Beitrag von Anke GROTLÜSCHEN & Eva-Christine KUBSCH (Universität Hamburg)
Der Beitrag greift ein Paradoxon auf, das zwischen den seit den 1970er Jahren kontinuierlich selektiven Teilnahmestrukturen einerseits und dem Anspruch beruflicher Weiterbildung als Chance der Integration und des Aufstiegs andererseits besteht. Berufliche Weiterbildung konkretisiert sich unter anderem in Aufstiegsfortbildungen mit IHK-Prüfung. Als konkreter Aufhänger des Beitrags dient die Frage nach dem tatsächlichen Interesse, das acht Teilnehmende an einer Aufstiegsfortbildung zum/r Handelsfachwirt/in und sieben Finanzbuchhalter/innen treibt, sich mit der jeweiligen Thematik zu befassen. Im Anschluss an ein von der DFG-gefördertes Vorprojekt zur Interessegenese wurden in einem zweijährigen Längsschnitt zu Beginn und nach Abschluss der Fortbildung videogestützte Interviews mit Teilnehmenden an eben solchen Fortbildungen durchgeführt. Bei der hier in den Fokus genommenen Zielgruppe werden zwar Aufstiegsabsichten und Jobchancen als auslösendes Element für die Teilnahme genannt. Nach fast zwei Jahren Fortbildung zeichnete sich bei keinem der Interviewpartner/innen eine konkrete Aufstiegsoption ab. Produziert die Aufstiegsfortbildung womöglich enttäuschte Erwartungen oder ist den Betroffenen diese Struktur implizit sogar bekannt? Kann man bei interessetheoretischer Herangehensweise tieferliegende, vermeintlich selbstbestimmte Interessen aufdecken, die genau genommen weder inhaltlich bestimmte Weiterbildungsinteressen noch Aufstiegs- oder Anpassungsinteressen darstellen? Mit Hilfe interessetheoretischer Zugriffe aus der Feldtheorie (Bourdieu) und dem Pragmatismus (Dewey) werden die Stadien der Interessegenese kategorisiert und in ihrer konkreten Manifestation im Längsschnitt ausgewertet.
Lack of interest in commercial further education and training for career progression
This paper examines a paradox which consists, on the one hand, of the continuously selective participation structures since the 1970s and, on the other, of the demands upon professional further education as an opportunity for integration and upward mobility. Professional further education and training takes the concrete form of, among other things, career progression further education courses with Chamber of Industry and Commerce examinations. The concrete starting point of the paper is the question of the actual interest which drives eight participants in a further education course to become commercial specialists and seven financial accounts specialists to deal with the corresponding themes. Following a DFG (German Research Council) sponsored initial project on the origins of interest a two-year longitudinal study is being carried out at the beginning of the course and at the end of the course, with video-supported interviews with participants in such courses. The target group that was the focus of the study named promotion prospects and job opportunities as the motivating elements for their participation. After almost two years of further education and training there was no prospect of a concrete promotion opportunity for any of the interviewees. Does the progression further education and training possibly produce expectations that are then disappointed, or are those affected even implicitly aware of this structure? Can one, using an interest-theoretical approach, find supposedly self-determined interests which, on closer examination, present neither content-determined further education interests nor promotion or adjustment interests? With the help of interest-theoretical approaches from field theory (Bourdieu) and pragmatism (Dewey), the stages of the origins of interest are categorised and analysed longitudinally in their concrete manifestation.
Bei der Untergliederung Beruflicher Weiterbildung „hat sich in der beruflichen Weiterbildungsforschung eine Differenzierung in drei Segmente durchgesetzt, die unter den Aspekten von Finanzierung, Regulierung von Weiterbildungszielen und Zugang erfolgt“ (BÜCHTER 2008, 151). Mit dieser Segmentierung werden erstens betriebliche Weiterbildung, zweitens arbeitsmarktbezogene Weiterbildung und drittens individuelle berufliche Weiterbildung unterschieden. Letztere charakterisiert BÜCHTER hinsichtlich der aufzubringenden Ressourcen und der Verantwortlichkeiten wie folgt: „Unternehmen Personen selber auf eigene Kosten und in der Freizeit die Verantwortung für ihre Weiterbildung, ist von individueller beruflicher Weiterbildung die Rede“ (BÜCHTER 2008, 153). Diese Charakterisierung ist nicht trivial, denn die Ressourcen sind gesellschaftlich ungleich verteilt. Zur individuellen beruflichen Weiterbildung, so fasst BÜCHTER eine Reihe von Studien zusammen, sei eine hohe Nutzenerwartung notwendig. Die bei BÜCHTER aggregierten Erhebungen lassen dabei offen, wie sie den Begriff des Nutzens theoretisch ausdifferenzieren.
Konsequent wird der Nutzenbegriff nunmehr in einer jüngeren Studie von Bernhard SCHMIDT ausgebaut, der ihn an die Rational-Choice-Theorie und die drei Kapitalformen Humankapital, soziales Kapital und Identitätskapital nach Schuller bindet (vgl. SCHMIDT 2009, 177). Dabei wird zwar besonders kritisch mit dem Kapital-Modell umgegangen, jedoch wird es weiterhin als tragend verstanden. Kernaussage bleibt dann, dass Nutzenerwartungen entscheidend sind für die Teilnahme oder Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung.
Unseres Erachtens unterschlägt dieser Zugang jedoch, dass Nutzen und Kapitalzugewinn nicht immer bewusst individuell abgewogen werden können, wie sich entlang der empirischen Analyse zeigen wird. Vielmehr stützen die Daten die These, dass sich die Handelnden gelegentlich auch selbst täuschen, um ihre subjektiv wahrgenommene Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit zu behaupten. Der Kernbegriff ist bei so verstandener Datenanalyse nicht mehr der Nutzen, der begrifflich eng mit dem Utilitarismus konnotiert ist.
Vielmehr scheint die Theorie des Interesses einen anderen Blick auf das Material zu erlauben. Interesse ist – so sei vorläufig bereits angemerkt – eingespannt zwischen Gesellschaftsstruktur, Kollektiv und Individuum. Die ersten beiden müssen dem Individuum nicht bewusst sein. Das Individuum seinerseits generiert Interesse aufgrund vorangegangener Erfahrung und im Hinblick auf die antizipierten Handlungsspielräume. Bei Divergenzen zwischen gesellschaftlichen Rahmungen und der Interessen der Individuen kommt es entweder zur bewussten Abwägung der besten Handlung – oder zu widerständigem Handeln. Widerständigkeit ist dabei charakterisiert durch die nicht bewusst erkannten Konflikte zwischen individuellem Wollen und strukturellen Rahmungen. Zentrales Thema der hier vorgestellten Auseinandersetzung ist dabei die Frage nach der Interessegenese bezüglich der Weiterbildungsinhalte: Wie interessiert sind die Teilnehmenden zu Beginn einer Aufstiegsfortbildung und bauen sie dieses Interesse im Laufe der knapp zweijährigen Fortbildung aus? Können sie den angestrebten Aufstieg realisieren und wenn nein, wie verändert sich ihr Interesse daran?
Die Inhalte der Fortbildung – hier zum/zur Finanzfachwirt/in und zum Handelsfachwirt/in - stehen in genuinem Zusammenhang mit dem jeweiligen Beruf. Es wird sich zeigen, dass die fachlichen Interessen am Beruf kaum eine Rolle spielen, sondern dass diese hinter die Aufstiegs- oder Verdienstmöglichkeiten zurücktreten. Werden diese enttäuscht, bleibt das Interesse aus noch zu diskutierenden Gründen trotzdem bestehen – zumindest vordergründig.
Zur Frage der Interessen im Bereich Bildung und Beruf wurde jedoch noch vor wenigen Jahrzehnten ein eher auf horizontale Zusammenschlüsse gerichteter Diskurs geführt. Hier ging es primär um Interessenkonflikte struktureller Art. Am Beispiel der Berufsbildung hat Peter FAULSTICH die Reformphase des Berufsbildungsgesetzes in den Jahren 1969 bis 1976 analysiert (vgl. FAULSTICH 1977). Die Perspektive richtet sich auf die kollektiven Interessen der ausbildenden Unternehmen, die im Widerspruch zu kollektiven Interessen der jugendlichen Auszubildenden stehen. Dokumentiert wird vor allem, wie diese Interessengruppen auf die parlamentarische Gesetzgebung Einfluss nehmen. FAULSTICH moniert, dass die Unternehmen ihre Interessen weithin durchsetzen, während das reformierte BBiG den von Arbeitslosigkeit und Ausbildungsplatzmangel bedrohten Jugendlichen weitaus weniger Schutz bietet, als die Gewerkschaften gefordert hätten.
Dreißig Jahre später diskutiert Rita MEYER ihrerseits die betriebliche Weiterbildung außerhalb der – nach FAULSTICH ohnehin unzulänglichen - staatlichen Schutzmechanismen der Erstausbildung. Der Versuch der Regulierung der IT-Weiterbildungen führt in die „Herausforderung an die Berufsbildung […] zwischen ökonomischen Marktzwängen und individuellen Lernchancen zu vermitteln“ (MEYER 2005, 8). Der Berufsbildungspolitik kommt erneut die Aufgabe zu, institutionelle Rahmenbedingungen zu stellen, während laut MEYER den Betrieben die Gestaltung lernförderlicher Arbeitsformen obliegt. Auch wenn der jüngere Diskurs etwas an kapitalismuskritischer Wucht verloren hat, zeigt sich doch ein Blick auf strukturelle Interessenwidersprüche. Diese zwei Ansätze zeigen stellvertretend für viele andere, dass Interessen nicht isoliert individuell entstehen und vergehen, sondern dass sie innerhalb gesellschaftlich ungleich verteilter Ressourcen zu interpretieren sind.
Die parallel geführte Diskussion über Bildungsteilnahme folgt dieser Perspektive nur selten. Hier geht es – zugespitzt – eher um höhere Motivation und Eigenaktivität der Individuen, wie sie der Innovationskreis Weiterbildung 2008 reklamiert (BMBF 2008). Die Begrifflichkeit von Motiven (ROSENBLADT et al. 2008), Weiterbildungsinteressen (BARZ et al. 2004) oder Bildungsinteressen (SCHMIDT 2006) korrespondiert nicht mehr mit den frühen Studien zum Bildungsinteresse des großstädtischen Proletariats (GROßE 1932) oder der Geistigen Gestalt des marxistischen Arbeiters (HERMES 1926). Dieser Diskurs weist aber bereits auf Widersprüche hin, die Horst Siebert bezüglich politischer Bildung deutlich auf den Punkt bringt:
"Die Besorgnis über das politische Desinteresse und die geringe politische Lernmotivation sind fester Bestandteil des Selbstverständnisses der neuzeitlichen Erwachsenenbildung. Vor allem äußerten sich viele Sozialwissenschaftler besorgt über die politische Apathie der Arbeiterschaft, die doch einen besonderen Grund hatte, ihre sozioökonomische Lage zu verbessern" (SIEBERT 2006, 74f.).
Was für die politische Bildung gilt, gilt für die berufliche Bildung nicht weniger: Dies pointiert Brechts berühmte Dreigroschenoper-Songzeile „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, insofern wäre zumindest theoretisch davon auszugehen, dass zunächst einmal die materielle Lage stimmen müsste, bevor sich das politische Engagement entfalten könnte. Gehen wir einmal – zugegebenermaßen gewagt – davon aus, dass das bei beruflich etablierten Kaufleuten die materielle Lage einigermaßen stabil sei, müsste die hier ansetzende berufliche Aufstiegsfortbildung also zu einer fachlichen und vielleicht sogar fachübergreifenden Interesseentwicklung führen, bei der von den Teilnehmenden zu guter Letzt möglicherweise auch Interessenkonflikte der Tarifparteien oder anderer gesellschaftlicher Gruppen erkannt werden.
Wie wir an anderer Stelle tabellarisch zusammengestellt haben, changieren die Begrifflichkeiten der Teilnehmenden- und Adressatenforschung erheblich (vgl. GROTLÜSCHEN/ KRÄMER 2009b). Daher konzentrieren wir uns nunmehr ausschließlich auf den Begriff des Interesses, den es zunächst einmal zu diskutieren gilt.
Nach einer vor knapp hundert Jahren dominanten kapitalismuskritischen Interessenbegrifflichkeit, die das individuelle Interesse zunächst einmal unterstellt und der in jüngerer Zeit andererseits eher auf das Individuum orientierten Interessebegrifflichkeit, die gesellschaftliche Rahmungen vernachlässigt, scheint uns eine theoretische Rückbindung des Begriffs notwendig. Wir nutzen dabei weder den Marxismus, der Gertrud HERMES seinerzeit leitete, noch das Schuller’sche Kapital-Modell, das Bernhard SCHMIDT diskutiert. Vielmehr gehen wir vom Interessebegriff in der pädagogischen Diskussion zurück bis zu einem zentralen Ausgangspunkt bei John DEWEY, der 1913 mit dem Band „Interest and Effort in Education“ seine Theorie des Interesses notierte und darin auch Hinweise auf die Genese von Interesse im Prozess aufeinander folgender Handlungen gibt. Andererseits nutzen wir die theoretische Inspirationsquelle der jüngeren Adressatenforschung, nämlich die Habitustheorie und den darin bemerkenswert ausdifferenzierten Begriff des Interesses als gesellschaftliche Beteiligung. Damit ist die begriffliche Kontroverse sicherlich nicht abgeschlossen, aber vielleicht etwas weiter vorangetrieben.
Der amerikanische Pragmatist und Reformpädagoge John DEWEY befasste sich früh mit der Problematik des Interesses und formuliert am Anfang des letzten Jahrhunderts in einer kleinen Abhandlung mit dem Titel „Interest and Effort in Education“:
“Interest is personal; it signifies a direct concern, a recognition of something at stake, something whose outcome is important for the individual” (DEWEY 1913, 16).
Damit bringt DEWEY zum Ausdruck, dass im Verhältnis von Individuum und Gegenstand etwas auf dem Spiel steht (to be at stake). Es handelt sich um etwas, dass von der Person selbst mit Bedeutung versehen wird. DEWEY erläutert weiter, dass diese Bedeutung nicht allein in der Person oder der Sache liegt, sondern im Prozess der aufeinander folgenden Handlungen (pragma): Die vergangene Erfahrung hat Bedeutung für das Gegenwärtige. Auch die in der Zukunft antizipierte, angestrebte Handlung verleiht der gegenwärtigen Auswahl ihre Bedeutung. Es handelt sich deshalb um eine Handlungsabfolge, die als Prozess zu betrachten ist. Die Prozesslogik der Handlungsverkettung ist kennzeichnend für DEWEYs Spielart des amerikanischen Pragmatismus. Diese pragmatistische Perspektive, die dem Geschehen eine Zeitachse verleiht, ist für den Interessebegriff bedeutsam, weil sie die Interessegenese als unabschließbaren Prozess betrachtet. Interessen erscheinen im Rückblick oft stabil, weil ihre Genese und Veränderung eher träge von statten geht. Interesseträgheit stellt jedoch keine Unveränderlichkeit oder Festlegung auf kindliche oder jugendliche Interessethemen dar.
Mit der Prozessdimension DEWEYs wird deutlich, dass man Interesse nicht statisch fassen kann. Allerdings legt DEWEY einen deutlichen Fokus auf das individuelle Handeln, so als sei jedem Individuum jegliches Interessethema gleichermaßen zugänglich. Eine solchermaßen idealisierte egalitäre Position ist jedoch nicht überzeugend, sofern man ungleiche materielle Verteilungen in einer Gesellschaft unterstellt.
Bemerkenswert ist bei DEWEY s Ausspruch das Erkennen (recognition) dessen, was auf dem Spiel steht, bzw. bei etwas freierer Übersetzung: Die Anerkennung des zu Gewinnenden als wichtig und bedeutsam. Diese Perspektive findet sich später bei BOURDIEU wieder.
Aus der Perspektive des französischen Soziologen Pierre BOURDIEU steht Interesse aber innerhalb einer Gesellschaft und ihren ‚Spielen‘. In dieser Gesellschaft sind Ressourcen ungleich akkumuliert. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die handelnde Person nicht allen Interessegegenständen begegnen kann, sondern nur denen, die die jeweilige sozioökonomische Lage bereithält und die mit dem sozioökonomisch strukturierten Habitus als interessant klassifiziert werden können. Dabei werden die Korridore der Begegnung von der handelnden Person als Zufall erfahren, weil aus ihrer Perspektive die Struktur der Begegnung nicht erkannt wird: Es ist eben kein Zufall, ob man innerfamiliär eher Rassehunden oder Promenadenmischungen begegnet – und auch nicht, welchem von beiden man Interesse entgegenbringt. Somit sind Interessen sozial strukturiert und ungleich verteilt.
BOURDIEU formuliert ‚Interesse‘ nicht als individuelle Vorliebe für ein Thema, sondern als eine Angelegenheit, die im Interesse der handelnden Person beeinflussbar ist. Hier geht es also um die Beteiligung an einem Feld, und zwar gewollt oder ungewollt. BOURDIEU spricht also nicht von Interesse als Betroffenheit (concern) durch ein Thema, sondern formuliert Existenz- und Gruppeninteressen innerhalb konfligierender Parteien im jeweiligen Feld. Dabei sind Interessen nicht immer gewählt, manche Konflikte werden auch von Dritten angetragen und nötigen die Betroffenen, ihre somit bedrohten Interessen zur Geltung zu bringen und gegen Einschränkungen zu verteidigen.
„Ein Interesse haben heißt, einem bestimmten sozialen Spiel zugestehen, dass das, was in ihm geschieht, einen Sinn hat, und dass das, was bei ihm auf dem Spiel steht, wichtig und erstrebenswert ist.“ (BOURDIEU/ WACQUANT 1996, 148).
Auch hier wird von einem Spiel gesprochen, bei dem etwas als spielenswert anerkannt wird und der Gewinn eine Bedeutung für den Handelnden hat. BOURDIEU bezeichnet das auslösende Moment allerdings nicht als direkte Betroffenheit (concern), sondern zieht die Ebene des sozialen Spiels ein. Damit wird deutlich, dass solche Spiele aus strukturalistisch beeinflusster Sicht immer hinsichtlich offensichtlicher und weniger offensichtlicher Ziele interpretiert werden können.
Die Anerkennung dessen, was auf dem Spiel steht, mag aus individueller Perspektive Interesse auslösen. Aus kollektiver Perspektive geht es jedoch auch dann um das Gruppeninteresse, z. B. um Distinktionsinteressen oder Durchsetzungsinteressen sozialer Schichten, wenn es dem einzelnen Gruppenmitglied nicht bewusst ist oder wenn das einzelne Gruppenmitglied anderer Meinung wäre.
Der von Pierre BOURDIEU 1996 bevorzugte Begriff Illusio, das imaginative Element des BOURDIEU‘schen Interessebegriffs, verweist auf die Vorstellungskraft, die nötig ist, um ein Spiel mit seinen Folgen zu erkennen und ihm in Konkurrenz zu anderen Interessegebieten den Vorzug zu geben. Problematisch ist u. E. daran allerdings die scheinbar spielerische, imaginäre Konnotation, die den existenziellen und konflikthaften Ernst der umkämpften Lebensbereiche nicht sehr gut zum Ausdruck bringt. Bezogen auf die Interessegenese im Bereich beruflicher Bildung erlaubt der BOURDIEU‘sche Begriff jedoch vor allem die Revitalisierung des konflikthaften Anteils von Interesse – ausgedrückt als struktureller Interessenkonflikt.
Aus den hier nur sehr holzschnittartig wieder gegebenen theoretischen Rahmungen entstand in einer Reihe von empirischen Analysen eine Ausdifferenzierung der oben kurz angerissenen Theoreme. Wir wiederholen sie hier jedoch nur in den für das Verständnis unabdingbaren Zusammenhängen und verweisen bei empirisch begründeten Aussagen jeweils auf den Publikationsort der zugrundeliegenden Teilstudien.
Zunächst wird der forschende Blick vom Interesse als Zustand weiterentwickelt zum Blick auf Interesse als Prozess. Das hat zur Folge, dass ein Modell der Interessegenese entsteht, innerhalb dessen spezifische Phasen ausdifferenziert sind. Zweitens entsteht ein Modell der Interessegenese, das die Auseinandersetzung zwischen Interessenlagen in den jeweiligen sozialen Spielen als Konflikt gegenüber den Interessen des handelnden Subjekts unterscheidet. Diese zwei Differenzierungsachsen sind Ergebnis einer Studie mit 85 Kurzerzählungen junger Erwachsener (vgl. GROTLÜSCHEN 2010). Da es sich überwiegend um Studierende handelte, wurde die Studie ergänzt um Erwachsene der wissenschaftlichen Weiterbildung (WWB). Beides spielte sich im akademischen Milieu ab, ergo folgte eine Kontrastierung im Bereich der arbeitsmarktpolitischen Weiterbildung, hier mit Migrantinnen (MWB), die Ergebnisse sind an anderer Stelle publiziert (vgl. GROTLÜSCHEN/ KRÄMER 2009b; GROTLÜSCHEN/ KRÄMER 2009a). Insgesamt schienen die auf Weiterbildung bezogenen Interesseanalysen jedoch alle zu kurzfristig angelegt, um zu belastbaren Schlussfolgerungen zu gelangen, ergo wurden mehrjährige Fortbildungen als Kontrast herangezogen (FWB und HWB). Auf Basis der 2009 abgeschlossenen und bisher nicht publizierten Abschlussbefragungen dieser Kohorte stellen wir nunmehr einige weitere Schlussfolgerungen zur Diskussion.
Die Genese von Interesse lässt sich über alle diese Kohorten hinweg in Phasen beschreiben, die mit einer ersten Berührung (B) mit dem Gegenstand beginnen. Dabei ist es nicht nur Zufall, welche Gegenstände dem handelnden Subjekt begegnen, weil genau hierin die gesellschaftliche Schichtung mit ihrem Ausdruck als schichtspezifischer Habitus zum Tragen kommt. Es ist daher logisch, dass den hier betrachteten Kaufleuten keine künstlerischen oder musischen Angebote über den Weg laufen, sondern eben kaufmännische Weiterbildungen. Nach solchen Berührungen geht das Interesse in eine Latenzphase über, in der vor allem Pausen eintreten oder potenzielle Interessen auch wieder fallen gelassen werden. Diesem folgt im positiven Falle eine Expansionsphase, in der typischerweise Spezialisierungen und Vertiefungen eintreten. Nicht zu unterschätzen ist zudem die Verallgemeinerung, die dazu führt, unmittelbar Relevantes in größerem Zusammenhang zu sehen.
Abb. 1: Phasen der Interessegenese auf der pragmatischen Achse des Interessebegriffs
Es folgt möglicherweise die Kompetenzphase, die sich durch Positionierung und Parteinahme, durch Vernetzung mit Gleichgesinnten sowie durch detailreiches Wissen und besonders durch thematische Fragestellungen auszeichnet. Die Distanzphase (D) tritt selten freiwillig ein, sondern wird oft mit Bedauern geschildert, in der Regel bleibt bei ehemals aktiven Interessen auch eine Art passiven Interesses erhalten, beispielsweise beim Sport. Dies Phasenmodell steht insgesamt in einer Zeitachse von biographischen Erfahrungen und subjektiv antizipierten Handlungsmöglichkeiten und entsprechenden Aspirationen. Bezogen auf die Interessegenese an kaufmännischer Aufstiegsfortbildung steht die Interessegenese somit auf den Füßen einer kaufmännischen Ausbildung und Berufserfahrung einerseits und ist gerichtet auf zukünftige Handlungsräume, die es noch aufzuschlüsseln gilt. Dominant ist jedoch die Hoffnung auf einen beruflichen Aufstieg. Diese geben einem Thema Relevanz.
Interessengebiete stehen zwischen den Wünschen der umgebenden Gesellschaft und den Relevanzzuschreibungen der Individuen. Auftretende Gebiete werden daher entweder akzeptiert oder auch ignoriert bzw. zurückgewiesen. Diese Akzeptanz kann lakonisch oder resigniert sein, sie kann als aktiver Aushandlungsprozess oder auch völlig unreflektiert verlaufen.
Abb. 2: Spannungen der Interessegenese auf der habituellen Achse des Interessebegriffs
Nichtsdestotrotz steht die Akzeptanz eines Interessengebiets als persönlich relevantes Gebiet auch auf den Füßen einer biografisch aufgeschichteten Relevanzstruktur. Diese ist im handelnden Menschen verdichtet, verkrümmt und verfestigt, sie enthält sowohl rationale Argumente als auch affinitive Zuwendungen zu einem potenziellen Interessengebiet oder Aversionen gegenüber anderen Interessengebieten.
Unsere vorangegangenen Untersuchungen zeigten vor allem, dass offensichtlich bereits beim Eintritt in eine individuelle berufliche Weiterbildung ein sehr hohes Interesse vorliegt. Das lässt sich aufgrund zweier Annäherungen erkennen, nämlich dem quantitativen Fragebogen Weiterbildungsinteresse[1] und den qualitativen Längsschnittbefragungen mit Teilnehmenden der Wissenschaftlichen Weiterbildung (WWB) und der arbeitsmarktpolitischen Weiterbildung für Migrant/innen (MWB). Außer der Gruppe, die unfreiwillig an Weiterbildung teilnimmt (MWB), findet sich bei allen Befragten ein Wert von über 2 auf einer Skala von 0-3. Nimmt man die Operationalisierung von Interesse im FSI und FSI-W als geeignet an, weisen diese Daten auf ein besonders hohes Interesse vor Kurseinstieg hin. Die individuell finanzierte und verantwortete Weiterbildung weist dabei deutlich höhere Mittelwerte auf als die arbeitsmarktpolitische Maßnahme MWB (1,82). Die Zusammenstellung der Befragten erfolgte dabei nach Feldzugänglichkeit, sie ist nicht repräsentativ angelegt, sondern möglichst breit variiert. Insgesamt wurden 90 Personen befragt. Die in diesem Aufsatz genauer referierten Befragungsergebnisse betreffen die Kaufleute in Aufstiegsfortbildungen zum/ zur Finanzfachwirt/in (FWB) und Handelsfachwirt/in (HWB).
Interessanterweise ist das Eingangsinteresse bei der Gruppe FWB am höchsten. Es handelt sich überwiegend um Kaufleute aus den Buchhaltungsabteilungen ihrer Betriebe, die einem eher wenig prestigeträchtigen und durch Routineabläufe geprägten Beruf nachgehen. Die an anderer Stelle analysierten Bewegungen zwischen Eingangs- und Ausgangsbefragungen zeigen weiterhin, dass das Interesse tendenziell auch auf diesem hohen Einstiegsniveau bleibt (vgl. GROTLÜSCHEN 2010). Das ist zunächst als Stagnation zu bezeichnen und nicht theoriekonform – schließlich sollte das Interesse mit zunehmender Beschäftigung mit dem Gegenstand eher steigen – jedoch handelt es sich immerhin um eine Stagnation auf hohem Niveau. Die qualitativen Daten der bisherigen Erhebungen führten zur Formulierung einer ‚Interesseträgheit‘, die sich in individuell verantworteter Weiterbildung durchaus zeigt. Problematisch wird es, wenn im Verlauf der Weiterbildung und möglicherweise wegen spezifischer Weichenstellungen einer Weiterbildung das Interesse einzelner konsequent nachlässt. Die Begründungen für sinkende Interessen sind bisher offen. Der personenbezogene Datenvergleich zeigt jedoch deutlich, dass es nicht nur ansteigende, sondern auch sinkende Interessenwerte auf den Skalen des FSI-W gibt.
Abb. 3: Veränderungen nach Person: Interesseintensität FSI-W
Aus dieser sowohl qualitativ als auch quantitativ vorgefundenen Datenlage hatten wir die These abgeleitet, dass in weniger interessanten und teuren Themenfeldern und bei längerfristiger Entwicklung ein niedrigeres Eingangsinteresse und eine positiv verlaufende Interessegenese erkennbar sein müsste. Diese These hat für die Variation des Samples zur Folge, in kaufmännischen Aufstiegsfortbildungen zu forschen und einen mit eineinhalb Jahren deutlich längeren Längsschnitt zu wählen (die WWB-Befragungen liegen nur ein Vierteljahr auseinander).
Wir haben bewusst Themen gewählt, die auf den ersten Blick nicht unmittelbar interessant erscheinen, speziell die Finanzbuchhaltung. Die These, dass wir dort Personen vorfinden, die nicht so ein hohes Ausgangsinteresse mitbringen und erst im Laufe der Weiterbildung ein fachliches Interesse generieren, hat sich jedoch nicht bestätigt: Die Interessewerte von FWB (2,17) und HWB (2,10) sind gleich hoch oder sogar höher als die Werte der zwei Wissenschaftlichen Weiterbildungen (2,10 und 2,07). Die Befragten bringen somit – sofern man weiterhin den FSI-W für geeignet hält, dies auszudrücken – ein eher hohes Interesse an ihrer Weiterbildung mit. Fragt man sie, warum das so ist, werden fast durchgehend Aufstiegshoffnungen genannt. Eineinhalb Jahre später[2] sind jedoch lediglich zwei horizontale Arbeitgeberwechsel eingetreten, während von realisierten Aufstiegen nicht die Rede sein kann. Die Daten sind mit etwas zeitgenössischer Vorsicht zu beurteilen, weil möglicherweise Effekte der Finanzkrise eine Rolle spielen. Daher ist der gebremste Aufstieg auch nicht das zentrale Ergebnis der Erhebung, sondern die Frage, wie und warum es den Teilnehmenden vor sich selbst gelingt, ihr Interesse weiterhin zu postulieren, obwohl es offensichtlich nicht auf individueller Ebene durchsetzbar ist. In keinem der Interviews ist eine Erklärung zu finden, die auf strukturelle Zusammenhänge deutet. Vielmehr werden die Erfahrungen individualisiert ausgewertet. Das heißt, die Befragten glauben möglicherweise ungebrochen an das bürgerliche Leistungsprinzip, nachdem derjenige aufsteigt, der sich hinreichend durch Leistung hervortut und durch Bildungsanstrengungen qualifiziert.
Tabelle 1: Tabelle: Enttäuschte Aufstiegshoffnungen. Originalzitate sind in Anführungszeichen gesetzt. Zusammenfassungen folgen der Ausdrucksweise der Interviewten (in vivo). Datenbasis: Vollständige Datenpaare der Befragungen HWB und FWB.
Aufstiegshoffnung | Interesse am Aufstieg (lt. Eingangsinterview zu Beginn der Weiterbildung 2008) | Realisierter Aufstieg (lt. Ausgangsinterview am Ende der Weiterbildung nach eineinhalb Jahren 2009) |
P1 FWB | „Es geht schon darum, auch mal eine Stufe weiterzukommen beruflich“ | „Das war betriebsbedingt, dass mir da gekündigt wurde“ |
P2 FWB | Prämie bekommen für Leistung, beruflich weiterkommen | „In meiner eigenen Firma wahrscheinlich nicht (…) da muss ich halt woanders hingehen“ |
P3 FWB | Aufstieg | „effektiv für mich, allein, um nicht zu verblöden zu Hause (mit Kind, AG)“ |
P4 FWB | Zertifikatserwerb für den Aufstieg | Unverändert, aber: „Ich bin immer noch der Meinung, ähem, ich habe das Richtige gemacht…“ |
P5 FWB | Aufstieg | „Ich denke mal nicht bei meinem jetzigen Arbeitgeber, aber bestimmt irgendwo anders.“ |
P6 FWB | Zertifikatserwerb, um sich bewerben zu können | Neuen Arbeitsplatz während der Kursdauer gefunden |
P7 FWB | Beruflich weiterkommen | „In dieser Zeit, wo ich den Kurs angefangen habe, hab ich natürlich mich schon parallel beworben, unter anderem ähm als Buchhalterin hier in dieser Steuerberatergesellschaft und konnte dort - glücklicherweise – anfangen auch ohne diesen Schein und mit diesen Erfahrungen halt, die ich so darlegen konnte.“ Neuen Arbeitsplatz während der Kursdauer gefunden |
P1 HWB | Spontan, gute Ergänzung zum Job | Durch Weiterbildung kommt man weiter – P1 ist jedoch nach wie vor normaler Verkäufer |
P2 HWB | Aufstiegschancen, will führende Position erreichen | (Ziel)„...die Qualifikation letztendlich im Beruf, die man eventuell noch nicht sofort verwirklichen kann, aber dann dass man die Qualifikation hat und aufbauend für (weitere) gegebene Weiterbildungsmaßnahmen.“ |
P3 HWB | Beruflich weiterkommen, Richtung finden | Richtung gefunden (Marketing) |
Die Dimension, die hier als erste diskutiert wird, fragt nach dem Verhältnis von sozio-ökonomischer Lage einerseits und der Akzeptanz solcher Rahmungen im Wege subjektiver Relevanzzusschreibung andererseits.
Dabei setzen wir voraus, dass ein Mensch nur mit jenen Gebieten in Berührung kommen kann, die die jeweilige Umwelt – einschließlich Film und Fiktion – anbietet. Weiterhin unterstellen wir mit Bourdieus Habitustheorie (vgl. BOURDIEU 1982), dass nur diejenigen potenziellen Interessen akzeptiert werden, die mithilfe des Habitus positiv klassifiziert werden. Nur dann gibt man sich der jeweiligen Illusion hin, akzeptiert die zu erreichenden Zugehörigkeits- oder Distinktionsgewinne als erstrebenswert, begreift, achtet oder bricht die Regeln des jeweiligen sozialen Spiels und ist nicht mehr unbeteiligt, sondern involviert (vgl. BOURDIEU/ WACQUANT 1996 (dt EA); 1992 (frz).
Die drei Phasen der Interessegenese weisen, so die These, unterschiedliche Verhältnisse zwischen Welt und Subjekt auf. Diese in einer größeren Erhebung theoretisch und empirisch rekonstruierten Kategorien und ihre Charakteristika (vgl. GROTLÜSCHEN 2010) dienen hier als Raster, mit dem Besonderheiten des Teilsamples HWB und FWB offen gelegt werden können.
Die Phasen der Latenz, Expansion und Kompetenz zeigen hierbei unterschiedliche Typiken. In einer Latenzphase des Interesses ist es typisch, die Berührungen mit dem Gegenstand und die Einflüsse Dritter eher zu vergessen und als Zufall zu deklarieren. In der Expansionsphase konzentriert sich das handelnde Subjekt so auf sich selbst, dass es Einflüsse schlicht negiert und die Handlungen sich selbst zuschreibt. In der Kompetenzphase werden Einflüsse reflektiert berichtet oder es wird aktiv Einfluss auf die Umgebung genommen. Unter diesen drei Varianten tauchte nur eine auf.
Die in der Eingangsbefragung berichteten Wege zur FWB und HWB werden allesamt als Zufall, Hängenbleiben, Automatik, Spontaneität oder als Anschluss an das Kollegium berichtet. Das weist einerseits darauf hin, dass die befragten Kaufleute sich noch in einer Latenzphase der Interessegenese befinden. Andererseits zeigt es erneut sehr deutlich, dass diese Menschen sich denjenigen Aufgaben zuwenden, die ihnen offen stehen. Anders als bei der Kohorte Studierender, die von Freizeitinteressen berichten, hat hier niemand um seine Position in der Buchhaltung, als Schifffahrts- oder Außenhandelskaufmann bzw. –frau gekämpft. Während junge Frauen Himmel und Hölle in Bewegung setzen können, um zu einem eigenen Pferd zu kommen (vgl. GROTLÜSCHEN 2010), ist die hier gezeigte Interesseintensität deutlich gebremst. Das ist nicht verwunderlich, jedoch zeigt es deutlich, dass es theoretisch durchaus möglich wäre, auch entgegen einer eingeschränkten Ressourcenlage zu einem Interessengebiet zu kommen, dass eben nicht leicht zu erreichen ist.
Tabelle 2: Einflüsse der sozio-ökonomischen Lage und ihre Umsetzung als subjektive Prämissen
Einflüsse der sozio-ökonomischen Lage und ihre Umsetzung als subjektive Prämissen | ||
Latenz | Expansion | Kompetenz |
Erste Berührungen mit dem Gegenstand finden statt, werden jedoch noch wieder vergessen. Einflüsse Dritter werden als Zufall deklariert. P3 FWB vorher[1]: „Ich bin gelernte Schifffahrtskauffrau und habe schon einiges aus der Buchhaltung mitgemacht in dem Betrieb wo ich gearbeitet habe. Da macht man einiges automatisch aus der Buchhaltung mit, sag ich jetzt mal. Und das hat mich interessiert und deshalb möchte ich das jetzt vertiefen.“ P4 FWB vorher: „Ich hab Groß- und Außenhandel gelernt und dann hat mir diese Abteilung Spaß gemacht, während meiner Ausbildung und dann bin ich da hängen geblieben.“ P5 FWB vorher: „Das kam eigentlich mehr oder weniger weil noch drei andere aus meinem Büro das gemacht haben. Da habe ich mich einfach mal angeschlossen.“ P1 HWB vorher: „Es war ein dummer Zufall. Wir haben Post von der WiSoAk bekommen. Habe ich diesen Kurs da drinnen gesehen. Es war quasi eine spontane Entscheidung“ P7 FWB vorher: „Ich habe in einer Bank gelernt und bin dann... ja... habe ich Kinder bekommen und dann bin ich durch Zufall auch in die Buchhaltung gerutscht. Eigentlich eher zufällig.“ | Einflüsse werden negiert.
| Einflüsse werden reflektiert berichtet oder aktiv mitgestaltet (Prävalenz).
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[1] „vorher“= Befragung zu Beginn der Fortbildung; „nachher“= Befragung nach Abschluss der Fortbildung
Ein weiteres Problem deutet sich hier an: Wenn man die Aufstiegsansprüche der Befragten betrachtet, scheinen sie wenig durch thematisch tiefere Interessen unterfüttert zu sein. Das mag bezüglich der Finanz- und Handelsfachwirt-Themen schwierig sein, aber ausgeschlossen ist es nicht: Auch eine Buchhaltungsabteilung stellt ein soziales Spiel dar, dessen „Gewinne“ in einer schlanken Abwicklung, in geprüften Bilanzen und in zügigen Jahresabschlüssen besteht. In diese Themen scheinen die Befragten aber noch nicht involviert zu sein. Fraglich ist möglicherweise, ob man sich ohne eine solche Involviertheit in der Aufstiegskonkurrenz durchsetzen kann. Drei Personen scheinen sich zwischen Eingangs- und Ausgangsbefragung deutlich zu entwickeln: „P5 FWB vorher“ ist einfach mit den Kolleg/innen mitgegangen und formuliert hinterher „mehr Verständnis gegenüber manchen Fällen, die ich bearbeite, was vorher nicht da war“. Setzt man voraus, dass sich die Person dieses Verständnis nicht nur einredet, so hat sie sich in geradezu typischer Weise von der Latenzphase des Interesses in die Expansionsphase bewegt. Dort dominieren die Vertiefung des allgemeinen Wissens und die Verallgemeinerung des besonderen Wissens (bei P1HWB und P7FWB ist die Struktur ähnlich).
Eine weitere zentrale Dimension, die in den drei Phasen unterschiedliche Ausprägung annimmt, ist der wahrgenommene Freiheitsgrad der Handlung. Interesse ist aus Sicht der befragten Gruppen wesentlich eine selbstbestimmte Angelegenheit. Bei näherem Hinsehen wird jedoch auch einiges zur Selbstbestimmung deklariert, was ohne viele Spielräume schlicht gegeben war (vgl. GROTLÜSCHEN/ KRÄMER 2009b). Diese Widersprüchlichkeiten sind durchaus schlüssig interpretierbar: Indem man seine eigenen Interessen mit denen der Umgebung in Kongruenz bringt, werden Konflikte aufgelöst und die angestrebte Selbstbestimmung subjektiv erreicht. Es handelt sich dann um eine Selbstzuschreibung von Interesse-Entscheidungen. Empirisch zeigte sich in den vergangenen Teilstudien, dass es dazu nur einer theoretischen Ausstiegsoption bedarf: Solange man von sich sagen kann, man sei nicht gezwungen worden und hätte aus der Thematik auch wieder aussteigen können, gelingt die Selbstzuschreibung subjektiv widerspruchsfrei – selbst wenn die Weiterbildung auf Veranlassung des Arbeitgebers besucht wird. Das Phänomen wird in ähnlicher Form auch von FRIEBEL und Mitarbeiter/innen vorgefunden und als nachträgliche Sinn-Hervorbringung rekonstruiert (vgl. FRIEBEL et al. 2000, 273).
Auffallend ist bei diesem Teilsample, dass es kaum Äußerungen über den Ausstieg gibt. Möglicherweise existiert diese Option faktisch oder aus subjektiver Sicht der Betroffenen nicht. Das liegt entweder daran, dass die Freiwilligkeit der Handlung ‚Weiterbildungsteilnahme‘ außer Frage steht – oder es liegt daran, dass andere Handlungen außer der Weiterbildungsteilnahme nicht in Betracht kommen. Letzteres ist bezüglich beruflicher Weiterbildung sehr naheliegend, denn die Aufnahme eines Studiums ist der Berufsgruppe eventuell bisher verwehrt und andere Weiterbildungen kommen fachlich nicht in Frage. Die Auswahl ist also möglicherweise sehr begrenzt. Es würde zudem einen erheblichen Verlust an monetären und temporären Ressourcen darstellen, aus der laufenden Weiterbildung auszusteigen. Bei genauerem Hinsehen ist der Freiheitsgrad der Interessehandlung hier so klein, dass man fragen muss, ob es überhaupt ein Interesse gibt, das die Handlung steuert, oder ob man eben genommen hat, was zur Verfügung stand.
Tabelle 3: Subjektiv wahrgenommener Freiheitsgrad der Handlung
Subjektiv wahrgenommener Freiheitsgrad der Handlung |
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Dimension | Latenz | Expansion | Kompetenz |
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| Die Ausstiegsoption wird abgewogen. | Die Ausstiegsoption wird nicht in Erwägung gezogen. P6 FWB vorher: „Ja, Finanzbuchhaltung weiß ich nicht. Ich habe es halt gelernt, ähm... Büro liegt mir und das macht mir auch Spaß. Ja... und deswegen bin ich auch dabei geblieben. Weil man sagt ja immer: Schuster, bleib bei deinen Leisten oder so.“ | Die Ausstiegsoption ist praktisch nur mit großen Einschränkungen realisierbar. |
Interessant ist die lange Zeitlinie, die P6 FWB in der Eingangsbefragung erläutert. Er oder sie ist bei dem einmal ergriffenen Lehrberuf geblieben und reflektiert das mit einem Sprichwort (Schuster, bleib bei deinen Leisten). Dieses Sprichwort illustriert sehr schön, wie Aufstiegsaspirationen gedämpft werden. Das kollektive Interesse dahinter entspricht dem der Unterschichten (vgl. BOURDIEU 1987): Hier gibt man acht, die Solidargemeinschaft nicht durch individuelle Aufstiege zu hinterfragen, um den Zusammenhalt zu sichern. In der Tat liegt die Stärke der Unterschicht in ihrer unbedingten Gemeinschaft. Die Rechtfertigung ihres Handelns – also des nicht versuchten Aufstiegs – bezieht die Person P6 somit aus einem sedimentierten Gruppenwissen, mit dem sie zunächst weniger den individuellen und mehr den kollektiven Interessen dient. Doch auch auf individueller Ebene hat sich dieser Habitus des Zusammenhalts bewährt. Der Aufstieg gelingt nicht allen, und Aufstiegshoffnungen beinhalten auch Versagensängste, ergo schützt das Sprichwort vor dem Versagen und mehr noch: Es schützt diejenigen vor der Selbstverachtung, die den Aufstieg nicht versuchen. Die kollektive Ausstiegsoption aus der gesellschaftlichen Lage ist hier also ebenso wenig gegeben wie eine individuelle Ausstiegsoption aus dem spezifischen Interessethema.
Bezieht man sich auf John DEWEYs Interessebegriff, eröffnet sich die Perspektive auf einen Prozess der Interessegenese. Darin stehen Handlungen im Verhältnis zu vorangegangenen Erfahrungen und zukünftigen Wünschen. Die Handels- und Finanzfachwirt/inn/en verfügen alle über die Erfahrung einer Berufsausbildung und einschlägiger Berufstätigkeit. Sie richten ihre Weiterbildung auf den beruflichen Aufstieg. Hier entsteht jedoch ein Paradoxon: Der Aufstieg wird nicht eingelöst. Daher ist zu fragen, ob das Interesse sich trotzdem weiter entwickelt, und wenn ja, in welcher Weise.
Insgesamt sind in der Ausgangsbefragung eine Reihe von Hinweisen erkennbar, die sich der Expansions- und Kompetenzphase der Interessegenese zuordnen lassen. Betrachtet man zunächst die Expansionsphase, so fällt das Verstehen auf, das hier rückblickend als Veränderung gegenüber der Eingangsbefragung berichtet wird. Man habe mehr Grundlagen, mehr Verständnis, verstehe gewisse Sachen besser, baue auf Bisherigem auf. Hier wird eine Dimension erkennbar, die keineswegs unmittelbar auf den Aufstieg gerichtet ist – dann nämlich hätte man lernen müssen, wie man sich etabliert – sondern die sich als eine Selbstverständigung (vgl. LUDWIG 2000) im Sinne der Verfügungserweiterung interpretieren lässt (vgl. HOLZKAMP 1993, 433). Habitustheoretisch dominiert hier eine Haltung, die der Tradition der Facharbeit (vgl. BREMER 2007, 143) entspricht: Man will seine Arbeit verstehen und möglichst adäquat ausfüllen. Diese auf Bescheidenheit, Arbeit und Verantwortung gerichtete Haltung wäre für einen sozialen Aufstieg allerdings eher untypisch. Es könnte also sein, dass im Verlauf des gescheiterten Aufstiegs eine Rückbesinnung auf die hergebrachten Bildungsziele wieder die Oberhand gewinnt und sinngebend eingesetzt wird.
Tabelle 4: Art der interesserelevanten Handlungen
Art der interesserelevanten Handlungen | ||
Latenz | Expansion | Kompetenz |
Die Hinwendung zum Gegenstand des Interesses ist instabil, kann wieder versanden: Es finden Umwege und Pausen in der Interessegenese statt. P3 HWB vorher: „Und ähm... ich fand den, also... also gerade speziell diesen, geprüften Handelsfachwirt ähm... Kurs so gut, weil von allem etwas dabei ist. Egal, ob das in Richtung Marketing, oder Personalmanagement, Logistik weil man wenn, sag ich mal, nicht genau weiß wo man sich später sieht oder in welchen Bereich, dann aber wenigstens grundlegende Dinge schon mal insgesamt mal an Erfahrungen sammeln“ | Schritte der Interesseentwicklung werden als lineare Abfolge berichtet (Vertiefung & Verallgemeinerung). P2 FWB vorher: „Und auch für mich, damit ich ein bisschen mehr Ahnung von dem Beruf habe, was ich mache, mehr Grundlagen.“ P5 FWB nachher: Ja, da ich ja nun Bürokauffrau gelernt habe, war natürlich noch Einiges etwas unklar, was so meine Arbeit jetzt angeht und das wurde dadurch natürlich klarer, weil es intensiver ist und auch weil es ausschweifender ist, als nur eine Bürokauffrau und deswegen habe ich jetzt auch mehr Verständnis gegenüber manchen Fällen, die ich bearbeite, was vorher nicht da war.“ P1 HWB nachher: „Man versteht einige gewisse Sachen besser, durch den Kurs (...). Es motiviert halt. Man weiß halt immer mehr. Man bildet sich weiter, man kommt weiter, auch beruflich.“ P2 HWB vorher: „Ja, ich habe halt auch für diesen Kurs entschieden um mich weiterzubilden in dem... ja, in den gewissen Bereichen... natürlich… oder natürlich darauf aufzubauen, was ich bisher natürlich schon gelernt habe.“
| Die Person generiert Wissen über den Gegenstand aufgebaut, kann Fragen formulieren, Bezüge herstellen, nutzt abstrakte Begriffe und unterzieht Positionen einer Kritik. P1 FWB nachher: „…und wenn man das dann wieder findet im Unterricht und kann da so ne Querverbindung herstellen, das einem das dann auch wirklich im Alltag noch mal einfällt und man damit arbeiten kann, das ist dann schon gut.“ P2 FWB nachher: „Und hab auch mehr Hintergrundwissen. Und weiß, wenn mir irgendjemand was sagt: „Das ist doch so und so.“, dann kann ich mitreden: „Ja, genau, hast du recht.“ Das war schon vorher nicht so einfach, da habe ich einfach nur stumpf Zahlen reingebucht und wusste eigentlich gar nicht richtig warum“ P1 HWB nachher: „Gewisse Dinge wurden intensiviert. Man hört ja in den Nachrichten BIP und Arbeitslosenquote und weiß der Geier. So hat man auch das Hintergrundwissen, was das überhaupt bedeutet, wo man das einordnen kann.“ P 7 FWB nachher: „Ähm, mehr Spaß gemacht hat mir Recht zum Beispiel, weil es eben halt auch teilweise, ich sag mal, zur Allgemeinbildung gehört und auch ein bisschen in den privaten Bereich mit rein geht, das was man dort lernt, weil sonst bekommt man das ja nie mit, wenn man da nichts mit zu tun hat.“ |
Die Interessegenese einiger Aufstiegsfortbildungsteilnehmenden ist jedoch durchaus bis zur Kompetenzphase vorangeschritten. Charakteristisch ist es hier, Bezüge herzustellen, Position beziehen zu können, Fachtermini zu verwenden. Dies zeigt sich in Berichten über Querverbindungen, Mitreden können, Begriffe in den Nachrichten wie das Bruttoinlandsprodukt und die Arbeitslosenquote sowie das Recht, das man sonst nirgends erlerne. Hier zeigt sich durchaus, dass das Interesse durch die differenziertere Kenntnis des Gebiets weiter entfaltet wurde. Nicht berichtet werden die sonst so typischen vielfältigen Kenntnisse über das Gebiet, hier bleiben die Hinweise eher allgemein. Überhaupt nicht aufgetaucht sind Fragen, die an das Interessegebiet gerichtet würden, zum Beispiel über das Entstehen und Vergehen von Finanzkrisen, über die Details der Logistik im Containerverkehr (die Interviews wurden in einer Hafenstadt erhoben), über Techniken der Fehlersuche bei Buchungen, Rückstellungen, Jahresabschlüssen et cetera. Es ist daher nicht von einem voll entfalteten Interesse auszugehen.
Die Ausrichtung auf den Aufstieg ist offensichtlich weder in der Eingangs- noch in der Ausgangsbefragung inhaltlich unterfüttert. Die Arbeitsaufgaben der Team- oder Abteilungsleitung kommt hier zunächst nicht zur Sprache und sind eventuell auch nicht Gegenstand der Weiterbildungscurricula. Der Aufstieg ist dann vielleicht ein Ziel, das vielleicht mangels besserer Ideen nur vordergründig genannt wird oder – wahrscheinlicher – als Vorwand gilt, um die unartikulierbare Hoffnung auf Inhalte, die man noch nicht nennen kann, zu überdecken.
Die Relevanz des Gegenstands wird von vielen Interesseforschungen berichtet, die jüngste Bezugsquelle ist die Unterscheidung emotionaler und kognitiver Valenz der Münchner Interessetheorie (vgl. KRAPP 2004). Diese stellt sich im hier zitierten Aufsatz selbst in ein positives Verhältnis zur subjektwissenschaftlichen Begrifflichkeit. Aus der bietet sich die Idee der Bedeutungszuschreibung an (vgl. HOLZKAMP 1993). Für die Differenzierung entlang qualitativ empirischer Daten hat sich jedoch die psychologische Trennung von Emotion und Kognition als weniger tragend erwiesen, denn das emotionale Erleben wird durch Verbalisierung Teil der kognitiven Reflexion. Weiterhin ist die Bedeutungszuschreibung innerhalb der Phasen der Interessegenese – so unsere vorläufigen Schlussfolgerungen – durchaus unterschiedlich. Anfänglich dominiert eher unreflektiertes Geschehen, gefolgt von Expansionswünschen auf allen Ebenen bis hin zur tiefen Verstrickung, die soweit geht, dass die Relevanz des Interessethemas individuellen und kollektiven Außenstehenden angetragen wird (Lobbying).
Insofern hat der Interessegegenstand nach bisheriger theoretischer und empirischer Arbeit in der Latenzphase besonders häufig eine anziehende Kraft (Attraktion) und ist durch die Faszination des Neuen und durch das Erleben einer Herausforderung gekennzeichnet. Bei negativem Verlauf der Interessegenese entstünde auch Enttäuschung, vom Interessegebiet wird abgelassen. Bei negativem Erleben der ersten Berührungen wird eher von aversiven Empfindungen berichtet (vgl. GROTLÜSCHEN 2010, 276f.).
Die Expansionsphase – in der Art der Handlungen gekennzeichnet durch vertiefende und verallgemeinernde Schritte – ist in der Relevanzzuschreibung durch Zugehörigkeits- und Distinktionswünsche, durch den Selbsterhalt oder die Selbstentfaltung gekennzeichnet. Die Kompetenzphase geht mit expliziten Relevanzzuschreibungen einher, die in Netzwerken und gegenüber Entscheidungsträgern auch artikuliert werden, um die interesserelevanten Spielräume auszuweiten.
Tabelle 5: Bedeutungen des Gegenstands im Zusammenhang mit parallelen, vorangegangenen oder zukünftigen Handlungen
Bedeutung des Gegenstands im Zusammenhang mit parallelen, vorangegangenen oder zukünftigen Handlungen | ||
Latenz | Expansion | Kompetenz |
Der Gegenstand wird mit Attraktion oder Aversion konnotiert (Faszination des Neuen, Herausforderung, bei negativem Verlauf entsteht Enttäuschung). | Der Gegenstand erhält Relevanz (z.B. durch Zugehörigkeitswünsche, Individuationschancen, Selbstbetrachtung, Erhalt & Ausbau eigener Fähigkeiten). Die Bezüge zu vergangenen und zukünftigen Lebensinteressen werden klarer (Mittelbarkeit) P1 FWB vorher: „Weil irgendwann ist der Punkt da, da merk ich, mit dem was ich an der Berufsschule gelernt habe, komme ich nicht sehr viel weiter in der Buchhaltung. Auch deshalb mache ich diesen Kurs hier. Es geht schon darum auch mal eine Stufe weiterzukommen beruflich.“ P3 FWB nachher: „Das war aus meiner Sicht sehr sehr effektiv für mich, allein, um nicht zu verblöden zu Hause.“ P4 FWB nachher: „Ich bin immer noch der Meinung, ähem, ich habe das Richtige gemacht, weil ich das beim (Betrieb X) gemerkt habe, dass mir da dieser Schein fehlt, und dass ich bei uns in der Firma nicht weiterkomme.“ P6 FWB nachher: „Vordergründiges Interesse war ähm erst mal das Wissen wieder aufzufrischen noch mal, weil ich ja immer nur für, sag ich mal für eine Firma gearbeitet habe, für eine GmbH, und, ja, das ist mir damit eigentlich auch gelungen.“ P3 HWB nachher: „Also vorher war das so, bevor ich den Kurs gemacht hab, da war ich eigentlich sehr offen, es gab keinen Schwerpunkt, warum ich das genommen. Und jetzt ist es so, dass ich z.B. gemerkt hab, dass Marketing mich sehr interessiert. Und das war vor dem Kurs z.B. nicht so.“ | Die emotionale und kognitive Beteiligung kumuliert im Involvement. Soziale Beteiligung wird als Netzwerk berichtet. Spielräume werden ausgeweitet, Grenzen überwunden. Das Interessegebiet wird fachlich vertreten (Lobbying). P2 HWB nachher:„Generell war es schwierig, das Ganze berufsbegleitend zu machen. Man war da natürlich auch noch unterwegs. Generell ist es schon, so neben dem Job noch ne berufsbildende Maßnahme zu machen schon sehr anstrengend. Und wenn man dann den ganzen Tag arbeitet und sich abends dann noch aufzuraffen und noch irgendwas zu lernen, das war schon sehr schwer.“
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Hier zeigt sich nun, dass Äußerungen der Befragten kaum auf einen Interessezustand innerhalb einer Latenzphase schließen lassen: Anziehung, Faszination des Neuen und Herausforderungen werden nicht geschildert. Das Thema steht nicht mehr in Frage, sondern ist fest etabliert.
Zugleich zeigt sich aber auch, dass die Kompetenzphase von den Befragten nur hinsichtlich der Weiterbildung selbst erreicht ist: Grenzen müssen überwunden werden, um sich der Weiterbildung zu unterziehen. Für die fachlichen Inhalte, z. B. das Bestehen der Finanzabteilung gegenüber dem Vertrieb, dem Einkauf, dem Marketing oder der Personalabteilung verwendet sich bisher niemand der Befragten. Auch die Handelsfachwirte haben noch nicht in dem Maße Feuer gefangen, dass sie die Grenzen ihrer kaufmännischen Abteilungen, ihrer Branchen, Aufgabengebiete oder Teams aktiv artikulieren und vertreten können. Die Weiterbildung wird offensichtlich auch nicht zur Vernetzung mit Gleichgesinnten benutzt – ein Aspekt, der in der Wissenschaftlichen Weiterbildung so massiv zum Tragen kam, dass wir ihn gesondert in das Theoriemodell aufgenommen hatten.
Die hier vorgelegte Teilstudie ergänzt ein Sample, das mit 85 Kurzerzählungen von studierenden jungen Erwachsenen begann. Diese überaus positiven und erfolgreichen Interesseverläufe haben wir unter anderem auf das Lebensalter, die selbstbestimmte Zeitverwendung und die privilegierte Bildungssituation zurückgeführt. Darum wurden zunächst Erwachsene in höherem Lebensalter, aber in ebenso privilegierter Bildungssituation kontrastierend herangezogen (WWB1 und WWB2). Diese haben das Theoriemodell um wesentliche Aspekte erweitert. Es folgten Gruppen, die nicht freiwillig an Bildung teilnehmen (MWB) sowie kaufmännische Aufstiegsfortbildungen (FWB und HWB). Ziel des Teilsamples ist insofern nicht die Repräsentativität für Aufstiegsfortbildungen insgesamt, sondern die Kontrastierung des bestehenden Samples mit Hilfe eines nichtakademischen Bildungsthemas.
Diese Kontrastierung fördert durchaus zutage, dass das bisherige Interessenmodell geeignet ist, Charakteristika der Gruppe zu formulieren. Besonders deutlich ist jedoch das Kernkennzeichen der Aufstiegsfortbildung selbst, nämlich die Frage nach dem Aufstieg. Es geschehen im betrachteten, wohlgemerkt kleinen Teilsample zwei Dinge gleichzeitig.
Die interesserelevanten Handlungen werden erstens ausgebaut, allerdings bleiben das thematische Wissen und thematische Fragen eher offen. Auch Stellungnahmen und Kritik bleiben noch eher zahm. Die typische Positionierung und Lobbyarbeit für ein „soziales Spiel“ bleiben aus. Insgesamt erscheint daher die Weiterentwicklung der Interessen am Thema auch bei längerfristigen Weiterbildungen eher träge. Der „Trägheitseffekt“ hat sich insofern bestätigt.
Zweitens ist das Paradoxon der – wenn auch langsamen - Interessegenese trotz nicht erfüllter Aufstiegshoffnungen genauer zu betrachten. Möglicherweise war der Aufstieg von vornherein nicht das zentrale Moment der Interessegenese. Vielmehr kann es bei sehr routinierten Arbeitsaufgaben in einer beruflich stagnierenden kaufmännischen Sachbearbeitungsposition auch schlicht darum gehen, dem eigenen Gebiet mehr Verständnis entgegenzubringen, die eigene Respektabilität zu behaupten und insofern dann letzten Endes zufrieden „
bei seinen Leisten zu bleiben“ .[1] Der Fragebogen Weiterbildungsinteresse ist eine Adaptation des Fragebogens Studieninteresse (FSI). Um diese Herkunft kenntlich zu machen, kürzen wir ihn als FSI-W ab. Verändert wurden lediglich die Begriffe „Studium“ und „Weiterbildung“.
[2] Den Befragten wurde die Videoaufnahme, die zu Beginn der Fortbildung aufgezeichnet wurde, vor dem zweiten Interview (1,5 Jahre nach dem ersten Interview) zunächst einmal vorgespielt.
[3] „vorher“= Befragung zu Beginn der Fortbildung; „nachher“= Befragung nach Abschluss der Fortbildung
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