bwp@ 29 - Dezember 2015

Beruf

Hrsg.: Martin Fischer, Karin Büchter & Tim Unger

Erweiterte moderne Beruflichkeit – Eine Alternative zum Mythos „Akademisierungswahn“ und zur „Employability-Maxime“ des Bologna-Regimes

Angesichts der aktuellen Diskussion um Hochschulexpansion, Akademisierung und drohenden Facharbeitermangel gewinnt die Frage nach Wert und Bedeutung des Berufs als Spezifikum des deutschen Beschäftigungs- und Qualifizierungssystems wieder erhöhte Aufmerksamkeit, nachdem die Krise bzw. das Ende des Berufs seit Jahrzehnten immer wieder zur Debatte stand. Hoch im bildungspolitischen Kurs steht derzeit die These (oder besser: der Mythos) vom „Akademisierungswahn“. Sie legt als Antwort auf die Strukturprobleme des Bildungs- und Beschäftigungssystems eine stärkere Segmentierung von akademischer und beruflicher Bildung nahe. Der Autor des vorliegenden Beitrags schließt sich alternativ dazu der Auffassung an, dass es unklug sei, Hochschul- und Berufsbildungssystem gegeneinander auszuspielen, und bezieht sich hierbei auf das von der IG Metall vorgelegte Konzept der „erweiterten modernen Beruflichkeit“. Es präsentiert sich als „gemeinsames Leitbild für die betrieblich-duale  und die hochschulische Berufsbildung“. Das Leitbild fordert heraus, Beruflichkeit in Verbindung mit Bildung und Wissenschaft neu zu denken, und grenzt sich ab vom Employability-Konzept der Bologna-Reform und der ökonomisch einseitigen Perspektive, Bildung und Studium primär als Mittel aktiver Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik zu verstehen und zu instrumentalisieren.

Extended modern occupationalism – an alternative to the myth of the "academisation mania" and the "employability objective" of the Bologna regime

English Abstract

In view of the current discussion on university expansion, academisation and the threat of a shortage of skilled workers, the question about the value and importance of occupations as a special feature of the German employment and qualification system is gaining increased attention following decades in which the crisis or end of occupations was discussed again and again. Currently, the thesis (or rather "myth") of "academisation mania" is highly popular in education circles. It suggests that the answer to structural problems in the educational and employment system is to increase segmentation in academic education and vocational education and training. The author of the present article subscribes to the alternative view that it would be foolish to pit the academic education and vocational education and training systems against each other, referring to the concept of "extended modern occupationalism" presented by IG Metall (German Metalworkers' Union). This concept presents itself as a "common model for company-based dual training and university-level vocational education and training". The model calls for fresh thought to be given to occupationalism in connection with education and science and sets itself apart from the employability concept of the Bologna reform and the economically one-sided view according to which education and academic studies are to be seen and used primarily a means of active labour market and employment policy.

1 Vorbemerkungen

Der aktuelle Bildungstrend und der damit einhergehende Wettlauf um höhere Abschlüsse stößt auf Widerstand. Wie nicht anders zu erwarten. Die Metapher vom „Akademisierungswahn“ (Nida-Rümelin 2014) bringt das diffus verbreitete Unbehagen an der Öffnung des Bildungssystems auf den Punkt. Das hat Geschichte. Seit Bildungstitel als statusdistribuierende Scharniere für Lebensläufe und Karrieren in der bürgerlichen Gesellschaft fungieren, steht die Forderung nach „Schließung“ und Abschottung der privilegierten Bildungseinrichtungen auf der Tagesordnung. Verwiesen sei auf das 19. Jahrhundert, als Regulierungen des Abiturientenexamens und des zugrunde liegenden Bildungskanons die Berechtigung zum Universitätsstudium formalisierten und Staatsexamina den Zugang zu den begehrten Ämtern im höheren Staatsdienst herstellten (vgl. Herrlitz/Hopf/Titze 1981; Müller 1977). Die restriktive Gliederung des Schul- und Hochschulwesens sowie die starre Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung lieferten den institutionellen Rahmen, um die Reproduktion sozialer Schichten durch Kanalisierung der Bildungsströme tendenziell aufrechtzuerhalten (vgl. Bauer et al 2014).

Damit ist der neuralgische Punkt unseres vertikal gegliederten Bildungssystems angesprochen. Er lässt sich mit Amitai Etzioni (1968) als „Inauthentizität“ charakterisieren. Je mehr das Gymnasium – maßgeblich beeinflusst durch die funktionale Verkopplung der höheren Bildung mit Berufslaufbahnen für staatliche Ämter – die Allokationsfunktion für akademische Karrieren übernahm, desto forcierter versuchte es, den Schein „allgemeiner Bildung“ aufrecht zu erhalten. An den allgemein bildenden Wert des gymnasialen Unterrichts glaubten – im Unterschied zum Anspruch der neuhumanistischen Bildungstheoretiker – am wenigsten die Gymnasiasten selbst. So heißt es bei Scheibert, einem in Friedrich Paulsens „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ zitierten Schulmann aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Ein Schüler will ja nicht wissen, um es zu wissen, sondern um sein Examen zu machen, denn das entscheidet über die Reife zur Versetzung, d. h. über sein Schülerleben, wie Staatsexamina später über sein bürgerliches Leben … Sie stopfen sich zum Examen voll und speien dabei aus und sind herzlich froh, diese magendrückende Last losgeworden zu sein“ (Paulsen 1921, 374).

Für die Diskussion um den „Akademisierungswahn“ ist der Rückblick auf die Vergangenheit und die dort angelegten Strukturprobleme unseres Bildungssystems hoch aktuell. Er bleibt im ersten Teil des vorliegenden Beitrags begrenzt auf die „Paradoxien“ der Bildungsreform (Lisop 2014) in der früheren Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren und zielt darauf ab, den Mythos des „Akademisierungswahns“ aus institutionentheoretischer und bildungspolitischer Sicht einzuordnen. Im zweiten Teil werden mit dem Konzept der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ Perspektiven des konstruktiven Umgangs mit den Herausforderungen eines durchlässigen Bildungssystems diskutiert, um diese dann im dritten Teil mit dem Employability-Ansatz des Bologna-Regimes zu konfrontieren und hochschulpolitisch zu „verorten“.

2 Bildungsexpansion und „paradoxe“ Effekte der strukturkonservativen Bildungsreform

Das Bildungssystem in der Bundesrepublik übernahm in der Nachkriegsphase die überlieferten Strukturen des dreigliedrig versäulten Schulwesens und die starre institutionelle Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung. Nach Gründung der Bundesrepublik wurden bildungspolitische Fragen in den 1950er Jahren zunächst in die Peripherie gesellschaftlicher und politischer Wahrnehmung abgedrängt. Das änderte sich mit Beginn der 1960er Jahre. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Gründung der OECD und die von ihr einberufene Washington Conference im Jahr 1961 (Elvin 1962). Sie wurde vom Chairman der Konferenz beschrieben als „break-through in thinking about education and economic growth“. Unter dem Einfluss des Sputnik-Schocks (1957) hatte sich der Standpunkt durchgesetzt, dass für die Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und den technologischen Wettlauf mit der Sowjetunion die bisherigen Bildungsinvestitionen nicht ausreichen würden.

Die OECD-Initiative kann als Ausgangspunkt für die Anfang der 1960er Jahre beginnenden Aktivitäten bezeichnet werden, die wir heute mit der Ära der „Bildungsreform“ umschreiben. Georg Pichts Artikelserie und deren Buchpublikation „Die deutsche Bildungskatastrophe“ (1964) stehen dabei für den primär bildungsökonomisch orientierten „manpower approach“ und Ralf Dahrendorfs Schrift „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965) für den „social demand“-Ansatz mit dem Anspruch auf Gleichheit der Bildungschancen unabhängig von sozialer Herkunft und vom ökonomischen Bedarf. Beide Ansätze sind in die Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats, namentlich in den „Strukturplan für das Bildungswesen“ (1970) eingeflossen und haben – last but not least – den „Bildungsgesamtplan“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (1973) beeinflusst (vgl. Friedeburg 1989).

Die großen reformerischen Pläne der 1960er und 1970er Jahre fielen dem „Paradoxiennetz“ gesellschaftlicher Widersprüche, parteipolitischer und föderaler Interessenkonflikte (vgl. Lisop 2014) sowie nicht zuletzt der wirtschaftlichen Rezession als Folge der ersten Ölkrise (1973) zum Opfer. Fazit des Bildungspolitikers und Bildungswissenschaftlers Ludwig von Friedeburg in seiner grundlegendenden Studie zur „Bildungsreform in Deutschland“: „… die Geschichte der Bildungsreform zeigt, dass über ihren Fortgang nicht pädagogische Einsichten oder organisatorische Konzepte, sondern gesellschaftliche Machverhältnisse entscheiden“ (Friedeburg 1989, 476). Statt „Verbindung von allgemeinem und beruflichem Lernen“, wie sie in der Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats „Zur Neuordnung der Sekundartstufe II“ (1974) zur Diskussion gestellt oder als Integrationsprojekt des nordrhein-westfälischen Kollegstufenversuchs (Kultusminister NW 1972) erprobt wurde, blieb es in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland bei Teilreformen und Regulierungsruinen im Rahmen des gegliederten Bildungssystems. Indes mit einer folgenschweren Änderung: Öffnung der Bildungswege bei Konstanthaltung des gegliederten Bildungssystems. „Kontinuität im Wandel“, darauf lief die Reformstrategie auf dem Entwicklungspfad des traditionellen Bildungswesens letztlich hinaus.

Es war zu erwarten, dass Durchlässigkeit unter Beibehaltung des gegliederten Schulsystems und des damit verbundenen hierarchisierten Berechtigungs- und Zertifizierungssystems die Bildungsaspirationen in weiteren Teilen der Bevölkerung erhöhen und zu einem starken Anstieg der Schüler(innen)zahlen in Bildungsgängen mit höherwertigen Abschlüssen führen würde. Unter dem Sog des Hochschulreifeprivilegs des Gymnasiums wuchs der Anteil der Schulabgänger mit studienqualifizierenden Abschlüssen kontinuierlich. Zu konstatieren ist, dass eine erhöhte Durchlässigkeit des Bildungswesens seit den 1970er Jahren stattgefunden hat. So sind Zahl und Anteil der studienberechtigten Schulabgänger(innen) in Deutschland seit 1970 rapide gestiegen. Damals lag dieser Anteil bei rund 11 Prozent, im Jahr 2011 bei 57 Prozent der Schulabgänger(innen) eines Jahrgangs (Expertenkommission Forschung und Innovation – EFI 2014, 146).

Zugleich führte diese Entwicklung zu einer dramatischen Abwertung der Bildungsgänge mit niedrigeren Abschlüssen. Die Hauptschulabsolventen waren und sind – heute mehr denn je – die Modernisierungsverlierer der so genannten Bildungsexpansion. Zu Beginn der 1960er Jahre betrug der Anteil der Volksschüler an der Altersgruppe der 13-Jährigen bundesweit 70 Prozent (Cortina et al. 2003, 396). Demgegenüber wies der nationale „Bildungsbericht 2014“ eine Hauptschulabschlussquote von nur noch 23 Prozent aus (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 91). Diese Daten signalisieren lediglich die quantitative Entwicklung der Schülerzahlen in der geschrumpften Hauptschule. Damit verbunden ist ein gravierender Bedeutungs- und Prestigeverlust (vgl. Cortina et al. 2003, 410 ff.). Er zeigt sich nicht zuletzt in den eingeschränkten Berufs- und Sozialchancen der Hauptschulabsolventen. Als Quintessens lässt sich mit Baethge/Wieck (2015, 5) festhalten, „dass Jugendlichen mit maximal Hauptschulabschluss nur noch ein begrenztes Spektrum an Berufen offen steht.“ Dem dualen Ausbildungssystem drohe, eine seiner großen Stärken einzubüßen: „Jugendlichen aus den sozial benachteiligten Schichten eine gute berufliche Perspektive zu bieten.“

Gleichzeitig etablierte sich neben dem dualen Ausbildungssystem das so genannten Übergangssystems. Im Unterschied zum dualen System und Schulberufssystem bietet das Übergangssystem keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Wegen seiner institutionellen Heterogenität und fehlenden Koordinierung zwischen den Maßnahmentypen lässt sich der im nationalen Bildungsbericht verwendete Systembegriff allenfalls im übertragenen Sinne rechtfertigen. Nur partiell erfüllt das disparate Konglomerat an berufsvorbereitenden Maßnahmen die ihm zugeschriebene Funktion als „Brücke zur Arbeitswelt“, so dass hiermit eine gesellschaftlich problematische Integrationslücke nicht geschlossen werden konnte (vgl. Kutscha 2006; Kell 2010, 66). Während des Zustroms der geburtenstarken Schulentlassjahrgänge stiegen die Neuzugänge im Übergangssystem auf fast eine halbe Million jährlich an. Diese Zahl stagniert seit einigen Jahren bei über 250 000 (vgl. Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft 2015, 43). Im Jahr 2012 mündeten über zwei Fünftel der Hauptschulabsolventen, bei solchen mit Ausländerstatus sogar knapp 60 Prozent nicht in eine Ausbildung, sondern ins Übergangssystem (Baethge/Wieck 2015, 5).

In dieser Entwicklung spiegelt sich einerseits der steigende Bedarf des Beschäftigungssystems an höher qualifizierten Arbeitskräften wider, zeigen sich andrerseits aber auch die in der Struktur des Bildungssystems angelegten Selektionsmechanismen. Die Struktur des gegliederten allgemein bildenden Schulwesens übernimmt Auslesefunktionen für die interne Segmentierung des beruflichen Bildungssystems in Abhängigkeit von schulischer und damit auch sozialer Herkunft. Sie kanalisiert den Zugang zu Ausbildungsberufen, die nach Prestige, aber auch im Hinblick auf Beschäftigungschancen unterschiedlich privilegiert sind, und führt zur schultypenspezifischen Stigmatisierung. Der Bildungsbericht 2008 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Segmentationsstruktur nach Schulabschlüssen“ (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008, 110 f.).

Die Bildungsexpansion hat ein ambivalentes Ergebnis produziert: Sie hat im Durchschnitt die Bildungsniveaus aller Schichten verbessert, ohne gleichzeitig gravierende herkunftsbedingte Ungleichheiten zu beseitigen (vgl. Hopf 2014; Klemm 2014). Gymnasien werden nach dem Datenreport des Statistischen Bundesamts u .a. (2013, 90) hauptsächlich von Kindern besucht, deren Eltern Abitur oder Fachhochschulreife aufweisen (61 Prozent). Nur 10 Prozent der Gymnasiasten wuchsen 2011 in Familien auf, in denen die Eltern einen Hauptschulabschluss als höchsten allgemeinen Schulabschluss oder keinen allgemeinen Schulabschluss besaßen. Die neueren Befunde herkunftsbedingter sozialer Ungleichheit bei der Bildungsbeteiligung deuten darauf hin, dass auch die inzwischen eingeleiteten Maßnahmen der aktuellen Schulentwicklung kaum erwarten lassen, „dass es in Deutschlands Schulen künftig leistungsgerechter zugehen wird“ (Klemm 2014, 142).

Angesichts der ambivalenten Effekte der Bildungsreform muss man sich mit der Vorstellung vertraut machen, dass das Gymnasium – wie immer auch dessen Bildungsauftrag seit Humboldts Tagen als humane „Allgemeinbildung“ ideologisch legitimiert sein mochte – in Deutschland nach Art und Weise des Zusammenhangs mit dem Beschäftigungssystem, aber auch nach dem Selbstverständnis der Gymnasialschüler und deren Eltern in Verbindung mit dem bildungspolitisch und –theoretisch deklarierten Auftrag der wissenschaftspropädeutischen Vorbereitung auf universitäre Studien (Flitner 1961) immer auch die als peinlich verschwiegene Funktion einer „berufspropädeutischen“ Einrichtung für anspruchsvolle akademische Berufe erfüllt(e). Die studienberechtigten Absolventen der Gymnasien sind in der Regel zwar nicht auf spezielle „Berufe“ vorbereitet, wohl aber auf akademische Beruflichkeit sowie auf die damit verbundenen Bildungsrenditen und sozialen Privilegien hin orientiert. In dieser Hinsicht verfügt das Gymnasium über einen erheblichen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Berufsausbildung im dualen System. Solange das duale System auf ein hinreichend großes Reservoir an qualifizierten Bewerbern aus der Haupt- und Realschule zurückgreifen konnte, brachte dieser Wettbewerbsvorteil kaum Probleme mit sich. Das hat sich geändert. Quantitativ, aber auch qualitativ ist – ceteris paribus – für das duale Ausbildungssystem mit einer abnehmenden Zahl geeigneter Bewerber(innen) zu rechnen.

Demgegenüber bleibt der Trend zum Erwerb der Hochschulzugangsberechtigung und zum Hochschulzugang ungebrochen. Seit Jahrzehnten steigt die Studienanfängerquote unaufhörlich. Lag diese Quote Anfang der 1950er Jahre noch bei ca. 5 Prozent, so betrug sie nach den Daten des Statistischen Bundesamts bis zum Jahr 2013 mit rund 58 Prozent mehr als das Zehnfache (vgl. Wolter 2015, 2). Im selben Jahr übertraf die Studienanfängerzahl (rund 507.000) erstmals die Zahl der Neuzugänge in der dualen Berufsausbildung (rund 497.000) (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, 98 f.). Diese Daten sind nicht – wie der psychiatrisch anmutende Ausdruck „Akademisierungswahn“ suggeriert – Ausdruck eines irrationalen Massentrends oder eines „pathologischen Wahnphänomens“ (Wolter 2015, 8), sondern Konsequenz einer der institutionellen Strukturlogik der Bildungsreform geschuldeten Eigendynamik (Kutscha 2015). Ein Befund, den Kritiker des hierarchisch gegliederten Bildungssystems schon frühzeitig voraussahen: „Jede Maßnahme, die die Abgrenzungen hervorhebt und sichert, die den getrennten Bildungswegen ihre sozialschichtspezifischen Charakteristika aufdrückt, vermehrt den Sog, den die Gymnasien auf die Angehörigen des neuen Mittelstandes ausüben“ (Blankertz 1982, 336). Inwieweit diese „Eigendynamik“ in steigenden Bildungsaspirationen der Bevölkerung begründet liegt oder – wie hier aus institutionentheoretischer Sicht argumentiert – ob Bildungsaspirationen den kulturell überlieferten und im Berechtigungssystem institutionell verfestigten Belohnungshierarchien folgen, muss an dieser Stelle als ungeklärte Frage offen bleiben. Vermutlich handelt es sich um Interdependenzen, die letztlich darauf hinauslaufen, dass der Trend zur Höherqualifizierung nicht umkehrbar und in einem demokratischen Staatswesen ohnehin nur begrenzt steuerbar ist (Wolter 2015).

Wie sich das quantitative Verhältnis von Auszubildenden und Studierenden in den nächsten Jahren entwickeln wird und – speziell – ob und in welcher Weise davon der Bestand des dualen Ausbildungssystems bedroht ist, bleibt ungeklärt und höchst umstritten. Ebenso die Entwicklungen auf den Arbeitsmarkt, besser gesagt: in den unterschiedlichen Arbeitsmarktsegmenten. Abgesehen davon, dass die demografischen Entwicklungen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschlang höchst unterschiedlich verlaufen, lassen sich aus den aktuellen Qualifikations- und Berufsfeldprojektionen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) und des Bundessinstituts für Berufsbildung (BIBB) für den Zeitraum bis 2030 bundesweit keine einheitlichen und eindeutigen Aussagen über Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt in Abhängigkeit von erworbenen Bildungsabschlüssen begründen. Treten Engpässe oder Überhänge über einen län­geren Zeitraum auf, so die Experten der Arbeitsmarkt- und Berufs(bildungs)forschung, würden sowohl auf der Arbeitsangebots- als auch auf der Arbeitsnachfrageseite Anpassungsreaktionen erfolgen, die heute in ihren jeweiligen Ausprägungen nicht absehbar seien und somit auch nicht bzw. nur unter speziellen Annahmen modelliert werden könnten (vgl. Zika et al. 2015). Unabsehbar sind darüber hinaus die Entwicklungen der Einwanderungspolitik und deren Effekte sowohl für das Beschäftigungs- als auch für das Bildungssystem.

Was, so fragt angesichts Nida-Rümelins These vom „Akademisierungswahn“ der Bildungsökonom Ludgar Wößmann (2013), „wenn der Fachkräftemangel …eines Tages noch dringlicher als der Akademikerbedarf ist?“ Darauf das marktwirtschaftliche Credo: Die Betriebe müssten dann eben höhere Vergütungen für Auszubildende bzw. höhere Löhne für nicht akademisch qualifizierte Fachkräfte zahlen, um gute Bewerber zu bekommen. Damit zeigten dann die marktwirtschaftlichen Lohnsignale, wo wirklich der höhere Bedarf bestehe. Mit steigenden Facharbeiterlöhnen würden sich bei funktionierenden Ausbildungs- und Arbeitsmärkten auch wieder mehr Menschen für einen Ausbildungsberuf entscheiden. „Statt bildungshungrige Jugendliche mit dem ‚Wahnbild’ des vermeintlichen ‚Akademikerwahns’ zu verschrecken, sollten die Betriebe also gute – auch nicht-akademische – Bildung entsprechend entlohnen“ (Wößmann 2013, 19). Eine solche Sichtweise lebt offensichtlich vom neoliberalistischen Glauben an der Funktionsfähigkeit der Vermarktung von Bildung. Doch „Bildung ist keine Ware“ (Wissenschaftlicher Beraterkreis der Gewerkschaften IG Metall und ver.di 2006).

Die Kontroverse über das Für und Wider der Akademisierung entzieht sich im strengen Sinne der empirischen Überprüfung. Nicht zuletzt deshalb das Tohuwabohu in der Diskussion um Nida-Rümelins These vom „Akademisierungswahn“. Das kontrovers debattierte Problem der Bildungsexpansion wird mit dem Begriff der Akademisierung mehr vernebelt als geklärt. Er bezieht sich, wie Wolter (2015, 2) zutreffend konstatiert „auf ganz unterschiedliche, nur teilweise miteinander zusammenhängende Entwicklungen.“ Wolter fügt hinzu: „Vielleicht ist der Begriff auch deshalb so populär geworden, weil hier vieles durcheinander geworfen wird.“ So wichtig in diesem Zusammenhang begriffliche Klärungen und empirische Klarstellungen sind (vgl. Wolter 2014; 2015), im Kern geht es letztlich um Gestaltungsfragen des Bildungssystems und um unvermeidbar damit verbundene Wertvorstellungen (vgl. Büchter/Frommberger/Kremer 2012; Kuda et al. 2012; Rauner 2012; Schultz/Hurrelmann 2013; Severing/Teichler 2013). Statt sich auf Zahlenspielereien zu kaprizieren, wäre es redlicher und ergiebiger, einen offenen und ehrlichen Diskurs darüber zu intensivieren: Wie wollen wir auf längerfristige Sicht leben, lernen und arbeiten? Damit verbunden ist folgerichtig auch das (nicht technokratisch verkürzte) Problem: Wie sollen die erforderlichen institutionellen Vorkehrungen getroffen und nachhaltig wirksame Bildungsinitiativen gefördert werden, um die Durchlässigkeit des gesamtem Bildungsbereichs sozial- und leistungsgerecht zu gestalten. Angesichts dieser offenen Fragen sind höchst unterschiedliche Zukunftsszenarien denkbar (vgl. Wolter 2015, 9), von denen im Folgenden die mit Abstand wohl größte Herausforderung zur Diskussion gestellt werden soll: „Die Bildungsexpansion könnte als volkswirtschaftliche (und soziale, G.K.) Ressource konstruktiv genutzt werden, indem neue Ausbildungs- und Weiterbildungsformate geschaffen werden, die den Gegensatz zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung überwinden“ (Wolter 2015, 9).

3 Das Leitbild „Erweiterte moderne Beruflichkeit“ – Eine Perspektive zum konstruktiven Umgang mit den Problemen der Akademisierung

Aus der Geschichte der Bildungsreform ist zu lernen, wie nicht beabsichtigte „paradoxe Effekte“ entstehen, wenn Reformen des Bildungssystems auf separierte Bereiche begrenzt bleiben und der Blick auf und für das Ganze verloren geht. Die Teilmodernisierung als nachträgliche Reparatur des Bildungssystems hat letztlich zur Privilegiensicherung auf neuem Niveau geführt. Grund genug, über Reformen „aus einem Guss“ nachzudenken (IG Metall 2014, 17). Mit diesem Anspruch ist nicht die zu Recht in Verruf geratene Hybridplanung „von oben“ intendiert, sondern Bildungsreform als dynamisches, mehrdimensionales und im weiteren Sinne mitbestimmungs- und teilhabefähiges Modernisierungsprojekt in enger Abstimmung mit den Anforderungen der Arbeits(markt)- und Gesellschaftspolitik gemeint.Hierzu hat der Vorstand der IG Metall ein „Gemeinsames Leitbild für die betrieblich-duale und hochschulische Berufsbildung“, kurz: Leitbild „erweiterte moderne Beruflichkeit“ vorgelegt (IG Metall Vorstand 2014; Näheres siehe: IG Metall Vorstand/Ver.di (Hrsg.): Online-Magazin Denk-doch-Mal.de 1/2015; Ressel/Kaßebaum 2015; Urban 2015). Es ist – wie es im Untertitel heißt – als „Diskussionspapier“ zu verstehen und ausdrücklich nicht entworfen als „Blaupause eines Idealmodells“ (Wissenschaftlicher Beraterkreis der Gewerkschaften IG Metall und ver.di 2014, 28). Aus Sicht der IG Metall müssen Bildungsbenachteiligungen abgebaut und den davon Betroffenen Wege in die  Beruflichkeit geebnet werden. Gefordert werden zudem die Aufwertung der Aus- und Fortbildungsberufe und die Entwicklung neuer Lern- und Karrierewege, mehr soziale und berufliche Durchlässigkeit zwischen den Bildungssystemen und in den Betrieben gleichwertige Berufslaufbahnen für Akademiker und Nicht-Akademiker. Daraus resultieren Schlussfolgerungen für die Bildungs- und Berufsbildungspolitik, für die Arbeits-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und – nicht zuletzt – für die Betriebs- und Tarifpolitik. Das ist gemeint, wenn von „Berufsbildung aus einem Guss“ gesprochen wird.

Das Konzept der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ reagiert insbesondere auf drei Megatrends, die in unterschiedlicher Weise auf das Bildungs- und Beschäftigungssystem unseres Landes einwirken. Hierzu in enger Anlehnung an das „Leitbild“ stichwortartig (vgl. IG Metall Vorstand 2014, 12ff.):

  • Deregulierung, Prekarisierung und Taylorisierung der Erwerbsarbeit: Mit der Deregulierung der Beschäftigungsverhältnisse haben atypische Beschäftigungsverhältnisse und damit einhergehende Belastungen der privaten Haushaltsbudgets zugenommen. Werkvertrags- und Leiharbeit gewinnen an Bedeutung. Ganzheitliche Arbeitszusammenhänge werden erneut in betriebswirtschaftlich effizientere kleinteilige Routinetätigkeiten aufgesplittert. Neue Produktionskonzepte führen zur Polarisierung der Arbeitsanforderungen.
  • Gefährdung des bewährten, auf ganzheitliche Arbeits- und Geschäftsprozesse bezogenen Berufskonzepts durch die europäische Bildungspolitik und deren Orientierung am Konzept der Employability (Beschäftigungsfähigkeit); damit verbunden: Orientierung an kurzfristigen Anforderungen des Beschäftigungssystems, erhöhte Anforderungen an Flexibilisierungsleistungen, Umstellung der Qualifizierungsmaßnahmen von der Input- auf die Outputsteuerung unter Vernachlässigung der beim Erwerb von Fach-, Human- und Sozialkompetenzen relevanten Aneignungsprozesse auf Seiten der Lernsubjekte.
  • Akademisierung der Arbeitswelt: Mit der starken Zunahme von Hochschulabsolventen verschieben sich bislang geltende Maßstäbe bei der Auswahl und Einstellung von Beschäftigten. Berufliche Fortbildungsangebote geraten in Konkurrenz zu Bachelor- und Master-Studiengängen. Gleichzeitig sind Hochschulabsolventen durch die „Akademisierung“ der Studieninhalte unzureichend auf die Anforderungen der Arbeitswelt vorbereitet. Die Mehrzahl der Studierenden kritisiert in allen einschlägigen Befragungen den desolaten Praxisbezug des Studiums bzw. die für die spätere Beschäftigung unzureichende berufliche Qualifizierung.

Leitender Bezugspunkt der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ ist die Herstellung guter Arbeits- und Lebensbedingungen – „gute Arbeit“ verstanden als Voraussetzung, aber auch als Folge beruflicher Bildung. „Gute Arbeit und gute Bildung stehen in einem Wechselverhältnis“ (Urban 2015). Beruflichkeit der Arbeit ist nach den zugrundeliegenden Prämissen des Leitbilds in Hinsicht auf das Individuum vom subjektiven Sinn der Arbeit ebenso wenig zu lösen wie mit Blick auf die Rahmenbedingungen des Beschäftigungssystems vom Wert der Arbeit für Individuum und Gesellschaft zu trennen. Aus gutem Grund beschränkte sich der Anspruch beruflicher Bildung auch nie allein auf die Reproduktion des Arbeitsvermögens im instrumentell verengten Sinn. Der Ansatz der erweiterten modernen Beruflichkeit versteht sich angesichts des Wechselverhältnisses von Arbeit und Bildung sowohl als Bildungskonzept als auch als Politikkonzept. In diesem Zusammenhang geht es nicht um die Frage, ob der Beruf überhaupt noch eine Zukunft habe. Diese Frage ist aus gewerkschaftlicher Sicht politisch falsch gestellt. Zur Diskussion stehen vielmehr Perspektiven eines zukünftigen integrierten Berufs- und Bildungskonzepts und politischer Handlungsfolgerungen für dessen Realisierung. Das Bildungs- und Politikkonzept des Leitbildes für die erweiterte moderne Beruflichkeit strebt folgende miteinander zusammenhänge Zielschwerpunkte an (vgl. IG Metall Vorstand 2014, 17f.):

  • Sicherung, Stärkung und Weiterentwicklung der Beruflichkeit (in Reaktion auf Prekarisierung und Taylorisierung, Akademisierung und Digitalisierung)
  • Durchlässigkeit und Gleichwertigkeit (unter dem Aspekt des Abbaus herkunftsbedingter Ungleichheit der Bildungs-, Beschäftigungs- und Karrierechancen, der Verbesserung des Übergangs von der betrieblich-dualen Berufsausbildung in das Hochschulstudium und der Gleichstellung beruflicher Fortbildungsabschlüsse mit Hochschulabschlüssen)
  • Verankerung von Beruflichkeit in Hochschulstudiengängen (als Voraussetzung für die Verbesserung sowohl des Übergangs von der beruflichen Aus- und Weiterbildung in das Hochschulstudium als auch für den Einstieg in das Beschäftigungssystem nach Abschluss bzw. vorzeitiger Beendigung des Studiums; nicht zuletzt auch als Beitrag zur qualitativen Förderung des Studiums durch wechselseitige Verbindung von Theorie und Praxis)

Was heißt in diesem Zusammenhang „erweiterte moderne Beruflichkeit“? Am besten ist es, die drei Komponenten dieses komplexen Terms im Einzelnen zu spezifizieren: Beruflichkeit – modern – erweitert:

Der Begriff ‚Beruflichkeit‘ subsumiert unterschiedliche Formen beruflich organisierter Arbeit oder Ausbildung (vgl. Kutscha 1992). Eine solcher spezifischen Formen ist beispielsweise der im Berufsbildungsgesetz definierte und geregelte Ausbildungsberuf. Andere Formen sind zum Beispiel die nach Landesrecht geregelten Schulberufe. Kennzeichnend für „Beruflichkeit“ als „Bildungskonzept“ sind nach dem Leitbild der IG Metall nicht singuläre Berufsformen, sondern „Qualitätsmaßstäbe“, denen berufliche Lehr- und Lernprozesse bei aller Unterschiedlichkeit genügen sollten. Es handelt sich um folgende „Kriterien“ (vgl. IG Metall Vorstand 2014, 20ff.):

Berufliches Lernen

  • erfordert eine fachlich breite Qualifikation,
  • vermittelt Wissen, Handlungsfähigkeit und ermöglicht praktische Erfahrung,
  • orientiert sich an Arbeits- und Geschäftsprozessen,
  • geschieht durch die Bewältigung von (berufstypischen) Aufgaben,
  • ist entdeckendes und forschendes Lernen,
  • ist Bildung,
  • ist soziales Lernen,
  • zielt auf Reflexion und Gestaltung von Arbeit,
  • bereitet auf die Berufsrolle vor,
  • fördert und entwickelt Identität,
  • verknüpft Erfahrungs- und Wissenschaftsorientierung,
  • zielt auf ein anderes Theorie-Praxis-Verhältnis,
  • hat unterschiedliche Lernorte,
  • schließt niemanden aus.

Jedes dieser Kriterien wird im Leitbild näher erläutert und bedarf selbstverständlich in Hinblick auf die Gestaltung der betrieblichen Ausbildung und des Hochschulstudiums einer spezifischen Auslegung.

Der Ausdruck ‚moderne‘ Beruflichkeit rekurriert auf die in den 1980er Jahren vollzogene Neuordnung der industriellen Elektro- und Metallberufe, auf die Dynamisierung und Flexibilisierung der IT-Berufe und anderer neu geordneter Ausbildungsberufe mit unterschiedlichen Formen der Binnendifferenzierung (vgl. Bretschneider/Schwarz 2015). Das Verständnis traditioneller Beruflichkeit ging davon aus, dass der einmal erlernte Beruf während des ganzen Arbeitslebens ausgeübt werden könnte. Moderne Beruflichkeit im Sinne der hier genannten Neuordnungskonzepte zielt darauf ab, spezialisierte Einzelberufe zu Kernberufen zu bündeln, die Arbeits- und Geschäftsprozessorientierung in den Mittelpunkt von Lernen zu rücken, das selbständige Handeln zu fördern und eine umfassende berufliche Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit als Grundlage lebenslangen Lernens und speziell der beruflichen Weiterbildung zu vermitteln.

Das Konzept der ‚erweiterten‘ Beruflichkeit knüpft an die Modernisierung der dualen Berufsausbildung an, generalisiert den Reformanspruch aber in Hinblick auf ein „gemeinsames Leitbild für die betrieblich-duale und hochschulische Berufsbildung“ unter Beachtung der Besonderheiten dieser Bildungsbereiche. Damit erweitert die IG Metall ihre „Konzeption von Beruflichkeit“, wie Hans-Jürgen Urban als Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall formuliert, „auf Studium und wissenschaftliche Weiterbildung. Sie stellt gemeinsame Prinzipien für die Gestaltung der Lernproesse in der betrieblich-dualen und in der hochschulischen Berufsbildung zur Diskussion und legt damit den Grundstein für eine übergreifende und an einheitlichem Maßstäben ausgerichtete Berufsbildungspolitik“ (Urban 2015).

Es liegt auf der Hand: Die im Leitbild geforderte und neuerdings auch vom Wissenschaftsrat (2014a) reklamierte Durchlässigkeit zwischen beruflicher Aus- und Weiterbildung und Hochschulstudium kann ohne (den vielfach beklagten) Niveauverlust nur erfolgreich sein, wenn „intelligente Standards“ (Spöttl 2014) festgelegt und eingehalten werden, die ein anspruchsvolles wissenschaftliches und zugleich berufsorientiertes Studium gewährleisten. Daran sind beide Seiten zu beteiligen: sowohl die Einrichtungen der beruflichen Bildung als auch die Hochschulen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Modernisierung der Berufsausbildung in Industrie undHandwerk schon seit Längerem einer systematischen Logik folgt, die an fachwissenschaftlichenInhalten orientiert ist. Rita Meyer (2012) spricht in diesem Zusammenhang von „professionsorientierter Beruflichkeit“. Es handelt sich um eine Betrachtungsweise, die in wesentlichen Punkten mit dem Konzept der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ korrespondiert.

Zur Vermeidung von Missverständnissen seien den knappen Hinweisen auf das Leitbild einige erläuternde bzw. kommentierende Anmerkungen hinzugefügt:

Zunächst ist zu betonen, dass ein „Leitbild“ kein „Patentrezept“ sein kann. Das gilt selbstverständlich auch für das Leitbild der „erweiterten modernen Beruflichkeit“. Geisteswissenschaftliche, ingenieurwissenschaftliche oder medizinwissenschaftliche Studiengänge, um nur einige Bereiche zu nennen, sind nicht über einen Leisten zu schlagen. Bei der Akkreditierung von Studiengängen ist in jedem Einzelfall – neben anderen Qualitätskriterien – zu prüfen, ob und welche Berufsbezüge überhaupt in Frage kommen und wie bei der Gestaltung der Studienordnungen und des Studienverlaufs darauf eingegangen werden kann. Dies setzt voraus, „die Potenziale zur Hervorbringung von Handlungskompetenzen in der Praxis der Hochschule explizit zu machen, die nicht nur den Herausforderungen des hochschulischen Alltags genügen, sondern transferierbar auf hochschulexterne Praxis- und Handlungsfelder in alle gesellschaftlichen Bereichen sind, wie dies auch dem Qualifikationsziel beruflicher Bildung entspricht“ (Rein 2012, 5).

In ihren Empfehlungen zur Weiterentwicklung der humanmedizinischen Studiengänge hat der Wissenschaftsrat unter dem Gesichtspunkt der Beruflichkeit akademischer Studiengänge weitreichende Konsequenzen gezogen. „An die Stelle der traditionellen Orientierung an Fächern sollte eine an den ärztlichen Rollen und ihren Kompetenzen orientierte Ausbildung treten“ (Wissenschaftsrat 2014b, 7). Mit dem Prinzip der beruflichen Kompetenzorientierung ist in diesem Fall somit ein deutliches Signal gesetzt, den Berufsbezug qualitativ zu intensivieren. Zugleich aber fordert der Wissenschaftsrat eine „Stärkung der wissenschaftlichen Kompetenzen der angehenden Ärzte und Ärztinnen“ ein, „damit diese im Rahmen ihrer immer komplexer werdenden Tätigkeit in der Lage sind, evidenzbasierte Entscheidungen auf dem jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft auch in Bezug auf ein umfassendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu treffen“ (Wissenschaftsrat 2014b, 9).

Die Verbindung von beruflicher und wissenschaftlicher Kompetenzorientierung ist das Kernstück der hier zitierten Empfehlungen des Wissenschaftsrats und entspricht auf der Ebene des Universitätsstudiums durchaus dem Grundgedanken des Leitbilds der „erweiterten modernen Beruflichkeit“. Es liegt in der Zuständigkeit der Universitäten, die Empfehlungen des Wissenschaftsrats praktisch umzusetzen. Dazu wird in den Empfehlungen eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Doch was für das Medizinstudium zur Diskussion steht, kann selbstverständlich nicht ohne weiteres auf andere Studienbereiche übertragen werden. Aber auch für sie gilt, dass Universitätsstudium und Beruflichkeit sich nicht ausschließen. Es kommt darauf an, studienadäquate Profile zu entwickeln, die Beruflichkeit (darin eingeschlossen die erforderliche fachliche Kompetenz!) und Wissenschaftlichkeit sinnvoll miteinander verknüpfen und den Studierenden Freiräume eröffnen, eigene Akzente für stärker forschungs- oder praxisorientierte Studienanteile zu setzen. Wer sich speziell für eine berufliche Laufbahn an Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen profilieren möchte, muss selbstverständlich für eine solche Option die Möglichkeit erhalten, sich darauf im Studium vorzubereiten. Freilich kann das – von Max Weber (1919/22) so bezeichnete – Berufsprofil „Wissenschaft als Beruf“ nicht alleiniger Maßstab sein für die universitäre Vorbereitung auf Professionen, die nicht auf Lehr- und Forschungstätigkeiten an Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen spezialisiert sind, gleichwohl eine akademische Ausbildung voraussetzen. Hierbei geht es nicht um „Wissenschaft als Beruf“, sondern um „Wissenschaftliche Kompetenz im Beruf“ (wo auch immer, vgl. Rein 2012).

Wie bereits angedeutet, ist mit Beruflichkeit nicht eine bestimmte Form des Berufs, etwa die der Ausbildungsberufe im dualen System, gemeint (vgl. Kutscha 1992). Angesichts der hohen Regelungsdichte und der damit verbundenen Governance und Infrastruktur für die Steuerung und Umsetzung der Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne in die betriebliche Ausbildungspraxis und in den Berufsschulunterricht liegt es nahe, dass die für das duale System spezifische Form der Beruflichkeit nicht unmittelbar auf den Hochschulbereich übertragen werden kann. Nicht ausgeschlossen allerdings sind Ansätze zur Kooperation und Komplementarität von Berufsausbildung und Hochschulstudium, wie es zum Beispiel in dualen und trialen Studiengängen geschieht und bei denen die beteiligten Institutionen ihre rechtliche, organisatorische und auch fachliche Eigenständigkeit behalten (vgl. Bundesinstitut für Berufsbildung 2015; Krone 2015). Dies ist nur eine von vielen Möglichkeiten, Beruflichkeit in Kooperation von Wirtschaftsbetrieben und Hochschulen zu praktizieren. Sie findet insbesondere bei größeren Industrie- und Dienstleistungsbetrieben zunehmend höhere Aufmerksamkeit. Andere Optionen, die im Leitbild genannten Aspekte der erweiterten Beruflichkeit praktisch umzusetzen, sind vielfältiger Art und werden bereits vielfach erprobt, etwa die berufliche Weiterbildung in Bachelor-Studiengängen, um ein weiteres Beispiel zu nennen (vgl. Koch/Meerten 2010). Das Leitbild zielt ausdrücklich nicht auf Gleichmacherei ab. Es gibt neue Impulse für die Gestaltung gleichwertiger und durchlässiger Übergänge zwischen Betrieb und Hochschule sowie Hinweise für die Erprobung neuer Lernwege zur Verbesserung des Studiums (zum Beispiel mit dem Ziel der Reduzierung von „Abbrecherquoten“) und für den Übergang vom Studium in die anschließende berufliche Praxis.

Erweiterte Beruflichkeit erfordert Mut zur Vielfalt mit bildungspolitischer Perspektive. Wenn die jüngste Akademisierungsdiskussion eines gezeigt hat, dann dies, dass die Experten der Arbeitsmarkt- und Berufs(bildungs)forschung sowie der Fachvertreter in Industrie, Handel und Handwerk bei der Einschätzung künftiger Entwicklungen der Qualifikationsanforderungen und des künftigen quantitativen und qualitativen Bedarfs an Arbeitskräften zu höchst unterschiedlichen und widersprüchlichen Ergebnissen kommen. Das alles hat zu tun mit der hohen systemischen Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen unter Bedingungen globaler Ökonomie, der Liberalisierung von Arbeitsmärkten und Entgrenzung nationalstaatlicher zugunsten transnationaler Zuständigkeiten. Aus der Perspektive von Berufsausbildung und Studium ist deren Systemumwelt komplexer und unberechenbarer geworden. Unverzichtbar ist Bildung der heranwachsenden und nachwachsenden Generation, die Verantwortung für sich selbst, für Andere und für die Gesellschaft übernimmt. Verantwortlichkeit im hier gemeinten Sinne setzt zweierlei voraus: Einerseits Offenheit und öffentliche Verantwortung der gesellschaftlichen Institutionen und speziell der Bildungseinrichtungen für individuell nicht zurechenbare Problemlagen (z. B. global und sozial verursachte Risikofolgen wie Armut, Arbeitslosigkeit, herkunftsbedingte Selektion) und andererseits die Fähigkeit und Persönlichkeitsstärke des Einzelnen, selbstständig berufliche Perspektiven zu entwickeln, kooperativ und solidarisch mit anderen Menschen Problemlösungen zu erarbeiten, Wissen in Kenntnis der zugrunde liegenden fachlichen Voraussetzungen sowie der sozialen und moralischen Implikationen anzueignen und in praktisches Handeln umzusetzen. Erst bei Rückkopplung im Umsetzungsprozess von Theorie in Praxis (und umgekehrt) lassen sich Unsicherheiten und Fehlerquellen im Prozess der Wissensaneignung und -verwertung erschließen und mit Sorgfalt bearbeiten.

Kurzum: Bildung als „Ausstattung zum Verhalten in der Welt“, wie es Saul B. Robinsohn (1967) als Bildungsreformer und Curriculumforscher am Max Planck Institut für Bildungsforschung während der Reformära der 1960er Jahre einprägsam formulierte, ist notwendigerweise „integriertes Lernen“, das heißt grenzüberschreitendes und vernetztes Lernen. Und eben dieses muss eingeübt, vertieft und erprobt werden, sei es in der beruflichen Erstausbildung, sei es im Studium. Berufsausbildung im dualen System kann sich nicht mehr allein auf die Vermittlung berufsspezifischer Kenntnisse und Fertigkeiten beschränken, sondern muss bei der Fundierung selbständigen Planens, Ausführens und Kontrollierens, wie es in den Ausbildungsordnungen für die Berufsausbildung im dualen System heißt, auch wissenschaftliche Grundlagen einbeziehen. Mehr denn je gilt, was die Bildungskommission des Deutschen Bildungsrat im „Strukturplan für das Bildungswesen“ (1970) mit den Worten zum Ausdruck brachte: „Die Bedingungen des Lebens in der modernen Welt erfordern, dass die Lehr- und Lernprozesse wissenschaftsorientiert sind“ (1970, 33). Dass beispielsweise ernährungswissenschaftliche Grundlagen zur Ausbildung von Köchen und Köchinnen gehören und betriebswirtschaftliche Zusammenhänge in der kaufmännischen Berufsausbildung vermittelt werden müssen, versteht sich von selbst. Indes geht es bei betrieblich-dualem Lernen nicht um die Einübung in die Systematik wissenschaftlicher Disziplinen, sondern speziell um die Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse bei der Lösung berufstypischer Probleme und darum, berufspraktische Erfahrungen für Fragen an die Wissenschaften zu nutzen.Wissenschaftsorientierung umfasst eine große Spannbreite: von kasuistischer Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse über den Nachvollzug systematischer Zusammenhänge bis hin zur Kritik wissenschaftlicher Denkansätze und Methoden.

Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen: Zwischen Hochschulstudium und Berufsausbildung und den in diesen Systemen sozialisierten „Bildungstypen“ gibt es eine große Kluft (Spöttl 2012; 2015). „Hochschulen und die wissenschaftliche Ausbildung folgen völlig anderen Handlungslogiken als eine betrieblich duale Ausbildung“ (Spöttl 2015, 24). Das Studium an Hochschulen orientiert sich an disziplinären Wissenschaftsstrukturen, die Berufsausbildung an betrieblichen Arbeits- und Geschäftsprozessen. Das führt vielfach zu nicht kompatiblen Qualifizierungsprofilen. Arbeitsprozesse und die vielschichtige Welt der Berufe sind nun mal nicht nach wissenschaftlichen Disziplinen strukturiert. Und theoretisches Wissen strebt im Unterschied zum handlungspragmatischen Wissen verallgemeinerbare, im Rahmen der wissenschaftlichen „communities of discourse“ intersubjektiv prüfbare Aussagen an. Nicht zuletzt sind es beim Vergleich von Facharbeit und akademischen Professionen die weichen Faktoren, die eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen: Image, Standesfragen, Entlohnung, Übernahme von Verantwortung etc.

Diese Unterschiede lassen sich selbstverständlich nicht kurzfristig ändern und auch nicht in einem gemeinsamen Leitbild weg definieren. Dennoch geht kein Weg daran vorbei, die überlieferten scharfen Grenzen zwischen Hochschulstudium und Berufsausbildung peu á peu durch neue Formen grenzüberschreitenden und vernetzten Lernens abzubauen und sich den Anforderungen „differenter Lernkulturen“ in Kooperation von betrieblichen, schulischen und hochschulischen Bildungseinrichtungen unter Einbeziehung non-formaler Wege des Kompetenzerwerbs zu stellen. Dazu bedarf es verstärkter Forschung und praktischer Erprobung, so etwa auf Gebieten der Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschule (vgl. Frommberger 2012; Wolter 2010), der Herausforderungen für eine größere Kompatibilität und Verzahnung von beruflicher und hochschulischer Bildung bei der Gestaltung und Durchführung von Studiengängen (vgl. Rein 2012) und nicht zuletzt der Ausdifferenzierung und Institutionalisierung neuer, berufsorientierter Formate akademischer Weiterbildung (vgl. Meyer 2012). Es geht beim Konzept der erweiterten modernen Beruflichkeit nicht um Eigenständigkeit und Spezifikum wissenschaftlicher Theorie und Forschung als solche, sondern um deren Anwendung in der „Lehre“, das heißt um die Frage, wie sich neue „Wissensarchitekturen“ entwickeln und erproben lassen. die für die Verbindung wissenschaftlich und beruflich relevanter Wissensformen hilfreich sein könnten. Eine große Herausforderung für die hochschuldidaktische Forschung!

4 Erweiterte Beruflichkeit versus Employability – Standortbestimmung im Bologna-Prozess

Die Hochschul- und Studienreform im Zuge des Bologna-Prozesses hat weitreichende Veränderungen des historisch gewachsenen Verhältnisses von Bildungs- und Beschäftigungssystem in Deutschland in Gang gesetzt (vgl. Georg/Sattel 2006; Georg 2008). Als am 19. Juni 1999 damals 29 europäische Bildungsminister mit der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung den Grundstein für einen „Europäischen Hochschulraum“ legten, wurde in der politischen Auseinandersetzung um Sinn und Zweck des Hochschulstudiums ein programmatischer Schlussstrich gezogen. Er stellte – symbolträchtig in Europas ältester Alma Mater – die Universitäten auf dem Hintergrund ihrer Jahrhunderte langen Tradition vor völlig neue Herausforderungen. Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Umstellung des Studienangebots auf vergleichbare Studienstrukturen mit gestuften Bachelor-Master-Studiengängen und deren Zweckbestimmung als „eigenständige berufsqualifizierende Studienabschlüsse“ (so die Auslegung der Bologna-Deklaration durch die Kultusministerkonferenz (2003)). Speziell die Bachelorabschlüsse müssten, wie es in den KMK-Thesen zur Bachelor-Masterstruktur heißt, „die für die Berufsqualifizierung notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen, Methodenkompetenz und berufsfeldbezogenen Qualifikationen vermitteln“ (Kultusministerkonferenz 2003). Den Hochschulen wird abverlangt, bei der Einführung neuer Studiengänge tätigkeitsbezogene Studienziele auszuweisen und sie auf Berufsfelder zu beziehen. Was allerdings mit „berufsfeldbezogenen Qualifikationen“ in Bezug auf Hochschulstudien gemeint sein soll, ist nach wie vor ungeklärt bzw. umstritten (vgl. Gerholz/Sloane 2011). Die arbeitsbezogenen Anerkennungspraktiken für die betriebliche Ausbildung im dualen System und die curriculare Strukturierung des Berufsschulunterrichts nach Berufsfeldern bleibt dem Hochschulbereich vom Prinzip her fremd (Georg 2008, 15).

Repräsentanten der Universitätsszene sprechen davon, der Bologna-Prozess habe eine fast vollständige Transformation des universitären Auftrags nach sich gezogen: „weg von der allgemeinen Bildung durch Wissenschaft, hin zur Berufsausbildung“ (Lenzen 2012). Das trifft in dieser Zuspitzung auf die Studienverhältnisse in Deutschland derzeit jedoch nicht zu. Interpretationen solcher Art sind nicht zuletzt Folge der Unschärfe und Vielfältigkeit des Employability-Konzepts. Es wurde in der Bologna-Deklaration als maßgebliche Zielgröße für Bachelor-Studiengänge angekündigt und bringt die ökonomisch einseitige Perspektive zum Ausdruck, Bildung primär als Mittel aktiver Arbeitsmarktpolitik und als Wettbewerbs- und Standortfaktor zu verstehen und zu instrumentalisieren. Wenn von „Employability“ oder „Beschäftigungsfähigkeit“ die Rede ist, findet man in amtlichen Dokumenten wie auch in der Fachliteratur und in der politischen Diskussion eine große Spannweite von Begriffsverwendungen (vgl. Schaeper/Wolter 2008). Sie umfassen die kurzfristige Einsatzfähigkeit in Betrieben ebenso wie die Anpassungsfähigkeit an die Veränderungen am Arbeitsmarkt und die individuelle Wertschöpfungsfähigkeit nach Abschluss des Studiums. Damit ist über die Ausgestaltung des Studiums selbst noch nichts gesagt. Auch trifft die Zielvorgabe der Employablity bzw. Beschäftigungsfähigkeit nicht das, was im Kontext deutscher Bildungsgänge unter Berufsqualifizierung verstanden wird (vgl. Georg 2008, 21f.) Im Kontrast zur Employability steht Beruflichkeit für Qualitätsverbesserung des Studiums durch Gewährleistung von Input-Standards auf hohem fachlichem Niveau anstelle der einseitigen Orientierung an Qutputs mit Bezug auf diffuse Arbeitsmarktanforderungen.

Das Leitbild der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ versteht sich nicht als Modifikation, sondern als Alternative zum einseitig auf wirtschaftliches Wachstum fokussierten Konzept der Employability (vgl. Wissenschaftlicher Beraterkreis der Gewerkschaften IG Metall und ver.di 2014, 14ff.). Im Grundsätzlichen steht mit dem Leitbild die Forderung zur Diskussion, öffentliche Verantwortung für die Qualität des Studiums zu übernehmen, um dem Topos der Employability seine Beliebigkeit zu nehmen und Sorge dafür zu tragen, dass das Hochschulstudium insgesamt nicht auf das kurzfristig und ökonomisch Verwertbare beschränkt wird. Damit ist nicht nur ein gewerkschaftliches Anliegen angesprochen. Es betrifft die Substanz der Forderung nach „Bildung im Medium der Wissenschaft für den Beruf“ (Gruschka 2009).

Die Kritik seitens der Universitäten am Employability-Ansatz hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es sich beim Bologna-Prozess ursprünglich um eine politische Aktion und nicht um eine Initiative handelte, die von den Hochschulen selbst ausgegangen ist. „Hintergrund war die Idee, Europa im Eiltempo als gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum zu profilieren. Ein wesentliches Desiderat war deshalb ein höherer Output an hochqualifizierten Arbeitskräften“ (Nickel 2011, 9). Der Bologna-Prozess ist – realistisch betrachtet – nicht umkehrbar. Eben so wenig die Tendenz, dass die „Hochschule zum Normalfall“ wird (Dräger/Ziegele 2014). Sie mit der abfälligen Bezeichnung des „Akademikerwahns“ zu diskreditieren, ist wenig hilfreich. Angesichts der Fehlentwicklungen im Bologna-Prozess besteht die große Herausforderung darin, die Entwicklung des Hochschulstudiums zum „Normalfall“ so zu gestalten, dass Bildung und Beruflichkeit sich wechselseitig im Medium der Wissenschaften entfalten können. Das gilt nicht nur für „Wissenschaft als Beruf“ (sei es in wissenschaftlichen Einrichtungen oder beispielsweise in industrieller Forschung), sondern auch für wissenschaftliche Kompetenz in beruflicher Arbeit und beim Einsatz wissenschaftsbasierter Qualifikationen über studienanschlussaffine berufliche Tätigkeiten bzw. Professionen hinaus.

Im Sinne des Konzepts der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ sind Bildungs-, Berufs- und Wissenschaftsprinzip drei aufeinander verwiesene Dimensionen; ihnen sollte das Hochschulstudium gerecht werden, um den Anforderungen der Zukunft gewachsen zu sein, ohne dabei die fortschrittlichen Momente der europäischen Universitätstradition über Bord zu werfen.

5 Statt einer Zusammenfassung: Offene Fragen

Als Diskussionspapier ist das Leitbild der „erweiterten modernen Beruflichkeit“ mit Fragen konfrontiert, die ernst genommen werden müssen, ohne darauf schon abschließende Antworten geben oder erwarten zu können. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch die innergewerkschaftliche Diskussion um das Leitbild erst in den Anfängen steckt. Von Berufsbildungspolitik aus „einem Guss“ sind die Gewerkschaften – nicht zuletzt aufgrund der relativ stark ausgeprägten internen Arbeitsteilung – noch weit entfernt. Die gewerkschaftliche Zusammenarbeit mit den Hochschulen ist – wenngleich nicht Neuland – mangels institutioneller Verankerung ein schwieriges und vielfach vermintes Feld. Dafür gibt es diverse Gründe. Sie hängen nicht zuletzt mit den strukturellen Besonderheiten des deutschen Bildungssystems in seiner Gesamtheit zusammen.

Das aus der Vergangenheit nachwirkende „deutsche Bildungsschisma“ (Baethge 2006) – institutionalisiert in Form des „staatlich verfassten Steuerungsregimes“ für das allgemeine Schulwesen und den Hochschulbereich auf der einen Seite und des gesetzlich geregelten „korporatistischen Governance-Modells“ für die berufliche Aus- und Weiterbildung auf der anderen Seite (vgl. Baethge/Wolter 2015) – setzt der Berufsbildungspolitik „aus einem Guss“ enge Grenzen. Das gilt insbesondere hinsichtlich der mit dem Berufsprinzip verbundenen Mitsprache- und Mitwirkungsrechte der Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften. Überlagert wird die Problematik der Kooperation zwischen Hochschulbereich und Berufsbildungssystem durch die sich abzeichnenden Umbrüche im Beschäftigungssystem. Angesichts des Bedeutungszuwachses der wissensbasierten Ökonomie und der Expansion akademisch orientierter Bildungs- und Erwerbskarrieren gibt es starke Argumente für die These, „dass bereits auf mittlere Sicht der Hochschulsektor der strukturbestimmende Bereich des gesamten Qualifizierungssystems wird“ (Baethge/Wolter 2015, ohne Seitenangabe). In welcher Form dies geschieht, ist im Einzelnen nicht absehbar. Doch vieles spricht für die von Baethge/Wolter (2015) vertretene Auffassung, dass die Frage nach dem Angebot akademischer Studiengänge und deren Gestaltung kaum im Rahmen korporatistischer Aushandlungsprozesse wird beantwortet werden können. Es sei nicht zu erwarten, dass  die Hochschulen auf ihre Unabhängigkeit und verfassungsmäßigen Garantien für die Freiheit von Forschung und Lehre verzichten werden.

Mithin stellt sich die Frage, wie sich Beruflichkeit Institutionen übergreifend und dennoch unter Beachtung der jeweils geltenden Zuständigkeiten des (staatlich regulierten) Hochschulbereichs und des (korporastistisch verfassten) Ausbildungssystems herstellen und konstruktiv gestalten lässt. Die Antwort von Seiten der IG Metall lautet, dass es vollkommen unklug wäre, die Bereiche gegenseitig auszuspielen (Dressel/Kaßebaum 2015). „Was die Zukunft braucht, ist keine Konkurrenz zwischen Hochschul- und Berufsbildungssystem, sondern ein sinn- und planvolles Miteinander“ (Urban 2015). – Ein beachtenswerter, aber auch schwieriger Ansatz, Sackgassen interessengeleiteter Machtpolitik in der Bildungs- und Hochschulreform zu meiden.

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Zitieren des Beitrags

Kutscha, G. (2015): Erweiterte moderne Beruflichkeit – Eine Alternative zum Mythos „Akademisierungswahn“ und zur „Employability-Maxime“ des Bologna-Regimes. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 29, 1-22. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe29/kutscha_bwpat29.pdf (15-12-2015).