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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT03 - Bau, Holz, Farbe und Raumgestaltung
Herausgeber: Sabine Baabe-Meijer, Werner Kuhlmeier & Johannes Meyser

Titel:
Übergänge gestalten – Konzepte, Erfahrungen und Perspektiven in den Fachrichtungen Bautechnik, Holztechnik sowie Farbtechnik und Raumgestaltung


Potentiale handwerklicher Bildung im Übergangssystem Schule-Beruf

Beitrag von Thomas VOGEL (Pädagogische Hochschule Heidelberg)

Abstract

Die aktuelle Kritik am Übergangssystem Schule-Beruf sowie am Berufsbildungssystem zeigt sowohl im organisatorischen als auch im didaktisch-methodischen Bereich die Notwendigkeit einer Reform. Im organisatorischen Bereich werden verschiedene Vorschläge zur Modularisierung der Ausbildungsstrukturen kontrovers diskutiert. Weniger entwickelt ist die didaktisch-methodische Debatte zur Überwindung der Krise. Der Soziologe Ulrich BECK hatte schon 1986 in der viel beachteten Studie „Risikogesellschaft“ ein öffentliches Brainstorming über diese Problemlagen gefordert und festgestellt, dass Ausbildung für ein flexibles System pluraler, mobiler Unterbeschäftigung unvermeidlich ein Zurückschrauben des Berufsbezuges erfordere, „womit sich historisch die Chance einer phantasievollen Rückverwandlung von Ausbildung in Bildung in einem neu zu entwerfenden Sinne ergibt“ (BECK 1986, 243). Diese Entwicklung, die sich heute weit deutlicher abzeichnet als noch vor 25 Jahren, erfordert veränderte didaktisch-methodische Herangehensweisen an die berufliche Qualifizierung. In dem Beitrag werden die Aktualität und die Leistungsfähigkeit handwerklicher Bildung im Hinblick auf den Wandel der Arbeitsgesellschaft und die Probleme des Übergangs von der Schule in den Beruf neu beleuchtet. Für die aktuelle Bedeutung handwerklicher Bildung soll in dem Beitrag besonders der Aspekt der Potentialentfaltung durch handwerkliche Bildung allgemein und speziell in den Berufsbereichen Bau-Holz-Farbe diskutiert werden. Durch handwerkliche Bildung lassen sich umfassende Schlüsselqualifikationen vermitteln, die man in der Fachsprache auch unter den Begriffen „allgemeine Berufsbildung“ oder „berufliche Allgemeinbildung“ fasst. Solche Qualifikationen sind in nahezu allen Kontexten der modernen Arbeitswelt von Bedeutung. Im Hinblick auf den Übergang Schule-Beruf könnte handwerkliche Bildung insofern eine Renaissance erfahren.

1 Autobiographische Notiz und Einleitung

Zur Zeit des Referendariats war ich an den berufsbildenden Schulen einer Kleinstadt in unmittelbarer Nähe zur Autostadt Wolfsburg eingesetzt. Ich unterrichtete dort in einer 2. Fachstufe Maler und Lackierer. Gegen Abschluss der Ausbildung kam das Gespräch auf die Frage, was die Auszubildenden nach der erfolgreichen Gesellenprüfung zu tun gedenken, ob sie in ihren Ausbildungsbetrieben übernommen oder gegebenenfalls in die Arbeitslosigkeit entlassen würden. Zu meiner Überraschung hatte kaum ein Auszubildender ein Interesse, im erlernten Beruf beziehungsweise im Ausbildungsbetrieb weiter zu arbeiten; nahezu alle strebten nach einer Anstellung beim Automobilhersteller in der Nachbarstadt. Ich hoffte, dass nicht alle Mühe um die fachliche Ausbildung der Maler und Lackierer vergeblich gewesen sei und fragte weiter: „Sicherlich werdet ihr dann dort in der Fahrzeuglackiererei eingesetzt!?“ Aber auch das war nicht zwingend vorgesehen. Die Jugendlichen strebten einfach nur in das relativ sichere und verhältnismäßig gut bezahlte Beschäftigungsverhältnis eines Industriekonzerns. Meine letzte Frage, warum sie dann überhaupt ein Handwerk erlernt hätten, erübrigte sich. Eine abgeschlossene Handwerkslehre, egal welcher Fachrichtung, war für den Industriebetrieb Einstellungsvoraussetzung. Zwei Erkenntnisse kann man aus diesem Erlebnis ableiten:

  • Die Industrie benötigt für einen – vermutlich nicht geringen - Teil ihrer Arbeitsplätze keine zwingend berufsbezogene Qualifizierung.
  • Handwerkliche Bildung fördert offensichtlich überfachliche Qualifikationen, die für eine industrielle Arbeit einen besonderen Wert besitzen.

Die Tatsache, dass der Berufsbezug in einer auf Flexibilität ausgerichteten Arbeitswelt an Bedeutung verliert, wurde von der Soziologie bereits vor über 25 Jahren festgestellt. In seiner viel beachteten Studie „Risikogesellschaft“ schrieb Ulrich BECK, dass Ausbildung für ein flexibles System pluraler, mobiler Unterbeschäftigung unvermeidlich ein Zurückschrauben des Berufsbezugs in der beruflichen Bildung erfordere. BECK forderte schon damals ein öffentliches Brainstorming über die Folgen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und sah in dem notwendigen Zurückschrauben des Berufsbezugs die historische Chance „einer phantasievollen Rückverwandlung von Ausbildung in Bildung in einem neu zu entwerfenden Sinne“ (BECK 1986, 243).

Die Folgen einer zunehmenden Flexibilisierung und Ausdifferenzierung in der Arbeitswelt haben sich mittlerweile auch massiv auf die Strukturen des Berufsbildungssystems ausgewirkt. Die Entstehung eines so genannten Übergangssystems im Bereich der beruflichen Bildung ist ein deutliches Indiz für diese Entwicklung. Im Jahr 2007 schrieb Wolf-Dietrich GREINERT einen Aufsatz, dem er den bezeichnenden Titel „Kernschmelze – der drohende GAU unseres Berufsausbildungssystems“ gab (GREINERT 2007). GREINERT macht darin deutlich, dass sich unser System der beruflichen Bildung in einer anhaltenden Strukturkrise befinde. Das Duale System entwickle sich in zunehmendem Maße zu einem hochselektiven Restprogramm und verweise den größeren Teil der Schulabgänger in staatliche Schulen oder – in unverantwortlicher Weise – in die Fürsorge der Bundesagentur für Arbeit. Diese Entwicklung, so GREINERT, widerspreche fundamental den Bedingungen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil von 1980 im Hinblick auf die besondere Grundstruktur des Dualen Systems formuliert hatte: Als Gegenleistung für die Übertragung der zentralen Verantwortung für die berufliche Bildung an die Gruppe der Arbeitgeber sei zu fordern, so das Gericht, „dass grundsätzlich alle ausbildungswilligen Jugendlichen die Chance erhalten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen“. Das gelte auch dann, „wenn das freie Spiel der Kräfte zur Erfüllung der übernommenen Aufgaben nicht mehr ausreichen sollte“ (zit. n. GREINERT 2007, 2f.). GREINERT bezeichnet das Übergangssystem unter qualifikatorischem Gesichtspunkt als weitgehend nutzlos.

Die von GREINERT dargestellte und kritisierte Entwicklung hat sich auch nach den Zahlen des Berufsbildungsberichts 2010 kaum geändert. Das ursprünglich weit überwiegend dual ausgerichtete Berufsbildungssystem zeigt deutliche Auflösungstendenzen. Im Berufsbildungsbericht wird die zu beobachtende Ausdifferenzierung  allerdings eher positiv gesehen. Der Berufsbildungsbericht 2010 spricht von einem neu entstehenden System der beruflichen Bildung, das sich durch eine hohe Differenzierung auszeichne, eine „besonders enge Verbindung zur Beschäftigung“ schaffe und „unter den Jugendlichen ein hohes Ansehen“  genieße (BUNDESINSTITUT FÜR BERUFSBILDUNG 2010, 97). Diese positive Einschätzung wird allerdings nicht überall geteilt. In dem Gutachten für das Bundesministerium für Bildung und Forschung zur „Systematisierung der Fördersysteme in der beruflichen Benachteiligtenförderung“  aus dem Jahre 2009 (BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG 2009) wird auf schwerwiegende Probleme und Schwierigkeiten des Übergangssystems von der Schule in den Beruf verwiesen, die von der Bund-Länder-Kommission bereits 2001 festgestellt wurden: „Die fehlende Transparenz der Angebote führt zum Teil zu Demotivierungen bei den Betroffenen und zu vorzeitigem Abbruch oder Nichtinanspruchnahme. Oft entstehen nach Teilnahmen an einem Angebot nicht verwertbare ‚Leerlauf-Phasen‘, da erst wieder neue individuelle Förderansprüche begründet werden müssen. Die mangelnde Kompatibilität der unterschiedlichen Förderrichtlinien zieht zum Teil Ausschlüsse nach sich, darüber hinaus konterkarieren sie durchgängige Qualifizierungs- und Eingliederungskonzepte, die sich aus unterschiedlichen Bausteinen verschiedener Finanziers zusammensetzen. Unabgestimmtes Handeln vor Ort führt nicht nur zu öffentlich geförderten Parallelstrukturen einerseits und fehlenden Angeboten andererseits, sondern behindert auch eine zielgerichtete bzw. ergebnisorientierte Eingliederung der Betroffenen in das Beschäftigungssystem.“ (BUND-LÄNDER-KOMMISSION 2001, zit. n. BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG 2009, 73f.)

Diese Problemdiagnose kann man als „organisierte Unverantwortlichkeit“ (BECK 1988) charakterisieren. Schon der Titel des Gutachtens verweist auf das Kernproblem: Dem berufsbildenden Fördersystem fehlt eine einheitliche, verbindliche Struktur. Das System schließt zwar nicht aus, dass jede Maßnahme für sich gut gemeint und sozial ausgerichtet ist, dass viele Menschen in diesem System wichtige pädagogische Arbeit leisten. In der Gesamtperspektive ist es allerdings ein weitgehend beziehungsloses Neben- und Nacheinander von Maßnahmen, das die Jugendlichen eher chaotisiert und verwirrt, als dass es ihnen hilft. Die zentrale Botschaft an mehr als 50 % eines Jahrgangs junger Menschen lautet: „Du bist den Ansprüchen dieser Gesellschaft nicht gewachsen und wirst nicht gebraucht!“ Diese Botschaft ist für einen jungen Menschen, der gerade im Begriff ist, ein eigenständiges Lebenskonzept zu entwickeln, eine Katastrophe, die auch nicht durch noch so gut gemeinte sozialpädagogische Initiativen zu überwinden ist.

Die folgenden Überlegungen über Potentiale handwerklicher Bildung sollen an die beschriebenen Problemlagen sowie meine bisherigen Überlegungen (VOGEL 2009) anknüpfen und als curricularer Ansatzpunkt verstanden werden. Es soll dabei nicht um einen neuen Vorschlag zur didaktischen Gestaltung von Maßnahmen im Übergangssystem gehen, sondern um einen Beitrag zur Diskussion einer Überwindung des Übergangssystems hin zu einem neuen Berufsbildungssystem, in dem der Berufsbezug nicht mehr die zentrale Rolle spielen muss und das eine phantasievolle Rückverwandlung von Ausbildung in Bildung fördert.

Die Frage, welche Kompetenzen handwerkliche Bildung vermittelt, kann unter verschiedenen Perspektiven analysiert werden. Aus der Perspektive der Zielsetzung des Übergangssystems Schule-Beruf geht es zunächst um die Förderung der Ausbildungsreife. Im Hinblick auf die Persönlichkeit des Subjekts wird die Frage eines Beitrags handwerklicher Arbeit zur Bildung der Menschen reflektiert. Abschließend soll die sozioökonomische und technologische Entwicklung sowie die zunehmende Entfremdung in der Arbeitswelt im Hinblick auf mögliche Kompensationswirkungen handwerklicher Bildung analysiert werden.  

2 Potentiale handwerklicher Bildung zur Förderung der Ausbildungsreife  

Insbesondere von der Wirtschaft wird oft beklagt, dass einem großen Teil der Jugendlichen heute die Ausbildungsreife fehle. Ob dieses Argument tatsächlich fundiert ist oder eher von der Tatsache ablenken soll, dass die Wirtschaft schon seit Jahren nicht mehr hinreichend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt, soll an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden. Auch wenn man die Argumentation, die Jugendlichen seien nicht ausbildungsreif, für problematisch hält, kann man den Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife nutzen, den ein Pakt aus verschiedenen Bundesministerien, den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und die Bundesagentur für Arbeit zusammengestellt hat, um der Frage nachzugehen, inwieweit handwerkliche Bildung solche Kriterien fördert. Der Kriterienkatalog unterscheidet insgesamt fünf Merkmalsbereiche (BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT 2006, 9):

  • Schulische Basiskenntnisse,
  • Psychologische  Leistungsmerkmale,
  • Physische Merkmale,
  • Psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit,
  • Berufswahlreife.

Die einzelnen Merkmalsbereiche werden in dem Konzept weiter spezifiziert. Zu den schulischen Basiskenntnissen gehören beispielsweise Rechtschreibung, Lesen, ein mündliches Ausdruckvermögen sowie mathematische und wirtschaftliche Grundkenntnisse. Zu den psychologischen Merkmalen des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit werden unter anderem Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz, Kritik- und Konfliktfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Selbstorganisation/Selbstständigkeit, Sorgfalt und Teamfähigkeit genannt. Die Systematik des Kriterienkatalogs ist geeignet, handwerkliche Bildung im Hinblick auf die Förderung der Ausbildungsreife zu analysieren. Bei dieser Analyse kann unter anderem sinnvoll auf die Theorien und Modelle der Reformpädagogik beziehungsweise der Arbeitsschulbewegung zurückgegriffen werden, die die praktische Tätigkeit in den Mittelpunkt ihres pädagogischen Konzepts stellen.

2.1 Kompetenzentwicklung in der Planungsphase handwerklicher Projekte

Bevor eine handwerkliche Aufgabenstellung in die Praxis umgesetzt wird, muss sie im Kopf des Menschen geplant werden, d.h. der Mensch muss eine Vorstellung entwickeln, wie das Endprodukt aussehen soll und welcher Weg dorthin führt. Bei komplexeren Aufgabenstellungen muss erst ein Plan erstellt werden. Hierfür muss der Mensch Phantasie entwickeln und seinen Gedanken Struktur geben. An dem bekannten Beispiel des Baus eines Starenkastens (siehe Abb.1) zeigte Georg KERSCHENSTEINER, welche vielfältigen „kognitiven“, „psychomotorischen“ und „ökonomischen Erkenntnisse“ schon in der Planungsphase eines relativ überschaubaren Handwerksprojekt erlernt werden können.

 

Abb. 1:   „Starenkasten“ von KERSCHENSTEINER (Quelle: KERSCHENSTEINER 1964, 177)

 

Seine Aufgabenstellung lautet, man solle „aus einem Brett von 160 cm Länge, 20 cm Breite, 1 cm Dicke mit geringstem Holzabfall und geringstem Aufwand an Zeit und manueller Arbeit – also wirtschaftlich – ein Starenhaus herstellen, dessen Dachfläche zur Bodenplatte im Verhältnis 1:2 geneigt ist, und die etwa 5 cm über die Vorderseite des Hauses hinausragt“ (KERSCHENSTEINER 1964, 33). KERSCHENSTEINER war überzeugt und bewies, dass Aufgaben dieser Art in hervorragender Weise für die pädagogische Arbeit geeignet sind. Handwerkliche Projektaufgaben sollen durch mehrere Stufen strukturiert werden: „Vom Stutzen, Staunen und Fragen aus ging es unmittelbar zur Analyse der Schwierigkeiten, welche den Fragen entgegentraten, von der Analyse zu den Vermutungen, welche die Fragen lösen konnten, von den Vermutungen zur Durchführung ihrer Folgerungen und schließlich zur Verifikation der als Lösung gefundenen und bestätigten Vermutung“ (KERSCHENSTEINER, zit. nach WILHELM 1991, 121). Dieses Artikulationsschema könnte so oder in abgewandelter Form auch heute noch zur Gestaltung ähnlicher handwerklicher Aufgabenstellungen dienen.

KERSCHENSTEINER stellte fest, dass die von ihm konstruierte handwerkliche Problemstellung das logische Denken in besonderer Weise fördert: „Was der Lehrling zuerst auszuführen hat, ist ein Gedankenexperiment, das alle vier Stufen des logischen Denkens deutlich aufweist: Die Auffindung und Umgrenzung der zu lösenden Schwierigkeiten, die aufsteigenden Vermutungen zu ihrer Lösung, die konsequente Verfolgung dieser Vermutungen auf ihren Wert für die Lösung und schließlich die Verifikation in der Ausführung der Arbeit“ (KERSCHENSTEINER 1964, 33). Neben dem logischen Denken entsteht in der Planungsphase – vorausgesetzt man macht nicht den Fehler, den Jugendlichen alles vorzugeben – zugleich die Fähigkeit, abstrakt zu denken. Die handwerkliche Tätigkeit steigert die Phantasie des jungen Menschen, weil er den Gegenstand, den er herstellen will, schon im Voraus vor sich sieht. Er muss ihn genau zeichnen und dann herstellen, d.h. er muss seinen  Gedanken eine greifbare und genaue Form geben. Hierbei kann man ihm zugleich eine Vorstellung vermitteln, „wie die Theorie aus der Arbeit und der Erfahrung hervorgeht, wie umgekehrt die Theorie die Arbeit erhellen, leiten, heben kann und soll, wie sie alles Tasten und alles ungeschickte Handhaben vermeidet und wie sie die Formel von der richtigen Ökonomie der Kräfte verwirklicht“ (FERRIERE 1928, 151). Dieser Vorgang vermittelt dem Menschen sogar eine Idee von der Rolle, die die Wissenschaft im Leben überhaupt spielt (vgl. ebd.). Schon in der Planungsphase eines handwerklichen Projekts werden also eine Vielzahl derjenigen Kompetenzen vermittelt, die zur Ausbildungsreife der jungen Menschen beitragen: mathematische und wirtschaftliche Grundkenntnisse, logisches Denken und  räumliches Vorstellungsvermögen werden gefordert und gefördert.

2.2 Kompetenzentwicklung in der Ausführungsphase handwerklicher Projekte

In der Ausführung der handwerklichen Arbeit setzt sich der Jugendliche mit verschiedenen Materialien auseinander. Er lernt dabei ihre unterschiedlichen Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten kennen. Ziel der handwerklichen Arbeit ist es, das Material umzuformen und es den spezifischen menschlichen Bedürfnissen anzupassen. Hierzu ist neben den Kenntnissen über die Eignung der verschiedenen Materialien auch das Wissen erforderlich, mit welcher Methode das Material bearbeitet werden muss und welche Werkzeuge und Maschinen für die Bearbeitung geeignet sind. Auch die Handhabung der Werkzeuge und Maschinen erfordert spezifische Kenntnisse. Die Kenntnisse, die der Mensch in der Ausführungsphase einer handwerklichen Arbeit erwirbt, sind in drei Bereiche zu unterteilen (vgl. FERRIERE 1928, 150):

  • Zunächst vermittelt Handarbeit Kenntnisse von der Beschaffenheit der Dinge. Sie setzt den jungen Menschen in Beziehung zum Material und dessen verschiedenen Eigenschaften, die ihm auf diese Weise gewissermaßen durch alle Sinne ins Gehirn eingehen.
  • Zweitens vermittelt die Handarbeit Kenntnisse von dem Wert der verschiedenen Arbeitsmethoden, denn beim Handhaben des Rohmaterials und beim Verwandeln desselben in nützliche Gegenstände ist auf die Verwendungsarten der verschiedenen Materialien, die die Natur liefert, zu achten.
  • Letztlich lernt der junge Mensch auch das Werkzeug und die Maschinen, deren Funktionen, Pflege und Wartung kennen.

Im Hinblick auf die Entwicklung der Ausbildungsreife ist es zusätzlich bedeutsam, dass der Jugendliche beim Studieren von Bedienungs- und Handlungsanweisungen auch den Umgang mit Informationen lernt. Dies sind Fähigkeiten, die er auch in anderen Kontexten der Arbeitswelt immer wieder benötigt. Zusammenfassend wird deutlich, dass die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten einer handwerklichen Arbeit ausgesprochen vielseitig und vielschichtig sind.

Die Förderung körperlicher Fortschritte in der Entwicklung junger Menschen wird in einer Kultur, die ein eher „verkopftes Bildungsverständnis“ pflegt, häufig vernachlässigt. Eine angemessene physische Gesundheit ist aber für die Entwicklung junger Menschen kaum weniger bedeutsam als die Förderung ihrer geistigen und psychischen Fähigkeiten. Handwerkliche Arbeiten fordern und fördern den jungen Menschen ganzheitlich und tragen dadurch auch zu seiner physischen Entwicklung bei. Im Vergleich zu anderen Tätigkeiten junger Menschen in der heutigen Zeit, insbesondere dem Sitzen vor Bildschirmen, ist es wohl kaum zu bestreiten, dass handwerkliche Arbeiten die körperliche Entwicklung weit sinnvoller fördern. Sie erfordern den Einsatz und die Bewegung ganz unterschiedlicher Körperregionen: das eine Mal eine filigrane Fingerfertigkeit, das andere Mal den ganzen Arm und oft auch den Einsatz und die Kraft des gesamten Körperapparats. Solche unterschiedlichen Bewegungsabläufe finden in der Ausführung der Arbeit darüber hinaus meist abwechselnd und/oder über einen längeren Zeitraum statt. Dabei entwickelt sich die Muskelkraft „durch die Gegenüberstellung der Kräfte des Individuums, die sich von innen her äußern, und dem Widerstand, der von außen kommt“ (FERRIERE 1928, 150). Zugleich wird die Assoziation entwickelt, d.h. im Falle der handwerklichen Arbeit die Vernetzung der Muskeltätigkeit mit der Gehirntätigkeit. Wer beispielsweise hobelt, muss seinen Gleichgewichtssinn ausbilden und seine Motorik in besonderer Weise beherrschen lernen.

Über die kognitiven und physischen Fähigkeiten hinaus fördert die handwerkliche Arbeit auch die geistigen Kräfte und stärkt die menschliche Psyche. Die Ausführung einer Handarbeit erfordert möglichst genaue Beobachtung. „Der praktische Lernprozess beginnt mit dem Wahrnehmen und Aufnehmen der Probleme und Anforderungen einer Handlungssituation und der eigenen Unfähigkeit, sie zu meistern“ (BRATER u.a. 1988, 187). Eine handwerkliche Arbeit gelingt nur in dem Maße, wie man den Einsatz seiner Körperkräfte im Verhältnis zum Material und zum eingesetzten Werkzeug genau abzuschätzen lernt. Hierzu müssen sich die Jugendlichen angewöhnen, „gut zu sehen, alle Einzelheiten zu beobachten, mit Genauigkeit zu messen und auszurechnen“ (ebd.). Die hierbei erforderliche Fähigkeit zur Beobachtung schult die Aufmerksamkeit und die Sorgfalt im Umgang mit Material, Werkzeug und Maschine. Handwerkliche Arbeit verstärkt dabei zugleich die sinnliche Wahrnehmung: „Der Tastsinn, das genaue Hinschauen, die Entwicklung von Proportion und Maßhaltigkeit, die Zunahme der Lärmempfindlichkeit, die Wahrnehmung eines typischen Werkstatt- und Materialgeruchs – all dies geht mit handwerklicher Tätigkeit einher“ (HORZ 1997, 55). 

In psychologischer Sicht unterstützt das Handwerk die Fähigkeit zum zielgerichteten Vorgehen. Der Jugendliche muss sich auf die unbedingte Umsetzung eines Plans konzentrieren. Eine  handwerkliche Aufgabe erfordert eine sehr präzise Arbeitsausführung, die kaum Freiheiten gewährt. Ihr höchstes Gebot ist ein Vorgehen nach Vorschrift und Regelhaftigkeit. „Die wichtigsten Tugenden der Werkstattarbeit sind demnach auch Genauigkeit, Sauberkeit, Maßhaltigkeit, Plantreue und Zuverlässigkeit. Es ist durch viele Beispiele immer wieder belegt, dass diese Arbeit ein außerordentlich hohes Maß an Selbstbeherrschung […] erfordert“ (BRATER u.a. 1988, 153). In der Arbeit am handwerklichen Projekt muss sich der junge Mensch den strengen Naturgesetzen unterordnen. Zugleich kann er aber auch Erfindungsgeist entwickeln, den möglichen Schwierigkeiten in der Umsetzung von Planungen zu begegnen. Solche Schwierigkeiten, die sich regelmäßig in der handwerklichen Auseinandersetzung mit dem Material ergeben, fordern dem jungen Menschen „Frustrationstoleranz“ und „Durchhaltevermögen“ ab. Damit werden die Kräfte eines Menschen beschrieben, seine Ziele auch gegen innere und äußere Widerstände durchzusetzen. „Man kann ein Arbeitsvorhaben nicht einfach aufgeben, nur weil das Material etwa unerwartete Tücken mit sich bringt oder sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen hat, den man nicht sogleich findet, ebenso wie gelernt werden muss, auch gegen die eigene Ermüdung, das eigene Unbehagen oder die eigene Langeweile (etwa bei Serien) anzukämpfen und sie zu überwinden“ (ebd.). Um zum Ziel zu gelangen, muss man tasten, fühlen, vergleichen, urteilen, erfinden und manchmal auch improvisieren. Solche „Konzentration“ auf die gewissenhafte Ausführung eines Plans ist ein gutes Mittel, den jungen Menschen zu einem systematischen und beständigen Arbeiten zu bewegen. Sie müssen sich sozusagen gegen den Widerstand des Materials „quälen“ bis dieses sich schließlich den Zielen ihrer Arbeit beugt (vgl. ebd.).

Ebenfalls zu den allgemeinen psychologischen Fähigkeiten ist der Sinn für das Schöne zu rechnen. Durch das Ergebnis der eigenen Handarbeit, das sich aus der Anpassung des Materials an seinen Zweck entwickelt, bildet der junge Mensch – durchaus auch im Vergleich mit den Arbeiten der anderen – ein „ästhetisches Empfinden“. Die sinnliche Wahrnehmung wird durch die tätige Auseinandersetzung mit dem Material verstärkt. Gerade in einer Zeit, in der viele junge Menschen unter Wahrnehmungsschwäche leiden und ihre Bezüge zur Außenwelt besonders durch den Einfluss von Medien stark verkümmern und standardisiert werden, kann handwerkliche Bildung helfen, einen selbstständigen Zugang zur Welt zu entwickeln. 

FERRIERE geht in seiner systematischen Analyse der durch Handarbeit zu fördernden Fähigkeiten auch ausführlich auf die Entwicklung des moralischen und sozialen Fortschritts ein. Die Handarbeit entwickelt und fördert die „Wahrhaftigkeit“ und einen „gesunden Wetteifer“, das „Selbstbewusstsein“ und die „Achtung vor den Mitmenschen“ (vgl. FERRIERE 1928, 153). Zur Charakterbildung trage bei, dass sich in der handwerklichen Arbeit das Gefühl für die materiellen und sozialen Möglichkeiten verfeinere: „Man muss sich im Leben den Dingen und Menschen, den Kräften der Natur und dem Charakter seines Nächsten anpassen; man darf nichts unmögliches von ihnen verlangen.“ Andererseits dürfe man auch nur bis zu einem gewissen Grade nachgeben. Hieraus ergebe sich eine Konzentration des Charakters, „d.h. eine Entschiedenheit, Selbstbeherrschung, Energie, eine sichere Erkenntnis von dem, was gut ist, und ein sicheres Gehen diesem Guten entgegen“ (ebd.).

In handwerklichen Projekten kann der Jugendliche die unmittelbare Erfahrung der Zusammenarbeit mit anderen machen. Gemeinsam verfolgt man ein Ziel, zu dem die eigene Leistung ebenso zum Erfolg beiträgt wie die des anderen.  „Keine Beschäftigung erlaubt ein gemeinsames Arbeiten besser als die Handarbeit. Dieses gemeinsame Arbeiten nun weckt den Sinn für Solidarität und ist dadurch für die Welt von allergrößter Bedeutung […] Man muss sich mit eigenen Augen, oder besser: durch persönliche Arbeit von der besonderen Eigenart dieser beiden Begriffe überzeugen. Auf der einen Seite eine Reihe verschiedener Leistungen, die alle ein und demselben Ziel zustreben und von ein und demselben Individuum ausgeführt werden, auf der anderen Seite diese selbe Reihe von Leistungen gemeinsam von mehreren Arbeitern ausgeführt. Wer diese Unterschiede nicht durch Erfahrung kennengelernt hat, wird nie einen ganz richtigen Begriff von dem bekommen, was ‚sozial‘ ist“ (ebd.). Man ist aufeinander angewiesen und muss darauf vertrauen, dass jeder sein Bestes gibt. Eine gegenseitige Abhängigkeit äußert sich darin, dass man am gemeinsam die Verantwortung trägt. Dabei muss die Fähigkeit entwickelt werden, für den anderen mitzudenken und mitzuarbeiten; d.h. man muss einen Teil des Ergebnisses der eigenen Arbeit einem anderen überlassen und darauf vertrauen, eine entsprechende Gegenleistung im Hinblick auf das gemeinsame Ziel zu bekommen. Dieses gegenseitige Vertrauen wird als Solidarität bezeichnet, die eine Grundvoraussetzung bildet für die im Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife beschriebenen psychologischen Merkmale der Teamfähigkeit, des Verantwortungsbewusstseins sowie der Zuverlässigkeit. Insofern sieht FERRIERE in der Übung der Handarbeit eine „wirkliche ethische Erziehung“ (ebd.).  

3 Der Beitrag handwerklicher Arbeit zur allgemeinen Bildung

Mit der alleinigen Orientierung an der Ausbildungsreife müsste sich der hier vertretene pädagogische Ansatz den Vorwurf gefallen lassen, er orientiere sich allein am Ziel der Brauchbarkeit des Menschen für den Arbeitsmarkt. Handwerkliche Bildung ist im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung ambivalent. Sie kann sowohl die Arbeitsmarkttauglichkeit als auch die Bildung der Persönlichkeit unterstützen.

Die Ambivalenz wurde auch schon in der Arbeitsschulbewegung diskutiert. Aloys FISCHER schrieb über die Vertreter zweier Richtungen der Arbeitsschule: „Die einen opferten den Menschen als Gegenstand und Ziel der Bildung dem nützlichen, brauchbaren, gewöhnten Arbeiter auf, die anderen wollten den Menschen über dem Arbeiter und jedenfalls im Arbeiter retten, und zwar durch die Herausbildung einer geistigen Persönlichkeit, unabhängig von aller Einspannung  in gesellschaftliche, staatliche und wirtschaftliche Zwecksysteme, dadurch, dass sie ihn selbst zum Täter seiner Menschenform machten“ (FISCHER, zit. n. REBLE 1963, 12). Bei der Gestaltung und Durchführung handwerklicher Projekte sollte auf diese Problematik geachtet werden. Handwerkliche Bildung eröffnet in der gegenwärtigen sozial-ökonomischen Situation aber die besondere Chance, die Jugendlichen für wechselnde Tätigkeiten auf einem flexiblen Arbeitsmarkt zu qualifizieren und sie gleichzeitig zu bilden.

Den Beitrag handwerklicher Bildung zur allgemeinen Menschenbildung hat schon ROUSSEAU beschrieben. Sein Emile sollte unbedingt ein Handwerk erlernen. Durch handwerkliche Bildung wollte ROUSSEAU ihm einen Rang verschaffen, „den er nie verlieren kann, der ihn jederzeit ehrt“ (ROUSSEAU 1981, 194). Durch das Erlernen eines Handwerks wollte er aus seinem Zögling einen Menschen machen. Bei der Wahl des Handwerks beleuchtete ROUSSEAU viele Aspekte und kam zu dem Ergebnis, dass es ihm am liebsten wäre, wenn Emile an der Tischlerei Gefallen fände. Die Gründe beschreibt er wie folgt: „Sie (die Tischlerei, T.V.) ist sauber, nützlich und kann im Hause ausgeübt werden. Sie hält den Körper genügend in Bewegung und verlangt Geschicklichkeit und Kunstsinn. Sind auch die Formen der Werkstücke zweckbestimmt, so sind doch Schönheit und Geschmack nicht ausgeschlossen“ (ebd., 200). Rousseau verweist hier auf Kompetenzen, die heute für eine berufliche Allgemeinbildung wichtig wären und zu Recht könnte die Frage gestellt werden, ob nicht jeder Mensch im Verlauf seines Bildungsprozesses, wenn schon nicht das Tischlerhandwerk erlernen, so doch zumindest mit einer überschaubaren handwerklichen Aufgabe konfrontiert werden sollte.

Handwerkliche Projekte fördern, wie bereits unzählige Praxisbeispiele gezeigt haben, „Selbstvertrauen“, „Selbstbewusstsein“ und die „Selbstständigkeit“ junger Menschen. Sie regen sie an, Dinge selbst in die Hand zu nehmen, selbst zu planen und anzufertigen. Die Erfahrung einer handwerklichen Arbeit kann das erforderliche Selbstvertrauen vermitteln, persönliche Widerstände im alltäglichen Leben, also auch in nichtberuflichen Kontexten, zu überwinden. Sie führt zum Erleben der eigenen Stärke und Kraft, woraus sich Eigenverantwortung und Selbstbewusstsein entwickeln und festigen (vgl. HORZ 1997, 50).

Der Soziologe Richard SENNETT hat in einer Studie mit dem Titel „Handwerk“ ein vielbeachtetes Plädoyer entwickelt, sich durch handwerkliche Arbeit wieder auf die Welt der Dinge einzulassen und den Menschen und die Welt angesichts zunehmender Entfremdung wieder miteinander zu versöhnen (vgl. SENNETT 2008). Im Hinblick auf mögliche Potentiale solcher Arbeit für die Persönlichkeitsbildung schreibt SENNETT: „Der Stolz auf die eigene Arbeit bildet den Kern handwerklichen Könnens und Tuns, da er den Lohn für sein Geschick und sein Engagement bildet. […] Den größten Stolz empfinden Handwerker im Blick auf die Fertigkeiten, die sie einem Reifungsprozess verdanken. Deshalb bietet bloße Nachahmung keine Befriedigung. Die Fertigkeit muss sich entwickeln. Die Langsamkeit der Zeit im Handwerk ist eine Quelle der Befriedigung. Die Praxis prägt sich dem Körper ein und macht die Fähigkeit zu unserer eigenen. Die langsame Zeit des Handwerks ermöglicht auch die Arbeit der Reflexion und der Phantasie – der Drang nach raschen Ergebnissen vermag das nicht. Reifung bedeutet auch Dauerhaftigkeit. Wir werden dauerhaft Besitzer der Fertigkeit“ (SENNETT 2008, 390 f.).

4 Handwerkliche Bildung und sozioökonomische Entwicklung

Die sozio-ökonomische Entwicklung entfremdet die Menschen zunehmend von der Produktion und von den Produkten. Sie wissen kaum noch, was sie produzieren und was sie konsumieren, sind als Produzenten und Konsumenten systembedingt zunehmend entmündigt. „War vorher der Arbeitsprozess ‚naturwüchsige Einheit‘, ein gewissermaßen organischer Prozess, in dem Arbeitender, Material und Mittel untrennbar verknüpft waren, ein Prozess, in welchem die Phantasie (Vorstellungskraft) des ‚Meisters‘ unmittelbar mit dem realen Arbeitsprozess verflochten war, sich bildete und in ihn mimetisch-praktisch zurückwirkte; so ist der Arbeitsprozess in seiner industriell-kapitalistischen Organisationsform seinerseits produziert, ein System aus disparaten Teilen, die äußerlich (nach Raum und Zeit im Rhythmus der Maschine, im Fluss der Produkte etc.) verknüpft werden. Dem Arbeitenden treten das Ganze der Produktion und ihre Zwecke äußerlich und fremd gegenüber. Die Fähigkeit der lebendigen Arbeit, die in den Stoffen ‚schlummernden Potenzen‘, die erstarrten Resultate der vergangenen Arbeit zu wecken und zu verflüssigen, das alles geht den Arbeitenden nichts mehr an. Der den Arbeitsprozess begleitende Bewusstseinsprozess wird zum mechanisierten, rationalisierten Kontrollsystem. Veränderungen des Stoffes, Wirkungen der Arbeitskraft erscheinen als Daten und Signale. Die Reaktionen darauf liegen fest. Was die Arbeit bestimmt, ist die Logik der Sachen; Signale, die melden, was der Fall ist. Insgesamt ist der gesellschaftliche Arbeitsprozess objektiviert, und die Möglichkeiten seiner Veränderungen sind festgeschrieben im System der Wissenschaften und ihrer technologischen Anwendung“ (BINDER 1981, 125 f.). In der Antike galt als Sklave ein Mensch, der in seinen Handlungen nicht die eigenen Ideen, sondern die eines anderen verwirklicht. Nach dieser Definition müsste man heute wohl einen großen Teil aller Beschäftigten und Konsumenten in unserem Wirtschaftssystem als Sklaven bezeichnen. Die Verluste für die Kultur und das politische System werden immer problematischer: „Ohne erworbene Fähigkeiten, die sie unverzichtbar machen, werden Menschen unfrei, ohne den kontinuierlichen Faden einer Geschichte unsicher und verwirrt; ohne Kenntnis vom Machen der Dinge sind sie auch als Konsumenten nicht urteilsfähig. Das Brachliegen ihrer produktiven Potenzen beschädigt Charaktereigenschaften wie Stolz, Bindungsfähigkeit, Engagement und Loyalität, kurz: der moderne Kapitalismus fragmentiert die Biografien, zerreibt die Kultur und gefährdet die Demokratie“ (GREFFRATH 2008). Indem handwerkliche Bildung die Person gegenüber den Verhältnissen stärkt, könnte sie zur Lösung der dargestellten Probleme einen wichtigen Beitrag leisten.

5 Fazit

Durch die Vielfalt der Fähigkeiten und Dispositionen, die durch handwerkliche Bildung gefördert werden können, ist diese besonders in einer Gesellschaft, in der sich der Berufsbezug in der Qualifizierung für den Arbeitsmarkt zunehmend verflüssigt, die vorhandenen Arbeitsplätze und die Menschen als Konsumenten immer mehr von Entfremdung bedroht sind, in der zudem nicht mehr Arbeit für alle vorhanden ist, geeignet, große kompensatorische Wirkungen zu erzeugen. Die besondere Bedeutung handwerklicher Bildung im Hinblick auf die menschliche Entwicklung ist schon lange bekannt und wird heute vielfältig und oft erfolgreich im Übergangssystem von der Schule zum Beruf pädagogisch eingesetzt.  Erforderlich wäre allerdings ein neuer gesellschaftlicher Diskurs, ein gesellschaftliches Brainstorming, wie es BECK bezeichnete, über ein neues Berufsbildungssystem, dass allen Jugendlichen eine vernünftige Lebensperspektive vermittelt und ihnen das notwendige Selbstbewusstsein gibt, mit den großen gesellschaftlichen Widersprüchen und Widerständen fertig zu werden. Auf Dauer wird es sich eine Gesellschaft nicht ohne Schaden erlauben können, ca. 50 % eines Jahrgangs junger Menschen in eine Warteschleife von oft unstrukturierten und nicht abgestimmten Bildungsmaßnahmen zu schicken, deren geheimer Lehrplan sich demotivierend auf ihre Psyche auswirkt.

Literatur

BECK, U. (1986): Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.

BECK, U. (1988): Gegengifte – die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt/M.

BINDER, K. (1981): Phantasie und Subjektivität im Prozess gesellschaftlicher Naturbeherrschung. In: DAXNER, M./ BLOCH, J. R./ SCHMIDT, B. (Hrsg.): Andere Ansichten der Natur. Münster.

BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT (Hrsg.) (2006): Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife. Nürnberg/Berlin.

BUNDESINSTITUT FÜR BERUFSBILDUNG (Hrsg.) (2010): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2010 – Informationen und Analysen zur Entwicklung der beruflichen Bildung. Bonn.

BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (Hrsg.) (2009): Gutachten zur Systematisierung der Fördersysteme, -instrumente und -maßnahmen in der beruflichen Benachteiligtenförderung (Band 3 der Reihe Berufsbildungsforschung). Berlin.

GREFFRATH, M. (2008): Hirn und Hand. In: Die Zeit, H. 6.

GREINERT, W.-D. (2007): Kernschmelze – der drohende GAU unseres Berufsausbildungssystems. Online: http://www.ibba.tu-berlin.de/download/greinert/kernschmelze.pdf  (09-06-2009).

HORZ, K. (1997): Sägen und Schweißen für die Seele. In: Politische Ökologie, Sonderheft 9, Januar/Februar 1997, 50-55.

KANT, I. (1995): Werke in sechs Bänden. Herausgegeben v. TOMAN, R., Köln.

KERSCHENSTEINER, G. (1964): Der Begriff der Arbeitsschule. 15. Auflage. München.

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RIEDL, A. (2004): Didaktik der beruflichen Bildung. Stuttgart.

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VOGEL, T. (2011): Potentiale handwerklicher Bildung im Übergangssystem Schule-Beruf. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 03, hrsg. v. BAABE-MEIJER, S./ KUHLMEIER, W./ MEYSER, J., 1-13. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft03/vogel_ft03-ht2011.pdf (26-09-2011).



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