bwp@ 29 - Dezember 2015

Beruf

Hrsg.: Martin Fischer, Karin Büchter & Tim Unger

Chinesische und Deutsche Beruflichkeit im Vergleich

Beitrag von Marius Herzog & Bin Bai
bwp@-Format: Diskussionsbeiträge

Seit den 1980er Jahren ist China an deutscher Aus- und Weiterbildung interessiert. Besonders Konzepte der Berufsausbildung und Management-Qualifizierungsangebote sind gefragt. Im Zuge dessen werden Bildungsinhalte beruflicher Aus- und Weiterbildung von Deutschland nach China exportiert und wissenschaftlich begleitet. Bisher wurde jedoch kaum hinterfragt, ob und inwieweit Berufsbildungsexporte bezogen auf das Verständnis von Beruflichkeit im Zielland anschlussfähig sind.

Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Es wird herausgearbeitet, inwieweit Beruflichkeit, wie sie in Deutschland verfasst ist, in China existiert. Dabei werden verschiedene Kriterien der Beruflichkeit in Bezug auf Deutschland und China gegenübergestellt. Beruflichkeit, wie sie in Deutschland seit langem die Gesellschaft prägt, ist in China kaum vorhanden. Allerdings gibt es enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungsprozesse und staatliche Reformen des Bildungssystems sind geplant. Der Beitrag zeigt auf, inwiefern sich das Land auf dem Weg zu einer Beruflichkeit chinesischer Prägung befindet.  Ausblickend wird die Frage aufgeworfen, inwieweit sich Erkenntnisse zur Beruflichkeit aus deutscher Perspektive auf den chinesischen Kontext übertragen lassen.

Comparison of Chinese and German concepts of occupationalism

English Abstract

China has been interested in initial and continuing education and training in Germany since the 1980s. Vocational education and training concepts and management qualification opportunities are particularly in demand. The educational content of initial and continuing training is thus exported from Germany to China and monitored scientifically. Until now, however, almost nobody has questioned whether and, if so, to what extent vocational education and training exports are compatible with the situation in the country importing them on account of the concept of occupationalism.

This article takes this question as its starting point. It identifies the extent to which occupationalism as understood in Germany exists in China. For this purpose, various criteria of occupationalism are contrasted in relation to Germany and China. Occupationalism as it has long shaped German society barely exists in China. There are, however, processes of great economic and social change as well as plans for a national reform of the education system. The article illustrates the extent to which the country is headed towards a truly Chinese sense of occupationalism. Finally, the question is raised as to what extent German ideas of occupationalism can be applied to a Chinese context.

1 Einleitung

Seit den 1980er Jahren gibt es zwischen Deutschland und China eine Kooperation in der Berufsbildung mit bilateralen Delegationsbesuchen, Gastaufenthalten chinesischer Fachkräfte zur Fort- und Weiterbildung in Deutschland, China-Besuchen deutscher Experten sowie vielen Projekten im Rahmen der Berufsbildung (vgl. Zhao 2003, 10).

Die berufliche Aus- und Weiterbildung gilt gegenwärtig aus internationaler und deutscher Perspektive immer stärker als „Schlüsselfaktor“ für die wirtschaftliche Entwicklung sowie für die Wettbewerbsfähigkeit und Exportstärke von Unternehmen (vgl. iMOVE 2010, 4). Deutschland profitiert dabei von der hohen Anerkennung des dualen Systems, während aus chinesischer Sicht deutsches Wissen zur Verbesserung der Aus- und Weiterbildungsstrukturen attraktiv erscheint (vgl. Glöckner 2013, 203). So arbeiten deutsche Unternehmen in China mit Berufsschulen zusammen, was den Bestrebungen der chinesischen Regierung entspricht, Maßnahmen gegen die traditionell theorielastige Struktur der Ausbildung zu ergreifen (vgl. Pilz/Li 2014, 20f.). Im Rahmen der Förderung des Bildungsexports durch das BMBF wird der Auf- und Ausbau von Bildungseinrichtungen im Ausland unterstützt (vgl. Robak u. a. 2014). Vor diesem Hintergrund ist es angebracht, den Hintergrund des Berufsverständnisses beider Länder zu vergleichen, was bislang kaum geschehen ist (vgl. teilweise Aulig 2008). Um nachvollziehen zu können, inwieweit China und Deutschland hierbei Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen, wird Beruflichkeit zunächst jeweils historisch und begrifflich ausgeleuchtet. Nach Erläuterung von Berufsbegriff und Berufsverständnis werden die wichtigsten Entwicklungen der letzten dreißig Jahre betrachtet. Einem Überblick auf die jeweilige Berufsforschung folgt abschließend eine Zusammenfassung mit ausblickenden Fragestellungen.

2 Beruflichkeit aus deutscher Perspektive

2.1 Historische Entwicklung und Verständnis von Beruflichkeit

Beruflichkeit wird als „Berufsform der Arbeitskraft“ (vgl. Daheim 1994, 89f.) definiert, die eine Kombination spezifischer Bündel von Qualifikationen umfasst, mit denen Arbeitskräfte auf den Arbeitsmarkt treten. Entstanden sind diese Kombinationen durch Kämpfe um Zuständigkeiten, Verdienstmöglichkeiten und Prestige und als Resultate sozialer Zuschreibungen (vgl. Tiemann 2012, 52). Beruflichkeit umfasst zugleich individuelle Aspekte unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Kontexts (vgl. Kutscha 2008). Als Prototyp verberuflichter Arbeit galt lange der industrielle Facharbeiter (vgl. Lutz/Voss 1992; Meyer 2012, 1). Die Erklärung dafür, warum es überhaupt einen Begriff, wie Beruflichkeit im Deutschen gibt, ist in der historischen Entwicklung zu finden. Seit der Antike, spätestens aber seit dem Mittelalter hat sich im deutschsprachigen Raum aus den Handwerkszünften eine Berufsausrichtung in der Gesellschaft etabliert, die tief in Religion und Konvention verankert war (vgl. Bruchhäuser/Horlebein 2010; Kurtz 2013). Dabei wurde die berufliche Bildung über staatliche Ordnungsverfahren bis hinein ins 20. Jahrhundert immer feiner reguliert (vgl. Büchter/Meyer 2010).

Im internationalen Vergleich gilt das deutsche Berufsausbildungssystem somit als „hochgradig reglementiert“, was im Berufsprinzip begründet liegt, nach dem sich die Berufsausbildung an Qualifikationsanforderungen des Berufsfeldes und nicht an denen eines Betriebs orientiert (Euler 2013, 264): „Dabei sollen die Absolventen einer Berufsausbildung berufliche Handlungskompetenzen erworben haben, die zur Bewältigung der typischen Anforderungen in einem breiter definierten Berufsfeld erforderlich sind.“ Diese Organisationsform birgt eine hohe Komplexität. So prägt das Konstrukt der Beruflichkeit das jeweilige berufliche Kompetenzprofil einer Berufsausbildung, in Hinblick auf Didaktik und Curriculum beeinflusst es die Struktur von Berufsbildung und Ausbildungsprozessen, während es in tariflicher Hinsicht Facharbeitsmärkte strukturiert (vgl. Euler 2013, 265).

Die besondere Bedeutung von Beruf und Beruflichkeit liegt in der gesellschaftlichen Verwurzelung begründet (vgl. Kupka 2005, 17). Das Duale System, das die Berufsausbildung in die Hände von Betrieben und Berufsschulen gibt, gilt als weltweit anerkanntes und einzigartiges „Deutsches Modell“ (vgl. Kreutzer 2001; Kupka 2005; Tärre 2013). Vor diesem Hintergrund und einer beruflich bedingt regulierten, vergleichsweise guten Bezahlung sind etwa Facharbeiter, verglichen mit Akademikern, gesellschaftlich anerkannt und durch ihre Qualifikationen geachtet.

2.2 Berufsdefinition und Berufsverständnis

In der Berufsforschung wird Beruf durch folgende Merkmale beschrieben: Abgestimmte Bündel von Qualifikationen, Aufgabenfelder, die den Qualifikationsbündeln zugeordnet sind, Hierarchisch abgestufte Handlungsspielräume sowie Strukturmerkmal gesellschaftlicher Einordnung und Bewertung (Dostal 2002b, 464).

Angesichts der umfangreichen Einbettung des Phänomens Beruf in individuelle und gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge soll diese Beschreibung hier als exemplarische Definition verstanden werden.

Eine Berufsdefinition steht nach Kutscha (vgl. 2008, 1) letztlich immer im Zusammenhang mit den entsprechenden Beobachterperspektiven. So sind Aspekte wie die Probleme der Ordnung und dauerhaften Strukturierung berufsförmig organisierter Arbeit oder handlungstheoretische und personale Perspektiven relevant. Die soziokulturelle Perspektive dagegen rückt die „relationalen“ Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Subsystemen (Beschäftigungs-, Bildungs-, Sozialsystem u. a.) einerseits und Handlungssubjekten andererseits in den Mittelpunkt.

Die Vieldimensionalität von Beruf (vgl. Dostal 2002b, 463ff., Pätzold/Wahle 2000, 525f.) wird in Abgrenzung zum Job deutlich, der lediglich zum befristeten Gelderwerb ohne dezidierte Ausbildung dient (vgl. Dostal 2002a, 179f.). Sie erstreckt sich über die Verwendung des Begriffs Profession bzw. im Professionalitätsdiskurs, wird aber auch in der Bedeutung einer Funktion deutlich. Während die Profession mit ihren Eigenschaften wie z. B. expliziter fachlicher Qualifikation einer ethisch basierten fachlichen Qualitätsorientierung oder einer gewissen Autonomie (vgl. Voß 2012, 292) als eine besondere Ausprägung des Berufs gilt (vgl. Kupka 2005, 22), erfüllt der Beruf gesellschaftlich z. B. eine Orientierungsfunktion (Pätzold/Wahle 2013), bzw. fungiert manifest (etwa in Berufsordnungen) oder latent (etwa in Konventionen oder Erwartungen) (vgl. Deutschmann 2005, vgl. zum Begriff „berufliche Ordnung“ Kraus 2007). Beruf repräsentiert nach Rosendahl/Wahle (2012, 26) idealisierte Bedeutungskerne im Dualismus von Sinngebung und Existenzsicherung.

Angesichts solcher Vielfalt von Bezügen, die sich in einer Definition zum Beruf spiegeln müssten, verwundert es kaum, dass dessen Definition unübersichtlich, vielschichtig oder kaum trennscharf ausfällt. Kupka nutzt zur Verdeutlichung ein Zitat von (Beck/Brater/Daheim 1980): „ ‚So selbstverständlich im Alltag von Beruf die Rede ist und so deutlich und unübersehbar dort seine Spuren sind, so schwer tut sich die Wissenschaft, wenn sie das Berufsphänomen dingfest machen will’. An diesem bedauerlichen Zustand hat sich in den letzten 25 Jahren wenig geändert…“ (Kupka 2005, 20).

Obwohl oder gerade weil dieses Konvolut des Berufs an individuellen, strukturellen und gesellschaftlichen Bezügen komplex ist, zeigt es doch gleichzeitig die äußerst starke Ausprägung Deutschlands als „Berufsgesellschaft“ (vgl. Fürstenberg 2013).

2.3 Wichtige Schritte in der Entwicklung der Beruflichkeit der letzten dreißig Jahre: Die Erosion des Berufsbegriffs

Als dominierend in der Entwicklung der Beruflichkeit Deutschlands kann die über dreißig Jahre andauernde Debatte zur „Erosion des Berufsbegriffs“ gesehen werden. In den Diskussionen um die Auflösung des Berufsbegriffs geht es darum, das dieser angesichts des ökonomischen und technologischen Wandels als überholt und international nicht mehr konkurrenzfähig angesehen wird (vgl. Rauner 2001; Rosendahl/Wahle 2012; Pahl/Herkner 2013). Nach Büchter/Meyer (2010, 324) stand dabei die Krise der Struktur und Organisation des Dualen Systems der Berufsausbildung im Mittelpunkt und damit die Überlegungen zu einer Aufweichung fachlicher und institutioneller Grenzen zwischen Berufs- und Berufsbildungsstrukturen: „Zum einen sollte eine Entspezialisierung bzw. Flexibilisierung der Erstausbildung durch eine relative Entkopplung von Ausbildung und Beruf und durch den Ausbau von Weiterbildungseinrichtungen begünstigt werden. Diese Forderung nach struktureller und institutioneller Flexibilisierung von Berufen und beruflicher Bildung wurde auf der anderen Seite ergänzt durch Postulate nach individueller Flexibilität, ständigem Weiterlernen und der Bereitschaft der Arbeitenden zum Berufswechsel.“

Das Konstrukt Beruf hat sich in tausenden Jahren entwickelt, von „Berufsarbeit“ ist im deutschen Sprachraum seit dem 17. Jahrhundert die Rede, und Beruf und Beruflichkeit haben in der deutschen Gesellschaft eine lange Tradition. Daher ist bemerkenswert, dass seit etwa vierzig Jahren mit der Beschleunigung in der Arbeitswelt und veränderten individuellen Erwerbsbiographien in einer dynamisierten Arbeitswelt das Ende des Berufs proklamiert wurde (vgl. Rosendahl/Wahle 2012, 25f.). Dabei geht es um den Übergang vom beruflich-traditionellen Funktionalismus-Prinzip zu optimierender Prozessorientierung der Großindustrie (vgl. Baethge-Kinsky/Kupka 2001, 166f.). Damit verbunden ist die Frage nach dem Zugehörigkeitsgefühl von qualifizierten Arbeitskräften: So sehen sich jene, die im Konstrukt der Beruflichkeit verhaftet sind, zunächst als Angehörige ihrer speziellen Berufsgruppe, während die anderen ihre Identifikation zunehmend über den Betrieb aufbauen, in dem sie arbeiten.

Während Vertreter der Erosionsthese von einem nicht mehr zeitgemäßen Berufskonzept sprechen (vgl. Dobischat/Düsseldorff 2002, 328; Dostal 2002b, 466), behaupten Kritiker dieser Position, dass dies Konzept zwar vor Veränderungen stehe, im Kern aber nicht gefährdet sei (vgl. z. B. Kutscha 2008; Tiemann 2012; Meyer 2004). Zudem seien schon immer Krisen proklamiert worden, etwa in der Debatte um anerkannte bzw. nichtanerkannte Berufe im Rahmen der Industriearbeit, was die Beruflichkeit jedoch nicht tiefgreifend erschüttert habe (vgl. z. B. Rosendahl/Wahle 2012, 27; Bosch/Haipeter 2014). Eine dritte, vermittelnde Position geht von Veränderungen einer Beruflichkeit im Sinne einer Modernisierung aus (vgl. Rauner 2001; Kupka 2005; Meyer 2012; Pätzold/Wahle 2013).

Deprofessionalisierung und Reprofessionalisierung beziehen sich auf das herkömmliche Berufskonzept und beschreiben dessen Zersetzungs- bzw. Reaktivierungstendenzen.

Unter Deprofessionalisierung werden Prozesse gefasst, die sich darin auszeichnen, die Hoheit einer Profession bzw. qualifizierter Berufstätiger zu unterminieren. Als Beispiel können Ärzte und Berufe aus Sozialarbeit und Bildung gelten, die durch moderne Optimierungsverfahren, wie Qualitätssicherungssysteme oder Umverteilung von Arbeitsprozessen an Autonomie (z. B. gegenüber Betriebswirten) einbüßen (vgl. Voß 2012, 292f.). Dostal (2002, 181f.) stellt in diesem Zusammenhang die Frage, ob es sich dabei um ein „Bugwellenphänomen“ handelt, dessen Brisanz sich in kommenden Innovationsphasen wieder relativiert oder ob eine dauerhafte Deprofessionalisierung Einzug hält, die professionalitätsbezogene Aufgaben zu automatisierten Routinen werden lässt, die letztlich von Laien händelbar sind. In diesem Zustand wären Berufe weder nötig noch sinnvoll, da flexible Arbeitskräfte (Change Agents) gefragt seien, was sich allerdings wiederum als neuer Beruf darstellen könnte – allerdings nicht auf fachlicher sondern auf Aktionsebene.

Unter Reprofessionalisierung werden Prozesse (gegenläufig zur Deprofessionalisierung) verstanden, in deren Verlauf sich erweist, dass eine gewisse fachliche Spezialisierung, wie sie von ausgereiften Berufen repräsentiert werden, wieder an Bedeutung gewinnt. Dies geschieht durch die Anerkennung der Gesellschaft, persönlichkeitsfördernde Arbeitsstrukturen oder traditionelle Werte wie Kompetenz, Verantwortungsfähigkeit und Identifikation (vgl. Dostal 2002a): „Gerade die Auflösungstendenzen im Status der Erwerbstätigen legt es nahe, dem Beruf als Identifikationsanker eine eher steigende Bedeutung zuzumessen“ (Dostal 2002b), 463).

Während De- und Reprofessionalisierung im Kontext des traditionellen Berufskonzepts zu verorten sind, geht es in der Frage nach Individualberuf oder subjekt-orientierter Professionalität um ein ganz neues bzw. anderes Verständnis. Die Figur des Arbeitskraftunternehmers wendet sich ab vom herkömmlichen Berufskonzept, in dem das Individuum sich auf seine individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen konzentriert und ein berufsunabhängiges Qualifikationsprofil eigenständig am Arbeitsmarkt anbietet. Nach solch neuem Leitbild der Arbeitskraft ist diese nicht „berufslos“, sondern bereichert Beruflichkeit mit neuer Qualität (vgl. Voß 2012, 283) und lässt sich anhand von drei Merkmalen unterscheiden (Voß 2012, 287):

„1. Arbeitspersonen müssen mehr als bisher die konkrete Anwendung ihrer Fähigkeiten im Arbeitsvollzug verstärkt „selbst kontrollieren“ (Tätigkeitsfunktion);

2. sie müssen deren Herstellung und Vermarktung systematischer „selbst ökonomisiert“ betreiben (ökonomische Funktion) und

3. die alltägliche und biografische Einbindung ihrer Tätigkeiten und Potentiale mittels „Selbstrationalisierung“ in neuer Qualität realisieren (existenzielle Funktion).

Der Arbeitskraftunternehmer ist so gesehen eine subjektivierte Form von Arbeitskraft, die in neuer Qualität auf sich selbst zurückgeworfen ist.“

2.3.1 Moderne Beruflichkeit

Als Folge der Debatte um die Erosion der Beruflichkeit können Ansätze betrachtet werden, die eine „moderne Beruflichkeit“ in den Mittelpunkt stellen und damit Beruflichkeit in einem erweiterten Kontext sehen (vgl. zur gewerkschaftlichen Perspektive IG Metall 2014). So wird eine „reflexive Beruflichkeit“ thematisiert (vgl. Kreutzer 2001) oder auf eine „Neuausrichtung des Berufsprinzips“ eingegangen (vgl. z. B. Kraus 2007, 393; Euler 2013;). Exemplarisch können zwei Elemente moderner Beruflichkeit herausgegriffen werden.

Rauner (2001) vertritt das Konzept „offener dynamische Beruflichkeit“ und rückt Mitgestaltung im Rahmen der Facharbeit in den Mittelpunkt, so dass Flexibilität und Beruflichkeit als „zwei Seiten zukünftiger Facharbeit“ angesehen werden (vgl. Rauner 2001, 203). So geht er von einer „prospektiven Berufsplanung“ aus, die er konzeptionell mit vier spezifischen Kriterien moderner Beruflichkeit verbindet (vgl. Rauner 2001, 199ff.):

  • Arbeitszusammenhang und Arbeitsprozesswissen als zentrale berufskonstituierende Merkmale
  • Rücknahme horizontaler Spezialisierung durch die Einführung von Kernberufen
  • Zeitlich stabile Berufe
  • Offene dynamische Berufsbilder

Dabei steht die Einführung von Kernberufen im Mittelpunkt. Diese lassen sich als „Kurzausbildungsberufe“ unterhalb des Facharbeiterniveaus realisieren, bieten eine breitere Grundlage für Karrierewege, die sich in modularisierter Fort- und Weiterbildung zu einem zertifizierten Fortbildungsberuf ausbauen lassen (Rauner 2001, 200).

Meyer (2012, 3) spricht von „professionsorientierter Beruflichkeit“ und verfolgt damit die Perspektive einer erweiterten modernen Beruflichkeit, wie sie sich im Rahmen gehobener Beruflichkeit durch die Öffnung der Hochschulen zeigt, dort etwa, wo Studieninteressierte ohne Abitur ihr Studium aufnehmen können. Professionsorientierung seitens der Berufsausbildung liegt hier jedoch nur zum Teil vor, da die Berufsausbildung partiell bereits über fachwissenschaftliche Bezüge angelegt ist (vgl. Meyer 2012, 6). Dieser Zugang verlässt einerseits einen enggefassten Professionsbegriff schießt andererseits eine aktuell bedeutende Entwicklung der Beruflichkeit ein: die Akademisierung der Arbeit – oder vice versa die Verberuflichung des Studiums.

2.4 Berufsforschung in weitem Forschungsumfeld

Im Rahmen der der eingangs betonten Komplexität von Beruf und Beruflichkeit existieren in der deutschen Berufsforschung verschiedene Zweige unterschiedlicher Disziplinen, vor allem der Bildungs- und Erziehungswissenschaften, der Soziologie und Psychologie. Dabei gehen z.B. Fragen nach der Professionalisierung, der Berufsgenese oder der Berufsbildungsplanung ebenso in die Forschung ein, wie Probleme der Berufsqualifikation, der Berufsausübung oder der Erforschung beruflicher Identität. Neben Professions-, Berufs-, oder Arbeitssoziologie sind hier die Berufswissenschaften zu nennen, die sich aus Wirtschaftspädagogik, Berufspädagogik und der Berufstheorie-Forschung zusammensetzen (vgl. Pahl 2013, Pahl/Herkner 2008). In der Berufsforschung lassen sich Berufsbildungsforschung bzw. Arbeitsmarkt- und Tätigkeitsorientierte Berufsforschung unterscheiden.

In der Auseinandersetzung mit den Anforderungen von Beschäftigung und Beruf einerseits und den subjektiven Entfaltungs- und Gestaltungsbedürfnissen andererseits können zwei Ansätze unterschieden werden. So verfolgt der „Bremer Ansatz“ berufswissenschaftliche, der „Siegener Ansatz“ bildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung (vgl. Büchter 2006, 3).

Einen Überblick auf diese weitverzweigte Forschungslandschaft bieten beispielsweise das Handbuch zur Berufsforschung (Pahl/Herkner 2013), das zur Berufs- und Wirtschaftspädagogik (Nickolaus 2010) oder das zur Berufsbildungsforschung (Rauner 2006). Neben den fachwissenschaftlichen Verbänden sind für die Berufsforschung das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung (BBF) sowie das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu nennen.

Obwohl es teilweise Probleme hinsichtlich der Zuschnitte von Forschungszweigen und deren Schwerpunkt- und Zielsetzungen, der Kompetenzen und Finanzierungen gibt, kann aus deutscher Perspektive, aus Perspektiver einer Berufsgesellschaft, eine äußerst umfangreiche und intensive Forschung zur Beruflichkeit in all ihren Ausformungen festgehalten werden.

3 Beruflichkeit aus chinesischer Perspektive

3.1 Historische Entwicklung und Verständnis von Beruflichkeit

Mit seiner mehr als 5000 Jahre alten Geschichte gehört China zu einer der ältesten Zivilgesellschaften. Bereits in der Periode der Frühlings- und Herbstannalen (770-476 v. Chr.) unterteilte Guan Zhong die Gesellschaft in Gelehrte (Shi), Bauern (Nong), Arbeiter (Gong) und Handelstreibende (Shang) was somit als erste Berufsklassifikation Chinas gelten kann (Guo 2007, 13). Unter diesen vier sozialen Schichten bildeten die höchste Klasse die Gelehrten, wobei die Alten unter ihnen nach dem Senioritätsprinzip besonders anerkannt waren. Sie verrichteten geistige Arbeit und fällten in der Regel Entscheidungen, die die gesamte Gesellschaft betrafen (Huang 2012). Zur niedersten Klasse des alten China gehörten die Händler und Geschäftsleute, die zwar über beträchtlichen Wohlstand verfügten, gesellschaftlich und moralisch allerdings nicht geachtet waren. In der Tang-Dynastie (619-907) wurden 36 Berufe aufgeführt, wovon heute noch viele Bezeichnungen gelten (Zhao 2013, 923).

Die chinesische Gesellschaft ist stark von der konfuzianischen Kultur geprägt. Regierungsbeamte waren immer als gesellschaftliche Elite anerkannt und geistige Arbeit galt gegenüber körperlicher Arbeit als überlegen. Der Philosoph Mencius sagte: „Der Herrscher lebt von geistiger Arbeit, der Untertan von körperlicher Arbeit.“ Diese Sichtweise beeinflusste die Chinesen über Jahrtausende. Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, dass die Berufsausbildung in China größtenteils kein hohes Ansehen genießt.

Insgesamt wird Beruf als etwas betrachtet, das der Gesellschaft nützlich ist und dazu dient, den Verpflichtungen des Individuums gegenüber der Gesellschaft nachzukommen (Zhao 2013, 923). Als weitere Eigenschaft gilt der Beruf in seiner Funktionalität gesellschaftlicher Verwaltung, „worin die Idee der „sozialistischen Marktwirtschaft“ zum Ausdruck kommt, die sich vom Gedanken der freien Marktwirtschaft unterscheidet“ (Zhao/Bai 2013, 933). So gab es keine Wertschätzung für das „Facharbeitertum“ (Aulig 2008, 27ff.): In staatlichen Betrieben wurden die Aufgaben täglich neu verteilt, was dazu führte, dass Fachkräfte ihre Expertise nicht zur Geltung bringen konnten. Zudem erschwerte die Kollektivierung der handwerklichen Betriebe das Fortbestehen traditioneller Formen von Berufsethos und die Dauer der Betriebszugehörigkeit stand über Fachlichem Können.

3.2 Berufsdefinition und Berufsverständnis

Der Berufsbegriff ist vielschichtig. Der chinesische Wortschatz verfügt über mehrere Bezeichnungen, die stark mit der Vorstellung von „Beruf“, „Beschäftigung“ und „Profession“ verbunden sind und jeweils wiederum über mehrere Bedeutungen verfügen.

So wird der Begriff „Lao Dong” (劳动) am häufigsten mit körperlicher Arbeit übersetzt, manchmal als Arbeit generell (Ruan/Guo 2009b). „Gong Zuo”, (工作) steht in engem Zusammenhang mit Beschäftigung oder Beruf und „Gong Zuo” wird oft mit Aufgabe, Arbeit oder Beruf übersetzt. (Ruan/Guo 2009b, 697). „Zhi Ye” (职业) steht in enger Beziehung zu Beschäftigung oder Beruf und wird oft wird es mit Beschäftigung, Profession oder Beruf in Abgrenzung zum Amateurhaften verbunden“ (Ruan/Guo 2009a). „Zhi Ye” wird wissenschaftlich folgendermaßen gefasst: „Eine relativ dauerhafte spezialisierte und bezahlte soziale Tätigkeit, in der man sich für Leben und Fortschritt einsetzt“. Es gibt drei Bestandteile: Arbeit, Einkommen und gesellschaftliche Anerkennung im Sinne eines gesellschaftlichen Nutzens (Guo 2007). Der Begriff steht vor allem im ökonomischen Kontext. Arbeiter sind durch „Zhi Ye”-Aktivitäten erwerbstätig und können so ihre finanzielle Grundlage sowie die ihrer Familie erhalten oder verbessern. Generell sind „Zhi Ye”-Aktivitäten dauerhaft. Dabei erfordert jedes „Zhi Ye” eigene berufliche Anforderungen, Fähigkeiten und spezielles berufliches Fachwissen, Kompetenzen und Arbeitstechniken, aber auch beschäftigungsethische sind Aspekte impliziert. Jedes „Zhi Ye” hat eine soziale Dimension, mit gesellschaftlicher Bedeutung und steht in Verantwortung gegenüber den Rechten und Pflichten der Staatsbürger.

Unter „Zhuan Ye” ist schließlich „Spezialisiertes“ oder „Professionelles“ zu verstehen. Dafür gibt es im Chinesischen drei Bedeutungen: erstens, eine Spezialisierung auf ein Fach oder einen Studienbereich im akademischen Sinne, zweitens, eine Spezialisierung im Wirtschaftssektor bezogen, auf verschiedene Branchen. Die dritte Bedeutung umfasst eine hochqualifizierte Spezialisierung, wie sie in stark professionalisierten Berufen mit ausgeprägten Berufskompetenzen in vorkommt.

Zu dem begrifflichen Variantenreichtum im Chinesischen kommen definitorische und systemische Differenzen, die einen Übertrag des Berufsverständnisses ins Deutsche erschweren (Aulig, 2008, 29): „Ein berufsbildendes Konzept, welches mit einfachen Tätigkeiten beginnt und das Wissen stufenweise bis zum Expertentum aufbaut, existiert im modernen China nicht. Aus diesem Grund würden die meisten der in China erlenbaren Berufe in Deutschland in den Bereich einer Anlerntätigkeit fallen und keine eigenständige Anerkennung erhalten. Entsprechend gibt es auch für einen zentralen Begriff der Berufspädagogik, wie dem des Berufsfeldes (zhiye lingyu bzw. zihye fanwei) im Chinesischen zwar eine sprachliche, aber keine inhaltliche Entsprechung. Umgekehrt scheitert eine inhaltliche Übersetzung des chinesischen Begriffs Arbeitsfeld (gongzuo lingyu), den man teilweise versucht, mit den Begriffen „Berufsfeld“ oder „Beruf“ zu erklären.“ Während in Deutschland der Beruf gesellschaftliche eine hohe Bedeutung hat, sind es in China Betrieb und Clan (Georg 2005, 22ff.). Ein Verständnis von Beruflichkeit, wie sie in Deutschland existiert, gibt es in China nicht.

Angesichts dieser begrifflichen Vielfalt, der falschen Benutzung mancher Begriffe im Berufskontext und der Tatsache, dass in China „die Beziehung zwischen Beruf und Arbeitsorganisation wenig betrachtet wird“ (Zhao 2013, 924), ist die Anwendung des Berufsbegriffs nicht unproblematisch. Dies gilt auch für die westliche Wahrnehmung, da dieser stärker über „exogene“ Merkmale verfügt: das Individuum mit seiner subjektiven Bedürfnisbefriedigung steht im Mittelpunkt. Nach chinesischem Berufsverständnis geht es eher um utilitaristische Kriterien, Harmonie, zwischenmenschliche Beziehungen, strenge Selbstdisziplinierung und Toleranz gegenüber anderen (Zhao/Bai 2013, 933). Allerdings haben sich hierbei Veränderungen ergeben, wie die Entwicklung der Beruflichkeit der letzten drei Dekaden zeigt.

3.3 Wichtige Schritte in der Entwicklung der Beruflichkeit der letzten dreißig Jahre: Der Wandel der Beschäftigungsstruktur und die Beziehung zur Arbeit

Die letzten dreißig Jahre mit ihren rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen bedeuteten für das Land enorme Veränderungen. Die Sozial- und Beschäftigungsstrukturen befinden sich nach wie vor im Umbruch und Wirtschaftswachstum nebst technologischer Entwicklung wirken sich auf die Berufsentwicklung aus (vgl. Zhao/Bai 2013, 940).

Seit den 1970er Jahren öffnete China sich dem Ausland und die Marktwirtschaft wuchs. Das Huko-System, Chinas offizielles Wohnsitzkontrollsystem, begann als Instrumentarium der Wohnortvergabe an Bedeutung zu verlieren. Soziale und berufliche Mobilität nahmen zu, da viele Menschen vom Land in die Stadt zogen, um eine besseres Leben zu führen (vgl. Köhne 2003, 71f.). Im Jahre 2011 gehörten durchschnittlich 253 Millionen Menschen zur wandernden Bevölkerung, was einem Anteil von 18,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Chinas entsprach (NBSC 2015b). 2014 betrug der Urbanisierungsgrad 54,77 Prozent, eine Zunahme um 36,87 Prozentpunkte gegenüber dem Stand von 1978.

Auch die Wirtschaftsstruktur befindet sich im Umbruch. Während Chinas Primärindustrie 1978 einen Anteil von 28,2 Prozent ausmachte betrug dieser 2014 gerade mal 9,2 Prozent. Seit 2013 sprintet Chinas Tertiärindustrie an der Sekundärindustrie vorüber. 2014 belief sich der Anteil der Tertiärindustrie auf 48,2 Prozent. Somit wurde die Sekundärindustrie mit ihrem Anteil um 5,6 Prozentpunkte übertroffen: Die Handwerksorientierte Gesellschaft wurde von der Dienstleistungsgesellschaft abgelöst (NBSC 2015a).

<<Abb. 1: Chinas Wirtschaftsstruktur im Wandel (Quelle: National data 2015, National Bureau of Statistics of China)Abb. 1: Chinas Wirtschaftsstruktur im Wandel (Quelle: National data 2015, National Bureau of Statistics of China)

Ebenso veränderte sich die Struktur der arbeitenden Bevölkerung in hohem Maße. Der Anteil der Primärindustrie an der Anzahl aller Beschäftigten des Landes sank von 283,18 Millionen (1978) auf 241,71 Millionen (2013), was einem Rückgang von 70,5 Prozent auf 12,2 Prozent entspricht. Der Anteil der Beschäftigten in der Sekundärindustrie stieg hingegen von 6,945 Millionen auf 231,7 Millionen, was einen Zuwachs von 17,3 Prozent (1978) auf 30,1 Prozent (2013) bedeutet. Die Zahl der in der Tertiärindustrie arbeitenden Menschen stieg von 48,90 Millionen auf 296,36 Millionen, ein Anstieg von 12,2 Prozent (1978) auf 38,5 Prozent (2013) (CSY 2014, 91) (vgl. Abb. 2).

<<Abb. 2: Chinas Beschäftigtenstruktur im Wandel (Quelle: National data 2015, National Bureau of Statistics of China)Abb. 2: Chinas Beschäftigtenstruktur im Wandel (Quelle: National data 2015, National Bureau of Statistics of China)

Seit 1992 veröffentlicht das Arbeitsministerium das Verzeichnis der Berufsklassifikationen. Es bildet 1999 acht Hauptkategorien: Manager auf unterschiedlichen Ebenen von Staats- und Parteieinrichtungen (einschließlich staatseigener Betriebe und Forschungsinstitute), hochspezialisiertes und technisches Personal, Verwaltungs- und Büroangestellte, Bedienungspersonal sowie Einzel- und Großhandelskaufleute, Beschäftigte in Land-, Forst-, und Wasserwirtschaft und Fischerei, Fabrikarbeiter und Beschäftigte in Transportunternehmen, Armeeangehörige sowie Sonstige (Dahlman/Zeng/Wang 2007, 73f.).

Als negativer Einflussfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung gilt der Qualifikationsmangel von Arbeitskräften (vgl. Aulig 2008, 8f.; 33). Um dies zu ändern und die Einstiegsbedingungen für die wirtschaftlich und gesellschaftlich relevanten Berufe zu gewährleisten, wurde ein Berufszertifikatssystem eingerichtet, das Planung, Ausbildung, Entwicklung, Nutzung und Verwaltung der Berufsqualifikationen steuert. Außerdem wird an einem nationalen Berufsstandard gearbeitet, der die Berufsbezeichnungen, Kompetenzmerkmale, Berufsethik und Arbeitsanforderungen festlegt (Zhao/Bai 2013, 938).

Im August 2015 führte das Arbeits- und Sozialministerium ein neues Berufsqualifikationssystem ein, um mit der rasanten Entwicklung des Beschäftigungssektors Schritt zu halten. Gleichzeitig brachte es Leitlinien zur Berufsausbildung und beruflichen Qualifizierung neu entstehender Industriezweige heraus. Hierunter fallen 347 neue Tätigkeiten, die nun eine offizielle Berufsbezeichnung erhalten, während gleichzeitig 894 Berufsbezeichnungen als veraltet aus der Liste gestrichen wurden. Alle Berufsfelder wurden in 1.481 Beschäftigungskategorien unterteilt, was einer Reduzierung von 547 Kategorien gegenüber dem vorherigen System entspricht (MHRSS 2015).

Die letzten dreißig Jahre zeugen auch von rapiden und enormen Veränderungen des sozialen Lebens. So hat sich für die Menschen die Beziehung zur Arbeit geändert. Lange galten Werte wie Tradition, Harmonie, Gemeinschaftssinn, Konformität, die Anerkennung von Hierarchien, Ganzheitlichkeit, das Denken in Zusammenhängen, Gegenseitigkeit und Guanxi (das jeweilige Beziehungsgeflecht zwischen Personen) als Herzstück der chinesischen Kultur (Kirkbride/Tang/Westwood 1991).

Soziologen unterteilen die arbeitende Bevölkerung Chinas in vier Generationen: die in den 1950er, den 1960er sowie den 1970er Jahren Geborenen und schließlich jene, die nach 1980 zur Welt kamen. Die Untersuchungen zeigen Unterschiede zwischen den jeweiligen Generationen in ihrer Einstellung zur Arbeit (Zhao 2007).

Für die 1950er und 1960er Jahrgänge ist Arbeit zentral. Sie opfern ihre Freizeit und ignorieren Familienbelange, um beruflich erfolgreich zu sein. Für sie ist Beschäftigung nicht nur dazu da, Geld zu verdienen, sie möchten sich vielmehr selbst verwirklichen und der Gesellschaft nützlich sein. In ihrer Jugend auf materiellen Wohlstand verzichtend, mussten sie mit vielen Widrigkeiten kämpfen und sind stolz, wenn sie in wachsender Verantwortung ihre Ideale verwirklichen können (Liu 2011).

Die 1970er-Generation hat eine entbehrungsreiche Kindheit erlebt. Doch sie ist nicht bereit, wie die Generationen vor ihr, den größten Teil ihres Lebens der Arbeit zu widmen. Viele von ihnen versuchen eine Balance zwischen beruflicher Beschäftigung und Familienleben herzustellen. Wenn erforderlich, folgen sie zwar den Autoritäten, berücksichtigen jedoch auch ihre eigenen Ansichten und nutzen individuelle Freiräume (Liu 2011).

Die nach 1980 Geborenen wuchsen in der Ein-Kind-Familie auf und erlebten materiellen Wohlstand. Teilweise wird diese Generation für ihren Egoismus und ihr fehlendes gesellschaftliches Engagement Gesellschaft kritisiert. Sie strebt Selbstverwirklichung, hohe Führungspositionen und ein komfortables Leben an, verfügt jedoch über wenig Leidensfähigkeit und ist kaum in der Lage, mit Rückschlägen fertig zu werden. Ohne materielle Sorgen und ungestüm im Verhalten, haben Vertreter dieser Generation einen ausgeprägten Hang zum Geld und sind bereit, schnell den Job zu wechseln (vgl. auch Pilz/Li 2014, 19). Sie sind an raschem Erfolg und kurzfristigem Profit interessiert, an Gewinnen ohne Entbehrung und Verzicht (Editors 2008).

Die Umstellung von der Plan- zur Marktwirtschaft zog Änderungen in der Lohn- und Arbeitsverteilung nach sich. Fester Arbeitslohn und zusätzliche Bonusvergaben wichen einem leistungsorientierten Verdienst (Aulig 2008, 31). Die staatliche Verteilung von Arbeit wurde durch eine freie Wahl des Jobs abgelöst. Zudem veränderte die Reformierung staatlicher Unternehmen die Strukturen der Eigentumsrechte und somit auch die Arbeitsverhältnisse (vgl. Köhne 2003): immer mehr Arbeitnehmer wurden selbständig.

Diese gesellschaftlichen Veränderungen ermöglichen der arbeitenden Bevölkerung eine individuellere und materialistischere Beziehung zur Arbeit. So zeichnet sich diese nunmehr durch ihren praktischen, weniger ihren ideellen Charakter aus. Emotionen und innere Werte wie Verpflichtung, Verantwortung oder Gemeinschaft stehen nicht mehr so stark im Vordergrund. Die moderne Einstellung zur Arbeit ist vielmehr von Individualität, Offenheit, Vielfalt und Rationalität bestimmt (vgl. Shen 2003).

3.4 Berufsforschung in einem Umfeld des Wandels

3.4.1 Etablierung eines dualen Ausbildungssystems

Im Juni 2014 erließ der chinesische Staatsrat einen Beschluss, um die Entwicklung der modernen Berufsbildung und die Entwicklung eines modernen Berufsbildungssystems voranzutreiben. Im Jahre 2020 soll China über ein weltweit anerkanntes modernes Berufsausbildungssystem chinesischer Prägung verfügen: Der Stand des Berufsbildungssystems und die Struktur von Institutionen und Berufsfeldern sollen dabei den wirtschaftlichen und sozialen Anforderungen des Landes angepasst werden. In Secondary vocational schools sollen dann 23,5 Millionen Berufsschüler vertreten sein, in der höheren Berufsschule 14,8 Millionen Schüler.

Sechs Ministerien, einschließlich des Bildungsministeriums, legten den Plan für eine moderne Berufsausbildung (2014-2020) fest (vgl. Abb. 3). Er konzentriert sich auf die Entwicklung eines bedarfsorientierten offenen und integrierenden Rahmens der Berufsausbildung im Sinne lebenslangen Lernens. Berufsausbildung wird danach stärker in die primäre und sekundäre Schulbildung sowie auf Hochschul-Ebene integriert, mit eindeutigen Bildungswegen, welche die Berufsausbildung und andere Bildungsabschlüsse verbinden.

<<Abb. 3: Chinas neues Berufsausbildungssystem (MOE 2014)Abb. 3: Chinas neues Berufsausbildungssystem (MOE 2014)

3.4.2 Berufsbildung unterhalb eines Studienabschlusses als Besonderheit im Bildungssystem

Gegenüber der akademisch orientierten Hochschulausbildung gilt das parallele beruflich orientierte Ausbildungssystem als Novum der Planungen. Es bezieht höhere Berufsschulen, Fachhochschulen sowie die berufsbezogene Master- und Doktorandenausbildung ein. Bis 2020 soll ein neues duales Hochschulsystem existieren.

Gleichzeitig wird ein neuer Universitätstypus (Universities of Applied Sciences, UAS), der Bachelor-Abschlüsse in der Berufsausbildung vergibt, eingerichtet. Das Bildungsministerium ist daher bestrebt, die örtlichen undergraduate universities, die unter Provinz- oder kommunaler Hoheit stehen, in Hochschulen Angewandter Wissenschaften umzuwandeln. Wenn diese Umstrukturierung erfolgt ist, soll Chinas Hochschullandschaft stärker handlungsorientiert sein: mit etwa 500 Universitäten, 640 Fachhochschulen und 1.300 Berufsschulen. Damit wird die Berufsausbildung einen Anteil von 79 Prozent des Hochschulsektors ausmachen. Gegenwärtig allerdings befindet sich die höhere Berufsausbildung auf undergraduate – Ebene noch in der Entwicklung.

3.4.3 Berufsforschung und Berufsausbildung im Entwicklungsstadium

Die Berufsforschung Chinas ist im Aufbau. 1995 begann die institutionalisierte Berufsforschung mit Beginn an den Arbeiten des Verzeichnisses der Berufsklassifikation durch das damalige Arbeitsministerium, einem Meilenstein der chinesischen Berufsforschung (Zhao 2013, 923). Das Feld der Berufswissenschaften ist noch nicht ausgereift und Forscher, die in der Berufsforschung arbeiten, setzen sich aus Soziologen, Psychologen, Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlern zusammen. Insgesamt kann zwischen zwei Forschungssträngen unterscheiden werden: die Erforschung der Beschäftigungsverwaltungspraxis (Forschung zum Berufszertifikatssystem und zur Berufsentwicklung) sowie die Disziplin-bezogene Forschungen zur Fächergestaltung und Curriculumentwicklung, zur Arbeits- und Kompetenzanalyse in den Wirtschaftswissenschaften sowie psychologische und soziologische Berufsforschung (Zhao 2013, 924ff.). In den letzten zehn Jahren sind zunehmend auch deutschsprachige Studien zur Berufsbildung in China zu verzeichnen (vgl. z. B. Wang 2008).

Auch die chinesische Berufsausbildung (Zhao 2003; Wang 2008; Aulig 2008) befindet sich im Entwicklungsprozess. Die Lehrplanung bezieht sich auf Tätigkeiten und Inhalte, die nicht beruflich orientiert sind, sondern sich auf Funktionen konzentrieren, wie etwa Straßen- und Brückenbau oder elektronische Datenverarbeitung als solche. Infolge dessen mangelt es den Studierenden an Einblick und Verständnis für die beruflichen Belange (vgl. Zheng/Rützel 2014). Während der Berufsschul-Ausbildung gelingt es ihnen kaum, sich beruflich zu identifizieren. Darüber hinaus sind die Lehrinhalte an Berufsschulen immer noch akademisch geprägt. Berufsbilder und berufliche Bezüge haben noch nicht ausreichend Einzug in die Lehrpläne gehalten.

3.4.4 Konfuzianische Kultur als Hemmschuh der Entwicklung beruflicher Bildung

China steht seit über 2000 Jahren in konfuzianischer Tradition. Höhere Bildung wird auch gegenwärtig als etwas angesehen, dass jenen Leuten vorbehalten ist, die das große Ziel verfolgen in den Beamtenapparat aufgenommen zu werden. Der Einfluss des Konfuzianismus mit seinen Vorbehalten gegen körperliche Arbeit und berufliche Ausbildung spaltet die Gesellschaft noch heute. Die Eltern bestehen darauf, ihre Kinder zu einer traditionellen Universität zu schicken und betrachten eine Berufsausbildung lediglich als letzte Alternative. Insofern besteht hierin die größte Hürde in der Entwicklung beruflicher Bildung.

4 Zusammenfassung

Ein Vergleich der Beruflichkeit Deutschlands und Chinas, stellt eine enorme Herausforderung dar bzw. fällt disparat aus: Beruflichkeit, wie sie in Deutschland praktiziert wird, existiert in China nicht. Doch warum? Gründe können im unterschiedlichen Status der Facharbeit, einem differenten Berufsverständnis sowie einer etablierten bzw. in Dynamik befindlichen Beruflichkeit gesehen werden.

Während in Deutschland die Berufsausbildung und der Status des Facharbeiters gesellschaftlich anerkannt und geachtet sind, ist dies in China, aufgrund der konfuzianischen Tradition, nicht der Fall. Geistige Arbeit und Hochschulbildung genießen dagegen höchste Anerkennung.

Auch wenn der deutsche Berufsbegriff multidimensional geprägt ist, ist er als Konstrukt fest verankert. In China indes herrscht eine große Vielfalt an Bedeutungen und Bezügen zu Beruf und Arbeit. Ein Berufsverständnis wie in Deutschland existiert kaum, was in der internationalen wissenschaftlichen Auseinandersetzung immer wieder zu „Störfaktoren“ führt (vgl. Zhao 2013, 931).

In Deutschland und China ist Beruflichkeit unterschiedlich ausgeprägt. Lässt sich die deutsche Gesellschaft regelrecht als „Berufsgesellschaft“ mit etablierter Beruflichkeit bezeichnen, befindet sich Chinas Beruflichkeit in Dynamik. Hier galt bisher vor allem das Verständnis, mit beruflicher Arbeit einem Dienste an der Gesellschaft nachzukommen. Arbeit wurde staatlich reguliert. Heute dagegen ist die Beziehung zur Arbeit von Rationalität bestimmt, was im Bestreben nach individueller Gewinnmaximierung und durch eine geringere Bindung an die berufliche Stellung zum Ausdruck kommt.

Die wesentlichen Entwicklungen deutscher Beruflichkeit lassen sich mit der Debatte zur Erosion des Berufs in einem etablierten und ausdifferenzierten Forschungsfeld beschreiben. Dabei geht es darum, De- und Reprofessionalisierungstendenzen aber auch die neue Figur des Arbeitskraftunternehmers zu erörtern. Der Diskurs zeigt nicht nur die veränderten gesellschaftlich-wirtschaftlichen Anforderungen eines Landes, sondern auch, dass hier das Berufsmodell in Frage gestellt wird ohne es ernsthaft für abgeschafft zu erklären.

In China dagegen wird keine vergleichbare Debatte geführt. Zudem ist die berufswissenschaftliche Forschungslandschaft noch leicht überschaubar. Unabhängig davon, sorgt die Veränderung der Wirtschafts- und Beschäftigtenstruktur, die gesellschaftliche Dynamik und der Veränderungswille der Regierung für Reformen im Bildungssystem. Wenn die ehrgeizigen Ziele eines Umbaus der Hochschullandschaft in Richtung Berufsorientierung verwirklicht werden, erhält der Beruf einen deutlich höheren Stellenwert. Chinas neues Berufsausbildungssystem soll dem sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt dienen. Jedoch ist das Verhältnis zwischen traditionell akademisch ausgerichteter Ausbildung und beruflicher Orientierung noch ungeklärt.

Insgesamt wird deutlich, dass sich Beruflichkeit in China gegenwärtig stark entwickelt und der Begriff künftig eine chinesische Prägung erfährt. Vor dem Hintergrund der deutsch-chinesischen Bildungskooperationen ergeben sich ausblickend daher folgende Fragen:

Inwieweit ist es angesichts der Reformen des chinesischen Bildungswesens und einer nach deutschem Verständnis eher gering ausgeprägten Beruflichkeit möglich und sinnvoll, das Konzept der Kernberufe in China anzuwenden?

Wie lässt sich in diesem Sinne Berufsbildungsexport mit Kurzausbildungsberufen in China realisieren?

Lässt sich die Figur des Arbeitskraftunternehmers auf China anwenden und welche Rückschlüsse lassen sich für das Land vor dem Hintergrund der Entwicklung in Deutschland ziehen?

Kann eine Professionsorientierung im Kontext der Akademisierung des Berufs bzw. der Verberuflichung des Studiums im deutsch-chinesischen Vergleich am neuen berufsorientierten Bildungssystem Chinas ausbuchstabiert werden?

Die Auseinandersetzung mit dem Vergleich deutscher und chinesischer Beruflichkeit steht erst am Anfang. Damit besteht die Chance, zu erforschen, inwieweit Phänomene deutscher Beruflichkeit, in China zu finden sind. Angesichts der enormen Geschwindigkeit, mit der sich China insgesamt entwickelt, wird deutlich, dass beide Seiten in Bezug auf moderne Beruflichkeit zukünftig noch mehr voneinander lernen können.

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Zitieren des Beitrags

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