der Gestaltung von TLS

Kategorie

Fragestellung

Curriculum

Was soll(en) Referenzpunkt(e) für die Curriculumentwicklung in der AV sein?

Welche Entwicklungsmöglichkeiten bieten berufliche Anforderungssituationen, die in der AV zunehmend eine Komplexitätsreduktion erfahren?

Wie kann es gelingen, individuelle Kompetenzentwicklungserfordernisse und -wege in den Curricula zu berücksichtigen?

Wie können berufliche und allgemeinbildende Qualifikationen verschränkt und Zielkorridore gestaltet werden, die von den Jugendlichen erreicht werden können bzw. auch Herausforderungen bieten?

Welche Formate können auf curricularer Ebene eingeführt werden, um eine Ausrichtung am Subjekt zu stärken?

Wie kann der Anschluss an nachfolgende Bildungsgänge eröffnet werden?

Welche Bedeutung haben einheitliche Standards für die AV?

Wie können die veränderten Anforderungen im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse berücksichtigt werden?

Wie können in einem Bildungsgang berufliche Orientierung, Vorbereitung und Qualifizierung berücksichtigt werden?

Wie kann das Berufliche als Zugang für Lernen/Kompetenzentwicklung genutzt werden?

Organisation der Bildungsgänge

Welche Organisationsformen motivieren Schüler*innen zur Teilnahme an Unterricht?

Wie können in einem Bildungsgang unterschiedliche Bildungspfade organisatorisch verankert werden?

Welche Sichtweisen muss und kann das Bildungspersonal einbringen, welche Bedeutung hat hier das Berufliche?

Was bewirkt die Zusammensetzung von Bildungsgangteams, welche Professionen können wie zusammenarbeiten?

Wie werden Räume für Kommunikation und Austausch für die Bildungsgangarbeit eröffnet und was bedeutet dies für die Planung von Stunden-, Wochen-, Monats- und Jahresplänen?

Wie kann die Stellung der AV im System Berufskolleg gestärkt und wie können Lehrkräfte gestützt werden?

Unterrichtsarbeit

Wie können Jugendliche an die Steuerung ihrer eigenen Biografien geführt werden?

Wie kann eine ausreichende Beziehungsarbeit sichergestellt werden?

Wie werden Stärken von Jugendlichen aufgenommen und zum Ausgangspunkt einer Kompetenzentwicklung gemacht?

Wie gelingt es, individuelle Lernbedarfe aufzunehmen?

Wie können Anschlusswege auf Ebene der Unterrichtsarbeit eröffnet werden?

Wie kann es gelingen, alle Jugendlichen mitzunehmen und ihnen Perspektiven zu eröffnen?

Literatur

Baethge, M./Baethge-Kinsky, V. (2012): Zu Situation und Perspektive der Ausbildungsvorbereitung von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf in NRW. Eine explorative Studie an ausgewählten Berufskollegs. Düsseldorf.

Bohlinger, S. (2004): Der Benachteiligtenbegriff in der beruflichen Bildung. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), 100 (2), 230-241.

Döring, N./Bortz, J. (2016): Forschungsmethoden und Evaluation in den Sozial- und Humanwissenschaften (5. Aufl.). Berlin, Heidelberg.

Euler, D. (2011): Lauthals schweigen? – Über den Umgang mit (Ab-)Brüchen und fehlenden Übergängen auf Bildungswegen. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), 107 (3), 321-327.

Flick, U. (2010): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. 3. Auflage. Reinbeck.

Frehe-Halliwell, P./Kremer, H.-H. (2020): Tageslernsituationen (TLS) – Ein Format zur lebensweltorientierten Didaktik in der Berufs- und Ausbildungsvorbereitung? Potenziale und Grenzen eines Praxiskonzepts. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-25. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe38/frehe-halliwell_kremer_bwpat38.pdf (24.06.2020)

Frehe, P./Kremer, H.-H. (2018): Didaktik der Ausbildungsvorbereitung als (eine) Didaktik beruflicher Bildung. In: Tramm, T./Casper, M./Schlömer, T. (Hrsg.): Didaktik der beruflichen Bildung – Selbstverständnis, Zukunftsperspektiven und Innovationsschwerpunkte. Berichte zur beruflichen Bildung der Arbeitsgemeinschaft Berufsbildungsforschungsnetz (AG BFN), 237-256.

Frehe, P. (2015): Auf dem Weg zu einer entwicklungsförderlichen Didaktik am Übergang Schule-Beruf: eine designbasierte Studie im Anwendungskontext. Detmold.

Kremer, H.-H. (2017): Teaching under and in inequality in German Vocational Schools. In: Natale, S./Libertella, A. (Ed.): Wealth Equity Dynamics: Economics and Education Challenges. New York, 47 – 67.

Kuckartz, U. (2012): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim und Basel.

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (MSW) (Hrsg.) (2015): Bildungsplan zur Erprobung für die Bildungsgänge der Ausbildungsvorbereitung –berufliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie berufliche Orientierung und ein dem Hauptschulabschluss gleichwertiger Abschluss. Fachbereich: Wirtschaft und Verwaltung. Online: http://www.berufsbildung.nrw.de/cms/upload/ausbildungsvorbereitung/wirtschaft_verwaltung/av_wuv_bereichsspez-faecher.pdf (13.03.2022).

Niemeyer, B. (2005): „Neue Lernkulturen“ in der Benachteiligtenförderung. In: Niemeyer, B. (Hrsg.): Neue Lernkulturen in Europa? Prozesse, Positionen, Perspektiven. Wiesbaden, 77-93.

Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW) (2022): Ausbildungsvorbereitung (Anlage A). Online: https://www.berufsbildung.nrw.de/cms/bildungsgaenge-bildungsplaene/ausbildungsvorbereitung-anlage-a/index.html (07.07.2022).

Rädiker, S./Kuckartz, U. (2019): Analyse qualitativer Daten mit MAXQDA. Text, Audio und Video. Wiesbaden.

Reetz, L. (1984): Wirtschaftsdidaktik: eine Einführung in Theorie und Praxis wirtschaftsberuflicher Curriculumentwicklung und Unterrichtsgestaltung. Bad Heilbrunn.

Wilbers, K. (2020): Einführung in die Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Schulische und betriebliche Lernwelten erkunden. Online: http://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-pedocs-207426 (07.07.2022).

 

[1]    Die Bildungspläne der AV umfassen drei Fächer, die auf einen konkreten beruflichen Fachbereich bzw. ein konkretes Berufsfeld bezogenen sind. Im Wortlaut der Bildungspläne heißen diese Fächer ‚Fächer des Fachbereichs‘ und werden von den befragten Lehrkräften mitunter als ‚bereichsspezifische‘ oder ‚berufsspezifische‘ Fächer gekennzeichnet. Nach unserer Einschätzung ist die Bezeichnung ‚bereichsspezifisch‘ nicht selbsterklärend bzw. kann nicht losgelöst von der Strukturierung des gesamten Bildungsplans nachvollzogen werden. Daher werden wir im Folgenden pragmatisch von ‚berufsbezogenen Fächern‘ sprechen.

[2]    Der Bildungsgang der Ausbildungsvorbereitung in NRW kann in zwei Formaten angeboten werden: Der AV-Vollzeit und der AV-Teilzeit: „In der Teilzeitform finden an zwei Tagen in der Woche 12 bis 14 Stunden Unterricht im Berufskolleg statt. An den übrigen drei Tagen nehmen die Schüler*innen an Maßnahmen zur beruflichen Orientierung und zur Vorbereitung auf eine Berufsausbildung teil oder befinden sich in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis“ (QUA-LiS 2022). Häufig findet eine Lernortkooperation von Berufskolleg und Bildungsträger statt. „In der Vollzeitform beträgt der Unterricht, je nach Umfang des schulisch begleiteten Praktikums, 12 bis 36 Unterrichtsstunden in der Woche. Es ist vorteilhaft, wenn sich die Jugendlichen bereits im Voraus um einen Praktikumsplatz bemühen“ (ebd.).

[3]    Siehe Fußnote 1.

Zitieren des Beitrags

Frehe-Halliwell, P./Kremer, H.-H. (2023): Tageslernsituation (TLS) als Praxisinnovation in der Ausbildungsvorbereitung – Einblicke in die schulische Curriculumarbeit. In: bwp@ Spezial PH-AT2: Diversität in der Berufsbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz – Perspektiven aus Forschung, Entwicklung und Bildungspraxis, hrsg. v. Albert, S./Heinrichs, K./Hotarek, I./Zenz, S., 1-24. Online: https://www.bwpat.de/spezial-ph-at2/frehe-halliwell_kremer_bwpat-ph-at2.pdf (19.04.2023).