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bwp@ Spezial PH-AT2 - April 2023
Diversität in der Berufsbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz – Perspektiven aus Forschung, Entwicklung und Bildungspraxis
Hrsg.:
, , &Psychische Belastungen in der Berufsbiografie – Konsequenzen für die berufliche Bildung
Psychische Belastungen sind ein ubiquitäres Phänomen. In den Übergangsphasen hin zur beruflichen Bildung, im Rahmen ihres Verlaufs wie auch im Erwerbsleben zeigen sich die damit verbundenen Herausforderungen. In diesem Beitrag wird ein Begriffsverständnis von psychischer Belastung auf Basis einer interaktionistischen Sicht grundgelegt. Exemplarisch für drei biografische Phasen – allgemeinbildende Schule, berufliche Bildung und Erwerbsarbeit – wird die Relevanz dieser Belastungsmomente belegt. Die Gruppe der Heranwachsenden rückt im Anschluss in den Fokus. Mittels eines Literaturreviews wird gezeigt, dass bezogen auf Auszubildende im dualen System eine erhebliche Forschungslücke existiert. Daraus werden Konsequenzen für die Ausgestaltung beruflicher Bildungsangebote zur Kompensation bzw. zur Prävention von benachteiligenden Konstellationen entwickelt. Ein Ausblick auf weitere notwendige Forschung sowie auch auf Entwicklungsprozesse in der beruflichen Bildungspraxis rundet den Beitrag ab.
Mental stress during the professional biography – consequences for vocational education and training
Mental stress is an ubiquitous phenomenon. In the transition towards vocational education and training, during its development as well as in working life, the challenges associated with it become apparent. This paper presents a conceptual understanding of mental stress based on an interactionist view. The relevance of these stressful moments is demonstrated in three biographical phases – general schooling, vocational training, and employment. The focus then shifts to the group of adolescents. Based on a literature review it is shown that there is a considerable research gap in the dual system. Consequences are developed for the design of vocational training programs to compensate for or prevent disadvantaging constellations. An outlook on further necessary research as well as on development processes in vocational training practice completes the article.
1 Themenfeld und Fragestellungen
Das psychische Wohlergehen von Menschen jedweden Alters wird als zentrale Herausforderung für die Gesellschaft der Moderne identifiziert (vgl. RKI 2015); diese aggraviert nochmals unter den besonderen Bedingungen der Corona-Pandemie (vgl. Brakemeier et al. 2020). Medizinische, psychologische, aber auch pädagogische Stütz- und Bildungssysteme sehen sich daher mit der Aufgabe konfrontiert, sich dem Themenfeld in breiterem Umfange zuzuwenden und in ihren jeweiligen Konzepten proaktive wie auch reaktive Handlungsmechanismen zu implementieren.
Sich mit diesen Fragestellungen auseinanderzusetzen, wird jedoch nicht ausschließlich als Aufgabe von wirtschaftlich hoch entwickelten, westlichen Staaten angesehen, sondern wird bereits frühzeitig als globales Phänomen adressiert (vgl. WHO 2010): „Mental health – an unresolved challenge“ (OECD 2010, 10). Psychische Gesundheit ist jedoch bedeutsam, um seine eigenen Möglichkeiten zur Geltung zu bringen, sein Leben zu bewältigen und sich – unter anderem über erfolgreiche Teilhabe an Arbeit – in das gesellschaftliche Miteinander einzubringen (vgl. WHO 2013). Dabei kann „psychisch gesund“ als eine Ausprägung auf einem Band hin zu „psychisch krank“ als entgegengesetzten Modus eingeordnet werden. Was dabei jeweils als unauffällig vom sozialen Umfeld wahrgenommen und ggf. etikettiert wird, variiert im zeitgeschichtlichen und kulturellen Kontext (vgl. Schlipfenbacher/Jacobi 2014). In jedem Fall ist von einer größeren Bandbreite erlebter psychischer Auffälligkeiten auszugehen, die im Verlauf ihrer Genese auch von Schwankungen in der individuellen Ausprägung begleitet werden; zudem erschwert die zum Teil vorhandene Invisibilität der Belastung die Wahrnehmung von außen (vgl. Schlack et al. 2021). Dabei ergibt sich eine Interaktion zwischen der Person und ihren Voraussetzungen einerseits und der Teilhabe an Beruf und Arbeit andererseits: vorliegende Belastungen können zu Erschwernissen in der Teilhabe führen – Prozesse beruflicher Bildung können jedoch ebenso zu Belastungen führen. Hinzu kommt ein Interaktionseffekt zwischen beiden Seiten, der Aufschaukelungsprozesse bedingen kann.
Ausgangspunkt dieses Beitrags sind angesichts der Prävalenzraten psychischer Belastungen das deutliche Desiderat der Forschung und damit verbunden die konzeptionellen Fehlstellen in der beruflichen Bildungspraxis: Zunächst wird in einer Bestandsaufnahme das Auftreten psychischer Belastungen in unterschiedlichen Phasen der Berufsbiografie und ihre genauere entsprechende Bestimmung beleuchtet, um davon ausgehend nach Möglichkeiten der Prävention, aber auch der Intervention im System beruflicher Bildung zu fragen. Unabhängig von den zugrunde liegenden individuellen Wirkmechanismen zwischen psychischer Belastung und dem Lebensbereich Beruf und Arbeit – eindeutige Kausalkette, mitverursachendes Moment oder „Bühne“ für in anderen Lebensbereichen entstandenen Belastungsmomenten (vgl. Ohlbrecht 2021) – bedarf es einer professionellen Antwort auf die sich daraus ergebenden Bedarfe des Einzelnen.
2 Psychische Belastungen aus interaktionistischer Perspektive
Hier wird mit dem Begriff der psychischen Belastung ein weit gespannter Terminus herangezogen, um mögliche Antworten auf zentrale Fragen der Teilhabe aus diversen Blickwinkeln anzudenken. Dieser Terminus nimmt drei zentrale Aspekte auf:
- erstens das Spektrum von vorübergehenden sowie eher milderen bis zu überdauernden und stark beeinträchtigenden psychischen Problemen und ausgeprägten, klinisch relevanten Störungen;
- zweitens die Breite der Phänomene psychischer Belastungen, von Depressivität über Angstproblematiken bis hin zu Abhängigkeit und Sucht, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen, Essstörungen bis hin zu suizidalen Tendenzen – und Weiterem;
- drittens ein Verständnis psychischer Belastungen als Symptom oder auch Signal für „hinter“ der individuellen Belastung liegenden Störungen der Person-Umwelt-Interaktion (vgl. Kranert/Stein 2021; Stein/Kranert 2020a).
Hierfür wird zuvorderst ein interaktionistisches Verständnis des Störungsgeschehens grundgelegt (vgl. Stein 2019), bevor dies auf Fragen von psychischen Belastungen im Kontext beruflicher Bildung und Erwerbsarbeit transferiert wird.
Seelische Gesundheit stellt den Gegenpol der hier betrachteten psychischen Belastungen dar; zwischen beiden Seiten liegt ein Kontinuum. Dabei sind psychische Belastungen aus der hier eingenommenen Perspektive als ein Signal für eine hinter den erlebten Belastungen stehende Störung im Person-Umwelt-Bezug zu verstehen (vgl. Abb. 1).
Im Rahmen eines „vier-plus-zwei-Modells“ spielen dabei folgende Perspektiven und Faktoren eine Rolle:
1) bereits bestehende, längerfristige oder überdauernde Belastungen der Person, mit denen diese in neue Anforderungssituationen hineingeht; dies sind insbesondere Persönlichkeitseigenschaften, basierend auf organisch-genetischen Bedingungen sowie der persönlichen Biografie und ihren Erziehungs- sowie Sozialisationsbedingungen (Perspektive Person);
2) Bedingungen und Charakteristika der (Bildungs-)Situation selbst, mit der die Person sich auseinandersetzen muss oder möchte (Perspektive Situation);
3) das individuelle Erleben der situativen Herausforderungen (im Sinne von eustress oder distress) sowie die Verarbeitung, welche wiederum im konkreten, aktuellen Erleben und Verhalten der Person deutlich wird (Perspektive Interaktion);
4) in vielen Fällen Beobachter*in von außen, welche die Person als belastet sehen und dies so bezeichnen bzw. auf Basis eigener Wahrnehmungsprozesse – einschließlich möglicher damit verbundener Etikettierungen, etwa der Diagnose einer psychischen Störung (Perspektive Beobachter*in).
Im Hinblick auf Person wie Situation sind dabei zugleich zwei Qualitäten zu berücksichtigen:
- schwächende und beeinträchtigende Aspekte: Risikofaktoren auf Seiten der Person (Vulnerabilität) sowie Ansprüche auf Seiten der Situation, wie oben beschrieben;
- stärkende Aspekte: personale Resilienzfaktoren wie etwa Stressmanagement, kommunikative Kompetenzen, kognitive Ressourcen oder Selbstvertrauen auf Personseite sowie Schutzfaktoren des aktuellen sozialen Umfeldes wie etwa stützende Personen oder Hilfsangebote.
Diese interaktionistische Auffassung psychischer Belastungen weicht vom Verständnis in der Arbeits- und Organisationspsychologie ab, indem dort psychische Belastungen als Faktoren der Situation betrachtet werden, während das individuelle Erleben als psychische Beanspruchung bezeichnet wird (vgl. etwa Ergonomische Grundlagen 2017; Poppelreuter/Mierke 2018). Die Norm EN ISO 10075 beschreibt auf dieser Basis Richtlinien der Arbeitsplatzgestaltung (vgl. BGW 2022). Dabei erfolgt singulär ein Fokus auf Belastungen aus der Arbeitswelt heraus – hier wären auch Belastungen und Unterstützungen aus anderen Feldern, etwa der Familie, zu bedenken.
Eine solche interaktionistische Auffassung psychischer Belastungen ist gut anschlussfähig an internationale Kategorisierungs- und Diagnosesysteme wie etwa die International Classification of Functioning (ICF) (vgl. DIMDI 2015), aber auch multiaxiale medizinische Systeme wie die ICD-11 (vgl. WHO 2022) oder das DSM-5. Sie entspricht auch prominenten Auffassungen von Stress wie etwa derjenigen von Lazarus (vgl. Stein 2022).
3 Psychische Belastungen in der Berufsbiografie
Ausgehend von dem weit gefassten Begriff psychischer Belastung wird deren Prävalenz in unterschiedlichen (berufs-)biografischen Phasen nachgezeichnet. Dies ist jedoch nur im Sinne einer Annäherung möglich, da aufgrund differenter professioneller wie auch sozial- und bildungspolitischer Herangehensweisen eine unterschiedlich breite, aber dennoch zumindest in Teilbereichen konvergente Stichprobe in den Blick genommen wird.
Ergänzend ist zu bedenken, dass es hier nicht nur um bestimmte Phasen der Bildungsbiografie geht, sondern gerade auch die Übergänge zwischen Phasen – und damit oft auch zwischen „Systemen“ und Institutionen – besondere Herausforderungen mit sich bringen, welche die jüngere Transitionsforschung beschreibt und untersucht (vgl. etwa Bellenberg/Forell 2013; Bergmann et al. 2012; Griebel/Niesel 2015). Damit sind potenziell auch besondere psychische Belastungen verbunden.
3.1 Phase 1 – Übergang Schule-Beruf
Innerhalb der allgemeinbildenden Schule tritt zunächst der sonderpädagogische Begriff des Förderschwerpunktes emotionale und soziale Entwicklung in den Vordergrund (vgl. KMK 2000). Dieser signalisiert im schulischen Kontext einen Bedarf an sonderpädagogisch ausgerichteter Bildung, Beratung oder Unterstützung (vgl. KMK 2011). Hierunter werden aktuell etwa 1,4 % der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland subsumiert (vgl. KMK 2022). In Bezug auf das Jahr 2011 kommt darin zugleich eine Steigerung der so diagnostizierten Schüler*innen von etwa 58 % zum Ausdruck. Deutlich höhere Zahlen ergeben sich bei der Betrachtung der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung, einschließlich erziehungsberaterischer Angebote. Diese sozialrechtlichen Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch VIII wurden 2019 von etwa 7 % der unter 21-Jährigen in Deutschland in Anspruch genommen (Arbeitsstelle 2021); dies entspricht einer Zunahme gegenüber 2010 von etwa 18 %.
Darüber hinaus sind psychische Störungen als psychiatrisches Konzept in die Diskussion mit einzubeziehen. Das aktuelle DSM-5 – als international relevantes System psychiatrischer Kategorisierung – subsumiert darunter Syndrome, „welche durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert sind“ (Falkai/Wittchen 2015, 26). Die Diagnosehäufigkeit ist dabei in den letzten Jahren ebenfalls gestiegen; so wurde im Jahre 2017 bei etwa jedem vierten Kind oder Jugendlichen während eines Jahres einmal eine psychische Störung diagnostiziert (vgl. Steffen et al. 2018; Ihle/Esser 2002, 2008). Ob daraus abzuleiten ist, dass psychische Störungen in der Bevölkerung an sich zunehmen wird jedoch auch durchaus kritisch diskutiert (vgl. Richter/Berger/Reker 2008). Jedoch bestätigt sich diese hohe Prävalenz bei der Betrachtung des subjektiven Belastungserlebens. So weisen die aktuellen Ergebnisse der KiGGS-Studie (2. Welle) zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland auf eine elternberichtete Prävalenzrate von ca. 17 % für psychische Auffälligkeiten bei jungen Menschen unter 18 Jahren in Deutschland hin (vgl. Klipker et al. 2018), wenn man von einer „Risikogruppe“ spricht (vgl. Hölling et al. 2014).
Insgesamt zeichnet sich in der Zusammenschau der vorliegenden Daten ein hohes Belastungsmoment unter Kindern und Jugendlichen ab, was auch als weltweites Phänomen diskutiert wird (vgl. UNICEF 2021). Vorsichtig geschätzt dürfte somit etwa jede*r sechste Minderjährige betroffen sein, wobei jedoch die Inanspruchnahme entsprechender pädagogischer Angebote deutlich geringer ausfällt, wie auch die erhebliche Diskrepanz zu den (wenngleich kontinuierlich ansteigenden) Quoten im Bereich emotional-sozialer Entwicklungsförderung zeigt. Diese jungen Menschen stehen zum Ende ihrer allgemeinbildenden Schulzeit am Übergang ins Berufsleben, was solche Belastungsmomente zusätzlich erschweren kann; zumindest ist von einer Persistenz in vielen Fällen auszugehen (vgl. Stein/Kranert 2020b). Diese Belastungen der Personen selbst sind aus interaktionistischer Perspektive mit aktuellen situativen Belastungen verwoben. Gerade am Übergang Schule-Beruf ergeben sich verschiedenste solcher Belastungen aus dem „Systemwechsel“ heraus, oft verbunden mit dem Verlassen des Elternhauses (vgl. Hascher/Kranert/Stein 2020).
3.2 Phase 2 – Berufliche Bildung
In Analogie zur Situation im allgemeinbildenden Schulsystem finden sich in der Berufsbildung – hier fokussiert auf das duale System (vgl. Spöttl 2016) – keine übergreifenden Studien zur Prävalenz. Jedoch ergeben sich in unterschiedlichen Forschungskontexten Hinweise auf ein Belastungserleben von Auszubildenden. Diese lassen sich zu folgenden Themenfelder clustern:
- in der dualen Berufsausbildung wahrgenommene Unterrichts- bzw. Ausbildungsqualität (vgl. BiBB 2018; Dietzen et al. 2014; Ernst 2016; Wenner 2018);
- erlebte Stressmomente innerhalb der Berufsausbildung (vgl. DGB 2016; 2020);
- subjektiv berichtete Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten in unterschiedlichen berufsschulischen Settings (vgl. Holtmann 2022; Kranert/Stein 2016; Stein/Kranert/Wagner 2016; Stein et al. 2015);
- vorzeitige Vertragslösungen und damit zusammenhängende Faktoren (vgl. Greilinger 2013; Kemmler 2012; Kranert/Stein/Warmuth 2022; Rohrbach-Schmidt/Uhly 2015).
Die vorliegenden Studien deuten darauf hin, dass sich ein erheblicher Anteil von Auszubildenden als belastet einschätzt, vor allem hinsichtlich des erlebten Leistungs- und Zeitdrucks, aber auch bezogen auf das soziale Miteinander am Ausbildungsplatz (vgl. DGB 2020, 64ff.); dabei kann die wahrgenommene Lehr-Lernkultur an beiden dualen Lernorten in direkter Verbindung zum psychischen Wohlbefinden gesetzt werden (vgl. Dietzen et al. 2014, 15ff.; BiBB 2018, 103ff.). Bei eigenen Erhebungen der Autoren unter Berufsschüler*innen konnte ein Belastungserleben mittels Selbstauskunft in Höhe von etwa einem Viertel bis zu einem Drittel der Stichproben dokumentiert werden; es äußert sich in externalisierendem, noch stärker jedoch in internalisierendem Verhalten und Erleben (vgl. Stein/Kranert/Wagner 2016, 103ff.). Diese Aspekte können im Zusammenhang mit einer vorzeitigen Vertragslösung nochmals eine neue Qualität gewinnen (vgl. Rohrbach-Schmidt/Uhly 2015; Kranert/Stein/Warmuth 2022, 45ff.).
3.3 Phase 3 – Erwerbsarbeit
Im Hinblick auf die Teilhabe am Arbeitsleben erscheint das Phänomen psychischer Belastungen hingegen als sehr präsent. Ohlbrecht (2021) zeigt in einer historischen Retrospektive die Veränderungen in den Krankheitsbildern auf, die mit dem Erwerbsleben in Verbindung gebracht werden können. Hinsichtlich der sich aktuell entwickelnden Arbeit 4.0 identifiziert sie psychische Erkrankungen als (neue) zentrale Erkrankungsform mit klaren Verbindungen zur Arbeitssituation. Intensivierung von Arbeitsprozessen (vgl. Ahlers 2019), Verhinderungen in der Aneignung, also in geringer Verbundenheit mit dem beruflichen Aufgabenfeld bzw. mangelnder Wertschätzung, oder aber Erschwernisse der Abgrenzung, bedingt etwa durch zeitliche und räumliche Entgrenzung von Arbeitsprozessen (vgl. Voßwinkel 2017), können als markante auslösende Momente für psychisches Belastungserleben herausgestellt werden. Auf individueller Ebene kann dies mit Präsentismus am Arbeitsplatz (fortwährende Arbeitstätigkeit trotz Belastungserleben mit Krankheitswert) oder eben auch mit Absentismus beantwortet werden (vgl. Bode/Maurer/König 2017). Statistiken der Krankenkassen listen folgerichtig psychische Erkrankungen als häufigste bzw. zweithäufigste Ursache für Phasen der Arbeitsunfähigkeit auf (vgl. DAK 2021; Knieps/Pfaff 2021; TKK 2021).
Deutlich weniger im Fokus des (statistischen) Erkenntnisinteresses hingegen ist die Situation von Erwachsenen, die sich in Situationen jenseits von Erwerbsarbeit befinden; aber besonders hier zeigen sich psychische Belastungen auf Basis der Situation unter Umständen in besonderem Maße. So ist anzunehmen, dass einerseits das Vorliegen psychischer Erkrankungen das Risiko, erwerbslos zu werden, erhöht (Selektionshypothese). Andererseits wirkt sich Erwerbslosigkeit im Sinne einer Kausalitätshypothese negativ auf das Entstehen oder Intensivieren psychischer Erkrankungen aus (vgl. Mandemakers/Monden 2013; Paul/Zechmann 2019); zudem hält die Arbeitslosigkeit bei dieser Personengruppe länger an (vgl. Gühne/Riedle-Heller/Kupka 2020). Eine nähere Quantifizierung dieses Phänomens liegt jedoch bis dato nicht vor; einer aktuellen Studie zufolge ist jedoch bei Bezug von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) davon auszugehen, dass über ein Drittel der Anspruchsberechtigten eine entsprechende Belastung aufweist (vgl. Kupka/Gühne 2021). Zudem entfallen etwa die Hälfte der Anträge auf vorzeitigen Ruhestand auf psychische Erkrankungen (vgl. DRV 2018). Weiteren Schätzungen zufolge sind mehr als ein Drittel der betroffenen Erkrankten überhaupt nicht erwerbstätig (vgl. BMAS 2021). Auch Formen der „institutionellen Ersatzversorgung“ (Kranert 2020) wie etwa tagesstrukturierende Maßnahmen oder Werkstätten für behinderte Menschen verzeichnen eine erhöhte Nachfrage dieser Personengruppe (vgl. Jacobi et al. 2019). Für all diese Befunde sind komplexe, hinsichtlich ihrer wechselseitigen Kausalität wenig geklärte Interaktionen zwischen personbezogener Belastetheit und Belastungen aus der Lebenssituation heraus zu bedenken.
Dieser knappe Einblick in drei zentrale Phasen der Berufsbiografie belegt, dass psychische Belastungen einerseits als Querschnittsphänomen innerhalb einer biografischen Phase, zugleich aber auch als Längsschnittphänomen über einzelne Lebensabschnitte hinweg betrachtet werden können und müssen. Dabei sticht das Heranwachsendenalter als besonders vulnerable Gruppe für psychische Belastungen hervor. Jacobi et al. (vgl. 2014, 81f.) konstatieren für die Altersgruppe der 18- bis 34jährigen Erwachsenen eine Prävalenzrate klinisch relevanter, psychischer Störungsmomente von knapp 37 %, wobei Frauen im Vergleich noch höhere Raten aufweisen. Dies kann zu Beeinträchtigungen der Teilhabechancen allgemein, aber eben auch von beruflichen Bildungsprozessen führen.
Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Phänomen für die Gruppe der Auszubildenden im dualen System – immerhin ein Anteil von etwa einem Drittel einer Alterskohorte (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022, 166f.) – nicht stärker fokussiert wird, um u. a. in der berufs- bzw. wirtschaftspädagogischen Ausgestaltung entsprechender Bildungsgänge Berücksichtigung zu finden. Diese Forschungslücke wird daher im Folgenden anhand eines systematischen Literaturreviews aufgezeigt, um darauf aufbauend erste mögliche Konsequenzen für Forschung wie auch Bildungspraxis aufzuzeigen.
4 Psychische Belastungen im Kontext beruflicher Bildungsprozesse
Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik wie auch die Sonderpädagogik unternehmen zwischenzeitlich erste Annäherungen an das Themenfeld, vornehmlich auf Ebene der Lehrer*innenbildung (vgl. Elbert 2020; Heinrichs/Reinke/Ziegler 2018; Kranert/Stein 2017). Im pädagogischen Subsystem der Benachteiligtenförderung (vgl. Bojanowski et al. 2013) weist zumindest ein Teil der Zielgruppe vielfältige Belastungsfaktoren auf, die jedoch in den Konzepten der Jugendberufshilfe (vgl. Enggruber 2018), der sozialpädagogisch begleiteten Berufsausbildung (vgl. Krapf 2017) oder den Produktionsschulen (vgl. GSI 2013) nicht explizit als psychische Belastung im hier aufgezeigten Sinne aufgegriffen werden. Dies trifft umso mehr auf das weitere Handlungsfeld der Beruflichen Rehabilitation (vgl. Biermann 2008; 2015) zu, was umso mehr erstaunt, da die Personengruppe verstärkt Leistungen zur Teilhabe auf Seiten der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch nimmt (vgl. Reims et al. 2018; Tophoven/Reims/Tisch 2019) und in Folge dessen in den „traditionellen“ Institutionen wie Berufsbildungswerken (vgl. BAG BBW 2014b) oder Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM 2021) entsprechend steigende Zugangszahlen im Kontext psychischer Belastungen zu verzeichnen sind.
4.1 Zusammenfassung zum Forschungsstand
Eine systematische Analyse (vgl. Döring/Bortz 2016, 158ff.) der Datenbanken (vgl. FIS Bildung; PSYNDEX) bis in das Jahr 1990 zurück zu den Stichworten „Psychische Belastung“, „Psychische Störung“ bzw. „Psychische Erkrankung“ einerseits und „Berufsbildung“, „berufliche Bildung“ und „Berufliche Rehabilitation“ andererseits erbrachte 87 verwertbare Treffer. Hiervon befassen sich jedoch 40 Arbeiten mit der beruflichen Wiedereingliederung und 31 mit der Situation im Arbeitsleben; vier Treffer thematisieren präventive Momente in der Qualifizierung pädagogischer Fachkräfte. Lediglich 12 Arbeiten widmen sich dem hier zentralen Kontext: Diese wurden allesamt gesichtet und in folgende thematische Schwerpunkte kategorisiert:
- Belastungscharakteristika in einzelnen Berufen (vgl. Heinz et al. 1997);
- Erkennen von Belastungsmomenten (vgl. Holtmann/Kranert/Stein 2020; Kranert/Holtmann 2022; Stein et al. 2015);
- Belastungssituation von Zielgruppen (vgl. Gag 2013; Henkelmann 2014; Jacobs/Bunck 2000);
- Handlungskonzepte, vornehmlich bezogen auf einen institutionellen Rahmen (vgl. Baudisch/Bojanowski 2002; Baumgartner/Vogel 2004; Johnson/Klaes 2016; Krawetz/Liebisch 2014; Krug 2008; Sabatella/von Wyl 2019).
Etwas breiter aufgestellt sind die vorzufindenden Arbeiten, wenn ergänzend mit dem Themenfeld assoziierte Schlagworte wie „Verhaltensstörung“ bzw. „Verhaltensauffälligkeit“ und „Berufsbildung“, „berufliche Bildung“ und „Berufliche Rehabilitation“ in den benannten Datenbanken aufgerufen werden. Hier finden sich weitere 22 verwertbare Treffer zu folgenden Themenkreisen:
- Überblicksarbeiten im Kontext Verhaltensstörungen (vgl. Ahrbeck 2000; Brattig 2013; Calabrese 2017; Fischer 1999);
- empirische Untersuchungen zum Phänomen bzw. zu ausgewählten Aspekten (vgl. Albers/Bruns 2006; Enggruber/Rützel 2016; Kleffmann 1996; Koerhuis 2007; Thomas/Ferbar/Fuchs 2014; Watzke et al. 2006; Zäck 2012);
- übergreifende Handlungsstrategien (vgl. Angerhofer/Heilmann 2002; Galiläer/Ufholz 2016);
- Förderkonzepte zur Selbstregulation, Bindungserfahrung oder Individualisierung (vgl. Meshoul 2017; Gingelmaier/Illichmann/Schwarzer 2020; Zoyke 2013);
- Handreichungen für die Gestaltung pädagogischer Praxis (vgl. Schläger 1991; Schmidt 1994; Thonagel 1997; Winterhoff/Thielen 2010);
- Trainingsprogramme (vgl. Baumann 2016; Wilhelm 1999).
Werden hingegen einzelne Phänomene unter dem Aspekt von psychischen Belastungen betrachtet, lassen sich noch weitere, wenn auch nur sehr wenige einschlägige Studien auf Basis eines Schneeballverfahrens in der recherchierten Literatur identifizieren (vgl. Döring/Bortz 2016, 160). So geht beispielsweise Wolff (2013) von einer möglichen Erhöhung von Aggressionsproblematiken in Berufskollegs aus und diskutiert dies. Auf Basis einer Befragung von Berufsschülern in Stade sieht Baier (2010) Berufsschulen nicht als übermäßig delinquenzbelastet, wohl jedoch das Berufsvorbereitungs- und Berufsgrundbildungsjahr. In Berufsbildungswerken rücken hingegen auch Phänomene wie Autismus, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Impulsivitätsproblematiken, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Drogen und Sucht oder Essstörungen vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der Berufsbildungswerke 2014a). Im Kontext der Diskussion um eine verstärkt inklusive Ausrichtung des beruflichen Bildungssystems werden psychische Belastungen als eine Dimension im Kontext heterogener Lerngruppen angeführt, jedoch nicht dezidiert fokussiert (vgl. etwa Albrecht et al. 2014; Severing/Weiß 2014).
Auch hier ist wiederum aus einer interaktionistischen Perspektive zu berücksichtigen, dass die erhobenen Belastungen in zweierlei Hinsicht zu betrachten sind: zum einen auf Basis zuvor vorliegender psychischer Beeinträchtigungen junger Menschen, mit denen sie in Phasen der beruflichen Bildung hineingehen – zum anderen jedoch auch in Form von Belastungen, die in den Bildungsphasen entstehen, aus den Institutionen heraus sowie aus den an die Menschen gestellten Anforderungen. Hieraus ergibt sich die wechselseitige Interaktion zwischen Menschen und situativen Anforderungen, aus der wiederum das aktuelle konkrete Belastungserleben resultiert.
4.2 Konsequenzen für berufliche Bildungsangebote
Auf Basis des Forschungsüberblicks werden im Folgenden zentrale Konsequenzen für die Ausgestaltung beruflicher Bildungsangebote zur Kompensation bzw. zur Prävention von benachteiligenden Konstellationen entwickelt und forschungsbasiert diskutiert. Hierzu wird auf das zugrunde gelegte interaktionistische Modell psychischer Belastungen in seinen unterschiedlichen Facetten Bezug genommen (vgl. Abb. 1).
Zu bedenken ist, dass die jeweilige Qualität der Belastungen und Belastungsreaktionen (etwa Angstprobleme, Depressivität, Aggressivität, Abhängigkeit und Sucht) spezifische Handlungsansätze erfordert. Hier soll es um generelle Konsequenzen und Empfehlungen gehen, die grundsätzlichen Charakter haben; Abbildung 2 fasst diese zusammen.
Auf Basis der vorliegenden Prävalenz psychischer Belastungen im Kindes- und Jugendalter (vgl. Kap. 3.1) ist konsekutiv in den beruflichen Bildungsgängen der Sekundarstufe II von einer mindestens vergleichbaren quantitativen Dimension auszugehen (vgl. Holtmann/Kranert/Stein 2020; Kranert/Holtmann 2022). Dies ist von den pädagogischen Fachkräften als wesentlicher und zugleich eben nicht singulärer Bedingungsfaktor in beruflichen Bildungsprozessen zu berücksichtigen. In der Umsetzung können darauf aufbauend direkt personbezogene Konzepte und Maßnahmen eine große Bedeutung einnehmen, die sowohl an den Problemfeldern wie auch an den Potenzialen junger Menschen ansetzen. Dazu zählt das Spektrum gezielter Förderprogrammen und Trainings (vgl. Meshoul 2017; Gingelmaier et al. 2020; Sabatella/von Wyl 2019). Aber auch Konzepte einer berufsbezogenen Erziehung im Alltag beruflicher Bildungsprozesse geraten in den Fokus, einschließlich einer engen Beziehungsarbeit (vgl. Schelten 2013) sowie einen besonderen Schwerpunkt auf „schwierige“ Erziehungsarbeit angesichts psychischer Belastungen (vgl. Kranert/Stein 2020; auch Müller/Stein 2018; Speck 1997). Ergänzend sind bestehende Beratungsangebote hinsichtlich des Themenfeldes psychische Belastungen zu spezifizieren bzw. neu zu etablieren; Umsetzungsformen aus der Dropoutprävention könnten hierbei ideengebend sein (vgl. Ertelt/Frey 2012; Mahlberg-Wilson et al.2009).
Zugleich kommt das Arbeiten an den Belastungen in den Blick, die sich aus aktuellen Situationen und ihren Anforderungen ergeben: Damit verbundene besondere Belastungen, aber auch Provokationen, etwa im Arbeitsprozess sind zu erkennen, näher auszuloten sowie ihnen auf dieser Basis vorzubeugen bzw. sie da, wo sie schon aufgetreten sind, zu reduzieren. In der Sonderpädagogik findet sich dies insbesondere in der Diskussion über ein besonderes „Milieu“, wie es etwa Bettelheim in Chicago mit einer speziellen Schule für Kinder und Jugendliche mit massiven Verhaltensauffälligkeiten entwickelt hat (vgl. Krumenacker 1998, 202ff.). Ein Kernaspekt dieses Ansatzes ist eine besondere Schonraumorientierung. Insofern geht es hier um eine Gestaltung des Lernfeldes auf Einrichtungsebene, bei Schaffung von Situationen förderlichen Lernens aus den Anregungen sonderpädagogischer Didaktik und Lernfeldgestaltung (vgl. Stein/Stein 2020), auch im Hinblick auf gemeinsames und kooperatives Lernen (vgl. Borsch 2019). Hierzu gibt es im Hinblick auf heterogene Lerngruppen für den berufsschulischen Unterricht erste Überlegungen (vgl. Niethammer/Schweder 2018). Für die Berufliche Rehabilitation gilt im Hinblick auf den späteren Arbeitsmarkt, dass gerade ein solcher Schonraum hier bereitgestellt wird und funktional sein kann, zugleich jedoch immer als vorübergehend verstanden und sukzessive reduziert werden muss (vgl. Johnson/Klaes 2016; Krawetz/Liebisch 2014; Krug 2008).
Ein in engerem Sinne interaktionistisches Herangehen an der „Schnittstelle“ zwischen Person und Situation würde Auszubildende in ihrer Auseinandersetzung mit betrieblichen oder berufsschulischen Herausforderungen unterstützen. Dabei gäbe es drei Ansatzpunkte:
- die Schaffung und Bereitstellung jeweils individuell bewältigbarer situativer Herausforderungen – im Sinne einer adaptiven Lernumgebung;
- die Unterstützung der Weiterentwicklung belastungsbezogener Bewältigungspotenziale der Personen selbst, etwa, um Belastungen nicht vorschnell als eigene Überforderung zu erleben oder Aufgaben genau zu analysieren und gezielt nach eigenen Potenzialen zur Bewältigung zu suchen (letztlich wiederum eine „Arbeit an und mit der Person“);
- die Verfügbarkeit spezialisierten professionellen Personals wie etwa Sonderpädagog*innen zur Unterstützung, im Sinne einer vertieft verstehenden Haltung und einer entsprechenden Schulung bzw. Weiterbildung des Personals (vgl. Möckel 2007, 28).
Grundlage und Ziellinie dieser drei Ansatzpunkte ist die Erfassung der subjektiven Wahrnehmung der Menschen mit psychischen Belastungen im Hinblick auf eigenes Lernverhalten, aber auch soziales Handeln. Soweit dies nicht in der Fläche leistbar ist, sollte es dort gezielt angestrebt werden, wo es zu ernsthaften Problemen kommt. Hierzu finden sich jedoch im identifizierten Forschungsstand keine elaborierten Überlegungen.
Damit kommt die (professionelle) Wahrnehmung psychisch belasteter Menschen von außen in den Blick (vgl. Stein et al. 2015). Dies erfordert einerseits eine Sensibilisierung des Bildungspersonals, andererseits aber auch die Entwicklung pädagogisch ausgerichteter diagnostischer Verfahren, um insbesondere die Innensicht junger Menschen nachvollziehen zu können; ein erstes Instrument für den Einsatz in der dualen Ausbildung legt beispielsweise Holtmann (2022) vor. Ein Kernproblem stellen des Weiteren Prozesse der Etikettierung und Stigmatisierung dar. Gerade psychische Erkrankungen sind immer noch oft ein tabuisiertes Thema und ziehen negative Sichtweisen und Reaktionen nach sich. Um jungen Menschen auch mit erheblicher psychischer Belastung einen Platz in Betrieben wie auch beruflichen Schulen zu ermöglichen, bestehen verschiedene Ansatzpunkte: die Information über (bestimmte) psychische Störungen, die Identifikation von generellen Vorurteilen, aber auch von konkret stattfindenden Stigmatisierungsprozessen, deren Bewusstmachung und Aufdeckung sowie gemeinsame Bearbeitung, ggf. durch das professionelle Fachpersonal. Dieser Professionellen bedarf es auch, um aus einem advokatorischen Auftrag heraus für die Personengruppe bei Ausbildungsbetrieben und potenziellen Arbeitgebern einzustehen und um Verständnis zu „werben“, aber auch, um situative Belastungen zu erkennen und darauf aufmerksam zu machen (vgl. Johnson/Klaes 2016; Krug 2008).
Die „Immunisierung“ der Betroffenen selbst im Sinne des Aufbaus von Selbstbewusstsein, um mit solchen Vorgängen umgehen zu können, passt in diesen Reigen, repräsentiert allerdings im hier zugrunde gelegten Modell wiederum ein personbezogenes Ansetzen.
Auf einer übergeordneten Ebene ist eine Einbettung in ein umfassendes und theoriebasiertes Handlungskonzept dringend notwendig. In diesem Rahmen wäre zunächst ein Verständnis psychischer Belastungen im interaktionistischen Sinne Grund zu legen; eine erste Umsetzung hierzu findet sich beispielsweise bei Calabrese (2017), jedoch bezogen auf die Gruppe der „Menschen mit schweren Beeinträchtigungen“. In der Folge wären Förderkonzepte zu konzipieren und mit dem beruflichen Lernprozess zu verknüpfen (vgl. Fischer 1999). Hierin könnten neben der präventionsorientierten Modifikation ungünstiger situativer Bedingungen (unter Einbeziehung der Arbeitssicherheit) auch präventive wie interventive personbezogene Ansätze und Programme, gezielt und in einen breiteren Rahmen eingebettet, ihren Platz finden. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Personal- und Organisationsentwicklung wären nochmals gesondert zu beachten (vgl. Meshoul 2017).
5 Ausblick
Psychische Belastungen können – auch und hier in besonderem Maße – im Segment der beruflichen Bildung als bedeutsames Phänomen identifiziert werden. Die Forschungslandschaft präsentiert sich jedoch als dünn „besiedelt“. Erschwerend wirken hierbei unter Umständen differente Begrifflichkeiten, welche einen intra- bzw. interdisziplinären Austausch komplizieren. Der Bezug auf ein breit angelegtes Verständnis – wie vorstehend entwickelt – könnte hierzu ein Lösungsansatz sein. Je nach Intensität der Belastungen finden sich zwar bereits jetzt verschiedene Unterstützungssysteme, die sich – vornehmlich sozialrechtlich begründet – in unterschiedlichen professions- und institutionsbezogenen Kontexten wiederfinden; auch dies erschwert den fachlichen Austausch und damit die Entwicklung übergreifender Handlungskonzepte. Zudem präferieren bereits vorzufindende Förderansätze häufig einen stark personzentrierten Fokus, was vor dem Hintergrund eines interaktionistischen Verständnisses dem Phänomen nur zum Teil gerecht wird.
Daher ist es angezeigt, die Forschungsaktivitäten zu psychischen Belastungsmomenten im Feld der beruflichen Bildung deutlich zu intensivieren – insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen Vulnerabilität der Gruppe der Heranwachsenden; entsprechende Bemühungen mit Gruppen von Studierenden könnten hierfür Vorbild sein. Mögliche Forschungsansätze wären unter anderem
- die Analyse von Lehr-Lern-Settings, um situative Bedingungen besser erfassen und lernförderlich zu gestalten;
- das Erfassen des eigenen Erlebens von Heranwachsenden mit psychischen Belastungen an den verschiedenen Lernorten im Sinne einer interaktionistischen Perspektive;
- die Untersuchung von Einstellungen bei pädagogischen Fachkräften, aber auch bei Mitlernenden, um die Wirkungen von Vorurteilen, Stereotypen sowie Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozessen zu erhellen.
Auf Basis solcher vertiefenden Erkenntnisse wäre es in der beruflichen Bildungspraxis eher möglich, Präventions- wie auch Interventionskonzepte auf interaktionistischer Basis zu entwickeln und in die Bildungsgänge zu implementieren. Hierfür wäre es notwendig, ein theoriebasiertes und systematisches Handlungskonzept zu entwickeln, in welchem die Expertisen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen wie Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Arbeitspädagogik, Sonderpädagogik, aber auch Soziale Arbeit, Psychologie und Medizin integriert und zu Gunsten einer gelingenden (beruflichen) Lebensperspektive junger Menschen stärker miteinander verwoben werden.
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Kranert, H.-W./Stein, R. (2023): Psychische Belastungen in der Berufsbiografie – Konsequenzen für die berufliche Bildung. In: bwp@ Spezial PH-AT2: Diversität in der Berufsbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz – Perspektiven aus Forschung, Entwicklung und Bildungspraxis, hrsg. v. Albert, S./Heinrichs, K./Hotarek, I./Zenz, S., 1-22. Online: https://www.bwpat.de/spezial-ph-at2/kranert_stein_bwpat-ph-at2.pdf (19.04.2023).