Partner von bwp@: 
  SAP University Alliances Community (UAC)   giz - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit    Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.    Österr. Konferenz für Berufsbildungsforschung       

bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT03 - Bau, Holz, Farbe und Raumgestaltung
Herausgeber: Sabine Baabe-Meijer, Werner Kuhlmeier & Johannes Meyser

Titel:
Übergänge gestalten – Konzepte, Erfahrungen und Perspektiven in den Fachrichtungen Bautechnik, Holztechnik sowie Farbtechnik und Raumgestaltung


Berufliche Bildungsmaßnahmen im Jugendstrafvollzug – Eine weitere Station im Übergangssystem?

Beitrag von Jens BORCHERT, Sabine BÖTTCHER & Marcel SCHWEDER (Ohm-Hochschule Nürnberg, Technische Universität Dresden)

Abstract

Jugendliche und Heranwachsende befinden sich in einer Lebensphase, in der es u.a. um die eigene berufliche Entwicklung geht und der Übergang in das Erwerbsleben zu gestalten ist. Für junge Menschen im Strafvollzug, immerhin etwa 6.000 in Deutschland, steht diese Aufgabe unter völlig anderen Vorzeichen. Ihre Integration in die Gesellschaft stellt eine besondere bildungspolitische Aufgabe dar. Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht dies unterstrichen, indem es die Bundesländer dazu verpflichtet hat, Jugendstrafvollzugsgesetze zu schaffen, die in besonderer Weise auf eine Förderung gerichtet sind. Dabei werden vor allem das soziale Lernen sowie die Entwicklung von Fähigkeiten und Kenntnissen gefördert, die für eine künftige berufliche Integration hilfreich sind. Ziel des Beitrags ist einerseits den Lehr- und Lernort Justizvollzugsanstalt vorzustellen, andererseits zu diskutieren, welche Anforderungen an die beruflichen Bildungsmaßnahmen im Vollzug gestellt werden.

1 Bildung unter Verschluss? Unser Vorgehen

ELLEHAMMER, ANDERSEN, HOLSTEIN und SKADHAUGE (1982, 60) beschreiben in eindrucksvoller Art und Weise, wie paradox es anmutet, in einem geschlossenen und von der realen Welt abgekoppelten System wie dem Strafvollzug, Menschen – in unserem Fall inhaftierte Jugendliche und Heranwachsende – auf ein Leben „draußen“, also auf die „moderne“ Arbeits- und Lebenswelt, vorzubereiten: „Es ist, als wären die Eltern auf ein Kind böse, das nicht mit Messer und Gabel essen kann. Zur Strafe nehmen sie dem Kinde das normale Essen weg, Messer und Gabel auch. Dann setzen Sie es in einen besonderen Raum und sagen ihm, daß es jetzt nur noch Mehlsuppe und einen Löffel zum Essen bekommt. Und daß es jetzt ein für allemal lernen soll, mit Messer und Gabel zu essen!“

In Deutschland sind derzeit etwa 6.000 Jugendliche und Heranwachsende inhaftiert, von denen der Großteil zwischen 18 und 24 Jahren alt ist. Sie befinden sich somit in einer Lebensphase „unter Verschluss“, in der es normalerweise darum geht, berufliche Ziele zu entwickeln, diese umzusetzen und sich über den Beruf innerhalb des gesellschaftlichen Systems zu platzieren. Der überwiegende Teil dieser Jugendlichen war bereits vor der Inhaftierung nur eingeschränkt in der Lage, den Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung sowie danach in die Erwerbsarbeit zu bewältigen. Die wenigsten von ihnen verfügen über einen qualifizierten Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbildung. Im Gegenteil: Oftmals haben sie bereits mehrere Fördermaßnahmen des beruflichen Übergangssystems absolviert – häufig jedoch ohne Erfolg. Ausgehend von der Diskussion um das Übergangssystem beschäftigt sich der vorliegende Beitrag mit der Frage, inwieweit berufliche Bildungsmaßnahmen im Vollzug für die jungen Menschen lediglich eine weitere Station innerhalb der eigenen Bildungsbiografie darstellen, oder ob gerade die Geschlossenheit des Systems und dessen starke Regelorientierung zu einer Aufhebung der Übergangsproblematik führen. Diese Fragestellung soll im Nachfolgenden exemplarisch für die Situation im Freistaat Sachsen diskutiert werden.

2 Übergangssystem: Begriffsklärung im Kontext der beruflichen Bildung

Unter dem Begriff des Übergangssystems fasste das KONSORTIUM BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG im Jahr 2006 alle (Aus-)Bildungsangebote zusammen, „…die unterhalb einer qualifizierten Berufsausbildung liegen bzw. zu keinem anerkannten Ausbildungsabschluss führen, […] auf eine Verbesserung der individuellen Kompetenzen […] zielen und zum Teil das Nachholen eines allgemein bildenden Schulabschlusses ermöglichen“ (2006, 79). Entgegen dieser ursprünglichen Intention hat sich das Übergangssystem unterdessen zu einem intransparenten Konglomerat von Bildungsmaßnahmen entwickelt. Im 3. Bildungsbericht aus dem Jahr 2010 findet diese Erkenntnis bereits Berücksichtigung. Bezugnehmend auf das Übergangssystem konstatiert die AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2010, 95) nunmehr, dass dieses „…aufgrund seiner institutionellen Heterogenität und fehlenden Koordinierung zwischen den Maßnahmetypen besser als Sektor denn als System zu bezeichnen ist.“ In zunehmendem Maß ist so die eigentliche Funktion, eine Überbrückung zu schaffen, welche der gezielten Ausbildungs- und Berufsplanung dient, abhanden gekommen. Die Teilnahme fundiert unterdessen nur noch auf der pragmatischen Hoffnung, die eigenen Chancen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu verbessern und somit Zugang zum regulären Ausbildungssystem zu bekommen.

Infolge der Bildungsexpansion sowie dem damit einhergehenden „Blick nach oben“ (SOLGA 2005, 18) scheint ein Großteil der Schulabgänger den Anforderungen des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes nicht mehr zu genügen. SOLGA (vgl. ebenda) sieht die Gruppe gering qualifizierter Personen gar als „genuines Produkt“ der Bildungsexpansion. Dass dies in letzter Konsequenz nicht nur für die gering qualifizierten Personen gilt, ist spätestens seit der Bekanntgabe der Ergebnisse der PISA-2000-Studie auch in der breiten Öffentlichkeit Konsens. Die Strategie, welche mit der Implementierung von Berufsvorbereitungsjahren (BVJs), Berufsgrundbildungsjahren (BGJs), Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen (BvBs), Einstiegsqualifizierungen Jugendlicher (EQJs) und vieler weiterer Maßnahmen in das bestehende Bildungssystem verbunden war, bestand aber darin, die individuellen Kompetenzen von Schulabgängern zu verbessern. Aufgrund der Vielfalt der Maßnahmenträger und der starken Varianz der vermittelten Inhalte gelingt dieses jedoch immer weniger. GIEST-WARSEWA (2002, 308) verweist zudem darauf, dass die „…Maßnahmen zum stigmatisierenden Merkmal werden und dem beruflichen Fortkommen paradoxerweise im Wege stehen könnten, weil diese Art der Erwerbsbiographien Jugendliche für potentielle Arbeitgeber zu unsicheren Kandidaten macht.“ Aus dem Blick gerät in der Diskussion um Ursachen und Lösungen oftmals, dass die Problematik keine ausschließlich berufspädagogische, sondern eben auch eine bildungspolitische ist (vgl. SEVERING 2010, 91). Noch ferner erscheint jedoch die Frage, welche Konsequenzen und Probleme sich aufzeigen, wenn individuelle Kompetenzen in geschlossenen Anstalten und damit segregierenden Systemen vermittelt werden sollen, nämlich „hinter Gittern“. Konkrete Vorstellungen über den Strafvollzug respektive den Jugendstrafvollzug bestehen auf Seiten der „Normalgesellschaft“, insbesondere aber bei den Bildungsverantwortlichen in der Regel nicht. Meist basieren die Ansichten zu großen Teilen auf Berichterstattungen der Medien. In aller Regel ist der Umgang mit der Thematik aber von Ressentiments geprägt. Insofern dienen die weiteren Ausführungen nicht nur der Darstellung eines „Lehren und Lernens hinter Gittern“, sondern auch dem Abbau von Vorurteilen gegenüber der Institution Gefängnis und deren Insassen.

3 Jugendkriminalität und Jugendstrafe

Nach BÖHNISCH (2006, 127) könne das Jugendalter, also die Zeit zwischen der Kindheit und dem Erwachsenenalter als Phase „potenzieller Devianz“ verstanden werden. Damit ist gemeint, dass ein riskantes Verhalten sozusagen jugendkulturell angelegt ist und als Bestandteil des Aufwachsens in der modernen Gesellschaft betrachtet werden müsse (vgl. ebenda 1997, 162). Die Markierung des Jugendbegriffs und die Abgrenzung der Lebensphase ist schwierig und nicht eindeutig geklärt (s. hierzu exemplarisch HORNSTEIN/ THOLE 2005, 444). Im Sinne des § 1 Abs. 2 Jugendgerichtsgesetz (JGG) ist Jugendlicher, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.

Dass Jugendliche mit abweichenden Verhaltensweisen auffallen, ist daher nicht ungewöhnlich. Ein kleiner Teil dieser jungen Menschen tritt jedoch mit Handlungen in Erscheinung, die strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen: 2009 fielen rund 249.000 Jugendliche und 228.000 junge Heranwachsende durch kriminelle Taten auf (vgl. BUNDESMINISTERIUM DES INNERN 2010, 6). Wiederum ein geringer Teil der Gruppe der straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden, häufig bezeichnet als „Intensiv- oder Mehrfachtäter“, muss auf Grund ihrer Tat(en) eine Haftstrafe verbüßen. So waren am 31.03.2010 rund 6.184 (STATISTISCHES BUNDESAMT 2010a, 12) Jugendstrafgefangene in deutschen Gefängnissen inhaftiert, von denen rund 4 % Frauen waren. Hinzuzufügen ist jedoch, dass im Jugendstrafvollzug in der Regel junge Menschen im Alter von 14 – 25 Jahren untergebracht sind. Die Inhaftierten sind nur in den wenigsten Fällen nicht volljährig (2010: rund 10 % der Inhaftierten im Jugendstrafvollzug), so dass der Jugendstrafvollzug eher als ein „Jungerwachsenenvollzug“ verstanden werden könne (vgl. DÜNKEL 2007, 69).

4 Jugendstrafvollzug in Sachsen

4.1 Gesetzliche und organisatorische Grundlagen

Zum 30. November 2010 (STATISTISCHES BUNDESAMT 2010b, 6) verbüßten insgesamt 331 Jugendliche und Heranwachsende eine Freiheitsstrafe in Sachsen, wobei der Hauptanteil der straffälligen Männer sind (knapp 90 %). Die Zahl der jugendlichen Inhaftierten nimmt seit 2001 kontinuierlich ab, damals verbrachten noch rund 700 junge Menschen in Sachsen einen Teil ihrer Lebenszeit im Gefängnis (vgl. SÄCHSISCHES STAATSMINISTERIUM DER JUSTIZ UND FÜR EUROPA 2010, 3). Gemäß § 23 S. 1 Sächsisches Justizvollzugsgesetz (SächsJStVollzG) wird die Jugendstrafe an männlichen und weiblichen Gefangenen grundsätzlich getrennt vollzogen. Die Jugendstrafanstalt (JSA) für männliche Jugendstrafgefangene befindet sich seit 2007 in Regis-Breitingen, weibliche Jugendstrafgefangene werden in Chemnitz untergebracht. Die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Chemnitz ist jedoch keine eigenständige JSA – hier werden alle weiblichen Straf- und Jugendgefangenen der Freistaaten Sachsen und Thüringen zentral untergebracht (ebd., 6).

Laut § 2 SächsJStVollzG (SÄCHSISCHE STAATSKANZLEI 2007) ist es ein Ziel des Jugendstrafvollzugs, Gefangene dazu zu befähigen, „…künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Strafe zu führen.“ Der Institution und damit ihren Bediensteten kommt laut § 3 Abs. 1 SächsJStVollzG der Erziehungsauftrag zu, „Die Gefangenen […] in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten so zu fördern, dass sie zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Lebensführung in Achtung der Rechte anderer befähigt werden.“ Umgesetzt werden soll diese Vorgabe u. a. dadurch, dass junge Menschen in Maßnahmen der schulischen und/oder beruflichen Bildung integriert werden (§ 37 SächsJStVollzG).

4.2 Lernen für die Freiheit im Vollzug – ein Paradoxon?

Was kann ein Jugendlicher im Strafvollzug lernen? Sein Haftraum ist vergittert. Um das Hafthaus erstreckt sich eine Mauer oder ein Zaun. Kameras und NATO-Draht machen eine Flucht unmöglich. Der Jugendliche ist zuallererst Insasse, abgeurteilt für eine oder mehrere Straftaten. Damit die Abläufe im Gefängnis reibungslos funktionieren, muss er sich diesen Vorgaben anpassen und ebenfalls funktionieren. Er wird verpflegt, mehrmals täglich gezählt und ärztlich versorgt. Ein Stab von Personen ist für Betreuungsaufgaben zuständig, für Seelsorge, Bildungsangebote, soziale Hilfe oder die Kunsttherapie.

Der amerikanische Soziologe ERVING GOFFMAN (1922-1982) hat nach Beobachtungen in geschlossenen Psychiatrien festgestellt, dass es in einer Reihe von geschlossenen Einrichtungen zu ganz ähnlichen Phänomenen kommt: In Gefängnissen, „Irrenhäusern“ oder Kasernen wird der Einzelne einem bestimmten Programm unterworfen. Es gibt eine sichtbare Grenze zwischen „drinnen“ und „draußen“, und wer „drinnen“ ist, muss sich den Gegebenheiten anpassen, damit das Ganze gelingt. Tut er das nicht, wird er diszipliniert. Gefährdet er andere oder sich selbst, kann er separiert werden. Er wird für einen bestimmten Zeitraum in einen „besonders gesicherten Haftraum“ verbracht, in dem er keine weiteren gefährlichen Handlungen ausführen kann. Dort ist das Mobiliar fest verankert und nicht zu zerstören; der ganze Raum ist gefliest und nach Verunreinigungen leicht zu reinigen.

In den „totalen Institutionen“, von denen GOFFMAN (1973) sprach, ist der Anpassungsdruck enorm. Der verurteilte Straftäter wird im Zuge einer Einweisungsprozedur zum Gefangenen: Er gibt seine Privatkleidung auf die Kammer, wo sie bis zu seiner Entlassung aufbewahrt wird. Er wird einem Haftbereich zugeordnet und erhält einen Haftraum zugewiesen. Für eine genau bemessene Zeit wird er dort verbleiben. Mehrmals täglich wird „der Bestand“ überprüft, zu dem er nun gehört. Es wird eine „Lebendkontrolle“ durchgeführt; der Jugendliche muss also deutlich vernehmbar oder sichtbar zeigen, dass er lebt. Wenn der Jugendliche ein Anliegen hat, wird er dieses auf einen Antrag schreiben. Er wird arbeiten oder die Schule bzw. eine Ausbildung absolvieren.

Um in der „totalen Institution“ des Gefängnisses zu überleben, schaffen sich die Insassen eine „Subkultur“, die sie in begrenztem Maße mit dem versorgt, was ihnen die Institution vorenthält: Kontakte nach draußen, selbstgebrannter oder -angesetzter Alkohol und Drogen. Die Inhaftierten machen einen weiteren Sozialisationsprozess durch: Sie nehmen eine Sträflingsidentität an. Zu dieser Prisonisierung (Annahme einer Sträflingsidentität) gehören Tätowierungen, die Solidarität zu den Mitgefangenen und eine einheitliche Sprache. Im Idiom der Gefangenen gesprochen gehen diese nicht zum Besuch, sondern zum „Sprecher“, der Transport in andere Anstalten heißt „Schub“ und die uniformierten Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes werden als „Schließer“, „Schlüsselknecht“ oder „Wachtel“ bezeichnet.

Die Gefangenen durchlaufen mit der Prisonisierung ein Curriculum, das vom Gesetzgeber nicht intendiert war. Dieses Verhalten gründet in dem Versuch, sich der permanenten kustodialen (verwaltenden) und überwachenden Einflussnahme zu entziehen. Der französische Soziologe MICHEL FOUCAULT (1977) sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Gefängnisse „Kasernen des Verbrechens“ seien. Insassen erlernen, ihre kriminellen Handlungen zu perfektionieren.

Was kann ein Jugendlicher in diesem Umfeld noch lernen? Das Ziel der Strafe und des Strafvollzuges für Jugendliche besteht darin, sie zu erziehen und wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Daher stehen den Jugendlichen mehr erziehende und helfende Angebote zur Verfügung, als erwachsenen Inhaftierten. Dazu gehören unterschiedliche schulische Maßnahmen von der Alphabetisierung bis hin zu beruflichen Aus- und Weiterbildungen.

Dabei zeigt die Praxis, dass die Bedingungen trotz der dargestellten Ausgangslage nicht unbedingt erziehungsfeindlich sind: So beschreiben LehrerInnen den Rahmen des geschlossenen Vollzugs durchaus als chancenreich für die Jugendlichen, da Schulabsentismus faktisch nicht vorkommt (vgl. BORCHERT 2007, 200) und ein starres und rigides Gefüge an Regeln dazu führen kann, Jugendliche „bei der Stange“ zu halten.

Außerdem stellen alle Bildungsangebote eine willkommene Abwechslung vom Dasein im Haftraum dar und werden (auch aufgrund der gezahlten Ausbildungsbeihilfe) von den Jugendlichen meist gern angenommen.

5 Bildung im Jugendstrafvollzug

5.1 Bedeutungen von Ausbildung und Beruf im Jugendalter

Jedem Menschen stellen sich im Lauf des Lebens die verschiedensten Entwicklungsaufgaben (hierzu ausführlich HAVINGHURST 1948), welche es im Rahmen der gesellschaftlichen Anforderungen und individuellen Möglichkeiten zu bewältigen gilt. Im Jugendalter geht es u. a. darum, sich von der Herkunftsfamilie abzulösen und zu verselbstständigen, eine eigene Identität zu entwickeln, sich auf das Berufsleben vorzubereiten und in das Beschäftigungssystem überzugehen. Ein Beruf und eine Arbeit dienen den jungen Menschen als ein Medium der Ablösung vom Elternhaus und der eigenen unabhängigen Lebensgestaltung – gerade auch in materieller Hinsicht. Mit einer Beschäftigung ist weiterhin eine strukturierende und zugleich sinnstiftende Ordnung im Alltagsleben verbunden. Sie ist in der Regel Teil von persönlicher Sinngebung und Identitätskonstruktion (vgl. BAETHGE u. a. 1988, 41 ff.). Arbeit vermittelt das Gefühl des „Gebrauchtwerdens mit Ernstcharakter“ (ebd.), was gerade für junge Menschen von großer Bedeutung ist, welche die Erfahrung gemacht haben, von der Gesellschaft stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Versteht man das kriminelle Verhalten von Jugendlichen im Sinne von HURRELMANN (2007, 202) als „…den Endpunkt einer langen Kette von Belastungen durch ungünstige Sozialisationsbedingungen in der Familie, geringem Schulerfolg, fehlendem Schulabschluss, mangelhafter oder fehlender Berufsausbildung und Arbeitslosigkeit“, wird deutlich, welche besondere Rolle der Ausbildung der Jugendlichen in der Haft vor dem Hintergrund einer gelingenden Lebensbewältigung zukommt.

5.2 Die Ausgangslage: Schulbildung der inhaftierten Jugendlichen am Beispiel der Häftlinge der JSA Regis-Breitingen

Die soziale Situation der jugendlichen Inhaftierten ist meist defizitär. Einem Großteil der Insassen fehlen Schul- und Berufsabschluss. Im Zuge einer Aktenanalyse im August 2009 wurden insgesamt 60 Gefangenenpersonalakten einer Zufallsstichprobe von Jugendstrafgefangenen der Jugendstrafanstalt Regis-Breitingen durchgesehen. Die Angaben in den Akten entstammen den Urteilen sowie den Selbstauskünften der Jugendlichen, die vor allem im „Zugangsgespräch“ oder der Vollzugsplankonferenz erhoben worden sind.

 

Tabelle 1:   Schulbildung der männlichen Jugendstrafgefangenen der JSA Regis-Breitingen im August 2009

Klasse

Anzahl

Prozent (gerundet)

Hauptschulabschluss in Haft

2

3,3

Hauptschulabschluss vor Haft

8

13,3

Mittelschule 9

5

8,3

Mittelschule 8

17

28,3

Mittelschule 7

5

8,3

Mittelschule 6 und darunter

3

5

Förderschule 9

11

18,3

Förderschule 8

6

10

Förderschule 7

3

5

Summe

60

100

 

Über 80 % der Jugendlichen verfügen über keinen Hauptschulabschluss. Die meisten hatten als letztes vorliegendes Zeugnis ein Abgangszeugnis der Klasse 8, hinzu kommt eine große Gruppe von Förderschülern, meist von Schulen für Lernförderung oder Erziehungshilfe. Von den untersuchten Jugendlichen hatten zwei zeitweise ein Gymnasium besucht, waren jedoch vor der Inhaftierung an einer Mittelschule (in Sachsen umfasst die Mittelschule die Haupt- und die Realschulbildungsgänge) gewesen. Insgesamt zehn Jugendliche hatten bereits einen Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hinter sich. Bei etwa einem Drittel zeigten sich in den selbst ausgefüllten Lebensläufen und in anderen Dokumenten große Probleme in der Orthographie.

Ein ähnliches Bild ergibt sich für den Bereich der beruflichen Bildung. Die Anzahl der Jugendlichen im sächsischen Vollzug, die über eine abgeschlossene berufliche Ausbildung verfügen, ist gering. Die Mehrzahl der Inhaftierten absolvierte nach der Schulzeit eine oder mehrere berufsvorbereitende Maßnahmen (BVJ – Berufsvorbereitungsjahr), die häufig ohne Erfolg abgebrochen wurden (vgl. Tabelle 2). Teilweise waren frühere Inhaftierungen der Grund für das Scheitern der Maßnahme.

 

Tabelle 2:   Anzahl der begonnenen BVJ

Klasse

Anzahl

Prozent (gerundet)

ein BVJ

21

35

zwei BVJ

23

38

drei BVJ

12

20

vier BVJ

1

2

keine Angaben

3

5

Summe

60

100

 

Nach Verbüßung der Haftzeit wurde häufig eine neue Maßnahme begonnen. Die Jugendlichen durchliefen eine „Maßnahmenkarriere“, da häufig auch während des Vollzuges bestimmte BVJ oder modulare Angebote wahrgenommen wurden. Da sich die Haftzeit nicht an der Dauer möglicher beruflicher Bildungsmaßnahmen orientiert, können diese häufig nicht während der Inhaftierung des Jugendlichen abgeschlossen werden. Die durchschnittliche Verweildauer liegt bei etwa 18 Monaten und damit unter dem Zeitrahmen für eine duale Ausbildung in herkömmlicher Form. Inwieweit die in Haft begonnenen Module in der Freiheit fortgesetzt werden, konnte nicht erhoben werden.

Eine durchgeführte Analyse zur Qualifizierung im Resozialisierungsbereich (AQUA.RE) aus dem Jahr 2000 bestätigt dieses Bild: Von 422 Strafgefangenen im Alter von 18 – 25 Jahren aus fünf JVAs (JVA Stollberg, JVA Chemnitz, JVA Bautzen, JVA Waldheim, JVA Zeithain) verfügten 81 % über keine abgeschlossene Berufsausbildung (BERUFSFORTBILDUNGSWERK SACHSEN 2000, 31).

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Inhaftierten häufig nicht zum ersten Mal eine Haftstrafe absolvieren, sondern bereits mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Dieser Umstand kann, wie bereits beschrieben, verhindern, dass Maßnahmen der beruflichen Bildung begonnen, weitergeführt oder beendet werden. Inwieweit die männlichen Jugendstrafgefangenen in Sachsen bereits Eintragungen im Bundeszentralregister aufzuweisen haben, ist nachfolgender Tabelle 3 zu entnehmen.

 

Tabelle 3:   Bundeszentralregistereinträge der männlichen Jugendstrafgefangenen in Sachsen im August 2009

Einträge

Anzahl

Prozent (gerundet)

unter 5

21

35

5

8

13,3

6

7

11,6

7

5

8,3

8

4

6,6

9

1

1,6

mehr als 10

4

6,6

keine Angabe

10

16,6

Summe

60

100

 

Zusammenfassend ist zu unterstreichen, dass der geringe Bildungsstand der Inhaftierten sich nicht in einer (mangelnden) Intelligenz begründet. Diese liegt zum überwiegenden Teil nicht unter dem Durchschnitt der Bevölkerung (hierzu EBERLE 1980, CYPRIAN 1977, SCHWIND/ BLAU 1988, JUSTIZMINISTERIUM NRW 2006). Vielmehr handelt es sich um eine Kumulation von Ausbildungsdefiziten infolge nicht gelungener Sozialisation und brüchigen Bildungsbiografien. Infolge von Fehleinschätzungen besteht somit durchaus die Gefahr der Unterforderung (vgl. WALKENHORST 2007, 21). Diese Erkenntnis ist für die Planung von Bildungsmaßnahmen von immanenter Bedeutung.

5.3  Schulische und berufliche Bildung am Beispiel des sächsischen Jugendstrafvollzugs

Die dargestellte Situation von Jugendstrafgefangenen ist nicht neu. Sie erscheint über die Zeit und die Landesgrenze hinweg gesehen als relativ stabil. Einem britischen Regierungsbericht zufolge entspricht die Literalität der Hälfte der britischen Inhaftierten im Jahr 2005 lediglich dem Niveau eines Grundschülers (vgl. BORCHERT 2008, 18). In der DDR besaßen 1966 10 % der Insassen maximal den Abschluss der 4. Klasse (vgl. SZKIBIK 1966, 74). Einer Studie der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit (EHS) Dresden zufolge, sind 20 % der Strafgefangenen Sachsens funktionale Analphabeten, beherrschen also das Lesen und Schreiben nicht in dem Maße, wie es in unserer Gesellschaft nötig ist, um am sozialen Leben umfassend teilzunehmen (vgl. APFE e.V. 2006). Da die Literalität für das erfolgreiche Absolvieren der beruflichen Ausbildung die Basisqualifikation darstellt, gibt es in den meisten Anstalten entsprechende Angebote. In der JSA Regis-Breitingen sieht das Konzept der schulischen und beruflichen Maßnahmen daher Kurse mit unterschiedlichen Anforderungsniveaus vor. Insbesondere werden mehrere niedrigschwellige Maßnahmen durchgeführt, um an die bisher erworbenen Kompetenzen der Jugendlichen anschließen zu können.

Wie außerhalb der Anstalt, wirkt sich das Kompetenzniveau der Inhaftierten insgesamt auf die Berufswahlmöglichkeiten im Vollzug aus. Dessen ungeachtet stehen den Inhaftierten in der Haftanstalt per se nicht die gleichen Wahlmöglichkeiten wie in der Freiheit zur Verfügung. Aus vollzuglicher Sicht haben vermutlich sogar eher Sicherheitsbestimmungen und vollzugsorganisatorische Entscheidungen das Primat innerhalb der Allokationsprozesse. In aller Regel beschränken sich die Berufsbildungsangebote zudem nicht nur auf wenige Berufsbilder, sondern vorrangig auf die gewerblich-technischen Fachrichtungen (Bau-, Holz-, Farb-, und Metalltechnik).

Aktuell gibt es in der JSA Regis-Breitingen bei 326 Haftplätzen folgende Angebote:

  • Analphabetenkurs (16 Plätze)
  • Basiskurs „Kommunikation und Kompetenz“ (6 Plätze)
  • zwei BVJ-Maßnahmen (24 Plätze)
  • drei Hauptschulkurse (36 Plätze)
  • ein Realschulkurs (12 Plätze)
  • zehn berufliche Qualifikationsmaßnahmen in modularer Form (105 Plätze).

In Summe stehen damit 212 Plätze (65 %) für Qualifikationsmaßnahmen zur Verfügung. Die übrigen Jugendstrafgefangenen sind anderweitig eingesetzt. Sie arbeiten beispielsweise als sogenannte „Hausarbeiter“ (dies beschreibt eine Tätigkeit auf der jeweiligen Station) oder können aufgrund ihrer Haftzeit nicht in Arbeits- und Ausbildungskurse integriert werden. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Jugendlichen (129 Plätze, rund 40 %) befindet sich in beruflichen Maßnahmen. Im Falle der Hauptschulkurse ist zu überprüfen, ob es mit Blick auf die altersbedingt notwendige berufliche Sozialisation der Jugendlichen im Vollzug und zur Vermeidung unnötiger Bildungskarrieren nicht sinnvoller wäre, berufliche Bildungsmaßnahmen zu favorisieren, welche den Erwerb allgemeinbildender Schulabschlüsse mit einbeziehen. Als Beispiel sei das BVJ angeführt, welches die Möglichkeit des Erwerbs eines Hauptschulabschlusses vorsieht.

Demnach wäre immer individuell zu prüfen, ob ein allgemeinbildender Unterricht überhaupt erforderlich ist, gerade „…wenn die individuellen, vollzuglichen und strukturellen Voraussetzungen für die Aufnahme einer qualifizierenden beruflichen Maßnahme auch ohne vorhandenen Schulabschluss gegeben sind oder im Laufe der Maßnahme begleitend hergestellt werden können“ (ROHWEDDER 2003, 158).

Die benannten modularen Qualifikationsmaßnahmen werden in der JSA gemäß dem „Sächsischen Qualifizierungspass“ angeboten, der ein Instrument zur individuellen Dokumentation erworbener Teilleistungen im Bereich der beruflichen Bildung ist und von der Landesarbeitsgemeinschaft der Sächsischen Industrie- und Handelskammern und der Arbeitsgemeinschaft der Sächsischen Handwerkskammer herausgegeben wird. Hierzu wurde der Rahmenlehrplan in Qualifizierungsbausteine gegliedert, welche die wesentlichsten Kompetenzbereiche eines Berufsbildes umfassen, das heißt abgegrenzte berufsbezogene Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Alle Qualifizierungsbausteine (Module) schließen mit einer Externenüberprüfung (IHK, HK) ab und werden im „Sächsischen Qualifizierungspass“ zertifiziert. Der Erwerb des Facharbeiterabschlusses ist nach erfolgreicher Absolvierung aller Module möglich, wenn sich der Jugendstrafgefangene bei den Kammern zur Gesellenprüfung anmeldet und diese erfolgreich absolviert. Können im Rahmen der Inhaftierung nicht alle Qualifizierungsbausteine erworben werden, besteht theoretisch die Möglichkeit, fehlende Module nach der Entlassung zu absolvieren (vgl. SÄCHSISCHES STAATMINISTERIUM DER JUSTIZ UND FÜR EUROPA 2009, 15; hierzu auch HÄßLER/ PREUSCHE/ ROTTSTÄDT 2006). Hierfür müssen allerdings auch außerhalb der Haftanstalt Bildungsverantwortliche vorhanden sein, welche modulare Ausbildungen anbieten beziehungsweise begonnene fortführen können.

Laut des 1. Berichts des SÄCHSISCHEN STAATMINISTERIUMS DER JUSTIZ UND FÜR EUROPA (2009, 15) zur Lage des Jugendstrafvollzugs in Sachsen, umfasst das Ausbildungsangebot im Bereich der modular strukturierten Maßnahmen folgende Berufsfelder/-bilder:

  • Berufsfeld Bau
  • Berufsfeld Garten- und Landschaftsbau
  • Fachlagerist
  • Gebäudereiniger
  • Holzmechaniker
  • Mediengestalter
  • Metallbauer
  • Objektbeschichter /Maler
  • Schweißer
  • Teilezurichter – Metall

Träger der Maßnahmen sind externe (private) Bildungsdienstleister, welche sich aus Landeskofinanzierungsmitteln des Freistaates Sachsen sowie aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) finanzieren. Ob die Angebote in ihrem quantitativen Umfang für die Gefangenen in der JSA Regis-Breitingen bestehen bleiben, kann im Moment nicht beantwortet werden, da die Förderung der Maßnahmen 2013 seitens des ESF ausläuft. Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung der beruflichen Bildung für die Jugendstrafgefangenen erscheint es bedenklich, dass die Kontinuität des Angebotes nicht gewährleistet ist.

Unabhängig vom Ausbildungsmodell sind Qualifizierungsangebote immer mit sozialpädagogischen Angeboten zum Abbau von Verhaltensdefiziten zu kombinieren, wobei integrative Konzepte additiven Modellen vorzuziehen sind. Denn Bildungsmaßnahmen tragen nur dann sinnvoll zur (beruflichen) Sozialisation bei, „…wenn durch ein umfassendes Bildungs- und Therapiekonzept auch die Fähigkeit und Bereitschaft zur Übernahme, aber auch zur Reflexion und Gestaltung sozialer und beruflicher Rollen entwickelt wurde“ (CYPRIAN 1977, 87).

In jedem Fall müssen gerade Jugendvollzugsanstalten ihre Inhaftierten in ausreichendem Maße auf eine berufliche Integration vorbereiten. Denn unter den Straffälligen stellen die Jugendlichen und Heranwachsenden eine spezifische Gruppe dar. Ihre Jugend sollte „…doch eigentlich genügend Möglichkeiten bieten, die Weichen für eine nicht nur beruflich befriedigende Zukunft zu stellen.“ (STENZEL 1990, 28) Nicht zuletzt müssen Bildungsmaßnahmen aus „…profaneren Gründen, deren Anführung häufig gescheut wird, nämlich volkswirtschaftlichen…“, heraus angeboten werden. So erscheint es zukünftig nicht unerheblich, auch gering Qualifizierte „mitzunehmen“, da sie ein nicht zu unterschätzendes Reservoir an potenziellen Facharbeitern von morgen darstellen (vgl. hierzu EULER 2010).

Festzuhalten ist weiter, dass eine zielgenaue und nachhaltige berufliche Bildung nicht nur integrative Konzepte erfordert, sondern auch qualifizierter Personen bedarf, welche diese unter Anwendung einer „wissenschaftsorientierten Didaktik“ (BIERSCHWALE 2008, 201) umsetzen. Um den komplexen Anforderungen der (Aus-)Bildung in der Haftanstalt gerecht zu werden, bedarf es sowohl didaktischen Könnens als auch sozialpädagogischer Kompetenzen, um die jungen Menschen bei der Bewältigung ihrer Lebenssituation adäquat zu unterstützen. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass zukünftige Lehrer in ihrem Studium ausschließlich auf das öffentliche Schulwesen vorbereitet werden. Für die Perspektive „Lehrer im Strafvollzug“ und die daran geknüpften Aufgaben und Besonderheiten gibt es bis dato keine tragfähigen Konzepte. (vgl. eben

6  Chancen und Grenzen beruflicher Maßnahmen im Vollzug

Dass das einfache, rein repetitive Arbeiten im Rahmen der Inhaftierung den Zielen einer Legalbewährung und sozialen Integration wenig zuträglich sein wird, ist bekannt. In der Konsequenz sowie der notwendigen Abgrenzung zum Erwachsenvollzug hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit Urteil vom 31.5.2006 die Bundesländer dazu verpflichtet, Jugendstrafvollzugsgesetze zu schaffen, welche „…in besonderer Weise auf Förderung – vor allem auf soziales Lernen sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und Kenntnissen, die einer künftigen beruflichen Integration dienen“ (BVerfG 2006) ausgerichtet sind. Nicht zuletzt aus diesem Grund unterstreichen die Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder die Notwendigkeit strukturierter und adressatengerechter Bildungsmaßnahmen. Gemäß § 37 SächsJStVollzG sind die Gefangenen deshalb „…zur Teilnahme an schulischen und beruflichen Orientierungs-, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen oder speziellen Maßnahmen zur Förderung ihrer schulischen, beruflichen oder persönlichen Entwicklung […] verpflichtet.“ Die Vorgabe ermöglicht den Inhaftierten bei entsprechender Eignung sogar eine Berufsausbildung innerhalb eines „…freien Beschäftigungsverhältnisses außerhalb der Anstalt…“ zu absolvieren.

Basierend auf der gesetzlichen Verpflichtung haben die Anstalten der einzelnen Bundesländer zahlreiche Bildungsmaßnahmen unter verschiedenster Trägerschaft konzipiert. Inwieweit diese auf tragfähigen Konzepten fußen, die Bildungszuweisungen in der Realität adressatengerecht und systematisch oder eher nach vollzugsorganisatorischen Kriterien erfolgen, ist ohne weitere Analysen nicht eindeutig festzustellen. Zu berücksichtigen ist stets, dass alle pädagogischen Maßnahmen im Kontext von Sicherheits- und Vollzugsfragen stattfinden. So kann es beispielsweise geschehen, dass ein Jugendlicher in eine für ihn geeignete Maßnahme nicht aufgenommen werden kann, weil er dort von Mitgefangenen bedroht wird.

Im schlechtesten Fall tragen die konzipierten Bildungsmaßnahmen weder zur beruflichen Sozialisation noch zum Aufbrechen bisheriger Lebensverläufe bei, sondern stellen für die Jugendlichen nur eine weitere Station im Übergangssystem dar. Forschungen hierzu, insbesondere aus einer dezidiert berufspädagogischen und berufsdidaktischen Sicht, stellen derzeit, bis auf wenige Projektinitiativen, die Ausnahme dar. Dazu gehören die Projekte B.I.S.S. - Berufsbildung und (Re-)Integration Strafgefangener und Strafentlassener der Thüringer Justizvollzugseinrichtungen (vgl. hierzu: BUSSE/ KRIEFALL/ RÜNGER 2010), Projekt „NeuStart“- „Neustart ins Berufsleben“ - Integration in den Arbeitsmarkt – Beitrag zur Resozialisierung von Haftentlassenen, Ermittlung des längerfristigen Fortbildungsbedarfs in den sächsischen Justizvollzugsanstalten (vgl. hierzu: HÄßLER/ PREUSCHE/ ROTTSTÄDT 2006) und AQUA.RE – Analyse zur Qualifizierung im Resozialisationsbereich. Übergreifende, empirisch gesicherte und auf die Besonderheiten des Jugendstrafvollzugs zugeschnittene (Aus-)Bildungskonzepte stehen heute ebenfalls nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Dies steht im deutlichen Widerspruch dazu, dass laut Gesetz soziales Lernen, Ausbildung und berufliche Integration zur Zielgröße von Jugendhaft erhoben wurden. Schlussendlich sei die nicht neue Erkenntnis hinzugefügt, dass alle Anstrengungen innerhalb der Vollzugsanstalten ohne Erfolg bleiben werden, wenn „…der Gefangene nach seiner Entlassung von der Gesellschaft nicht wieder als vollwertiges Mitglied aufgenommen und die bestehenden Vorurteile nicht weiter abgebaut werden“ (CYPRIAN 1977, 88). Insbesondere eine folgende Arbeitslosigkeit kann dazu führen, dass sich Jugendliche nicht in die Gesellschaft integrieren können und dieser Situation möglicherweise wieder mit einer kriminellen Handlung begegnen.

Folgende Thesen sollen abschließend zur Diskussion gestellt werden:

  1. Berufliche Maßnahmen innerhalb (und außerhalb) des Vollzugs sollen nicht exklusionsverwaltend wirken. Wichtig ist eine passgenaue, an den Bedürfnissen und Interessen der Jugendlichen orientierte Zuweisung zu den Maßnahmen der beruflichen Bildung zu ermöglichen. Es kommt nicht auf die Vielzahl verschiedener Angebote an, die an den Lebenswelten der jungen Menschen vorbei konzipiert worden sind.
  2. Damit berufliche Bildungsmaßnahmen im Sinne der Jugendlichen zu einem Erfolg führen, müssen diese konzeptionell eingebettet sein und von didaktisch und sozialpädagogisch ausgebildeten Fachkräften angeboten werden. Grundvoraussetzung in der Arbeit mit den Jugendlichen sollte es sein, sie in ihrer individuellen Lebenssituation zu verstehen und einer (weiteren) Stigmatisierung und/oder Ausgrenzung entgegenzuwirken.

Literatur

AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld.

APFE e. V. (2006): PASS alpha. Pro Alphabetisierung – Wege in Sachsen. Herausforderung Analphabetismus. Alphabetisierung funktionaler Analphabeten in Sachsen. Online: http://www.apfe.de/files/pass_alpha_zwischenbericht_ii_06-08-31.pdf  (18-02-2011).

BAETHGE, M./ HANTUSCHE, B./ PELLUL, W./ VOSKAMP, U. (1988): Jugend: Arbeit und Identität. Opladen.

BERUFSFORTBILDUNGSWERK SACHSEN (BFW) (2000): Analyse zur Qualifizierung im Resozialisierungsbereich (AQUA.RE). Chemnitz. unveröfftl.

BIERSCHWALE, P. (2008): „Lernen ermöglichen“ Die Ordnung des vollzuglichen Lernens. In: Forum Strafvollzug. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 57, H. 5, 199-204.

BORCHERT, J. (2007): Schule und Sozialarbeit im sächsischen Strafvollzug. Leipzig.

BÖHNISCH, L. (1997): Sozialpädagogik der Lebensalter. Weinheim und München.

BÖHNISCH, L. (2006): Abweichendes Verhalten. Eine pädagogisch-soziologische Einführung. Weinheim und München.

BUNDESMINISTERIUM DES INNERN (Hrsg.) (2010): Polizeiliche Kriminalstatistik 2009. Online: http://www.bka.de/pks/pks2009/download/pks2009_imk_kurzbericht.pdf  (14-02-2011).

BUSSE, M./ KRIEFALL, J./ RÜNGER, B. (2010): Projekt „B.I.S.S.“ – Berufsbildung und (Re-)Intergration Strafgefangener und Strafentlassener der Thüringer Justizvollzugseinrichtungen. In: Forum Strafvollzug. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 59, H. 5, 295-298.

CYPRIAN, R. (1977): Ziele, Bedingungen und Wirkungen beruflicher Sozialisation im Strafvollzug. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (MittAB), 10, H. 1, 74-88.

EBERLE, H.-J. (1980): Lernen im Justizvollzug. Voraussetzungen und Ansätze einer Justizvollzugspädagogik und ihrer Didaktik. Frankfurt, Main.

ELLEHAMMER ANDERSEN, S./ HOLSTEIN, B./ SKADHAUGE, F. B. (1982): Ausbildung im Gefängnis - Lebenshilfe für Gefangene. Der Skadhauge-Plan im dänischen Strafvollzug. Frankfurt, Main.

EULER, D. (2010): Einfluss der demographischen Entwicklung auf das Übergangssystem und den Berufsausbildungsmarkt. Expertise im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh.

FOUCAULT, M. (1977): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt, Main.

GIEST-WARSEWA, R. (2002): Schnittstellen, Riskante Übergänge, Bruchstellen. Junge Männer in erschwerten Lebenslagen auf ihrem Weg der Verselbstständigung. In: BERESWILL, M./ HÖYNCK, T. (Hrsg.): Jugendstrafvollzug in Deutschland: Grundlagen, Konzepte, Handlungsfelder. Mönchengladbach.

GOFFMAN, E. (1973): Asyle: über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt, Main.

HAMMERSCHICK, W. (2007): Berufliche Qualifizierung im Strafvollzug. In: BUNDESINSTITUT FÜR BERUFSBILDUNG/ INSTITUT FÜR BERUFLICHE BILDUNG, ARBEITSMARKT- UND SOZIALPOLITIK (Hrsg.): Labor JVA – Innovation im Behandlungsvollzug, Dokumentation der Fachtagung am 20. Juni 2007 in Wiesbaden. Bonn, Offenbach, 32-38.

HAVINGHURST, R. J. (1948). Developmental tasks and education. New York.

HÄßLER, H./ PREUSCHE, E./ ROTTSTÄDT, D. (2006): Eingliedern statt ausgrenzen: Integration von Haftentlassenen durch berufliche Qualifizierung und Vermittlungsunterstützung. In: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis (BWP), 35, H. 3, 47-50.

HILLER, G. G. (2007): (Über-)Lebenskunst als Gegenstand von Bildungsarbeit im Jugendstrafvollzug. In: GOERDELER, J./ WALKENHORST, P. (Hrsg.): Jugendstrafvollzug in Deutschland. Neue Gesetze, neue Strukturen, neue Praxis?. Schriftenreihe der DVJJ, Band 40, Mönchengladbach, 313-330.

HURRELMANN, K. (2007): Lebensphase Jugend. Weinheim und München.

HORNSTEIN,W./ THOLE, W. (2005): Jugend. In: KREFT, D./ MIELENZ, I. (2005) (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit. Weinheim, München, 443-447.

JUSTIZMINISTERIUM NRW (2006): Justizvollzug in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf. Online: https://services.nordrheinwestfalendirekt.de/broschuerenservice/download/110/StrafvollzugNRW.pdf  (08-02-2011).

KONSORTIUM BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld.

ROHWEDDER, J. (2003): Thesen zur Didaktik der beruflichen Bildung männlicher Gefangener in Justizvollzugsanstalten. In: Zeitschrift für Strafvollzug und Sträflingenhilfe, 52, H. 3, 158-161.

SÄCHSICHE STAATSKANZLEI (Hrsg.) (2007): Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Nr. 16/2007, Dresden, 558-577.

SÄCHSISCHES STAATMINISTERIUM DER JUSTIZ UND FÜR EUROPA (Hrsg.) (2010): 1. Bericht des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz und für Europa zur Lage des Jugendstrafvollzugs in Sachsen. Drucksache 5/2023 des Sächsischen Landtags.

SCHWIND, H.-D./ BLAU, G. (Hrsg.) (1988): Strafvollzug in der Praxis. Eine Einführung in die Probleme und Realitäten des Strafvollzuges und der Entlassenenhilfe. 2. Auflage, Berlin, New York.

SEVERING, E. (2010): Berufsausbildung in Deutschland – Zu wenige Fachkräfte für die Wirtschaft und zu viele Jugendliche ohne Ausbildungsperspektive. In: BOSCH, G./ KRONE, S./ LANGER, S. (Hrsg.): Das Berufsbildungssystem in Deutschland. Aktuelle Entwicklungen und Standpunkte. Wiesbaden, 91-99.

SOLGA, H. (2005): Ohne Abschluss in die Bildungsgesellschaft. Die Erwerbschancen gering qualifizierter Personen aus soziologischer und ökonomischer Perspektive. Opladen.

STATISTISCHES BUNDESAMT (2010a): Strafvollzug. Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen. Fachserie 10, Reihe 4.1. Online: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,vollanzeige.csp&ID=1026530  (18-02-2011).

STATISTISCHES BUNDESAMT (2010b): Bestand der Gefangenen und Verwahrten i.d. deutschen Justizvollzugsanstalten am 30. November 2010. Online: https://www-ec.destatis.de/csp/shop/sfg/bpm.html.cms.cBroker.cls?cmspath=struktur,vollanzeige.csp&ID=1025819  (18-02-2011).

STENZEL, M. (1990): Berufserziehung straffälliger Jugendlicher und Heranwachsender. Frankfurt, Main.

SZKIBIK, H. (1966): Grundfragen des Vollzugs der Freiheitsstrafe in der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Arbeit und ihrer Ausgestaltung bei der Erziehung erwachsener Strafgefangener. Halle.

WALKENHORST, P. (2007): Gefängnis als Lernort? – Pädagogik im Strafvollzug als wirksames Mittel zur Rückfallvermeidung. In: BUNDESINSTITUT FÜR BERUFSBILDUNG/ INSTITUT FÜR BERUFLICHE BILDUNG, ARBEITSMARKT- UND SOZIALPOLITIK (Hrsg.): Labor JVA – Innovation im Behandlungsvollzug, Dokumentation der Fachtagung am 20. Juni 2007 in Wiesbaden. Bonn, Offenbach, 20-29.


Zitieren dieses Beitrages

BORCHERT, J. et al. (2011): Berufliche Bildungsmaßnahmen im Jugendstrafvollzug – Eine weitere Station im Übergangssystem? In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 03, hrsg. v. BAABE-MEIJER, S./ KUHLMEIER, W./ MEYSER, J., 1-16. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft03/borchert_etal_ft03-ht2011.pdf (26-09-2011).



Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

http://www.hochschultage-2011.de/