Ausgabe 29
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bwp@ 29 - Dezember 2015
Beruf
Hrsg.:
, &Wirtschaftspädagogisches Argumentieren – Zur Präsenz berufsbildungstheoretischer Argumentationsfiguren in aktuellen berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskursen
Neue Schlüsselsemantiken wirtschaftspädagogischer Diskurse markieren innovative Theoriegehalte. Jedoch drängt sich die Frage auf, ob neue Begriffe und als neu ausgewiesene argumentative Formen nicht auf argumentative Figuren rekurrieren, die in einem disziplinären Kernbereich wie dem der Berufsbildungstheorie für die Wirtschaftspädagogik über eine lange etablierte Tradition verfügen. Der vorliegende Beitrag fragt, inwiefern Georg Kerschensteiners Unterscheidung von Berufsbildung und Fachbildung argumentformend und strukturgebend noch in aktuellen berufsbildungstheoretischen Diskursen ist, dies auch dann, wenn einschlägige Protagonisten dies gerade nicht explizit machen. Die Darstellung befasst sich nach Problemstellung (1), methodologischen Überlegungen (2) sowie Rekonstruktion der Argumentationsfigur Kerschensteiners mit der Diskussion um das Berufsprinzip um 2000 und in der Gegenwart sowie um die Durchlässigkeit des Bildungssystems (4). Die Darstellung endet mit Anmerkungen zu Kontinuitäten und Diskontinuitäten argumentativer Muster der berufsbildungstheoretischen Diskussion (5) sowie Schluss (6). Der Beitrag analysiert wirtschaftspädagogische, speziell berufsbildungstheoretische Argumentationsformen in der Absicht, Selbstaufklärung über wirtschaftspädagogische Argumentationsstrukturen nahe zu legen und einer Verfestigung in Gestalt starrer Positionen entgegenzuwirken. Die metatheoretische Betrachtung der berufsbildungstheoretischen Diskussion in Gestalt einer Argumentationsanalyse intendiert so eine veränderte Selbstwahrnehmung aktueller Argumentationsmuster. Ziel ist es, einen Beitrag zu einer wirtschaftspädagogischen Debattenkultur mit dialogischem Charakter zu leisten. Zugleich wird damit auf die fortdauernde Gültigkeit der Aufgabe ideengeschichtlicher Rekonstruktionen in gegenwärtiger Absicht verwiesen.
1 Problemstellung
„Flexibility, mobility, modularity, employability” – mit der Aufnahme dieser anglofonen Begrifflichkeiten symbolisieren Teilnehmerinnen und Teilnehmer[1] an aktuellen wirtschaftspädagogischen Diskussionen Affinität zu globalen gesellschaftlichen und ökonomischen Problemlagen sowie zu international diskutierten Lösungsansätzen, insbesondere bezogen auf die Anpassung der Strukturen beruflicher Erstausbildung in Deutschland. Auffällig dabei ist, dass die Argumentationsfiguren, die Wissenschaftler in Diskussionen einbringen, deutlich divergent in der argumentativen Positionierung sowie hinsichtlich der empfohlenen Konsequenzen sind: „Dass eine behutsame Modularisierung der beruflichen Ausbildung nicht das Ende der Beruflichkeit bedeutet, […] machen uns nicht zuletzt die Schweiz und Österreich vor“ (Severing 2008, 29)[2] – eine solche Argumentation, hier vorgetragen von Euler und Severing, rückt, mit international vergleichendem Blick, die Vereinbarkeit von Berufsstruktur und Modularisierung der Berufsausbildung in Form von Ausbildungsbausteinen ins Zentrum; sie führt zur Folgerung, die Berufsstruktur stärker zu flexibilisieren, um Anschlussfähigkeit an europäische Strukturen zu gewährleisten, wie sie sich insbesondere mit der Einführung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (EQR) etablieren und um langfristig die Durchlässigkeit des dualen Systems in Richtung Hochschulsystem zu gewährleisten (vgl. Euler 2013a, 272). Ganz anders eine Gegenposition zum Verhältnis von Berufs- und Modularisierungsprinzip: „Modularisierung und Beruflichkeit sind ein Widerspruch in sich, weil Module auf sachlich abgegrenzte Einheiten zielen, während Beruflichkeit umfassende Handlungskompetenz und Identitätsbildung zum Ziel hat“ (Spöttl 2013, 65). Hier wird, über ein Jahrzehnt nach der „Erosionsdebatte“, ausgefochten etwa zwischen Lipsmeier und Kutscha, argumentativ ein Dualismus zwischen Beruflichkeit und Modularisierung behauptet und daraus die praktische Unvereinbarkeit beider Strukturierungsprinzipien gefolgert.
Mit gesellschaftlichen wie ökonomischen Herausforderungen konfrontiert sah sich auch schon der Münchner Schulrat Georg Kerschensteiner, als er um die Wende zum 20. Jahrhundert antrat, einen Lösungsvorschlag für die sog. Lückenfrage auszuarbeiten, die Frage also, wie die bei den proletarischen Jugendlichen klaffende Erziehungslücke zwischen Beendigung der Volksschule und Eintritt in den Heeresdienst, zeitgenössisch im Geiste nationaler Integration, zu lösen sei. Kerschensteiners Argument war bekanntermaßen: „Durch Berufserziehung“! – was bedeutete: Inklusion der heranwachsenden Jugendlichen über die Bildung zu einer beruflichen Tätigkeit in die (bestehende) gesellschaftliche Ordnung. Eine solche Einordnung der Jugendlichen in Gesellschaft respektive „Nation“ erschien ihm nur über den „Beruf“ möglich, weil dieser, so seine Sicht, das Verstehen der Sinnzusammenhänge menschlicher Arbeit ermöglichte und damit gewährleistete, dass sich das Individuum in der Arbeit und damit in der Nation als Letztbegriff der Arbeit aufgehoben sehen konnte. Nur dies war für ihn – im expliziten Sinn – berufliche Bildung.
Indessen stellt dieses Argument nur die eine Hälfte der Argumentationsfigur dar, die Kerschensteiner 1900 in Umlauf setzte. Die zweite Hälfte besagt, kurz und knapp, außer Berufsbildung könne es keine „Bildung“ im Sinne von „Fach‑Bildung“ geben. Bei dieser handle sich vielmehr bloß um eine Aneignung von qualifikatorischen Fertigkeiten und Kenntnissen, die nur der Bewältigung einer konkreten Teil‑Arbeitstätigkeit dienten. Dieser Fachbildung mangelt, so Kerschensteiner, die umfassende Berufsstruktur, somit komme ihr gerade nicht die Auszeichnung Berufsbildung zu (vgl. Backes-Haase 2002, 67). Kerschensteiner dichotomisiert also Fachbildung und Berufsbildung mit dem Argument, nur eine Bildung durch den Beruf eröffne das für die Nation wichtige Verstehen der Sinnzusammenhänge von Arbeit im „nationalen“ Zusammenhang. Er konzipiert aus dieser Unterscheidung heraus eine Berufsbildungstheorie, die eine nicht im Berufshorizont vollzogene Fachbildung aus dem Feld der Bildung exkludiert. Zum Zentraltheorem der Berufsbildungstheorie wird dann, bekanntermaßen, sein Satz: „Die Berufsbildung (sic) steht an der Pforte zur Menschenbildung“ (Kerschensteiner 1904, 94).[3]
Angesichts europäischer Impulse heute, sich stetig wandelnder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und „moderner“ Beruflichkeitskonzepte erscheinen aktuelle wirtschaftspädagogische Argumentationsfiguren, wie die von Euler/Severing oder Spöttl – in der vorherrschenden Wahrnehmung – als völlig neuartig. Der argumentative Gestus von Berufs- und Wirtschaftspädagogen, mit dem diese entsprechende Figuren vorbringen, markiert Diskontinuität im Kontext sich wandelnder Rahmenbedingungen. Mögliche Kontinuitäten gegenüber tradierten wirtschaftspädagogischen Argumentationsmustern werden hingegen teilweise abgestritten, zumindest aber nicht explizit ausgewiesen. Besonders ausdrücklich hervorgehoben wird Diskontinuität häufig hinsichtlich der strukturellen, politischen und gesellschaftlichen Gesichtspunkte. Diskontinuität wird aber auch hinsichtlich der bildungstheoretischen Begründung markiert, wobei der Anschein erweckt wird, den semantischen Mustern, die auf die aktuellen Herausforderungen reagierten, lägen argumentative Formen zugrunde, die mit der klassischen Berufsbildungstheorie in keinem (engeren) Zusammenhang stünden.
Jedoch stellt sich dem unvoreingenommenen Betrachter die Frage, ob eine solche Betonung von Diskontinuität nicht die Kontinuitäten unterbewertet, die in einer Wissenschaftlergemeinschaft hinsichtlich zentraler Begründungs- und Rechtfertigungsaufgaben als gegeben vermutet werden müssen.[4] Analysiert man nämlich, vorläufig, die aktuellen berufsbildungstheoretischen Argumentationsmuster vor der Folie der Argumentationsfigur der klassischen Berufsbildungstheorie, so wird erkennbar, dass die Argumentation Spöttls genau auf die scharfe Trennung zwischen Fach- und Berufsbildung, wie sie Kerschensteiner vollzog, abhebt, seine Position eine „kontradiktorische“ Argumentationsform darstellt (wie später noch näher charakterisiert wird). Euler und Severing hingegen „harmonisieren“ die Trennung zwischen Fach- und Berufsbildung angesichts aktueller Herausforderungen argumentativ. Offenbar lässt sich die an ideengeschichtlichen Betrachtungen immer wieder geübte Kritik der „Modernitätsferne“ nicht aufrecht erhalten, vielmehr machen solche Analysen aktuelle Argumentationsmuster allererst in ihren tiefer liegenden Strukturen sowie hinsichtlich der Konstellationen transparent, in denen sie untereinander stehen.
Der vorherrschenden Diskontinuitätsbehauptung soll aus dieser Beobachtung heraus im vorliegenden Beitrag die wissenschaftssoziologisch fundierte Hypothese entgegen gestellt werden, dass aktuelle wissenschaftliche Diskurse im Bereich beruflicher Bildung deutlich an Transparenz gewinnen, wenn die in diesen Diskursen identifizierbaren argumentativen Muster auf ihren Zusammenhang mit Argumentationsfiguren der klassischen Berufsbildungstheorie hin befragt werden. Der Beitrag stellt sich die Aufgabe, speziell die Kontinuitäten der aktuellen Diskurse gegenüber der klassischen Auseinandersetzung mit Beruf und Bildung, wie sie bspw. Kerschensteiner vollzog, auf einer strukturellen Ebene herauszuarbeiten, um zu einem vertieften Verständnis aktueller Argumentationsformen in aktuellen Diskussionen zu gelangen. Im aktuellen Kontext der Europäisierung beruflicher Bildung wird besonders die berufsbildungstheoretische Diskussion um Modularisierungs- und um Durchlässigkeitskonzeptionen auf spezifische Argumentationslinien hin näher untersucht.
2 Wirtschaftspädagogisches Argumentieren als Analysegegenstand
Maßgebende berufsbildungstheoretische Argumentationsformen, wie sie sich bei Kerschensteiner finden, so die Hypothese, wirken im Diskussionsverlauf der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, mehr oder minder untergründig, fort. Argumentative Spannungsverhältnisse, die sich aus den Grundformen ergeben, können dabei als Urform des pädagogischen Diskurses begriffen werden, weshalb diese auch bereits häufiger metatheoretischen Analysen unterlagen. Eine systematische Erforschung pädagogischen Argumentierens wird seit dem Ende der 80er Jahre postuliert. Hier können die Arbeiten von Wigger (Wigger 1988) und Paschen (Paschen 1988; Paschen/Wigger 1992) genannt werden, die in der Analyse pädagogischer Argumentationsweisen eine Perspektive zur Klärung der typischen pädagogischen Denkform sowie zur Verbesserung der pädagogischen Argumentationskultur sehen (vgl. Wigger 1988, 428ff.). Während der Begriff des pädagogischen Argumentierens bspw. bei Wigger auf Argumentationsweisen und das Stützen von Argumenten in einzelnen pädagogischen Theorien bezogen wird (vgl. Paschen/Wigger 1992, 62), liegt der vorliegenden Betrachtung ein erweitertes Verständnis zugrunde. Es fokussiert spezifisch die Formen wirtschaftspädagogischen Argumentierens auf der Ebene der diskursiven Struktur. In Anlehnung an das „Traditions-Argument“ von Wigger (vgl. Wigger 1988, 441) erhalten dabei die implizit vorhandenen traditionell-historischen Bezüge der berufsbildungstheoretischen Diskussion besondere Beachtung, werden aber im Unterschied zu Wigger auf die Ebene der Diskursstruktur bezogen und von hier ausgehend wechselseitige (implizite) Bezüge zwischen Positionen aufgedeckt. Damit wird an Überlegungen von Wahle und anderen zum analytischen Potential berufsbildungshistorischer Forschungen angeschlossen: Diese stellen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik Wissen bereit, das für die Reflexion aktueller berufsbildungstheoretischer Fragen als Orientierungswissen fungieren und damit einen essentiellen Beitrag zum Verständnis aktueller Gegebenheiten der Berufsbildung leisten kann (vgl. Wahle 2011, 95; Wahle 2006, 126; vgl. auch Backes-Haase 2001).
3 Die Grundlegung der klassischen Berufsbildungstheorie durch Kerschensteiner:Anknüpfungspunkte aktueller Argumentationsformen
3.1 Die Differenzierung von Fachbildung und Berufsbildung als argumentative berufsbildungstheoretische Basis
Am Beginn der klassischen Berufsbildungstheorie und damit der Ausprägung der berufsbildungstheoretischen Argumentationsform stand nicht primär die Bildungsfrage. Zentraler Anstoß für ihre Ausformulierung war vielmehr eine soziale Frage. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galt es das Ausbrechen der unterbürgerlichen Schichten aus der bürgerlichen Sozialordnung zu verhindern (vgl. Greinert/Wolf 2013, 25). Kerschensteiner nahm sich in seiner Funktion als Münchner Stadtschulrat der Aufgabe an, einen Vorschlag zu unterbreiten, wie die Erziehungslücke zwischen Beendigung der Volksschule und Militärdienst effektiver zu schließen sei, als dies mit der seither zur pädagogischen Einwirkung eingerichteten allgemeinen Fortbildungsschule gelang. Er beantwortete in seiner von der Erfurter Akademie preisgekrönten Schrift „Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend“ (Kerschensteiner 1901), welche als „Geburtsurkunde“ (Blankertz) der Berufsschule gilt, die Preisfrage, wie die proletarische männliche Jugend am zweckmäßigsten für den bürgerlichen Nationalstaat zu gewinnen sei, wie schon hervorgehoben, mit dem Verweis auf Berufserziehung: „Durch Erziehung zur beruflichen Tüchtigkeit“ (Kerschensteiner 1901, 17; vgl. Blankertz 1969, 136; Greinert/Wolf 2013, 49).
Kerschensteiner erweiterte so die politische Legitimation der Fortbildungsschule um eine neuartige bildungstheoretische Legitimation (vgl. Greinert/Wolf 2013, 100ff.). Jedoch musste diese erst noch näher expliziert werden, wurde doch dem Beruf jegliche persönliche Bildungsqualität in der konventionellen Interpretation durch den Neuhumanismus abgesprochen. Die scharfe Antinomisierung von allgemeiner und beruflicher Bildung manifestierte sich in der strukturellen Trennung von (allgemeinem) Bildungssystem und Beschäftigungssystem. In letzterem fand einzig eine Vermittlung fachlicher Fähigkeiten statt, womit diese aus dem Bildungssystem hinaus verwiesen war (vgl. Backes-Haase 2002, 64f.). Kerschensteiner gewinnt nun aus einer expliziten kritischen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Praxis der materialen Allgemeinbildung zunächst den originalen neuhumanistischen Begriff von Bildung „als Formgebung, und zwar von innen heraus“ (Kerschensteiner 1904, 91; vgl. Backes-Haase 2002, 66). Allerdings kann diese Bildung nach Kerschensteiner in besonders nachhaltiger Weise über die praktische Berufsarbeit erreicht werden und zwar so, dass „der einzelne seine Arbeit erkenne, an ihr Einsicht, Wille und Kraft üben und erstarken lasse, das ist die erste Aufgabe auf dem Wege zur Bildung […]“ (Kerschensteiner 1904, 94).
Zu solcher Bildungsqualität steigt die Berufsbildung bei Kerschensteiner auf, indem sie nie nur auf Erwerbsqualifizierung gerichtet bleibt, sondern stets auch und besonders auf gesellschaftliche Integration zielt. Kerschensteiner begreift das Hineinwachsen des Menschen in den Beruf zugleich als Integration in die Gesellschaft („Nation“). In seiner Berufsbildungstheorie ist Berufsbildung daher keinesfalls im Sinne von Fachbildung primär auf die Qualifizierung durch Vermittlung von Fertigkeiten gerichtet (vgl. Backes-Haase 2002, 67). Im Vordergrund der Argumentation Kerschensteiners steht der sozialintegrative Aspekt und berufliche Bildung intendiert primär „Versittlichung“ und damit Persönlichkeitsbildung (vgl. ebenda). Für die klassische Berufsbildungstheorie sind demnach staatsbürgerliche Erziehung, berufliche Bildung und Menschenbildung argumentativ nicht voneinander loszulösen. Dagegen differenziert Kerschensteiner in scharfer Weise zwischen Fach- und Berufsbildung und exkludiert eine nicht im Berufshorizont vollzogene Fachbildung aus seiner Bildungstheorie, insofern nur eine Bildung durch den Beruf das für die Nation wichtige Verstehen der Sinnzusammenhänge von Arbeit ermöglicht. Lipsmeier verdeutlicht dies: „Alles nicht Beruflichkeit Vermittelnde und auf Beruflichkeit Zielende gilt als Unvollkommenes oder Minderwertiges“ (Lipsmeier 1998, 481). Abbildung 1 verdeutlicht die scharfe und argumentativ zentrale Unterscheidung von Fach- und Berufsbildung.
3.2 Ein beruflicher Bildungsweg im Spätwerk Kerschensteiners
Im Anschluss an die theoretische Fundierung der Berufsbildung entwickelte Kerschensteiner das berufsbildungstheoretische Argumentationsmuster weiter. In seinem 1933 erschienen Spätwerk „Theorie der Bildungsorganisation“ (Kerschensteiner 1933) beschäftigt er sich mit der Problematik, dass die beruflich orientierte Fortbildungsschule keine Berechtigungen vermittelte, die es ermöglichten, den Bildungsweg im höheren Schulwesen fortzusetzen, und so eine Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung nicht gegeben war (vgl. Büchter/Dehnbostel 2012, 66). Kerschensteiner spricht von einem Bildungssystem, das aus zwei „Hauptzügen“ besteht (vgl. Kerschensteiner 1933, 237): Einen Hauptzug bildet der bekannte gymnasial-akademische Bildungsweg, den er auch als „Schulsystem der Kontemplation“ (ebenda, 238) bezeichnet. Den anderen Hauptzug beschreibt er als ein „in den Elementarschulen schon beginnendes, bis zu einer Hochschule aufsteigendes Schulsystem der Werktätigen“ (ebenda). Dieser explizit berufliche Bildungsweg zeichnet sich durch eine „nach außen gerichtete Aktivität“ (ebenda) aus und grenzt sich dadurch vom gymnasial-akademischen Weg mit dessen „nach innen gerichteten Aktivität“ (ebenda) ab. In seinem Spätwerk bildet das Konstrukt „Beruf“ nun den zentralen Bildungsfokus des – gesamten – Bildungsweges von Jugendlichen, die nicht den Weg über die Allgemeinbildung einschlagen. Die Argumentationsfigur Kerschensteiners kann dahingehend interpretiert werden, dass „Beruf“ das zentrale Konstrukt ist, das den gesamten beruflichen Lernprozess organisatorisch und didaktisch bestimmen kann und soll (vgl. Lipsmeier 2000, 115). Kerschensteiner vertritt damit in den 1920er und 1930er Jahren die Idee eines beruflichen Bildungsweges (vgl. Dehnbostel 2015, 145).
4 Analyse der neueren Argumentationsstruktur der berufsbildungstheoretischen Diskussion: Historische Implikationen und innovative Impulse
4.1 Die neuere berufsbildungstheoretische Diskussion prägende Impulse
Sollen wirtschaftspädagogische Argumentationsmuster identifiziert werden, müssen – wie in Abschnitt drei für die klassische Berufsbildungstheorie geschehen – die Rahmenbedingungen der neueren berufsbildungstheoretischen Diskussion einbezogen werden. Insbesondere die strukturelle Veränderung des Beschäftigungssystems kann als maßgeblicher Impuls der Diskussion zu Beginn des 21. Jahrhunderts angesehen werden, ist diese doch von erheblichem Einfluss auf andere Systeme – insbesondere das Berufsbildungssystem; bei aller Mehrperspektivität seiner Ziele definiert sich dieses doch primär über die Aufgabe der Befähigung des Individuums zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Wirtschaftssystem. In der aktuellen berufsbildungstheoretischen Diskussion sind es insbesondere gravierende Veränderungen in der Arbeitsorganisation, die die Berufsform der Arbeit im Allgemeinen und die Berufsstrukturen im Besonderen beeinflussen. Die Erosion der Normalerwerbsbiografie (vgl. Spöttl/Windelband 2012a, 256) hat Auswirkungen auf die Systemarchitektur der Berufsbildung, indem sie die Referenzgröße „Beruf“ verändert und das zugrunde liegende Berufsprinzip tangiert. Als weitere bedeutende Impulse, die die wirtschaftspädagogische Argumentation zu Beginn des 21. Jahrhunderts rahmen, sind die Etablierung des ursprünglich als kurzfristiges Interventionsinstrument gedachten Übergangssystems (vgl. Münk/Schmidt 2012, 76; Greinert/Wolf 2013, 16), die zu beobachtende Akademisierung der Bildung (vgl. Rauner 2010a, 65) sowie die zunehmende Europäisierung der beruflichen Bildung, insbesondere die Einführung europäischer bildungspolitischer Steuerungskonzepte wie der EQR, das Europäische Leistungspunktesystem für die berufliche Bildung (ECVET) und der im Anschluss konzipierte Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (DQR), zu nennen.
4.2 Der Dualismus der Positionen in der berufsbildungstheoretischen Diskussion vor der Jahrtausendwende
Die berufsbildungstheoretische Diskussion in den 1990er Jahren bezieht sich, angesichts dieser Faktoren des Wandels im Umfeld beruflicher Bildung, auf die Frage, ob die tradierte Berufsform der Arbeit weiterhin als Referenzrahmen für die Berufsausbildung fungieren kann. In der berufsbildungstheoretischen Diskussion zeigt sich eine große Spannweite argumentativer Positionierungen: Die Standpunkte reichen von der Behauptung einer „Entberuflichung“ und der damit implizierten Auflösung des Berufsprinzips bis hin zur These einer „Neuen Beruflichkeit“ unter Weiterführung der Relevanz des Berufsprinzips. Zieht man den exkludierenden Charakter der klassischen Berufsbildungstheorie, wie er für Kerschensteiners Argumentation zentral war, heran, so lässt sich in der neueren Diskussion eine dualistische Struktur erkennen. Kerschensteiner trennte scharf zwischen Fach- und Berufsbildung und betonte, nur über den Beruf komme der (Berufs-)Arbeit bildende Wirkung zu. Wenn nun in den 1990er Jahren angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen von einer Gruppe von Vertretern der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, so zum Beispiel von Lipsmeier, die Berufsförmigkeit der Arbeit in Frage gestellt wird und diese sich unvermittelt auf die Ebene der Arbeit beziehen, dann halten diese damit letztlich (nur) mehr Fachbildung angesichts der Faktoren des Wandels für möglich. Diesen Diskutanten stellen sich Vertreter der Berufs- und Wirtschaftspädagogik entgegen, namentlich Kutscha, Gonon, Deißinger und Harney, die in den gesellschaftlichen Veränderungen keinen Anlass dafür erkennen können, das Berufskonzept und damit den Anspruch an eine die Fachbildung übersteigende Berufsbildung, aufzugeben.
Argumentationslinie: Irrelevanz des Berufs
Kernargument erstgenannter Argumentationslinie ist, die berufsförmig ausgerichtete Ausbildung lasse sich nicht mehr mit der Dynamik der Arbeitswelt und der prozessorientierten Arbeitsorganisation vereinbaren: Flexibilität und Beruflichkeit stehen danach konträr zueinander. In weiterer Zuspitzung des Arguments wird von Vertretern dieser Linie gar die Dysfunktionalität von Beruflichkeit als Leitkategorie statuiert (vgl. Rosendahl/Wahle 2012, 26). Diese Unterstellung einer künftigen Irrelevanz des Berufs als Bildungskategorie des Berufsbildungssystems hat selbstredend gravierende Folgen: Mit der Ausmusterung des Berufsprinzips als Leitkategorie der Berufsbildung zugunsten des Begriffs Arbeit wird gleichzeitig die bildungstheoretische Dimension der Verknüpfung von Beruf und Bildung aufgegeben. Der Beruf stellt sich für Lipsmeier als ein „obsolete[s] Konzept“ (Lipsmeier 1998, 481) dar, das sowohl hinsichtlich seiner Funktion für das Arbeitsleben als auch – und dies ist für die berufsbildungstheoretische Diskussion von besonderer Brisanz – hinsichtlich der ihm zugesprochenen Bildungsfunktion seine Relevanz verliert. Lipsmeier plädiert für eine direkte Bezugnahme der Pädagogik auf die Arbeit im Sinne einer „arbeitlichen Bildung“ (Lipsmeier 1998, 485). So entkoppelt Lipsmeier die Bildung vom Berufsbegriff und trennt den Zusammenhang, wie ihn Kerschensteiner mit der klassischen Berufsbildungstheorie hergestellt hat, was pointiert an folgender Aussage deutlich wird: „Unter Bildung verstehe ich etwas, was nicht an den Berufsbegriff und damit an die Pfortenthese Kerschensteiners gebunden ist“ (Lipsmeier 1998, 486).
Argumentationslinie: Fortdauernde Relevanz der Berufsförmigkeit
Der Entberuflichungsthese tritt in der berufsbildungstheoretischen Diskussion eine Gruppe von Berufs- und Wirtschaftspädagogen mit der Antithese entgegen, der Beruf verfüge sehr wohl weiter über hohe Relevanz für das Beschäftigungssystem und für berufliche Bildungsprozesse (vgl. Backes-Haase 2002, 75). Die Funktionen des Berufskonzepts, wie sie die klassische Berufsbildungstheorie betont, also die Bildungs-, Sozialisations- und Integrationsfunktion, sind ihrer Auffassung nach von zentraler Relevanz gerade in einer post-industriellen Gesellschaft. Die Kontinuität dieser Argumentationslinie zur Argumentation der klassischen Berufsbildungstheorie lässt sich daran erkennen, dass ihre Vertreter ähnlich mit dem Vorwurf einer zu großen Distanz gegenüber der Arbeitswelt umgehen, wie Kerschensteiner dies tat (vgl. Gonon 2001, 406): Sie werten die Distanz gerade nicht als Manko, sondern vielmehr als bedeutsames Merkmal einer am Berufsprinzip orientierten Berufsbildung. Auch Kerschensteiner schon wies entsprechend auf den Eigenwert der Berufsbildung in ihrer Distanz zur Arbeitswelt hin, wenn er auf die gemeinschaftsbildende Sinnhaftigkeit des Berufs verwies statt auf betrieblich-fachliches Einzelwissen.
Die Diskutanten, die sich dieser Positionsgruppe zuordnen lassen, gestalten ihre Argumentationsformen jedoch durchaus unterschiedlich. Kontinuität gegenüber der klassischen Berufsbildungstheorie hinsichtlich der Relevanz des Berufskonzepts wird jeweils unter modifizierender Akzentuierung der klassischen Fassung hergestellt. In der Argumentation von Kutscha steht aus kritisch-theoretischer Perspektive im Vordergrund, dass den harten Kern des dualen Systems nicht die „imaginäre Dualität der Lernorte [bildet …], sondern die Verfestigung des Berufsprinzips als Bezugspunkt der Berufsausbildung“ (Kutscha 1992, 539). Er modifiziert das Berufskonzept gegenüber der klassischen Berufsbildungstheorie von Kerschensteiner, ohne jedoch dessen Sinnhaftigkeit zu verändern: Die grundlegende Intention einer die Fachbildung übersteigenden Bildung bleibt erhalten. Harney argumentiert aus systemtheoretischer Perspektive und setzt der Entberuflichungsthese die Antithese entgegen, die Berufsform sei „kein Gegensatz zu Mobilität und Flexibilisierung, sondern die klassische institutionelle Antwort auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik“ (Harney 1998, 2). Aus der systemischen Differenz von Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem leitet Harney die „Berufs-Betriebs-Differenz“ ab, in der der Beruf die bloße Arbeitstätigkeit übersteige (vgl. Backes-Haase 2002, 75) und damit eine (Berufs‑)Bildung ermögliche, die über die betrieblich-partikulare Qualifizierung, d.h. Fachbildung hinausreiche. Deißinger nimmt eine internationale Vergleichsperspektive ein und hebt im Anschluss an Kerschensteiner die gesellschaftliche Integrationsfunktion hervor. Das Berufsprinzip sei nicht aufzugeben: „Berufe können Gestaltungshorizonte für die Persönlichkeitsbildung eröffnen; im pädagogischen Verständnis sind sie stets mehr als nur Anpassungsschablonen für eng umgrenzte Betriebsfunktionen“ (Deißinger 1998, 262). Das deutsche Modell der Berufsausbildung mit dem Berufsprinzip als organisierendes Prinzip stelle ein „Lösungsmodell (dar) für das Problem der gesellschaftlich-beruflichen Integration der nachwachsenden Generation“ (Deißinger 2001, 6). Gonon historisiert das Berufskonzept und stellt Verbindungen zur Tradition der beruflichen Bildungstheorie her, um Relevanz und Wandlungsfähigkeit des Berufskonzepts aufzuzeigen. Kern seiner Argumentation ist, dass „Beruflichkeit [.] nicht mit, sondern gegen den Wandel der Arbeitswelt und in der Gesellschaft konstruiert [wurde]“ (Gonon 2001, 406; H.i.O.) und Beruflichkeit „[…] eine stringente Herleitung betrieblicher Qualifikations- und Kompetenzerfordernisse als Angelpunkt der beruflichen Bildung [ausschließt]“ (ebenda, 412). Beruflichkeit ergibt sich nach seinem Verständnis damit nicht aus den Erfordernissen bloßer Fachbildung, sondern vielmehr „aus einer Perspektive des Bildungssystems selbst“ (ebenda, 411), wie sie seit Kerschensteiner durch die Berufsbildung beschrieben wird.
Die Kenntnis und Reflexion der scharfen Trennung zwischen reiner Fachbildung und Berufsbildung lässt – wie exemplarisch gezeigt – in der berufsbildungstheoretischen Diskussion vor der Jahrtausendwende eine dualistische Argumentationsstruktur erkennen: These und Antithese zur Frage der weiteren Relevanz des Berufskonzepts stehen einander gegenüber. Abbildung 2 veranschaulicht die Struktur der berufsbildungstheoretischen Argumentation.
4.3 Die Struktur der berufsbildungstheoretischen Argumentation in der aktuellen Diskussion um das Berufsprinzip
Kerschensteiner hat – wie in Abschnitt 3 gezeigt – das Argument des Berufs von vorneherein als Widerspruch zur Fachbildung konstruiert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erhalten durch die fortschreitende europäische Integration Ausbildungsmodelle europäischer Länder Aufmerksamkeit, die eine umfassende Berufsbildung nicht kennen. Sie setzen vielmehr auf modulare Strukturen, die nicht auf Berufsbildung, sondern auf Fachbildung, im Sinne Kerschensteiners, zielen. Nach allgemeiner Auffassung ist die „Philosophie“ des deutschen Berufsbildungssystems, insbesondere des dualen Systems, somit kaum kompatibel mit der europäischen Bildungsphilosophie (vgl. Frommberger et al. 2008, 8). So neuartig diese Anforderungslage erscheint, lässt sich das zugrunde liegende argumentative Muster der daran anknüpfenden berufsbildungstheoretischen Diskussion doch auf die Argumentationsfigur Kerschensteiners zurückführen. Vor dem Hintergrund der internationalen Prominenz modularer Berufsbildungsstrukturen kristallisiert sich die Anforderung heraus, den in der klassischen Berufsbildungstheorie entfalteten Exklusionszusammenhang von Berufsbildung und Fachbildung diskursiv zu entwickeln. Damit entsteht als Diskussionsschwerpunkt die Frage nach der Vereinbarkeit von Modularisierung, welche den Charakter von Fachbildung hat, und Berufsprinzip. Die Struktur aktueller berufsbildungstheoretischer Argumentationen konstituiert sich dann aus der kontradiktorischen Argumentationslinie, die zwischen Modularisierung und Berufsprinzip eine grundlegende Kontradiktion sieht und modulare Strukturen als Form der Fachbildung aus der Berufsbildung in Kontinuität zur Argumentation von Kerschensteiner exkludiert. Ihr gegenüber steht eine harmonisierende Argumentationslinie, die Modularisierung und Berufsprinzip für vereinbar erklärt und über die Harmonisierung des Gegensatzes von Berufs- und Fachbildung Tradition und Modernisierung überein zu bringen versucht, wobei sie den Exklusionszusammenhang, wie ihn Kerschensteiner konzipiert hat, auflöst und modulare Strukturen in die Berufsbildung inkludiert.
Harmonisierende Argumentationslinie
Eine moderate Modularisierung der deutschen Berufsausbildung erscheint den Diskutanten, die die Differenz zwischen Modularisierung und Berufsprinzip in harmonisierender Weise zu überwinden suchen, als zukunftsträchtige Möglichkeit einer flexiblen Berufsausbildung. Da die Module auf Basis der Ausbildungsordnung eines Ausbildungsberufes entwickelt werden und erst in ihrer Gesamtheit ein Berufsbild formen, sehen Befürworter der moderaten Modularisierung keine Gefahr für das Berufsprinzip. So schlagen bspw. Euler/Severing eine „behutsame“ Modularisierung als „Vehikel der Differenzierung“ im Rahmen des Ausbildungsbausteinkonzepts vor, das Ausbildungsgänge nicht mehr nur als monolithische Einheiten mehrjähriger Dauer konzipiert (vgl. Euler 2013b, 71; Euler/Severing 2007). Angesichts systemimmanenter Mängel des Berufsausbildungssystems und der Europäisierung betrachten sie den Exklusionszusammenhang von Berufs- und Fachbildung, wie er in der klassischen Berufsbildungstheorie angelegt ist, als dysfunktional und harmonisieren die Differenz von Modul‑ und Berufsprinzip, indem sie modulare Strukturen in einen Berufszusammenhang rücken. Sloane offenbart in seiner Argumentation eine harmonisierende Haltung, indem er Modularisierung in die Beruflichkeit der Ausbildung integriert. Die berufsbildungstheoretische Differenz zwischen Modularisierung respektive Fachbildung und Berufsbildung versucht er auf der Implementationsebene der Module durch die pädagogisch-didaktische Kompetenz der Lehrkräfte als „Interpreten des Berufs“ (Sloane 2000, 98) zu überwinden. Sloane rekonstruiert gewissermaßen das Berufsprinzip in den Modulen didaktisch und stützt sich auf die Professionalität der Lehrkräfte (vgl. Sloane 1997, 241). Heidegger/Petersen versuchen in ihrer Argumentation den Exklusionszusammenhang der klassischen Berufsbildungstheorie durch die Integration von modularen Strukturen in das Berufsprinzip zu überwinden und sehen die Notwendigkeit einer „Postmodernisierung“ des Berufsbildungssystems in Form einer partiellen Öffnung bestehender Berufsbildungsstrukturen für individuelle, „bunte“ (Berufs-)Bildungswege (vgl. Petersen/Heidegger 2013). Mithilfe der Validierung sollen einzelne Lernerfolge zu beruflichen Vollabschlüssen „zusammengesetzt“ werden können (vgl. Petersen 2013, 6ff.).[5]
Kontradiktorische Argumentationslinie
Vertreter der kontradiktorischen Argumentationslinie heben auf die Nichtüberwindbarkeit der Differenz zwischen Berufsbildung und Qualifizierung für den Arbeitsmarkt ab. Denn über die bloße Aneinanderreihung der im Beruf relevanten Kompetenzen hinaus zeichnet ihrer Auffassung nach den Beruf eine persönliche und gesellschaftliche Identifikationsmöglichkeit aus, die nur über den Zusammenhang der Kompetenzen zu erreichen sei. Kernaussage dieser Argumentationslinie ist, den modularisierten Ausbildungskonzepten fehle die berufsbildungstheoretische Legitimation. Die Kontinuität zur klassischen Berufsbildungstheorie hinsichtlich einer strikten Trennung zwischen Fach- und Berufskonzept wird dabei jeweils unter spezifischer Akzentsetzung und konzeptioneller Weiterentwicklung hergestellt. So bezeichnet Spöttl die Modularisierung als „Fehlkonzept“ (Spöttl 2013) und arbeitet die differierende Zielrichtung von Modul- und Berufsprinzip heraus: Es handelt sich seiner Auffassung nach bei Modularisierung um ein Qualifizierungskonzept, das auf die Zertifizierung abgegrenzter Einheiten und die direkte Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt ziele, wohingegen das Berufskonzept in ein Bildungssystem einzuordnen sei, das auf eine umfassende Handlungskompetenz und berufliche Identitätsbildung ziele (vgl. ebenda, 64f.). Spöttl hebt in seiner Argumentation auf die Funktionen der Berufsbildung im Unterschied zur Fachbildung ab, die Kerschensteiner durch die Differenz von Fach- und Berufsbildung in der klassischen Berufsbildungstheorie schon dargelegt hatte. Die Argumentation von Rauner fußt auf einer grundlegenden Kritik an der Modularisierung als „Atomisierung beruflicher Qualifizierung“ (Rauner 2005, 1) im Allgemeinen und an der mit modularen Strukturen verbundenen Zertifizierungspraxis im Besonderen. Diese lassen sich nicht mit der Beruflichkeit der Berufsausbildung im dualen System vereinen, sondern bedeuten einen „radikale[n] Bruch mit einer geregelten, nach Berufen geordneten Ausbildung“ (Rauner 2010b, 12). Rauner hebt in seiner Argumentation auf die Sozialisations- und Integrationsfunktion des Berufs ab: „Die Auflösung etablierter Berufsstrukturen […] schwächt die Fähigkeit einer Gesellschaft, die soziale Integration der Heranwachsenden zu organisieren“ (Rauner 2005, 1). Diese Argumentation steht in Kontinuität zur Argumentation Kerschensteiners, der den Beruf als entscheidenden Faktor zur Gewährleistung gesellschaftlicher Stabilität erkannte. Die Argumentation von Greinert ist durch eine international-vergleichende und systematisierende Perspektive gekennzeichnet. Er kontrastiert das europäische und das deutsche Berufsbildungsmodell und weist auf das divergierende Kompetenzverständnis, den Unterschied von Input- und Outcome-Orientierung und den Gegensatz zwischen Modulen und Sozialisationsprogrammen berufsorientierter Ausbildungsgänge hin (vgl. Greinert 2013, 149f.). Abbildung 3 veranschaulicht die herausgearbeitete Struktur der berufsbildungstheoretischen Argumentation.
4.4 Die Struktur der berufsbildungstheoretischen Argumentation in der aktuellen Diskussion um die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung
Die in Abschnitt 4.1 dargelegten Impulse führen zu einem zweiten Schwerpunkt in der Diskussion: Insbesondere der Wandel zur Wissensgesellschaft und der Trend zur Akademisierung gehen mit einer Aufwertung wissenschaftlichen Wissens einher und werfen die Frage nach der Relation von allgemeiner, beruflicher und akademischer Bildung auf. Die bildungspolitischen Instrumente der EU forcieren sowohl durch die Zielsetzung der Bildungsmobilität als auch durch ihre hierarchische Strukturierung die Frage nach Durchlässigkeit und nach Gleichwertigkeit.
Seit der klassischen Berufsbildungstheorie wird die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung diskutiert. Kerschensteiner entwickelte die klassische Berufsbildungstheorie als Gegenkonzept zu der in den Schriften des Neuhumanismus postulierten Vorrangstellung der Allgemeinbildung. Die Durchlässigkeit im Bildungssystem ist bei aller Aktualität damit kein neuartiges Thema, das losgelöst vom Grundlegungsdiskurs der Berufsbildung betrachtet werden kann. Im Fokus der aktuellen Diskussion stehen die Verbesserung der Übergangsbedingungen, sodass Durchlässigkeit faktisch erreicht wird, sowie die Frage nach der Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung. Vor dem Hintergrund der klassischen Berufsbildungstheorie sowie dem Spätwerk über die „Theorie der Bildungsorganisation“ lassen sich zwei Argumentationslinien identifizieren, die die Struktur der berufsbildungstheoretischen Argumentation konstituieren. Der Gedanke paralleler Bildungswege lässt sich bei einer Gruppe von Berufs- und Wirtschaftspädagogen auffinden, die sich für eine Erhöhung der Durchlässigkeit durch eine Bildungssystem-Architektur mit parallelen Bildungswegen ausspricht. Anstatt den in der beruflichen Ausbildung eingeschlagenen beruflichen Bildungsweg in den allgemeinbildenden gymnasial-akademischen Weg zu überführen, sei dieser vielmehr mit explizit beruflich orientierten Studiengängen, die den Beruf als Bildungszentrum begreifen, weiterzuführen. Die Argumentationsstruktur konstituiert sich aus dieser separierenden Argumentationslinie und aus der integrierenden Argumentationslinie, deren Vertreter dafür plädieren, die Anrechnungsmöglichkeiten von beruflichen Kompetenzen auszubauen, um die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung zu erhöhen.
Separierende Argumentationslinie
Die separierende Diskussionslinie, die für einen explizit beruflichen Bildungsweg von der beruflichen Ausbildung bis zur Promotion votiert, spricht sich für die Verlängerung des beruflichen Bildungswegs, wie ihn Kerschensteiner schon als einen „in den Elementarschulen schon beginnende[n], bis zu einer Hochschule aufsteigende[n]“ (Kerschensteiner 1933, 238) Weg beschrieben hat, aus. Die Vorschläge der Diskutanten divergieren in ihrer Ausgestaltung. So entwirft Rauner einen durchgängigen beruflichen Bildungsweg in einer Bildungssystem-Architektur mit parallelen Bildungswegen und siedelt berufliche Fortbildungsabschlüsse auf Bachelorniveau an, sodass mit diesen Abschlüssen die Berechtigung zur Aufnahme eines (dualen) Masterstudiums verbunden ist (vgl. Rauner 2013, 1ff.; Rauner 2015, 417). Er thematisiert explizit, dass „Bildung nicht allein auf eine verstehende und zweckfreie Bildung begrenzt werden kann“ (Rauner 2012, 14) und steht damit argumentativ in engem Zusammenhang zur klassischen berufsbildungstheoretischen Figur. Meyer schlägt die Einrichtung wissenschaftlicher Weiterbildungsstudiengänge vor, die sie als Form der gehobenen, professionsorientierten Berufsausbildung begreift und die grundlegend von den herkömmlichen, grundständigen Studiengängen differieren (vgl. Meyer 2013, 3; Meyer 2012, 4). Im Anschluss an Kerschensteiners Vorschlag eines beruflichen Bildungswegs ist ihre Argumentation separierender Natur und lässt sich als Weiterführung seines Gedankens unter Berücksichtigung aktueller Anforderungen interpretieren.[6]
Integrierende Argumentationslinie
Wissenschaftler, die sich der integrierenden Argumentationslinie zuordnen lassen, sehen die Verbesserung der Anrechnungsmöglichkeit auf Basis von modularen Strukturen als adäquate Lösung der Durchlässigkeitsproblematik. Vor dem Hintergrund der in Abschnitt 4.3 analysierten Argumentationsstruktur in der Diskussion um die Vereinbarkeit von Modul- und Berufsprinzip sind diese Diskutanten zugleich der harmonisierenden Argumentationslinie zuzuordnen, die sich in der Diskussion um die Erhöhung der Durchlässigkeit aber spezifischer als integrierende Linie fassen lässt. Die Vorschläge dieser Berufs- und Wirtschaftspädagogen unterscheiden sich ebenfalls hinsichtlich ihrer Ausgestaltung und Schwerpunktsetzung. So bringen sich Euler/Severing mit dem Ausbildungsbausteinkonzept, das die Transparenz der Bildungsinhalte erhöhen und damit zu einer verbesserten Anrechnung beruflicher Kompetenzen beitragen soll, in die Diskussion ein (vgl. Euler/Severing 2007). Frommberger fokussiert Leistungspunktesysteme als Basis für die Verbesserung der Anrechnung von in beruflichen Bildungsgängen erworbenen Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge (vgl. Frommberger 2012a, 94f.; Frommberger 2012b, 175). Er fasst Leistungspunkte als eine Art gemeinsame deutsche und europäische „Währung“ auf, die es erlaubt, Leistungen zu erfassen, transparent auszuweisen und in verschiedenen Bildungsgängen anzurechnen (vgl. Frommberger et al. 2008, 9f.; Frommberger 2009b, 13). Sloanes Auffassung nach müssen Kompetenzen unabhängig von Bildungsgängen beschrieben werden und sodann bestimmten Qualifikationsniveaus eines Qualifikationsrahmens zugeordnet werden, was erfordert, dass Kompetenzen als identifizierbare kleinere Einheiten verstanden werden, die einzeln bewertet werden können (vgl. Sloane 2008, 24). Für Sloane ist zur Erhöhung der Durchlässigkeit daher „eine ‚virtuelle‘ Modularisierung“ (ebenda) grundlegend. Abbildung 4 veranschaulicht die Struktur der aktuellen berufsbildungstheoretischen Diskussion um die Erhöhung der Durchlässigkeit.
5 Das argumentative Muster der berufsbildungstheoretischen Diskussion im Zeitverlauf: Kontinuitäten und Diskontinuitäten
Die klassische Berufsbildungstheorie als wesentliches Fundament moderner berufsbildungstheoretischer Konzepte stellt in der Analyse der aktuellen Diskussion die zentrale Reflexionsgrundlage dar, um Argumentationslinien von Berufs- und Wirtschaftspädagogen zu systematisieren und Argumentationsstrukturen herauszuarbeiten, die ihnen zugrunde liegen. Zur Analyse des argumentativen Musters der berufsbildungstheoretischen Diskussion im Zeitverlauf werden folgende Ebenen unterschieden: Zum einen werden auf inhaltlich-konzeptioneller Ebene der Argumentation Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur klassischen Berufsbildungstheorie betrachtet. Zum anderen wird die abstrakte berufsbildungstheoretische Argumentationsstruktur als grundlegende Kontinuität identifiziert, die die einzelnen, in die Diskussion eingebrachten Argumente formt. Darüber hinaus werden die gesellschaftlichen Faktoren beleuchtet, die eine argumentative Auseinandersetzung mit der Frage der Bildung durch den Beruf erforderlich machen.
Berufsbildungstheoretische Argumentation als Reaktion auf gesellschaftliche und politische Herausforderungen
Die klassische Berufsbildungstheorie hat sich in Deutschland am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert als Reaktion auf gesellschaftliche und politische Herausforderungen herausgebildet. Die neueren berufsbildungstheoretischen Diskussionen stellen sich ebenfalls als Reaktionen auf gesellschaftliche und (bildungs-)politische Veränderungen dar. War es seinerzeit die Transformation von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft, so ist es in neuerer Zeit die Transformation von industrieller zu postindustrieller Gesellschaft, die mit veränderten qualifikatorischen Anforderungen sowie sozialen Problemlagen einhergeht und damit neue Anforderungen an die Berufsbildungstheorie stellt. Hinsichtlich der politischen Konstellation bestanden im ausgehenden 19. Jahrhundert einschneidende Veränderungen in Bezug auf die nationale Einigung, am Anfang des 21. Jahrhunderts bestehen gravierende Veränderungen in der fortschreitenden europäischen Integration (vgl. Kraus 2007, S. 382). Historisch wie aktuell resultieren aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen spezifische Anforderungen an die berufsbildungstheoretische Argumentation.
Die inhaltlich-konzeptionelle Ebene der Argumentation
Auf inhaltlich-konzeptioneller Ebene lassen sich auf Basis der klassischen Trennung zwischen Berufs- und Fachbildung in der berufsbildungstheoretischen Diskussion Vorschläge identifizieren, die entweder als Kontinuitäten oder als Diskontinuitäten gegenüber der klassischen Berufsbildungstheorie zu interpretieren sind. So markiert der Vorschlag Lipsmeiers, Berufsbildung durch „arbeitliche“ Bildung zu ersetzen, eine Diskontinuität, insofern er die berufsbildungstheoretischen Grundlagen für obsolet erklärt. In der aktuellen Diskussion lässt sich aus den Vorschlägen der harmonisierenden Argumentationslinie ebenfalls eine Diskontinuität zur klassischen Berufsbildungstheorie extrahieren. So lösen sich die dieser Linie zugehörigen Diskutanten von der Trennung zwischen Fach- und Berufsbildung, wie sie für die klassische Berufsbildungstheorie grundlegend war und postulieren eine Vereinbarkeit von Modul- und Berufsprinzip. Die integrierende Argumentationslinie in der Diskussion um die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung betrachtet allgemeine und berufliche Bildung zwar als gleichwertig und weitet den Anspruch der Gleichwertigkeit aus, indem sie die Anrechnung von in beruflichen Bildungsgängen erworbenen Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge fordert und über die Verbesserung der Anrechnungsmöglichkeiten die Durchlässigkeit im Bildungssystem erhöhen möchte. Die Vorschläge zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass die beruflich Qualifizierten den beruflichen Bildungsweg verlassen müssen und in das herkömmliche Hochschulsystem übergehen. Darüber hinaus werden als Voraussetzung von Anrechnungsmöglichkeiten modulare Strukturen gefordert, die in Diskontinuität zur klassischen Berufsbildungstheorie stehen.
Demgegenüber lassen sich in Kontinuität zur klassischen Berufsbildungstheorie Vorschläge zur Modernisierung der Berufsbildung identifizieren, die den Kern des Berufsprinzips nicht verändern. So bringen sich Kutscha, Harney, Deißinger und Gonon in der berufsbildungstheoretischen Diskussion vor der Jahrtausendwende mit Modifikationen ein, die das Konzept der Beruflichkeit in Kontinuität zur Argumentation Kerschensteiners weiterentwickeln. In der aktuellen Diskussion stehen die vorgeschlagenen Konzeptionen zur Modernisierung der Berufsbildung, wie sie die kontradiktorische Argumentationslinie entwickelt, in Kontinuität zu den berufsbildungstheoretischen Grundlagen, indem die Berufsbildung dezidiert von einer reinen Fachbildung abgegrenzt und auf die Bedeutung der Berufsausbildung für die gesellschaftliche Stabilität verwiesen wird. Die separierende Argumentationslinie in der Diskussion um die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung hebt auf den durch die klassische Berufsbildungstheorie begründeten Eigenwert der beruflichen Bildung ab und spricht sich für einen eigenständigen beruflichen Bildungsweg von der Berufsausbildung bis zum Hochschulstudium aus. Schon Kerschensteiner bezeichnete es vor dem Hintergrund des Bildungswerts des Berufs als „grundfalsch“, das Schulsystem der Kontemplation als das geeignetere für die Vorbereitung auf Führungspositionen zu betrachten (vgl. Kerschensteiner 1933, 238).
Die abstrakte berufsbildungstheoretische Argumentationsstruktur
Die scharfe Unterscheidung zwischen Berufs- und Fachbildung, wie Kerschensteiner sie der klassischen Berufsbildungstheorie zugrunde legte, formt die berufsbildungstheoretische Diskussion auf Ebene der Argumentationsstruktur über den Zeitverlauf: Das Bemühen, Berufs- und Fachbildung voneinander abzugrenzen und ausgehend davon Konzeptionen zu entwickeln, lässt sich sowohl in der Diskussion vor der Jahrtausendwende als auch in der aktuellen Diskussion identifizieren. Trotz des veränderten Diskussionskontexts und trotz der Existenz von Kontinuitäten und Diskontinuitäten auf inhaltlich-konzeptioneller Ebene zeigt sich eine Kontinuität in der abstrakten berufsbildungstheoretischen Argumentationsstruktur. Das argumentative Muster, die Relation zwischen Berufs- und Fachbildung immer wieder aufs Neue zu bestimmen, stellt eine Kontinuität in der Argumentationsstruktur der berufsbildungstheoretischen Diskussion dar. So lässt sich die dualistische Diskussionsstruktur in den 1990er Jahren, in der sich die These „Irrelevanz des Berufs als zentrale Bildungskategorie“ und die Antithese „fortdauernde Relevanz der Berufsförmigkeit für die Berufsausbildung“ gegenüberstehen, auf die Differenz von Berufs- und Fachbildung zurückführen. In der aktuellen berufsbildungstheoretischen Diskussion ist es ebenfalls die in der klassischen Berufsbildungstheorie angelegte Trennung zwischen Berufs- und Fachbildung, die zu einer Diskussionsstruktur führt, in der sich zwei Gruppen gegenüberstehen, die sich anhand der unterschiedlichen Entfaltung des Exklusionszusammenhangs unterscheiden lassen. So hält die kontradiktorische Linie an der scharfen Unterscheidung zwischen Fach- und Berufsbildung fest, wohingegen die harmonisierende Linie angesichts der an die berufliche Bildung herangetragenen Ansprüche modulare Strukturen in die Berufsbildung inkludiert.
Damit kann die Relationsbestimmung von Berufs- und Fachbildung als konstanter Aspekt in der berufsbildungstheoretischen Diskussion identifiziert werden, der die Struktur der Diskussion sowie die Argumentationen der sich einbringenden Wissenschaftler formt. Eine solche durchgängige Struktur der Problematisierung von Fach- und Berufsbildung und der mit dieser Trennung zusammenhängenden grundlegenden Fragen, insbesondere welche Funktionen eine Berufsbildung zu erfüllen hat und welche Form der (Fach- oder Berufs‑)Bildung überhaupt Bildung ermöglicht, lässt sich als Eigensinn der berufsbildungstheoretischen Diskussion identifizieren. Die Transformation in unterschiedliche Anspruchsformen angesichts sich verändernder Bedingungen beruflicher Bildung wirkt zwar auf die inhaltlich-konzeptionellen Vorschläge ein, verändert aber die argumentative Grundstruktur der Diskussion über den Zeitverlauf nicht. Abbildung 5 gibt einen Überblick über die dualistische Argumentationsstruktur der berufsbildungstheoretischen Diskussion über den Zeitverlauf.
6 Schluss
Der vorliegende Beitrag widmet sich den Formen wirtschaftspädagogischen Argumentierens über die Zeit hinweg. Um die Struktur der Argumentationen herauszuarbeiten, genügt allein ein Blick auf aktuelle wissenschaftliche Beiträge und auf aktuelle Veränderungen im Beschäftigungs- und Wirtschaftssystem nicht. Die berufsbildungstheoretische Argumentation muss als eine im historischen Kontext entwickelte, sich vor diesem Hintergrund weiter entwickelnde Antwort auf die Frage der Verknüpfung von Bildung und Beruf betrachtet werden. Sie ist nicht nur einseitig vor dem Hintergrund der neuen Anforderungen, wie sie sich insbesondere durch die fortschreitende europäische Integration ergeben, zu betrachten, sondern im Kontext von Modernisierung und Tradition. Ein Rückblick auf die berufsbildungstheoretischen Grundlagen, wie sie Kerschensteiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte, ist – so konnte gezeigt werden – fruchtbar für die Analyse der neueren Argumentationsstruktur.
Die in der klassischen Berufsbildungstheorie verankerte Trennung zwischen persönlichkeitsrelevanter Berufsbildung und bloßer „äußerlicher“ Fachbildung erweist sich als aufschlussreich für die Analyse der Struktur der berufsbildungstheoretischen Argumentation, die sich vor der Jahrtausendwende zugetragen hat: These und Antithese zur Frage der weiteren Relevanz des Berufskonzepts stehen einander dualistisch gegenüber und lassen sich auf die klassische bildungstheoretische Differenz von Fach- und Berufsbildung zurückführen. Vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Unterscheidung von Berufs- und Fachbildung kann auch die Struktur der aktuellen Argumentation herausgearbeitet werden: Sie konstituiert sich aus der kontradiktorischen Argumentationslinie, der die Differenz zwischen Fach- und Berufsbildung dazu dient, eine Vereinbarkeit von Modul- und Berufsprinzip abzustreiten, und aus der harmonisierenden Argumentationslinie, die die Notwendigkeit sieht, den in der klassischen Berufsbildungstheorie getroffenen Exklusionszusammenhang zu harmonisieren. In der Diskussion um die Erhöhung der Durchlässigkeit entfaltet sich im Anschluss an die Idee Kerschensteiners von einem eigenständigen beruflichen Bildungsweg die separierende Argumentationslinie. In Abgrenzung spricht sich die integrierende Argumentationslinie für eine Verbesserung der Anrechnungsmöglichkeiten beruflicher Kompetenzen auf Hochschulstudiengänge auf Basis modularer Strukturen aus. Trotz des von vielen Diskutanten proklamierten Festhaltens am Berufsprinzip entwickeln sich damit unterschiedliche Argumentationslinien.
Das argumentative Muster der berufsbildungstheoretischen Diskussion ist, so kann abschließend festgehalten werden, durch eine grundlegende Kontinuität in der Argumentationsstruktur gekennzeichnet und durch Kontinuitäten wie auch Diskontinuitäten auf inhaltlich-konzeptioneller Ebene der Argumentation geprägt. Der Eigensinn der berufsbildungstheoretischen Diskussion trägt sich über den Zeitverlauf fort, die entwickelten Konzeptionen transformieren sich aber angesichts jeweils aktueller Problem- und Anforderungslagen. Die klassische Berufsbildungstheorie ist damit für die Analyse der wirtschaftspädagogischen Argumentation auch angesichts neuartiger Semantiken kein „bloßer Schnee von gestern“, der lediglich ein „antiquarisches Interesse“ abdeckt.
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[1] Die weibliche Form ist im Folgenden stets mitgemeint.
[2] Severing kommt in Anlehnung an Weiß 2006 zu diesem Schluss.
[3] Das Konzept erweist sich rückblickend als ein – wie vielfach kritisiert – dezidiert nationales Bildungskonzept.
[4] Hier ließe sich auf Ludwik Flecks wissenschaftssoziologische Überlegungen zur Entwicklung von Wissenschaftlergemeinschaften entlang von sog. Präideen verweisen (Fleck 2011).
[5]Auch die Argumentationen von Pilz (2012; 2009), Frommberger (2009a; 2009c; Frommberger/Friese 2010), Dehnbostel (2013a; 2013b; 2009) und Kraus (2012; 2009; 2007) lassen sich in die harmonisierende Argumentationslinie einordnen. Hier sei auf Bathelt 2015 verwiesen.
[6] Auch die Argumentationen von Greinert (2013; Greinert/Wolf 2013), Spöttl (2011a; 2011b; Spöttl/Windelband 2012b; Spöttl et al. 2009), Dehnbostel (Büchter/Dehnbostel 2012) und Esser (2013; 2012; 2011) lassen sich in die separierende Argumentationslinie einordnen. Hier sei auf Bathelt 2015 verwiesen.
Zitieren des Beitrags
Backes-Haase, A./Bathelt, M. (2016): Wirtschaftspädagogisches Argumentieren – Zur Präsenz berufsbildungstheoretischer Argumentationsfiguren in aktuellen berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskursen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 29, 1-25. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe29/backes-haase_bathelt_bwpat29.pdf (12-05-2016).